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Die Damen des »Fortschrittlichen Frauenvereins« waren ganz besonders bemüht gewesen, die gemeinschaftliche Debatte zwischen ihrer Kandidatin und dem Kandidaten der Republikaner zustande zu bringen, und fanden sich vollzählig und frühzeitig zu der Versammlung ein. Als es acht Uhr schlug und Gertrud Van Deusen noch nicht erschienen war, hatten sie noch keine Angst; als aber Minute um Minute verrann und sie immer noch nicht kam, fühlten sie sich zuerst überrascht und dann gerieten sie in Sorge.
»Gertrud ist immer pünktlich,« sagte Frau Bateman, während die Damen im Vorzimmer warteten. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, was sie zurückhalten kann. Bitte, Anna, willst du nicht so gut sein und in ihre Wohnung telephonieren und anfragen, ob sie weg ist oder nicht. Ich muß hier nach dem Rechten sehen.«
Frau Stillman eilte ans Telephon und kehrte nach einiger Zeit mit einem seltsam verstörten Ausdruck auf ihrem aristokratischen Gesicht zurück. »Ihre Cousine sagt,« berichtete sie, »um halb acht Uhr sei sie in einem Automobil fortgefahren, und jetzt ist es halb neun Uhr.«
»In einem Automobil?« wiederholte Frau Bateman. »Hat irgend jemand sie holen lassen?«
Niemand wußte etwas. Ihre Kandidatin hatte stets ihren eigenen Wagen benützt und kein Mensch hatte daran gedacht, sie abholen zu lassen. Immerhin konnte es irgend ein Freund getan haben. Bailey Armstrong zum Beispiel besaß ein ganz neues Auto. Nichts war natürlicher als das.
Aber gerade in diesem Augenblick trat Bailey in das Vorzimmer.
»So etwas Sonderbares ist ja noch gar nicht dagewesen,« sagte er. »Fräulein Van Deusen kommt nicht und niemand scheint zu wissen, wo sie ist. Und John Allingham wird ebenfalls vermißt, und keiner seiner Freunde kann einen Grund angeben für seine Abwesenheit. Was sollen wir tun?«
»Tun?« wiederholte Frau Bateman. »Was können wir überhaupt tun?«
»Der Saal ist gedrängt voll – und die Unmenge von Zuhörern fängt an, ungeduldig zu werden,« fuhr Bailey fort. »Wir müssen irgendwie beginnen. Auf der andern Seite haben sie einen Redner, den sie vorschicken können, aber wir –«
»Bei uns müssen Sie anfangen, Bailey, Sie können und müssen es,« sagte Frau Bateman. »Wir müssen unbedingt die Zeit ausfüllen, bis Gertrud kommt.«
Nach einer eiligen Beratung mit einigen Vertretern von Allinghams Ausschuß wurde die Versammlung eröffnet und die Reden begannen. Aber obgleich die erwählten Redner ziemlich beredt waren und gut sprachen, waren sie eben doch ganz unvorbereitet und sich wohl bewußt, daß ihre Zuhörer nur halb bei der Sache waren und immer mit einem Auge nach der Türe schielten, daß kurzum jeder und jede der Anwesenden nur die beiden Kandidaten zu hören wünschte, so daß nur eine ziemlich mäßige Ruhe zustande kam. Minute um Minute verging, die Minuten verwandelten sich in Stunden, und die beiden erwarteten Redner erschienen nicht. Frau Mason, Frau Bateman und sogar Mary Snow wurden auf die Rednerbühne geschoben, um die Sache der Frauen zu vertreten, und obgleich sie mit Beifallskundgebungen empfangen wurden, nahm die Versammlung doch um elf Uhr mit einem Gefühl der Enttäuschung, um nicht zu sagen des Mißerfolges, ein ziemlich jähes Ende. Die Besucher der Versammlung zerstreuten sich mit der einzigen Frage auf den Lippen: »Wo sind sie? Warum sind sie nicht gekommen?«
Kurz nach zwei Uhr klingelte Gertrud bei Frau Bateman an und berichtete ihr, was sie erlebt hatte, seit sie zu der gemeinschaftlichen Versammlung aufgebrochen war. Auch noch andre Mitglieder des Ausschusses zu benachrichtigen, dazu war es viel zu spät geworden.
»Willst du es in die Zeitungen bringen lassen?« fragte Frau Bateman.
»Gott behüte! Bedenke doch nur, welch jämmerlichen Eindruck das Hervorrufen müßte.«
»Dann muß ich sofort bei Allinghams anläuten,« erwiderte Frau Bateman, »und sie bitten, die Sache gleichfalls zu unterdrücken. Aber welche Entschuldigung können wir Vorbringen? Irgend eine Erklärung muß doch abgegeben werden.«
»Ich weiß es selbst nicht,« sagte Gertrud müde, »und überlasse alles dir und deines Mannes Gutdünken. Aber ich möchte nicht, daß die Wahrheit in die Öffentlichkeit käme.«
»Gut, dann will ich mich jetzt mit Allinghams verbinden lassen,« entgegnete Frau Bateman, und tat dies auch sofort. Frau Allingham erschrak bis auf den Tod bei dem bloßen Gedanken, daß die Entführung ihres Sohnes in der Presse abgehandelt werden könnte.
»Jetzt schläft er,« sagte sie, »seit der Arzt das letzte Pflaster aufgelegt hat, aber sobald er aufwacht, werde ich ihn fragen, was ich Ihnen bestellen soll. Jedenfalls wollen wir, wenn irgend möglich, alles aus den Zeitungen fernhalten.«
Aber trotzdem enthielt jedes Morgenblatt der Stadt, seiner Eigenart entsprechend mit mehr oder weniger Aufwand an Geschwätzigkeit und Geschäftigkeit, eine ausführliche Schilderung des Abenteuers. Natürlich waren die konservativen Zeitungen bestrebt, das Ereignis möglichst korrekt darzustellen und anzudeuten, daß die »Burkesche Partei hinter dem verächtlichen Trick« stecke, aber das von der »Rathausbande«, wie man in Roma allgemein die städtische Verwaltung bezeichnete, unterstützte Blatt brachte einen höchst sensationellen Bericht, der in lustiger und geschwätziger Weise bewies, zu was allem die »gelbe Presse« fähig ist. Die Überschrift dieses Artikels hieß:
»Hübsche weibliche Kandidatin und aristokratischer Streber für die Bürgermeisterstelle entfliehen der gemeinsamen Auseinandersetzung in die Wälder und kehren friedlich zusammen in einem Autotaxameter zurück.«
Ein Teil des Artikels lautete, wie folgt:
»Seit Wochen haben die Vertreterinnen für höhere Ausbildung der Frauen und die geistesstarken Schreierinnen für deren Wahlrecht, von denen die Tochter des verstorbenen Senators Van Deusen zur Annahme der Kandidatur für die Bürgermeisterwahl von Roma gedrängt wurde, an dem Zustandekommen einer gemeinsamen Redeschlacht gearbeitet, bei der ihre Kandidatin dem Gernegroß der amerikanischen Aristokratie gegenübertreten und sich mit Herrn John Allingham im Rededuell messen sollte. Sie haben für diesen Kampf der Geister alles in Bewegung gesetzt. (Wir wollen davon absehen, zu erörtern, wie wenig Verstand zu solch einer Debatte erforderlich ist.) Schließlich hatten sie mit viel Spektakel und, wie man zu sagen pflegt, ›mit Pauken und Trompeten‹ eine solche Debatte für den Abend vor dem Wahltag durchgesetzt.
»Gestern abend war der große Liederhallesaal mit der gewohnten, in jeder Beziehung gemischten Gesellschaft von Roma bis auf den letzten Platz gefüllt. Sie waren herbeigeströmt, um sich an der doppelten Beredsamkeit, an dem Witz und der Weisheit ihrer beiden Kandidaten zu ergötzen. Schließlich mußten sie sich doch auch darüber schlüssig werden, ob sie den Sitz des Bürgermeisters einem steifen, konservativen Aristokraten, der sich um das Wohl und Wehe der Arbeiterklasse gerade so viel kümmert wie um seine Lastpferde, beziehungsweise Maultiere, oder einem jungen Mädchen einräumen wollten, das allerdings aus guter Familie stammt, aber von der städtischen Verwaltung keine Ahnung hat und nur eine ererbte selbstgefällige Sicherheit besitzt, über allen und jeden Gegenstand eine anmaßende Meinung abzugeben.
»Hat nun diese zusammengelaufene Zuhörermenge irgend etwas von der in Aussicht gestellten Debatte zu hören bekommen?
»Nein. Warum nicht? Während das ungeduldig werdende Publikum von gleich Pilzen aus dem Boden emporschießenden Stegreifrednern hingehalten wurde, fuhren die Hauptpersonen der Komödie in Autotaxametern einander nach bis in einen zwanzig Meilen entfernten Wald, wo sie dann glücklich zusammenstießen. So greift manchmal die Hand des Schicksals ein und verwehrt den allzu Ehrgeizigen die Erfüllung ihrer Pläne.
»Als die beiden Chauffeure von dem Bauerngut zurückkehrten, wo sie Hilfe geholt hatten, um ihre Maschinen wieder in Stand zu setzen, lag Allingham, der Aristokrat, im Schoße seiner bisherigen Gegnerin im Kampf um die Bürgermeisterstelle. Es mußte ein Anblick für Götter – und auch für die Wähler von Roma gewesen sein.
»Das Pärchen, das soeben noch mit gekreuzten Degen einander gegenüberstand, saß nun mollig aneinandergeschmiegt in einem Auto und kam morgens nach ein Uhr in die Stadt zurück – sie war nicht übler daran durch die schlaue Vermeidung des Gegenüberstellens auf der Rednerbühne, und er trägt nur ein kleines Pflaster auf der Stirn, um zu beweisen, daß er verunglückt ist.
»Nun bleibt es den Wählern von Roma überlassen, zu entscheiden, ob solchen Kandidaten wie diesen das Wohl unsrer jungen emporblühenden Stadt anvertraut werden kann – und dementsprechend ihre Stimmen abzugeben.«