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Elftes Kapitel.
An der Arbeit

Die feierliche Amtseinsetzung des »neuen Bürgermeisters« wird in der Chronik der Stadt Roma für alle Zeiten aufgeführt werden als der Tag, der die größte Zahl von Bürgern beiderlei Geschlechts im Rathaus, diesem Tempel der Geldschacherer, vereinigt sah. Freunde und Feinde des neuen Stadtoberhauptes waren in voller Stärke erschienen, und die Ansprache Gertruds, mit der sie ihre neuen Pflichten übernahm, fand Widerhall in manchem Herzen, das an diesem Tag durch ihre Worte erstmals aufgerüttelt wurde. Die Frauen Romas waren in solchen Massen herbeigeströmt, daß der alte Sitzungssaal bei weitem nicht alle fassen konnte.

Aber erst, als Gertrud von dem hübsch ausgestatteten Zimmer des Stadtvorstandes Besitz ergriffen hatte, machte sie sich ganz klar, daß sie vor dem größten Problem ihres Lebens stand, denn jetzt hatte sie Zutritt zu dem innersten Tempel der Mysterien der Stadtverwaltung. Den Schwierigkeiten, die ihr Geschlecht ihr bereiten konnte, hatte sie dadurch vorgebeugt, daß sie Mary Snow vom »Atlas« als ihre Privatsekretärin anstellte.

»Sage mir nicht nein,« drängte sie Mary, als sie ihr die Stellung anbot. »Ich muß eine weitdenkende, großherzige, begabte Frau mit Erfahrung und Geschäftskenntnis neben mir haben. Ich kann mir nicht denken, daß etwas andres als der Journalismus in der Art, wie du ihn getrieben hast, den Frauen einen richtigen Einblick in die öffentlichen Angelegenheiten gewährt.«

»Es gibt aber auch noch andre Journalistinnen,« wand Mary ein.

»Ja, ich weiß, daß es welche gibt,« erwiderte Gertrud Van Deusen, »aber eine Frau muß außer der Erfahrung auch Charakter, persönliche Würde und Ehrgefühl besitzen, um diesen Posten auszufüllen.«

Und Mary Snow hatte die Stellung angenommen, zur Freude aller übrigen Journalisten und Journalistinnen, denn ein von seinem Chef ausgesandter Neuigkeitsjäger ist durch nichts so angenehm berührt, als wenn er einen weiblichen oder männlichen Kollegen trifft, der ihm die nötigen Auskünfte erteilt.

Da der »neue Bürgermeister« an die Macht der Öffentlichkeit glaubte, erfreute er sich bald der getreuen Unterstützung der Zeitungen, die mit dem Rathaus Fühlung suchten. Auch Gertruds Stenographin war ein anziehendes junges Mädchen, und das weibliche Element machte seine Vorherrschaft in dem zur Benützung des Stadtvorstandes bestimmten Teil des Rathauses in Bälde geltend. Blühende Blumen standen in den Fenstern, ein etwas verfrühtes, aber gründliches Großreinemachen fand statt, und die Spucknäpfe, die sich allerorten breit machten, verschwanden vom Schauplatz. In den verschiedenen Teilen des Gebäudes wurden in allen Gängen Plakate aufgehängt, die auf die neuen Abfallkörbe aufmerksam machten und das Rauchen und Ausspucken verboten.

Seit Menschengedenken war das Rathaus der Zusammenkunfts- und Tummelplatz für ausgediente Politiker, die ihre Pläne für die nächste Wahl schmiedeten und einen Teil der für die Stadtväter bestimmten Sitze einnahmen. Eines schönen Morgens fanden diese Herrschaften keine Stühle für sich vor. Es waren nur genau so viele vorhanden, wie für die Väter der Stadt und die Vertreter der Kirchengemeinde erforderlich waren. Sie riefen nach dem Hausverwalter und überschütteten ihn mit Vorwürfen und Schimpfreden – aber ohne jeden Erfolg.

» Sie hat die Stühle zu entfernen befohlen, Jungens,« sagte er, »und es würde mich meine Stelle kosten, wenn ich sie wieder herschaffen würde. Die Diener sagen, sie wolle keinerlei Parteigänger hier dulden.«

Damit mußten sie sich wohl oder übel zufrieden geben und sich – nachdem sie eine geraume Zeit weidlich geschimpft hatten – entfernen und auf die Suche nach einem andern Lokal machen. Zum ersten Male erfreute sich das Rathaus reiner Gänge, ohne Tabakrauch und ohne Bummler.

Vom ersten Augenblick ihres Dienstantrittes an wurde Gertrud von städtischen Beamten und Dienstanwärtern dermaßen überlaufen, daß sie daran verzweifelte, noch irgend etwas andres tun zu können, als diese zu beschwichtigen und jene zu vertrösten. Schnell genug lernte sie, alle diese Bittsteller ihrer Privatsekretärin zu überweisen. Sie fand es nicht gut, tüchtige Männer zu entlassen, fühlte aber, daß sie um ihrer eigenen Sicherheit willen gute Berater zur Seite haben müsse. Am Schluß der ersten Woche ihrer Amtstätigkeit verlangte sie den Rücktritt des Syndikus der Stadt, Mc Adoo, der behauptete, es sei ihm nur angenehm, von der »Unterrocksregierung« – wie er sich ausdrückte – loszukommen. Sofort übertrug sie Bailey Armstrong seine Stelle.

Die Stadtverordnetenversammlung bestand aus achtzehn Mitgliedern, von denen die eine Hälfte neu gewählt war; es war daher unbestimmt, ob sie etwaige große, von dem neuen Stadtvorstand vorgeschlagene Reformen unterstützen würden oder nicht. Als aber schließlich Geoffrey Mason und Albert Turner zugestimmt hatten, sich als Kandidaten des »Fortschrittlichen Frauenvereins« aufstellen zu lassen, und gewählt worden waren, da konnte sie sich wenigstens auf diese verlassen und hoffen, daß sie auch andre auf ihre Seite bringen würden. Außer diesen beiden hatten etwa ein halbes Dutzend Stadtverordnete auf dem Wahlzettel der Frauen gestanden, von denen kein einziger bereit gewesen wäre, unter einem andern Stadtvorstand zu dienen, aber nachdem sie sich einmal verpflichtet hatten, »ihr durchzuhelfen«, und gewählt worden waren, so erfüllten sie ihr Versprechen jetzt als tüchtige, gute Bürger, die sie waren.

Es gab aber noch sonst mancherlei, was sie ärgerte und quälte. Hauptsächlich war es der Umstand, daß die Stadträte durchaus gegen sie waren und sich von Anfang an bemühten, ihre Lieblingspläne zuschanden zu machen, da sie fast alle Anhänger der alten Richtung und Gegner jeder durchgreifenden Verbesserung waren.

»Für zwei Jahre haben wir sie drin – das ist Pech genug, aber wir wollen ihr so die Hände binden, daß sie nicht allzuviel Unheil stiften kann. Ein Bürgermeister ist ja schließlich doch nur ein Bürgermeister,« sagte ein Stadtrat zu einem Journalisten, der ihn für das »Tagblatt« interviewt hatte.

Doch der neue Stadtvorstand ging fröhlich seinen Pflichten nach, und wenn sie von all diesen Dingen etwas wußte, so ließ sie es sich doch nicht merken, und es schien, als ob die Maschine der Stadtverwaltung wie auf frisch geölten Rädern glatt dahinrolle. Schließlich fragten sich selbst ihre begeistertsten Anhänger, »wann sie sich wohl an die Arbeit machen werde«.

Aber sie war schon an der Arbeit. Der weibliche Bürgermeister besaß eine schaffende Einbildungskraft und schreckte vor großen Plänen und Gedanken nicht zurück. Schon träumte sie von einem Feldzug gegen Privilegien aller Art. Bestechungen sollten innerhalb der Stadtverwaltung unmöglich sein und nur wirklich vornehm denkende Männer sollten noch in den Stadtrat und die Stadtverordnetenversammlung gewählt werden. Einige große Verbesserungen mußten in der Stadt ausgeführt werden.

Sie war zu der Einsicht gelangt, daß die Stadtverwaltung für die meisten Leute nur eine Art geschäftlicher Unternehmung war, eigentlich eine Sache der Polizei, der Feuerwehr und des Gesundheitsamtes, wozu noch einige Ämter für Volksschulen, Straßenreinigung und Wasserversorgung kamen; daß die Leute von all diesen Dingen so viel wie nötig und möglichst billig zu haben wünschten, damit die Bürger unbehindert ihren eigenen Geschäften nachgehen konnten.

»Das ist,« dachte sie bei sich selbst, »die Auffassung des Durchschnittsmannes von dem Nutzen einer Stadtverwaltung. Eines schönen Tages werden wir auf diese Ansichten zurückblicken wie auf die zerstreutliegenden Wigwams eines Indianerdorfes. Die Stadt von morgen schon wird eine Stadt des Volkes sein und für dessen Wohl eine Unmenge von Dingen tun, an die heute noch niemand denkt.«

»Und du hast vor, diesen Gedanken hier in Roma zu verwirklichen?« fragte Mary Snow, der sie nach einem Vormittag harter Arbeit diese Gedanken beim Gabelfrühstück im Ratskeller auseinandersetzte, etwas ungläubig. »Du hoffst, daß Roma für dies alles aufkomme?«

»Ihre Ehren« lächelte über den Tisch hinweg der Freundin zu und sagte: »Ja, ich hoffe, in dieser Richtung hin zu wirken und so viel öffentliches Interesse dafür zu erregen, daß mein Nachfolger hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt gewählt wird, ob er die Pläne zu Ende führen wird oder nicht, mit deren Verwirklichung ich beginnen will. Ich kenne eine Stadt, die in diesen Dingen eine durchaus notwendige Aufgabe einer guten Stadtverwaltung sieht, die sich nicht damit begnügt, möglichst wenig für ihre Bürger zu tun, sondern bestrebt ist, möglichst viel zu leisten. Die Stadtbäder jener Stadt geben jährlich Hunderttausende von Bädern ab. Sie haben Turnhallen, wo städtische Lehrer die Kinder unterrichten. Tausende von Familien können sich auf den durch die Stadt verteilten Rasenplätzen am Baseballspiel Baseball, ein in Nordamerika sehr beliebtes Spiel, bei dem zwei Parteien gegen einen Mann auf vier Malen spielen – nicht zu verwechseln mit dem Fußballspiel. (Anmerk. d. Übers.) kostenlos ergötzen. Eine Anzahl von Bürgervereinen, aus gewerblich Angestellten, Handwerkern und Arbeitern bestehend, wurden gegründet. Im Winter werden Eisfeste gegeben und verschiedene künstliche Eisbahnen in Betrieb gehalten. Die Kinder werden zu Mai- und sonstigen Festen in die öffentlichen Parks eingeladen. All diese Dinge erweitern und verschönern nicht nur das Leben der Bürgerschaft, sondern sie bekommt auf diese Weise eine Fühlung mit der Stadtverwaltung, von der man sich vor einigen Jahren nicht hat träumen lassen. Wenn Roma diese Grundsätze befolgt, wird es tatsächlich eine volkstümliche Stadt, eine Stadt, die ihren Bewohnern dient, die Lebenslust und Glücksgefühl erweckt bei viel Tausenden von Menschen, die sich sonst in aufreibender Alltagsarbeit verzehren.«

»Wenn es dir gelingt, eine solche Idealstadt zu schaffen,« sagte Mary Snow, »so wird man dich in Roma die beneidenswerteste unter den Frauen nennen und dir niemals gestatten, dein Bürgermeisteramt niederzulegen, sondern dich immer wieder und wieder wählen.«

»Weißt du,« fuhr Gertrud fort, »das beste Mittel, die Wirtshäuser und Schenken zu bekämpfen, wird immer sein, für sie einen interessanteren Ersatz zu bieten. In meiner Idealstadt soll es aber nicht nur Rasenplätze für das Baseballspiel geben, sondern auch Golf- und Lawn-Tennisplätze, damit Tausende lernen, sich an den von der Stadt gebotenen Genüssen zu erfreuen. Ein Dutzend Spielplätze soll in einander benachbarten Bezirken angelegt werden und da sollen Turnlehrer die Kinder der Armut spielen lehren. Die Kinder sollen von der Straße weggenommen und dadurch der Zwangserziehung in Besserungsanstalten entrissen werden. Außerdem werden sie dadurch einen gesunden Körper erhalten, in dem sich dann auch eine gesunde Seele entwickeln wird. Auf diese Weise wird die Arbeit der Polizeiabteilung vermindert werden, denn ein Spielplatz ersetzt mehrere Schutzmänner und kostet nicht den vierten Teil. Wer kann behaupten, daß unser Roma von heute nicht morgen schon in diesen Dingen auf einer viel höheren Stufe steht als irgendeine Stadt, die bis zum heutigen Tage derartige Versuche unternommen hat? Diese öffentlichen Veranstaltungen werden dem Wirtshauslaufen Abbruch tun und auch der Familie des ärmsten Mannes Gelegenheit zur Erholung bieten und Glück und Freude in sein Haus bringen.«

Aber Mary Snow blieb diesmal die Antwort schuldig – sie hatte ein Lächeln von Bailey Armstrong erhascht, der eben das Lokal durchschritt, und darüber zerfloß sogar die Idealstadt in ihren Gedanken in Nebel, während eine heiße Erregung das Blut rascher durch ihre Adern jagte und ihre Wangen rosig färbte, was Gertrud, die sie ansah, zu der Bemerkung veranlaßte: »Wie hübsch du aussiehst, Mary, ich käme niemals auf den Gedanken, du könntest achtzehn vorbei sein!«


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