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Zehntes Kapitel.
Die Politik des neuen Bürgermeisters

Die Geschichte von der Entführung verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt, und das Interesse an ihr überwog sogar das an der Bürgermeisterwahl. Wie gewöhnlich in solchen Fällen wurden die Tatsachen übertrieben und den ungereimtesten Vermutungen über die Anstifter des Komplotts die Zügel schießen gelassen. Manche Leute (die Vernünftigsten) glaubten, daß die ganze Sache von Burke und seiner Gefolgschaft geplant und ausgeführt worden sei, während wieder andre meinten, der Einfall sei in Sam Watts Kopf gewachsen, Armstrong habe Wind von der Entführung Gertrud Van Deusens bekommen und schnell den Stiel umgedreht, indem er ein andres Auto mietete, John Allingham überfiel, als dieser allein sein Haus verließ, um zu der allgemeinen Volksversammlung zu gehen, und diesen unter Bewachung von zwei Männern verschwinden ließ. Man sagte sogar, Armstrong habe John Allingham zwei Männer mitgegeben für den Fall, daß er versuchen würde, die Glasscheiben einzuschlagen und aus seinem so schnell beweglichen Gefängnisse zu springen. Aber der Streich war wohl vorbereitet, was schon der Umstand bewies, daß an den Außentüren beider Wagen Schlösser angebracht worden waren, so daß sie von innen unmöglich gesprengt werden konnten.

Aber obgleich beide Opfer der Entführung Privatdetektive in ihren Dienst genommen hatten, um der Sache nachzuspüren, so ließ sich doch kein einwandfreier Beweis gegen irgend jemand erbringen. Aber wie es bei so vielen aufsehenerregenden öffentlichen Ereignissen zu gehen pflegt: man beschäftigte sich einige Tage mit der nächtlichen Fahrt der Kandidaten, und dann wandte sich das öffentliche Interesse dem neugewählten Bürgermeister zu.

Gertrud bedurfte nicht nur der öffentlichen Sympathie, sondern auch all des Mutes und des Scharfsinnes, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Dies wurde ihr immer klarer, je mehr sich die Wogen der Aufregung über die Wahl glätteten. Hätte sie Zeit, Kraft und Geld für Automobile oder schöne Kleider ausgegeben, so wäre ihre Wahl aller Welt ganz natürlich erschienen und sie um ihre Lebensweise beneidet worden. Nun aber, da sie zu angestrengter Arbeit entschlossen war und sich der Verfechtung ihrer Grundsätze und der Organisation einer guten Stadtverwaltung widmen wollte, tuschelten ihre verschiedenen Bekannten untereinander: »Wie sonderbar!« – »Wie unweiblich!« – »Wie unnatürlich für eine Frau!«

»Die einzigen Beweggründe, die viele Leute verstehen,« sagte Gertrud einmal zu ihrer Cousine, »sind die, durch die sie sich selbst leiten lassen, und auch dies nicht immer. Meine reichen Freunde sind anscheinend nicht imstande, mich zu verstehen, wohl aber die schlichten und einfachen, alle diejenigen, die einer Überzeugung und eines Opfers für ihre Überzeugung fähig sind.«

»Gleichwohl, Gertie,« gab Jessie zurück, »steckst du jetzt in einer netten Patsche, und ich wollte wirklich, du wärest klug genug gewesen, abzulehnen, als diese Frauen dich in die Geschichte hineinhetzten,« eine Bemerkung, die nur dazu taugte, zu beweisen, daß Verwandte – wie das alte Axiom behauptet – stets sagen dürfen, was sie wollen.

Allein der »neue Bürgermeister« legte keinen Wert auf die Äußerungen seiner Cousine und fuhr unentwegt fort, Pläne für Romas Zukunft zu schmieden, die verschiedenen öffentlichen Einrichtungen zu besichtigen und sich eine so gründliche Einsicht in die städtische Verwaltung zu verschaffen, wie es irgend möglich war, ehe er offiziell seinen Platz auf dem Rathaus eingenommen hatte. Gertrud besuchte die Schulen, die Spitäler, die Polizeistationen und das Gefängnis. Noch war sie überwältigt von der Größe der Aufgabe, die sie übernommen hatte, aber schon träumte sie auch von einer neuen und schönen Entwicklung der Stadt. Sie beratschlagte mit den leitenden Geschäftsmännern, mit Richtern, Rechtsanwälten und Geistlichen. Sie begann selbständige Gedanken zu entwickeln und dankte ihrem Gott, daß er ihr Mut und Willenskraft genug verliehen hatte, um nicht in wildem Schrecken den verfahrenen Karren der Stadtverwaltung im Schmutz stecken zu lassen – Mut genug, ihren Kopf hoch und ihr Ziel auf dem schmalen Weg fest im Auge zu behalten. Sie fing an, dem Volk näher zu treten, ein persönliches Interesse dafür zu empfinden, sich der großen Gemeinschaft der Menschheit bewußt zu werden und sich darüber zu besinnen, wie sie es am besten anfinge, die höchsten sozialen Ideale in das Alltagsleben ihrer Stadt hineinzutragen. Nahm je ein Mann Besitz von dem Bürgermeisterstuhl mit reineren Hoffnungen, mit würdigerem Ehrgeiz?

Mittlerweile brachte ihr jede Post eine Menge mehr oder weniger beglückwünschender Briefe. Einige der Schreiber prophezeiten ihr eine große Laufbahn, andre verdeckten hinter halben Worten ihren Zweifel, ob sie auch die nötigen Fähigkeiten habe, den Pflichten gerecht zu werden, die sie übernehmen wollte; wieder andre warnten sie geradezu vor den Gefahren der Schwäche gegenüber dem Demagogentum oder widerrieten ihr die Einführung von radikalen Reformen.

Gesellschaftlich war sie mehr denn je in Anspruch genommen. Festessen und feierliche Empfänge ihr zu Ehren erforderten ihr Erscheinen, und ihre neu entwickelte Rednergabe wurde bei jeder Gelegenheit in Anspruch genommen. Das größte gesellschaftliche Ereignis war aber doch das ihr zu Ehren vom »Fortschrittlichen Frauenverein« gegebene Festessen, das am Abend vor ihrer Einführung ins Amt stattfand. Dazu waren alle weiblichen und männlichen Standespersonen von Roma, die Bürgermeister der benachbarten Städte und der Gouverneur des Staates geladen. Auch der letztere verfehlte nicht, mit einem Gefolge von Offizieren in Galauniform zu erscheinen, die, wenn auch nicht durch Witz und Verstand, so doch durch Sterne und Medaillen glänzten.

Gertrud, in ihrem schönsten Pariser Gewand – weißgestickter Seidenkrepp mit wundervollen echten Spitzen besetzt – empfing neben dem Gouverneur, den sechs andern Bürgermeistern, Frau Bateman als Vorsitzender des einladenden »Fortschrittlichen Frauenvereins« und Herrn Bateman als Vertreter des »Neuen städtischen Reformvereins«, die Gäste. Auch John Allingham war als Vorstand des Bürgervereins eingeladen worden, mit den ebengenannten Herrschaften zu repräsentieren, aber bis zum letzten Augenblick war keine Antwort von ihm eingetroffen.

Seit dem Wahltag hatte Gertrud ihn nicht mehr gesehen, denn er war sofort erkrankt und blieb vierzehn Tage lang an Bett und Zimmer gefesselt. Obgleich er sich sehr dazu versucht fühlte, hatte er doch davon abgesehen, ihr einige beglückwünschende Worte zu schreiben: wie er meinte, aus Stolz, in Wahrheit aber schon mehr aus Halsstarrigkeit. Aus diesem Grunde konnte er auch zu keinem Entschluß kommen, ob er sich an dem Empfang des neuen »Bürgermeisters« beteiligen solle oder nicht, bis Bailey Armstrong ihn zwei Stunden vorher in seinem Dienstzimmer aufsuchte.

»Warum gibst du auf Fräulein Van Deusens Einladung nicht einmal eine Antwort, John?« fragte er ihn gerade heraus, während er sich auf den Stuhl zunächst Allinghams Schreibtisch niederließ. »Kannst du dein Vorurteil nicht einmal so lange überwinden?«

»Nun, was denkst du von der Sache?« erwiderte John. »Du weißt doch, daß der Bürgerverein sich geweigert hat, ihre Wahl zu unterstützen.«

»Auf deine Veranlassung hin, o ja,« gab Bailey mit der Aufrichtigkeit eines alten Schulfreundes zurück. »Wäre es jetzt aber nicht an der Zeit, daß der Verein seinen Entschluß rückgängig machte und das Gegenteil täte? Du stellst den Verein in ein schlechtes Licht, John, das kannst du mir glauben. Ich hätte gedacht, du wärest weniger borniert! Und das kann ich dir versichern, Fräulein Van Deusen wird diese Stadt dermaßen aufrütteln, daß du gerne unter ihrer Flagge segeln wirst – und zwar bald. Komm, sei jetzt endlich nett, alter Freund!«

»Wenn du denkst, daß es für den Bürgerverein das Beste ist –« begann Allingham.

»Jawohl, für den wird es besser und für dich am besten sein,« unterbrach ihn Bailey. »Rapple dich auf, schreibe, daß du annimmst, und dann komme!«

Es war spät, als er ankam, und die Räume so gedrängt voller Gäste, daß er an den empfangenden Personen und an seinem Platz in deren Reihe vorbeigeschoben wurde. Es gelang ihm nur, Gertrud aus der Ferne förmlich zu begrüßen, und bei Tisch saß er so, daß er auch nur von weitem ihre Schönheit bewundern konnte, und der Erfolg war, daß zum ersten Male John Allinghams Augen aufgingen und er die moderne Frau sah, wie sie war.

Von einer engherzigen, eifersüchtigen Mutter erzogen, ständig hinter seinen Büchern sitzend, sogar während der Schuljahre ganz zu Hause lebend, hatte er nie zuvor unter dem direkten Einfluß der Frauen gestanden, die heutigen Tages eine fortgeschrittene, erzieherische Macht geworden sind, und er fragte sich zum ersten Male in seinem Leben, ob eine Frau nicht einen starken Einfluß auf das öffentliche Leben ausüben und doch ihre vornehme Gesinnung, ihre häuslichen und haushälterischen Vorzüge bewahren könne.

Er erinnerte sich daran, wie lieblich Gertrud Van Deusen mit achtzehn Jahren ausgesehen hatte, als er zum ersten Male mit ihr in Begleitung ihres vortrefflichen Vaters bei einer öffentlichen Gelegenheit zusammengetroffen war. Aber heute nacht sah sie noch viel schöner aus; ihr Gesichtsausdruck war sanfter und vertrauensvoller. Die schönen Züge drückten Kraft und Ruhe aus; sie hatte noch dieselben schönen Farben, dieselben zarten Linien, dieselbe jugendkräftige Gesundheit, aber daneben war ihr Gesicht klüger und viel schöner als damals.

»Und doch,« sagte er zu sich selbst, »all meine Studien, meine Reisen und Beobachtungen sagen mir, daß der richtige Platz der Frau in der Gesellschaft nur in einem wohlbehüteten Heim ist, und die übeln Folgen des Rüttelns an dieser Stellung werden sich früher oder später zeigen. Die Menschheit ist im allgemeinen überall dieselbe, und zwar steht sie nicht so hoch, wie sie allem Anschein nach glaubt. Die Veränderung sozialer Ideale ist mehr oder weniger gefährlich und deutet häufiger auf Verfall als auf Fortschritt. Heute abend ist allerdings die ganze Atmosphäre von hoffnungsfroher Zuversicht erfüllt. Nun bin ich begierig, was sie sagen wird.«

Denn unter betäubendem Beifallsrufen begann der »neue Bürgermeister« zu der ihn umgebenden Gesellschaft zu reden.

»Ich beabsichtige nicht, Ihnen heute ein bestimmtes Programm vorzulegen,« sagte Gertrud, »aus dem einfachen Grund, weil ich bis jetzt noch gar keines habe. Ich werde die Arbeit anfassen, wo immer es nötig ist, und werde nie vergessen, daß ich nichts bin als die erste Dienerin der Stadt. Aber es gibt da gar manches, das ich mit Ihnen überlegen möchte, damit wir einig sind, wenn wir künftig einmal sehen, daß es mit unserm Werk vorwärts geht – ich sage ›unser Werk‹, denn es ist das Ihre so gut wie das meine: aus Roma eine bessere Stadt zu machen. Statt uns an ein geschriebenes Programm der städtischen Moral zu binden (warum soll man nicht auch von der Moral einer Stadtverwaltung sprechen?), lassen Sie uns lernen, Ursachen suchen und Zusammenhänge finden, erklären und nutzbar machen. Jeder Handel, jeder Beruf hat eine moralische, eine sittliche Grundlage. Jede Verwaltung, sei es eine öffentliche oder private, hat ihre Moral, und unser öffentliches Moralgefühl wird sich von Jahr zu Jahr steigern und weiter ausbreiten. Wir haben den Fehler begangen, zwei zusammengehörige Dinge – Religion und Moral – allzusehr auseinanderzuhalten. Lassen Sie uns hier, in Roma, versuchen, sie wieder ins richtige Verhältnis zu einander zu bringen. Wir können die Stadt nicht in einem Jahr reformieren, aber wir können damit beginnen. Keine Religion ist lebendig – ehe sie wirkt. Wir brauchen keine ›überfirnißte‹ Religion, wie es jemand genannt hat; wir brauchen auch keine Sittenlehre, die nicht einschlüge und die Menschheit so hoch als möglich bringt. Noch lebt Gott in Roma. Es ist unsre Aufgabe, sowohl der Bürger wie auch der Beamten, daß wir ihn festhalten und unsern Nächsten helfen, wo wir können. Wir wollen uns alle daran machen, die Sittlichkeitsgrundlagen einer Stadtverwaltung zu studieren. Was können wir tun, um die Verhältnisse zu bessern? Was sind unsre ersten, schreiendsten Bedürfnisse, und wo sind unsre besten Männer und Frauen, um sie zu befriedigen? Wir haben uns zusammengetan, um diese gute Sache zu unterstützen. Nichts wäre mir lieber, als die Bevölkerung von Roma sich untereinander mit ›Dollars und Cents‹ lieben und die Hände ausstrecken zu sehen, um zu helfen und sich dadurch das unbeschreibliche Glücksgefühl zu verschaffen, das jeder empfindet, der lebt, um den andern zu dienen. Wir alle können unser höchstes soziales Streben beweisen, unsre höchste Pflicht gegen Gott erfüllen, indem wir in diesem Sinne wirken. Wollen Sie mir helfen?«

In den Augen der andern anwesenden Frauen schimmerten Tränen, als Gertrud sich wieder setzte – und in den Herzen der Männer bebte ein entsprechendes Gefühl, denn sie hatte die innersten Tiefen von manchen aufgewühlt, denen man nur den Weg der Pflicht zu zeigen brauchte, damit sie wünschten, ihn zu gehen.

John Allingham saß regungslos da, wie von einem Zauber gebannt. Ein Weib – ein junges Weib konnte in dieser Weise sprechen, konnte daran denken, die Grundsätze der Ethik auf städtische Politik anwenden zu wollen? Und das auf dem Rathaus von Roma? Und doch – warum denn nicht?

Als das Essen vorüber, die Formalitäten erledigt waren und die Verabschiedung begann, trat er dahin, wo sie mit den sich entfernenden Gästen einen Händedruck wechselte und freudigen Herzens Versprechen um Versprechen, ihr zu helfen, entgegennahm – gerade von den Persönlichkeiten, an deren Hilfe ihr am meisten gelegen war. Er mußte einige Augenblicke warten, bis die Reihe an ihn kam, aber schließlich streckte er ihr seine Hand entgegen und sagte herzlicher, als er es für möglich gehalten hätte: »Es ist mir ein Herzensbedürfnis, der Stadt zu ihrem neuen Bürgermeister Glück zu wünschen. Auch möchte ich Ihnen danken für das, was Sie heute gesprochen haben, und Sie bitten, von diesem Augenblick an in jeder Beziehung auf meine Unterstützung zu rechnen.«

Er war noch jung genug, um sich von dem Klang ihrer Stimme und dem Glanz ihrer Augen elektrisiert zu fühlen, als sie ihm dankte und sagte: »Ich werde dessen eingedenk bleiben.«


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