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Wir müssen bis zum nächsten Bauernhof zurückgehen und Hilfe holen,« sagte der Chauffeur, der Gertrud gefahren hatte. »Wir sind nicht imstande, ohne weitere Hilfe die beiden Wagen auseinander zu bekommen. Können Sie so lange mit ihm hier warten – allein?«
»Ja, ja, machen Sie nur, daß Sie fortkommen,« erwiderte sie, »aber vorher knöpfen Sie noch seinen Rock auf und geben mir sein Taschentuch.« Sie saß auf der Erde, und Allinghams Haupt lag in ihrem Schoß, während sie mit ihrem Batisttuch das Blut zu stillen suchte, das aus einer Stirnwunde strömte. »Und beeilen Sie sich, denn wir müssen für ihn so schnell wie möglich ärztliche Hilfe haben.«
Im nächsten Augenblick befand sie sich, den bewußtlosen Mann neben sich, mutterseelenallein in der herrlichen Winternacht. Sie legte ihr eigenes Taschentuch sorgfältig zusammen und band es mit dem seinen, dem größeren, auf der Wunde fest. Während sie das Taschentuch um seine Stirne schlang, kamen ihre Finger zufällig in Berührung mit seinem Gesicht – einem bleichen, nach oben gerichteten Antlitz, das ihr Mitleid so erregte, daß sie sachte seine blasse Stirne streichelte, als wäre er ein leidendes Kind.
Plötzlich kam Allingham wieder zu sich, als wäre ein elektrischer Strom durch ihn gefahren. Er schlug seine Augen auf und blickte aufwärts und sah gerade in das über ihn gebeugte reine Gesicht, das im Mondschein ebenfalls weißlich schimmerte. Im ersten Augenblick erkannte er Gertrud nicht – es war gerade, als ob ihre verwandten Seelen sich in einem lichten Raum, frei von allen Erdenschlacken, begegnet wären, allein schon in der nächsten Minute senkte sein wiederkehrendes Bewußtsein einen Schleier zwischen sie, und er richtete sich, ihre Hand festhaltend, auf.
»Sie,« rief er, »Sie und hier? Was ist geschehen? Warum sind Sie hier?«
»Wir wollten doch unsere gemeinschaftliche Debatte haben,« erwiderte sie launig, und ihre Stimme verriet nichts von dem Aufruhr, der in ihr tobte, »nur entspricht der Ort und die Art und Weise nicht ganz dem, was wir vorgesehen hatten. Übrigens haben Sie den schlimmsten Teil davongetragen, und ich muß Sie dringend bitten, vorsichtig zu sein. Versuchen Sie nicht aufzustehen; die Männer sind fortgegangen, um Hilfe zu holen. Unsre Angelegenheiten scheinen sich sonderbar zu verwickeln, aber bald werden wir – wörtlich gemeint – aus diesem Wald draußen sein, hoffe ich.«
»Wie können Sie nur so ruhig sein?« fragte Allingham. »Die meisten Frauen wären doch außer sich. Warum sind Sie nicht in Tränen aufgelöst?«
»Vielleicht, um Ihnen zu beweisen, wie gut ich mich für den Bürgermeisterposten in Roma eigne,« erwiderte sie etwas sarkastisch, »übrigens kommen hier die Männer mit noch zwei andern.«
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis das eine Auto aufgerichtet und instand gesetzt war, da es sich herausstellte, daß es nicht ernstlich Schaden gelitten hatte; das andre dagegen war so zertrümmert, daß nicht daran zu denken war, es noch diese Nacht wieder herzurichten.
»Sie müssen beide in diesem hier nach Roma zurückkehren,« sagte Gertruds Chauffeur zu Allingham.
»Wollen Sie es mir gestatten?« fragte dieser das junge Mädchen, das hochaufgerichtet im Schatten der leise raunenden Fichten stand. »Wenn es Ihnen aber lieber ist, gnädiges Fräulein, so bleibe ich in dem Bauernhof.«
»Nein, nein,« entgegnete Gertrud, »Sie müssen möglichst schnell nach Roma zurück und in ärztliche Behandlung. Vorausgesetzt, daß Sie die Fahrt ertragen können, natürlich.«
»O, bei mir ist alles in Ordnung. Ich war offenbar nur ein bißchen betäubt und bin an der Stirne leicht geritzt worden,« meinte Allingham. »Aber, bitte, kommen Sie; wenn wir zusammen heimfahren wollen, müssen wir einsteigen.«
Er half ihr auf ihren Platz und stieg selbst ein, während die beiden Männer vorne aufsprangen, nachdem sie die beiden warm eingehüllt hatten. Schon wenige Augenblicke später befanden sie sich auf der Rückfahrt nach der mehr als zwanzig Meilen entfernten Stadt.
»Nun sagen Sie mir aber,« begann Allingham, als er sich überzeugt hatte, daß sie sich tatsächlich auf dem Heimweg befanden, »wie in aller Welt sind Sie denn hierher gekommen? Ich komme fast um vor Neugier.«
»Wissen Sie wirklich – wirklich gar nichts davon?« fragte sie zurück.
»Wissen? – Ich? Wie sollte ich dazu kommen?« erwiderte er in einem Ton, der die junge Dame – wenigstens für den Augenblick – überzeugte, daß er die Wahrheit sprach.
»Nun,« bemerkte sie zögernd, »es sah doch sehr verdächtig aus – oder wenigstens – nun, irgend jemand muß doch dahinterstecken.«
»Sie werden damit doch nicht sagen wollen, daß auch Sie entführt worden sind!« rief Allingham. »Ich glaube – jetzt dämmert's mir.«
»Ich hatte gerade meinen Wagen befohlen, um in die Versammlung zu fahren, und war im Begriff zu gehen,« erklärte Gertrud, »als das Automobil erschien und der Chauffeur sagte, er sei beauftragt, mich abzuholen. Ich nahm an, mein Ausschuß habe ihn mir geschickt –«
»Gerade so habe ich geglaubt, mein Ausschuß habe nach mir geschickt,« warf Allingham ein.
»Einsteigen und fortrasen war eins; wir fuhren so rasch, daß ich es kaum merkte, als wir zur Stadt draußen waren, und als ich die Türe aufreißen wollte, ging es nicht – sie mußte von außen irgendwie festgemacht worden sein. Und diesen Automaten von Chauffeur konnte ich auch nicht dazu bringen, auf mich zu hören!«
»Genau wie bei mir,« versicherte Allingham. »Ich war eingeschlossen und habe meine unfreiwillige Fahrt Armstrongs Ränken zugeschrieben – und ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß Sie die Ihre auf meine Rechnung setzten; vermutlich sind wir aber alle beide der Rathausbande dafür verpflichtet, denn wie ich höre, soll Burke sehr in Sorge sein wegen der morgigen Wahl. Aber hier sind wir ja nun, Gott sei Dank, und haben allen Grund, dankbar zu sein.«
»O nein, nein,« rief Gertrud, »denken Sie nur an all die enttäuschten Menschen – an die Freunde, die an uns glauben und denen wir unsre Versprechen nicht gehalten haben. O nein, dankbar können wir doch nicht sein!«
»Aber denken Sie auch an den Unfall und was bei dem Zusammenstoß alles hätte geschehen können – und nicht geschehen ist,« erwiderte er. »Lassen Sie uns für den Rest der Fahrt allen politischen Hader und unsre Stellung als Gegenkandidaten vergessen.« In Wahrheit erzitterte John Allingham noch immer von dem elektrischen Schlag, der ihn vorhin durchzuckt hatte, und war auch vom Blutverlust geschwächt; dazu belehrte ihn auch ein Blick auf das bleiche Antlitz seiner Gefährtin, daß keines von ihnen noch mehr Aufregung gewachsen wäre. Gertrud blickte aus dem Fenster und sah den Fluß im Mondschein erglänzen, was sie plötzlich an einen an der Donau verlebten Abend erinnerte, und von diesem fing sie nun an zu sprechen.
Allingham, der viel gereist war und sich eines außerordentlich guten Gedächtnisses erfreute, war froh über diese Erinnerungen und trug sein Teil zu dieser leichten Unterhaltung bei, die ihnen den Rest des Weges verkürzte und die so war, wie sie zwei kluge, einander sympathische Bekannte führen mochten, die der Zufall während einer müßigen Stunde zusammengebracht hatte.
Mitternacht war lange vorüber, als sie wieder in Roma einfuhren. Der Versammlungssaal war eine Stunde zuvor geschlossen worden, und die enttäuschten Zuhörer, die nur ungeduldig den Stegreifrednern gelauscht hatten, die zu ihnen sprachen, bis die Hauptpersonen der gemeinsamen Debatte erscheinen sollten, waren unentschlossen, wen sie morgen wählen sollten, nach Hause gegangen.
Das Auto hielt außerhalb der Einfahrt des Van Deusenschen Hauses, und einer der noch immer dicht vermummten Chauffeure half Gertrud heraus. John Allingham war zuerst ausgestiegen, aber noch ehe er den beiden Chauffeuren Vorwürfe darüber machen konnte, daß sie eine Dame nach Mitternacht allein auf der Straße stehen ließen, statt bis zu ihrer Haustüre zu fahren – kurz, gerade als er anfing, zornig zu werden, schlug der Mann die Türe zu, sprang auf seinen Sitz und – hast du nicht gesehen – sauste das Auto wieder fort.
»Und wir haben keine Ahnung, wer sie waren!« klagte Fräulein Van Deusen. »Sie hatten keine Nummer –«
»Falls sie diese nicht bei dem zertrümmerten Wagen gelassen haben,« erwiderte Allingham, »aber dazu sind sie viel zu schlau. Sie haben die Nummern weggenommen und versteckt. Aber ich werde diese Sache in die Hand nehmen und untersuchen lassen. Eine derartige Entführung muß doch entdeckt werden.«
»Aber keines von uns kann die Männer beschreiben,« wandte Gertrud ein, »ich einmal sicher nicht – und Sie? Sie waren mit ihren großen Mänteln und Mützen viel zu gut verkleidet, und der meine sprach kein Wort, außer dem einen Mal dort im Wald.«
»Meiner auch nicht, außer bei dem zertrümmerten Wagen,« erwiderte Allingham; »außerdem ist mir gar kein Auto in Roma bekannt. Trotzdem müssen Sie aber jetzt hineingehen.«
Er schritt neben ihr her bis zur Türe. Das Haus war von oben bis unten erleuchtet, denn ihre Base wartete in der größten Aufregung und Sorge auf sie. Es war natürlich in der ganzen Stadt herumtelephoniert worden, als die Hauptredner bei der Versammlung nicht erschienen, und ihr unerklärliches Verschwinden hatte die größte Bestürzung erregt.
Jessie Craig empfing ihre Cousine schluchzend und forderte im gleichen Atem eine Erklärung. Gertrud aber bestand trotz der späten Stunde darauf, daß Allingham mit hineinkam, um sich etwas auszuruhen und zu erholen.
»Er ist verwundet,« sagte sie zu ihrer Base, »und es muß sofort etwas für ihn geschehen. James, telephonieren Sie gleich an Herrn Doktor Dean.«
Es gehörte nicht viel Überredungskunst dazu, ihren Gegner zu veranlassen, daß er in das gastliche Haus trat, denn er fühlte sich nachgerade sehr schwach und einer Ohnmacht nahe. Kaum war er im Zimmer, so überwältigte ihn die warme Luft, und man mußte ihm helfen, sich auf ein Sofa zu legen. Stärkungsmittel wurden herbeigeholt und ihm eingeflößt, und Gertrud selbst half ihm in die Bibliothek, wo er den Arzt erwarten sollte.
Als dieser erschien, fand er eine schwere Kopfwunde und einen so fieberhaft erregten Puls, daß er befahl, den Verunglückten in seinen Wagen zu tragen, nachdem er ihn hinlänglich verbunden hatte, da er ihn selbst nach Hause bringen wollte. Eine verängstigte Mutter und desgleichen Tante standen bereit, den Kranken zu empfangen, da ihnen sein Unfall und seine Rückkehr nach Roma telephoniert worden war. Aber ehe er abfuhr, fand er doch noch Gelegenheit, Gertrud Van Deusen seinen Dank zuzuflüstern für ihre Güte und den ihm so freundlich gewährten Waffenstillstand.
Fieberhaft erregt, wie er war, hoffte er halb, sie möchte am nächsten Tag siegen, sobald er sich während der langen Nacht ihres im Mondschein über ihn geneigten Antlitzes erinnerte.
Was nun Gertrud betraf, so warf sie sich, nachdem alle heim und zu Bett gegangen waren, die langen schlaflosen Stunden ruhelos hin und her und sann, sann, sann.
»Wie schade, daß er von den Frauen denkt, wie er es tut,« sagte sie zu sich selbst. »Daß auch ein so ritterlicher, so von Herzen gütiger Mann in dieser Weise hinter seiner Zeit zurückbleiben mußte! Ich möchte wissen, wie wir uns getroffen hätten, wenn ich nie in das öffentliche Leben hinausgetreten wäre. Ob er mich dann wohl wirklich liebgewonnen hätte?«