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Köln, den 23. August.
Sind die Weiber doch wunderliche Geschöpfe! Wenn sich alle Gefühle in ihnen nach Hingebung an den Geliebten sehnen, springt die Laune, dieser unablässige Begleiter aller Weiblichkeit, herbei und dictirt Bedingungen, Vorschriften, Verhaltungsregeln, als gälte es die Erhaltung eines künstlich regierten Staates. Glaube aber Niemand, daß in solchem Thun Enthaltsamkeit liege; es ist nur Steigerung des Reizes, Vorgenuß der heiligsten Lust.
Die Weiber sind die Götter der Erde, die lebendig gewordenen Gesetze jener schönen Religion, die allein unangefochten bleiben wird für immer. Unsere Religion nennt sich die Religion der Liebe. Seltsam! »Die Religion der Kälte« würde zuweilen bezeichnender sein. Liebe ist nicht denkbar ohne Hingebung, und wo diese möglich sein soll, muß Gluth, Begeisterung und Auflösung in heilige Lohe als erstes und letztes Gesetz anerkannt werden. Gibt es eine Religion, die uns dies gewährt, die sich die Schönheit der Form zum Muster genommen für innere und äußere Ausbildung? Mir scheint, dem Gesetz der Liebe fehle zuweilen das Ueberzeugende. Die Sucht, recht ätherisch und erhaben zu werden, hat die Flachheit geboren; es ist Alles kahl, glatt, sogar solid langweilig geworden! Nur die pulsirende Wärme des Fleisches kann Leben und Seele diesem zu geistigen, idealistisch-todten Wunderbau wieder einhauchen. – Aber höre, was mir Auguste schreibt, das seltsame Mädchen, voll unschuldiger Koketterie, ein Weib in jedem Gedanken!
»Wir werden uns nicht wiedersehen, trauter Freund, bevor Du nicht Buße gethan hast. Du sollst zwar immer wissen wo ich bin, meine Thür aber wird für Dich verschlossen sein. Bist Du böse, mein Geliebter? Ich küsse das Wort, um Dich zu versöhnen. Aber was denkst Du von mir, daß es Dir in den Sinn kommen konnte, unter heidnischem Jubel und Wahn so mir nichts Dir nichts meinen vollen Besitz erstürmen zu wollen? Jedes Mädchen ist ein verschleiertes Bild zu Sais. Kein Ungeweihter darf mit roher Gewalt den Schleier lüften, er sinkt sonst ohnmächtig zu Boden und seine Ruhe ist dahin für immer. –
»Es ist unglaublich, Sigismund, was ich mir Alles einbilde. Was glaubst, was denkst, was räthst Du wol? – Ich will Dir helfen. Da halte ich mich zum Beispiel für recht hübsch und stütze mich dabei auf Dein eignes Urtheil; auch klug bin ich zuweilen, schlau immer und boshaft nicht selten. Am meisten übe ich diese letzte süße Tugend meines Geschlechts Dir gegenüber, trauter Freund! Ich muß necken, stacheln und reizen können, was ich lieben soll. Ihr Männer ärgert Euch freilich darüber, und das ist mir gerade recht. Dir, Geliebter, mache ich gewiß das unbedeutendste, ungraziöseste Compliment in Gesellschaft, weil mich's ergötzt, ein eifersüchtiges Grübeln über Deine Mienen hinwegklettern zu sehen. Ein Fegefeuer vor dem Eintritt in den ganzen Himmel unserer Gunst ist Euch harten Seelen sehr zuträglich. Eure Küsse sind dann wärmer, dauernder, beseligender. Es sind Sterbekissen unserer Seelen mit Goldfunken umsäumt. Auch die meine hofft sich darauf einzuwiegen in den wonnedurchflüsterten Traum des reinsten, glückseligsten Lebens! –
»Nun, wirfst Du mir jetzt noch Zurückhaltung vor, Du böser Verführer? – Sieh, wenn ich des vorgestrigen Abends gedenke, so schlägt die Gluth meines brennenden Herzens hell leuchtend an den bleichen Himmel meiner Stirn, und die Jungfräulichkeit meiner Empfindungen versteckt sich in die tiefsten Falten des Mieders, wie ein Kind, das sich vor der Strafe fürchtet. Es war sehr, sehr bös von Dir, Sigismund, daß Du Deinen Mund so misbrauchen konntest und bald eine neue Firmelung für Dich nöthig gemacht hättest! – Aber ich kann Dir nicht lange zürnen, schmollen ist langweilig und mein ehrenwerther Cerberus, Klapperbein, hat einen so richtigen Blick, daß er sogleich weiß, ob ich auf der rechten oder linken Brust Schmerzen empfinde.«
»Willst Du mich besuchen, Sigismund? – Bitte, komm, aber nur bis an die Thürschwelle. Wart', ich will nachsehen im Kalender, wie lange Deine Buße dauern soll. Nicht barfuß im Schnee und im Hemd sollst Du Buße thun, sondern recht anständig verhüllt, ganz sittsam und in der verzehrenden Gluth der Erwartung. – Sehr gut – sechs Tage dauere diese Qual, mein geliebtes Herz! Dann will ich den Riegel, wie von Geisterhand gelüftet, niederklirren lassen und farbiger Dämmerschein, wogend auf dem Blüthenaroma meiner Lieblingsgewächse, soll Dich umschmeicheln. Dann suche, suche und irre umher in der durchdufteten Halle! Du stehst am Hochaltar der Liebe, die Natur schwenkt in ihren Blumenkelchen tausend Weihrauchfässer, und die glimmernden Kerzen der Feuerfliegen leuchten mit sanftem Glanz zu dem heiligen Lebensfest. – Der Hohepriester aber legt das Gewand der Hoheit an. In stiller Andacht, wonnebeglückt, sehnsuchtumrauscht, wirft er das schwellende Gewand der Menschheit um sich. Es verschwindet die hemmende Sitte und nur die Natur waltet frei. – Es ist Alles bereit zum erhebendsten Liebesdienst, und es liegt nur an Dir, mein Sigismund, wenn Du nicht hinsinkst in die Andacht des Genusses, betäubt, ohnmachtsüß, wonneschwelgend.
»Hinweg mit aller Heuchelei zwischen Herzen, die ihren Pulsschlag schon gefühlt in unmittelbarster Berührung! Prüderie ist der Tod aller Liebe – Willst Du mein Glaubensbekenntniß hören? Es ist einfach, so einfach wie ich, der Abdruck meiner innersten Gedanken. Nicht wahr, Sigismund, Du bist, was man so Protestant nennt? Versteh' ich das Wort recht, so bin ich eine sehr starke Protestantin, obwol ich mich für eine gute und fromme Tochter der alleinseligmachenden Kirche halte. Ich protestire eifrig gegen alle zierlichen Berührungen und liebe die Freigeisterei, die Keckheit in der Liebe. Freilich ein sonderbares Gemisch von Rechtgläubigkeit und Frivolität, die mir aber ganz wolgefällt, weil sie reizt.
»Liebe, mein glühender Freund, heißt das erste und letzte Wort meines Katechismus. Das ist ein vieldeutiger, schwer zu interpretirender Ausdruck, und dennoch bin ich so leicht damit fertig, wie mit einem Kusse. Kann dieser nicht die Stelle eines langen Commentars vertreten? – Ach, ist dies ein langweiliges Leben jetzt! Und nun vollends, seit ihr Männer so trübsinnig zerfallen seid mit dem Dasein und an nichts mehr eine heitere Freude findet! Was sucht ihr denn, Thörichte? Freiheit, Ausgleichung verworrener Zustände, politische Reformen, eine Umbildung des socialen Lebens. Ich glaube, so ungefähr lauten die Titel zu den Klageliedern, die Ihr nun schon seit Jahren in verschiedenen Tonarten variirt. Sigismund, ich sage Dir und Allen, die Dir gleichen, daß ihr Thoren seid, rechte blöde, mondsüchtige Thoren! – Liebt, und Ihr seid frei, aber liebt menschlich-natürlich, nicht weltlich-frivol. – – Ach Du lieber Himmel, da hab' ich so eine Art Lästerung geschrieben, ich kann sie aber unmöglich wiederrufen, wenn ich ehrlich bleiben soll. Und nicht wahr, Ehrlichkeit gehört auch zu den Tugenden der Frauen?
»Hast Du mich verstanden, Sigismund? Ich bin ziemlich unerfahren, schlicht und wenig bekannt mit der Qual des männlichen Lebens, aber eben deshalb glaub' ich ein Recht zu haben, schuldlos und unparteiisch meinen Rath hinwerfen zu dürfen in dieses freudenlose Schwanken und Irren. Versucht zu lieben, ihr Unglücklichen, liebt mit aller Genialität des Geistes, der in Euch bewegter ist, als in früheren Geschlechtern, und Ihr werdet gesunden!
»Wir Weiber sind seltsam, wir fühlen auch das Unglück der Zeit, aber uns drückt es nicht nieder, wie den Mann. Das Weib hat Kraft, Alles zu ertragen, so lange sie lieben kann; nur mit der Fähigkeit zu lieben endigt ihr Dasein. Frevelt nicht, ihr europamüden Männer, an der Allmacht der Liebe, sonst vertilgt Ihr Euch selbst und Euren Thatendrang. Frei werdet Ihr sein, sobald Ihr es wagt, frei zu lieben.
»Die Liebe ist die Religion der Welt. Dies sollst Du lernen, Sigismund, nach abgelaufener Bußezeit. Warum schlingt sich diese Weltreligion so fest an einen gemachten Himmel, jenen unbestimmten Begriff alles Ungewiß-Schönen, Traumhaft-Erhabenen? Warum ist die Liebe so feig gewesen, sich binden zu lassen mit dürren Binsen versengter Gesinnung? Warum hat sie sich erniedrigt und ist hingesunken unter das kalte Douchebad verständiger, gut gemeinter Gesetze? Das Leben bewegt und gestaltet sich am schönsten, wenn ihm wolwollend alle Wege der Entwickelung geöffnet werden, und jede Schranke fällt, die nicht begründet ist in der Natur. Ist Liebe etwas anders als die Umarmung zweier Flammen, die sich auflösen in eine? Bedarf ich Ermahnung, wo Alles glüht? oder Mäßigung, wo sie allein sittenlos, fluchwürdig und Lästerung des Lebens wäre? Sieh, mein Geliebter, das ist es, was ich der Männerwelt rathe zu bedenken. Genialität in der Liebe gebiert Genialität im Leben. Aus der Gewohnheit, und hätte sie sechs Weihen empfangen, wird kein Sprößling erwachsen, von Sonnenduft und Aetherglanz umwallt. Nur die Freigeisterei der Liebe erzeugt den Heroen der Freiheit!
»Ach, was ich muthig bin und doch so traurig! Sigismund, mir bangt, wir werden uns nicht gar lange besitzen. Dringe nicht in mich, verlange nicht zu schnell das Band der Ehe um meine auf freien Flammen sich wiegende Seele gelegt! Nicht etwa, daß ich etwas gegen die Ehe habe, ich achte und ehre sie und wünsche dereinst ihr Glück zu genießen, aber die Erinnerung an die freie Vergangenheit würde meine Liebe schwächen und die Begeisterung herabsinken zu gewöhnlicher Liebelei. Und wäre dies nicht entsetzlich, entwürdigend? – Sei nur nicht böse über meine Zweifel. Es kommt mir nun einmal so vor. Irre ich, so belehre mich eines Besseren!
»Die Menschen haben wunderliche Begriffe von Wahrheit, Tugend, Religion und Sittlichkeit. Ich fühle, wie ich blutdürstig werden könnte als Mann, wenn mir das Gesetz die Heiligkeit des Lebens vorschreiben oder zum Verbrechen machen wollte, sobald ich unbegrenzt forderte, wozu die Vernunft ein Recht hat! Gottlob, daß ich ein Weib bin und nicht zurechnungsfähig! Stimme nicht für die Emancipation der Frauen, Sigismund, ich gebe Dir statt hundert Küssen hundert Ohrfeigen, die Zinsen nicht mitgerechnet! Ich mag nicht emancipirt sein zur Gebundenheit männlicher Qual! Ich will kindisch bleiben und eigenwillig, um lieben zu können, frei, begeistert, ohne Maß, genial, wie der Augenblick es heischt, der mein Gott und mein Heiland ist! Sigismund, tausend Küsse Deinem Sieg begehrenden Munde! Diese Rosenblätter hier nimm statt verkörperter Liebeshauche. Ich habe sie alle geweiht im Duft meiner heißesten Gedanken. Wenn Du ein liebendes Auge besitzest, findest Du in jedem ein getreues Conterfei des Lippenpaares, dem Du vertraut hast, daß es keinen Gott gibt im Himmel und auf Erden, ohne die Liebe. Es war ein süßes Geständniß, es hatte meinen Beifall. Nicht allein »Gott ist die Liebe,« sollte es heißen, sondern auch: »die Liebe ist Gott!« –
Deine Auguste.«
Nein, Raimund, noch bin ich nicht unglücklich. Wer ein Wesen an seiner Seite fühlt, wie dieses Mädchen, der hat noch zu hoffen Großes, Schönes, Ewiges in der Welt. Auguste hat recht, sie löst spielend, wie die Unschuld immer, die schwierigsten Probleme weltlicher Gestaltung. So lange die Weiblichkeit rein bleibt und frei, steht der Menschheit mit ihren tausend Schmerzen noch kein Untergang bevor. Wäre uns nur vergönnt, das auch eben so leicht zur Allgemeinheit der Anschauung zu erheben, was die Genialität des liebenden Weibes in ihrer göttlichen Unmittelbarkeit erkennt. Aber das ist es ja eben! Wir verkümmern in der Einsamkeit unseres Wunsches, dem kein Hebel gegeben zur Thatgestaltung. Es fehlt an einer Basis, die Frucht jahrhundertlangen Denkens groß zu wiegen zur Jugend. Die Kinder der Thaten sind vorhanden, aber sie ersticken am Zulp, den ihnen das Zeitalter der Priesterherrschaft, mit saurem Brei gefüllt, in den Mund gedrückt hat. Die Zeit kriegte die Schule davon und stirbt nun an Krämpfen. –
Während ich dies schreibe, fühle ich im Stillen, daß nur die Schrift der Weg ist, über dem die Verdorbenheit und Unnatürlichkeit der Gegenwart das neu zu gebärende Leben hinüberführen muß in den Paradiesesgarten der neuen Unschuld. Sperrt die Gedanken in eherne Laternen mit geschliffenen Gläsern, damit sie leuchten, wie Gasflammen in einem Mikroskop, und sendet sie hinaus auf den Markt der Nationen. Es wird nicht an Buben fehlen, die mit den Kieseln der Gemeinheit nach den hellen Lichtern werfen und die Laternen zertrümmern. Aber kümmert Euch nicht um die Brut, das Licht ist eben so ewig, als die Wahrheit. Verdämmern könnt Ihr es, aber nie ganz verlöschen.
Am 14. August.
Mir ist ein großes Unglück begegnet. Die Verheißung hoher Seligkeit in Auguste's Brief versetzte mich in eine der Trunkenheit verwandte Stimmung. Wer mag auch ruhig und gemessen bleiben, wenn tausend Freuden unser Herz beengen? Ich vergaß Alles um mich her, nur der warme Himmel, der sich herabstürzen zu wollen schien, lockte mich, denn er war gleich mir, trunken von Liebesbegeisterung. Ich eilte hinaus, unbekümmert um Offenes und Geheimes. Gleichmuth's Manuscript, dieses vieldeutige Räthsel einer verkümmerten Societät, lag auf dem Tisch; ich vergaß es einzuschließen – es ist entwendet, verschwunden! – Zwar will es Niemand gesehen, Keiner mein Zimmer betreten haben, um die kostbaren Blätter zu erbeuten, aber ich traue Keinem, am wenigsten meinem Gastfreund Bardeloh. Sein Läugnen macht ihn nicht ehrlich in meinen Augen. Der Wahrheit zu Liebe befiehlt uns die gesunde, natürliche Vernunft, hundert Lügen zu ersinnen, und wir freuen uns nur über unser eigenes Poetentalent. – Auch kann ich mich unmöglich grämen über den Verlust; denn ich besitze ja ein Herz, das Herz Auguste's, diesen sprudelnden Brunnen unerschöpflicher Liebe! Was geht mich im Genuß dieser Gewißheit die Welt noch an mit ihren großen und kleinen Erbärmlichkeiten? Ach, ich fühle es, die Liebe macht egoistisch, rigoristisch, aristokratisch, Alles, Alles, nur nicht kosmopolitisch! Ich werde ganz irre am Laufe der Welt, an Demokratie und Freiheit. Ich weiß nicht mehr, was ich halten soll von mir und dem Streben derer, denen ich so gern meinen brüderlichen Kuß eindrücken möchte in ihr tiefstes Herz! Ach, Auguste, ich werde Dich noch hassen, weil Deine Liebe mich zur Apostasie verführt! –
Eben komm' ich zurück von meiner zweiten Bußfahrt, gestern hielt ich die erste, die süßeste! Glaubst Du, Raimund, daß mich Hunderttausende beneiden würden, könnten sie nur im geringsten ahnen, mit welchen tönenden Fittigen die Stunden um mich fliegen, die Nachtigallen der Zeit, während eine ewige Dämmerung um Himmel und Erde ihre heiligen Grotten baut? Erst im Zaudern der Geliebten lernen wir das Glück kennen. Die Erwartung ist der schöpferische Gott, der Genius aller Begeisterung, das Erlangen ist nur süße Ermattung, keine reine, ewige Freude!
Aber Auguste ist consequent, reizend consequent, eine Philosophin nach allen Regeln der Logik, die im Katheder ihres Herzens der wunderliche kleine Professor, Eigensinn und Laune, mit meisterhafter Virtuosität vorträgt. Ephraim Klapperbein begegnete mir auf der Flur, sein Lächeln weissagte nichts Gutes. Er flocht einen Korb und hielt ihn mir, ziemlich fertig, entgegen, ein lustiges Lied vor sich hinbrummend. Eine halbgeleerte Flasche Moselwein stand auf einem umgestürzten Fasse, beinerne Würfel lagen daneben, Karten, Spielmarken, Bohrer und Pfriemen bunt unter einander. Mir ward gar seltsam-unheimlich, als ich den halbfertigen Korb erblickte. Gebe der Himmel und die Liebe, seufzte ich in der stillen Kirche meines Herzens, daß diese Symbole keine Bedeutung für mich haben mögen! Ephraim mochte meine Gedanken errathen, er biß die Lippen und lud mich ein, mit ihm auf die Gesundheit des Fräulein Auguste zu trinken.
»Wollen Sie eins riskiren?« fragte Ephraim, griff nach einem Stückchen Weißbrod und drehte die Krumen zu Kügelchen. Dazwischen flocht er an seinem Korbe, trank Wein und brummte sein joviales Lied.
»Nur 'nen Wurf. Mögen sehen, ob Sie Kreuz kriegen oder keins.«
»Gott behüte mich; es ist ohnehin Kreuz genug in der Welt! Wir schleppen seit Menschengedenken entsetzlich viel Kreuz mit uns herum, und werden weder froh noch satt davon.«
»Schaun's!« rief Ephraim, »ich hab' doch 'n Kreuz geworfen und das freut mich, der Korb wird allerliebst werden!«
»Hole der Teufel Dich und Deinen Korb!« sprach ich im Stillen und griff nach den Brodkügelchen. Denn jetzt erst fiel mir's ein, daß es mit dem Kreuzwerfen eine ganz eigene Bewandtniß habe. Am Rhein werfen alle Mädchen ihre Wünsche in Kreuze, und geht's nicht, rücken sie die verzogene Figur sehr naiv in die rechte Form. Das ist allerliebst von den rheinischen Mädchen. Wer doch so harmlos sein und auch Kreuze werfen könnte, um aus den gelungenen, graden oder schiefen die Erfüllung seiner heißesten Wünsche zu lesen! – Nun ich warf lauter schiefe Kreuze von der curiosesten Art; es wollte keins nach Wunsche gelingen, und doch fehlte es wahrhaftig nicht an Wünschen. Von Oben herab hörte ich Auguste's Silberstimme singen:
»Kommt er nicht, so läßt er's bleiben,
Gräm' ich mich doch nicht zu todt,
Andern auch gefällt mein Füßchen,
Meiner Wangen duftig Roth.«
»Es ist gut, daß mein Korb bald fertig ist,« sagte Ephraim. »Ich will mich dazu halten, damit Sie nicht warten dürfen. Denn Sie kriegen im Leben nicht, was Sie wünschen.«
Ich stieß das Faß um sammt Würfeln, Karten, Wein und Gläsern und stürzte die Treppe hinauf. Ephraim lachte, jeder Andere würde geflucht haben. Die Rheinländer sind aber gebildete Leute, sie trinken keinen Schnaps, und das schützt sie vor brutaler Gemeinheit. Grob sind sie dessenungeachtet, aber es ist eine aromatische Grobheit. Sie duftet immer nach einer Art Grazie.
Vor der Thür angekommen, klopfte ich. Niemand rief, »herein!« auch die muntre Sangesweise war verklungen. Ich rief Auguste's Namen. »Sigismund?« flötete die Stimme, deren Echo nie verklingt in meinem Herzen, des Nachts die wunderlichsten Variationen anstimmt und klimpert auf dem Harmonikord meiner zitternden Seele, »Sigismund, willst Du Buße thun?«
»Nein,« rief ich, »küssen will ich Dich und nicht büßen!« Ich rüttelte an der Thür, sie war verschlossen. Meine lose Peinigerin lachte und sang wieder:
»Kommt er nicht, so läßt er's bleiben.«
Beinahe hätte ich angefangen zu schimpfen, doch hielt ich es für angemessener, mich aufs Bitten zu legen. Ich drückte meine fieberglühende Stirn an den Messingbeschlag der Thür und bat in den beglückendsten Schmeichelworten um Erlaß der Buße. Nur den Hauch ihres Mundes sollte sie mich fühlen, ihre Lippe sehen lassen, den Blick ihres Auges untertauchen in den sich trübenden Schimmer des meinigen!
»Das ist billig,« kicherte die Muthwillige, der Schlüssel klirrte im Schloß, mir ward ein Blick vergönnt in das blumendurchduftete Heiligthum. Niederknieend verdammte ich hundertmal alle Schlosser in den Abgrund der Hölle, der Lichtschimmer erlosch, Auguste legte den Mund an die Oeffnung; nur unser Athem berührte sich warm und lind. »So, nun ist's genug, sagte Auguste und ich sah, wie sie im durchleuchtenden Kleide von Rosaseidengaze durch das Zimmer hüpfte, und sich in die Kissen des Sopha warf in der reizendsten, kindlich unbefangensten Stellung. Ein liebendes Mädchen ist grausam, je liebeglühender desto grausamer! Auguste verschloß mir nicht die Einsicht in ihr Zimmer, sie marterte mich mit dem hingebendsten Lächeln, aber sie ließ mich draußen vor der Thür warten, seufzen, bitten! »Buße muß sein!« lallte sie liebreich vergebend, »nach sechs Tagen erhöre ich mich selbst.«
Sie löste die blauseidenen Schuhe, die mild und warm, wie ein Stück Frühlingshimmel ihren schönen Fuß umspannten. Sinnend grub sich die weiße Hand in ihr dunkles Haar. Mit dem nackten Fuß zeichnete sie meinen Namen auf den buntfarbigen Teppich, legte sich dann zurück in das Sopha, und ließ die warmen Lüfte mit den Blumenstaubfächern sie einwiegen in sanften Schlaf. Ein Luftzug spielte in wunderlichem Necken mit der leichten Kleidung. Eine unschuldige Venus lag sie in der Fülle jugendlicher Schönheit wie unter Rosen begraben. Dann tauchte ein zweiter Hauch die schlummernde Anadyomene wieder in den Rosenschaum der schmeichelnden Gewänder.
Glücklich, sie doch gesehen zu haben, schlich ich die Treppe hinunter. Ephraim überreichte mir den fertigen Korb, den ich zum Dank unter meinen Füßen zerbrach und die Stücke dem alten Manne recht derb auf sein graues Haar drückte. Ephraim versteht Scherz; er lachte und hieß mich wiederkommen, denn über Nacht sei der Schade schon wieder herzustellen. Zwar ist mir der schadenfrohe Wächter heut nicht begegnet, aber der Verlauf meiner Bußfahrt blieb ziemlich derselbe, nur ward ich nicht durch eine gleich reizende Ein- und Aussicht wie gestern entzückt. Auguste ist unerbittlich; sie hält erstaunlich viel auf ihre eigenen Gesetze. Dabei unterläßt sie nicht, für Andere zu denken. Sie ist zärtlich besorgt für das Wohl ihrer Freunde und Freundinnen, und erinnerte mich an eine Pflicht, deren Vernachlässigung ich nur dem Drange meiner Liebe Schuld geben muß. Auguste trug mir auf, Lucie zu besuchen, von deren Zustande ich seit dem verhängnißvollen Abende nichts mehr gehört hatte.
Eine Viertelstunde später ließ ich mich anmelden. Ich ward vorgelassen und traf außer Lucien ihren Geliebten Oskar, den Pastor Gleichmuth und jenen Pietisten, dessen ich schon einmal Erwähnung gethan habe. Diese Gesellschaft fiel mir auf. Was suchte der Pietist bei Lucien, der Katholikin? Oskar erklärte mir mit wenig Worten den Zusammenhang. Der Pietist, ein reicher Kaufmann, Namens Steinhuder, ist Luciens Vormund, gleich bewandert im Wechselgeschäft des Himmels wie der Erde, und ein Todfeind des reinen Protestantismus. Ich begreife recht wol, wie der bigotte Katholicismus und der evangelische Pietismus sich umarmen können. Sie haben beide ein Ziel, wenn sie es auch nicht immer ahnen.
Lucie hatte sich längst wieder erholt. Sie war flatterhaft, von schalkhafter Laune, wie immer, und ich kann nur nicht begreifen, wie der verständige Oskar, ein junger Jurist, dieser heiteren, gesunden Sinnlichkeit genügen kann. Doch ist mir Oskar noch zu fremd, als daß ich ein bestimmtes Urtheil über ihn fällen könnte. In seinem Auge glüht Leidenschaft, nur der Nebel der Vorsicht scheint blöd und gleichgiltig darüber hinzustreifen.
»Wie geht's denn meinem unberufenen Chapeau d'honneur?« fragte Lucie, indem sie mir den Arm reichte. »Ich möchte nicht zum zweiten Mal eine Extratour mit ihm tanzen, er ist zu feurig, zu wild, flammender als Ihr jungen Herren, die Ihr Euch schämen solltet!« – Sie gab mir mit dem warmen, feuchten Händchen einen Schlag auf die Wange. Ich küßte ihr die Hand.
»Das ist gut,« fuhr sie fort. »Aus Ihnen kann noch etwas werden; ich an Ihrer Stelle hätte mir jedoch die Lippe zum Ruhepunkt gewählt.«
Oskar stand am Fenster und warf heimliche Blicke auf uns. Die beiden christlichen Männer saßen am runden Tisch und disputirten eifrig über Sein und Nichtsein des Himmelreiches.
»Lieber Sigismund,« sprach Lucie, »was halten Sie denn um der Liebe willen von dem Himmelreich? Seit drei langen Stunden brechen sich diese beiden vortrefflichen Menschen im Geiste die Hälse und zwar um die liebe Zukunft nach dem Tode! Ich muß zwar lachen, aber 's wird mir auf die Dauer doch gefährlich; und wenn nun gar der sehr ehrenwerthe Steinhuder Recht hat, so bin ich in großer Versuchung, mich ganz gehorsamst für dies sein Himmelreich zu bedanken. Will der Mann nichts wissen von einem liebevollen Leben in seinem Himmel, nur gebetet, gesungen, gekopfhängert, und in einem fort biblische Geschichte soll darin gelesen werden.«
Ich suchte sie dadurch zu beruhigen, daß ich ihr versicherte, eben so wenig in diesen Himmel der Frömmler zu kommen, als sie, deshalb würde Gott wol ein Einsehen haben und den Himmel in zwei Theile zerfallen lassen, um die allzustrengen Anhänger einer immerwährenden kalten Ernsthaftigkeit von den Verehrern einer freudigeren Art von Seligkeit zu scheiden. Denn anders wäre es, menschlich betrachtet, kaum möglich, einen fortdauernden Frieden aufrecht zu erhalten.
Lucie bekreuzte sich aus purer Gewohnheit, denn sie mußte lächeln über meine Interpretation des Himmelreichs. Scherzend hüpfte sie durch's Zimmer, küßte in ausgelassener Freude ihren Oskar, und erklärte ihm rund und nett, daß er ganz und gar nicht auf eine langweilige Liebe bei ihr rechnen sollte. »Sigismund gefällt mir,« sagte sie, »und wer mir gefällt, den lieb' ich. Wie lange, geht mich nichts an. Heut bin ich gut, wen ich morgen hassen kann. Wie mein Puls geht, schlägt meine Liebe. Der Puls ist der Stundenzeiger und Thermometer meiner Leidenschaft. Ich habe große Lust, den Sigismund einmal von ganzem Leibe zu lieben.«
Oskar mochte wol wissen, daß Luciens Worte keine Thaten seien, denn er mußte nur lachen über die drollige Betheuerung. Das verdroß aber seine Verlobte. »Mein lieber, holder Junge,« sagte sie und klopfte mit ihrem heißen Finger die Lippe des jungen Mannes. »(Pfui, wer wird so unanständig sein und Alles beißen und essen wollen, wie die Kinder!) Wenn ich nur Zeit hätte und nicht gar so aufgeregt wäre, so machte ich meine Worte wahr, blos um Recht zu haben. Ich will Recht haben, mein Bester! Nicht wahr, Du lieber, allerwunderlichster, verliebtester Oskar, ich habe immer Recht?«
Es ist gefährlich, mit einem geliebten Mädchen rechten zu wollen. Die Liebe ist der parteiischste Richter und der schlechteste Advocat von der Welt. Wenn Auguste von mir verlangte, ich sollte Seiltänzer werden und mit verbundenem Auge auf einem Seile über den Rhein laufen, so würde ich sagen: Närrchen, das ist unmöglich, ich purzele hundertmal in den Strom; beharrte sie aber darauf und betheuerte, daß es ein Leichtes sei oder ich liebe sie nicht, so würde ich unter hundert Küssen bei ihren leuchtenden Augensternen schwören, daß sie Recht habe, und wir wären gegenseitig zufrieden und lachten uns zwei Frühlinge mit allem Schmelz ihres klingenden Lebens in die lichtfunkelnden Augen hinein.
Gleichmuth's unerschütterliche Ruhe hatte das Himmelreich des Pietisten zum Wanken gebracht. Steinhuder stand auf und schlug mit der Faust auf die aufgeschlagene Bibel. »Das ist Ketzerei, Herr Pastor!« rief er aus, »gottverfluchte, in alle Ewigkeit vermaledeite Ketzerei! Was! Keine Engel sollte es geben? Und doch steht's klar und deutlich geschrieben: »ich werde aussenden meine Engel. –«
»Nun denn,« fiel Gleichmuth ein, »wenn Sie durchaus ohne Engel kein Himmelreich haben wollen, so mögen sie Ihnen bleiben, nur muß ich Ihnen bemerklich machen, daß mit diesem Beweis auch zugleich die Nichtexistenz der Pietisten im Himmel klar dargethan ist.«
»Das möcht' ich wissen!« rief Steinhuder. »Bin ich nicht, und ist mein Sein nicht gewichtiger als das von tausend Andern?«
»Alle Achtung vor Ihrer Gewichtigkeit! In der Bibel, Ihrer einzigen Autorität, ist aber weder der Pietisten, noch Ihrer, Herr Steinhuder, jemals Erwähnung gethan worden, also –«
»Ha!« seufzte der Frömmler und sank in der Positur eines vollwichtigen Wollsackes auf seinen Sitz. »Engel gibt's doch und ich werde auch einer werden –«
»Und sollen die Posaune blasen beim jüngsten Gericht,« fiel Lucie ernsthaft ein. »Sie haben ohnehin immer eine Anlage zu solchen Instrumenten gehabt, das wird sich dann vollends ausbilden zur wahren Virtuosität. Ach, wie freu' ich mich darauf, wenn mein lieber Vormund mit muntern Bausbacken seine himmlischen Fanfaren wird erschallen lassen!«
Die Frömmigkeit der recht eingefleischten Pietisten ist immer bis auf einen gewissen Grad dumm. Steinhuder war sehr vergnügt über den freundlichen Trost seiner Mündel, streichelte sie herzlich und wandte sich triumphirend gegen Gleichmuth, indem er ausrief: »der Sieg ist mein, Herr Pastor, denn was ein unschuldiges Kinderherz spricht, das ist Wahrheit und der ewigen Göttlichkeit Stimme! Abgemacht – es gibt Engel und ich werde die Posaune blasen!«
Gleichmuth hielt eine Antwort für überflüssig. Ich empfahl mich dem Frömmler, und führte Luciens Hand an meinen Mund. »Das ist ungezogen,« sprach sie, »wenn Sie wiederkommen, geben ich Ihnen zur Strafe den Backen zu küssen. Nicht wahr, Oskar, Du erlaubst es?«
»Buben und Unzüchtige!« rief Steinhuder dazwischen. »Habt Ihr vergessen, was da steht im Worte des Herrn? ›Die Unreinen lassen sich betasten die Brüste etc.‹ Küsse sind sündlich; Liebe ist eine Schändlichkeit der Natur, eine bloße, dumme Affenwirthschaft, die sich der gefallene Mensch nebenbei angewöhnt hat.«
»Sie sind sehr gütig,« sprach Oskar dazwischen.
»Ein reiner Mensch,« fuhr Steinhuder fort, der nun einmal wieder im Zuge war, »ein frommes Geschöpf liebt Niemand als Gott, den Heiland, und die heilige Jungfrau Maria. Ein Mensch nach dem Herzen Gottes küßt nur fein sittsam, zierlich und mit sanftem Erröthen sein rechtmäßiges Ehegemahl, mit andächtigem Aufblick zum Himmel und innigem Dankgebet zu Gott, dem Allmächtigen, für solch große Gnade!«
»Da thut er sehr recht dran,« brummte Oskar und zog Lucien an sich.
»Gehen wir?« fragte Gleichmuth. »Es ist schwer, ruhig zu bleiben, wenn man die Tollheit so sanftmüthig rasen sieht.«
Im Weggehen warf mir Lucie eine Menge Kußhändchen zu trotz dem hochrothglühenden Posaunenengelgesicht ihres Vormundes. –
Es war ein schöner, weicher Sommerabend. Die Luft wehte sanft und lind; weiße, leichte Wolken zogen über den Himmel, die Sonne sank glühend hinter dem Dome hinab und hüllte ihn in einen dunklen Purpurmantel. Wir gingen über die Rheinbrücke hinüber nach Deutz.
»Diese Menschen,« sagte Gleichmuth, »sind wie das Ungeziefer. Sie buhlen mit ihrer eigenen Frömmigkeit und diese Art ist fruchtbar wie Froschlaich.«
Nach mancherlei Gesprächen fragte mich der Pastor nach seinem Manuscript; ich versprach es ihm nächstens wiederzugeben.
»Behalten Sie es an sich,« entgegnete der Geistliche, »ich glaube, dies Vermächtniß guten Händen übergeben zu haben, und sind Sie der Meinung, es könne durch Mittheilung meiner Lebensgeschichte der Menschheit ein wesentlicher Dienst geleistet werden, so soll es Ihnen unverwehrt sein, der Öffentlichkeit davon zu übergeben, was Sie wollen. Nur Verschweigung meines Namens bedinge ich mir aus. Es ist der Sache, nicht meinetwegen.«
Ich war sehr erfreut durch dieses Vertrauen. An Bardeloh's stillem Hause schieden wir. »Ich bin neugierig,« sagte Gleichmuth, »wie unser beiderseitiges Leben endigen wird.«
»Ruhiger als wir vielleicht meinen.«
»Sehr möglich; doch wünschte ich das Gegentheil. Denn sterben wir einmal sanft und selig, so hat die Welt wieder umsonst Hoffnungen gehegt, die im Thau des Himmels ertränkt worden sind. Irdische Seligkeit ist unter Verhältnissen, wie die der Zeit, eine Perfidie des eigenen Geistes. Ich wollte Niemand gelänge es mehr, sich diese zu erwerben, so wären wir reif zu neuen Schöpfungen!«
Er sah hinauf nach Bardeloh's Zimmer. »Der Mann dort oben,« fuhr er fort, »ist der Einzige, von dem ich gewiß weiß, daß er nicht selig stirbt. Darum ist er der Größte. Sein Andenken verflucht zwar vielleicht die zahme kopfhängerische Nachwelt, Alles das aber macht ihn nur größer. Geben Sie ihm Terrain und er wird ein moderner, zeitgemäßer Napoleon. Jede That von ihm wird eine Schlacht sein. Wie abgeschmackt, daß die blasirte Sittlichkeit der Civilisirten von einem großen Manne verlangt, er solle gleich dem dümmsten Leinweber auch ein gutmüthiger Hansnarr, ein fideler Kerl und ein regulärer Kirchgänger sein! Als ob das Große je Brüderschaft machen könnte mit der vergnüglichen Gutmüthigkeit des Kleinen!«
Meine Hand heftig schüttelnd versank die dürre Gestalt in den Schatten der hohen Häuser. Es ist ein seltsam-mystisch-dämonischer Mensch, dieser protestantische Gottesgelehrte.
Indem ich dies schreibe, entsteht ein heftiges Hin- und Herlaufen der Dienerschaft. Bruder Bonifacius singt wieder einmal den Rachegesang seiner Sinne, Bardeloh gibt laut und stürmisch Befehle!
Neben mir hör' ich, wie Rosalie ihrem schönen Sohne Felix mit mütterlicher Liebenswürdigkeit Unterricht in der Geographie ertheilt.
»Gibt's in Amerika auch so große und alte Städte wie Köln?« fragt das glückliche Kind.
»Nein, mein Liebling,« erwiedert die Mutter, »dort ist Alles jung, neu und frisch; aber die Menschen haben keine Herzen.«
»Wie fangen sie's denn da mit dem Leben an? Kann man denn auch leben ohne ein Herz zu haben?«
»Weit besser, mein Sohn, als mit einem Herzen. Menschen ohne Herzen fühlen nichts. Sie empfinden keine Schmerzen und keine Freuden; sie haben keine Poesie und keine Kunst, nur Dampfboote, große Schiffe, Wälder und Wildpret die Menge und sehr, sehr viel Geld.«
»Da können sie sich ja wol ein Herz kaufen? Warum kommen sie nicht herüber zu uns nach Europa, wo es so viele Herzen gibt, die nichts haben und gewiß recht gern einiges Geld für ihr armes Herz geben würden?«
»Lieber Felix, das Herz ist Niemand feil für Gold.«
»Vater sagt aber doch, uns Allen wäre geholfen, wenn wir den Verstand Amerika's hätten.«
»Und der Vater hat Recht, wenn er hinzusetzt, ›und unser europäisches, durch eine sechstausendjährige Geschichte erprobtes Herz behalten.‹«
»Das ist närrisch Mutter! Ich möchte doch gern einmal so einen herzlosen Amerikaner sehen. Wie kann man frei und froh sein ohne Herz, ohne einen alten Dom und ohne die wunderlichen Geschichten, die mir so warm und süß im Herzen liegen?«
Ich hörte, wie die glückliche Mutter das harmlose Kind mit Küssen der Liebe bedeckte. Meine Thür ward heftig aufgerissen, Bardeloh trat ein. Verstört flammte sein dunkles Auge, er war bleich, wie immer, die feine Kleidung in Unordnung.
»Sigismund, halten Sie sich bereit, Morgen reisen wir. Ich habe vor kurzem einen Brief erhalten, der mich zwingt, schnell den Rhein hinauf in einer ehemaligen Abtei einen Besuch zu machen. Sie werden sich europäisch dabei amüsiren, denn unser Besuch steht in innigem Zusammenhange mit dem, was diese Blätter enthalten.« Lächelnd legte er hierbei Gleichmuth's Manuscript auf den Tisch.
»Also Sie hatten doch« –
»Ja, ich fand das Manuskript auf Ihrem Pult. Geheimnißkrämereien lieb' ich nicht; es gibt deren ohnehin schon viele. Gleichmuth ist ein Mann nach meinem Sinn. Werden Sie schlecht, wie er, so zwingen Sie die Menschheit, gut zu werden! Das ist der einzige Weg, Leben und Gesundheit in ein blos noch vegetirendes Geschöpf zu bringen. Ehe ein Jahr vergeht, bin ich im Sinne der Alltagswelt grundschlecht, ein Verbrecher – und das wird gut sein für das Allgemeine. Die Tüchtigsten müssen alle Begriffe umändern, wenn die große Maschine, die man Welt nennt, großentheils nur von Miasmen lebt, welche entstehen aus den Ausdünstungen der Gesinnungslosigkeit und der Schwüle des zürnenden Gedankens. Gute Nacht! Morgen um sechs besteigen wir das Dampfboot.«
Eine schlaflose Nacht gab mir hinlänglich Zeit, über Bardeloh's fast an Wahnsinn grenzende Worte und den stillen, sanftmüthigen Unterricht Rosaliens nachzudenken.