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Am Bord des Dampfschiffes Herkules. Ende Juli, 18–
Die Angabe des Ortes sagt Dir, daß meine Wünsche in Erfüllung gegangen sind. – Ja, ich bin frei, zum ersten Male, seit ich mir des Lebens bewußt geworden. Keine Schranke drückt meine Gedanken mehr todt, kein sogenanntes Pflichtgefühl martert mich in eine Ergebenheit hinein, die ich nie gekannt habe. Und dies sage ich Dir, dem Friedsamen, hier am Fuße der dampfenden Esse, deren nachtdunkle Rauchwolken die Freiheit und ihre unzerstörbare Kraft beurkunden! Wahrhaftig, es klingt fast lächerlich, das Edelste, was sich ein Menschenleben bewahren kann, in einer Maschine finden zu wollen. Und doch ist es so. Die ewige Himmelstochter hat sich der Zeit ergeben müssen, und erscheint in einem Gewande, das ihr den leichtesten Eingang bei der argwöhnischen Menschheit sichert. So tief herabgesunken ist das Jahrhundert, daß sich sein Genius bequemen muß, eine heuchlerische Hülle anzulegen, um nicht abgewiesen zu werden wie ein lästiger Bettler. Ich sehe Dich lächeln und die Achseln zucken, aber ich kehre mich nicht daran und fahre fort, mein Herz auszuschütten. Die Last, die wie eine zertrümmerte Welt auf mir liegt, muß ich von mir schleudern, wenn ich fernerhin noch leben soll in dieser fluchschwangern Gegenwart. Danke Gott, daß ich mich entschlossen habe, weit hinauszuschwärmen in die Welt. Die Heimath hauchte mich an mit der Pestluft des Drachen in der Fabel, die eng gezogenen Grenzen stillen Lebens mit ihrer gehäbigen Gutmüthigkeit und dem freundlich lächelnden Gott eines verkümmerten Friedens weckten Gelüste in mir, deren Befriedigung im Buch geschriebener Gesetze blutige Marksteine bezeichnet. Es war hohe Zeit, Ferdinand, daß ich floh, zwar nicht mehr rein und schuldlos im Gedanken, aber noch unbefleckt durch eine That, die der stille Weise verflucht, während der Schmerzenssohn einer gährenden Weltepoche sie bekränzt mit dem ernsten Laub der Eiche oder dem dunkeln Zweige des Lorbeers. –
Du siehst, meine Dämonen, wie Du die verschwiegenen Folterqualen des Herzens nennst, haben mich noch immer nicht verlassen. Auch auf dem schimmernden, goldgrünen Spiegel des Rheines arbeitet mit gleichem Ungestüm die Welt in meinem Innern. Die Natur, die mich in diesem Moment umgibt, löset nicht die Fesseln, in denen ich verschmachte. Eben rundet das Schiff um die Krümmung an der Marksburg, die Ufer des Stromes verengern sich, romantisch stürzen die Berge in hundert Thäler ab, und tauchen ihre grünen Gewänder in die krystallenen Zauberwellen. Fernab schimmert Lahneck mit seinen Trümmern, auf dem hohen Stolzenfels flammt der Freibrief aller Welt, besiegelt vom Glanz der niedergehenden Sonne. Ein wolkenloser Himmel zittert im dunkeln Blau, wie ein Baldachin, über diesem paradiesischen Erdabriß. Am Horizont, aus silbernem Nebelglanz, steigt, ein bleicher, eingeschlummerter Geist des Krieges, der Ehrenbreitstein, und wieder verbirgt sich stumm und schüchtern der momentan freigegebene Gedanke.
Meine Stimmung ist bei aller Freude, die mich bewegt, eine schmerzliche. Mir scheint, ich bin nicht der Einzige, den, verfehmt und verspottet von der bürgerlichen Friedsamkeit, dieses Schiff beherbergt. Unter dem luftigen Zelt treiben sich die Kinder von sechs bis sieben Nationen herum. Jedes lallt in seinem Sprachidiom – ein buntes Allerlei des Gedankenausdrucks – und Alle sind vielleicht gerade jetzt glücklich, nicht weil der Augenblick gekommen, wo die verschiedenartigsten Wünsche sich erfüllen, sondern weil die Außenwelt mit dem Friedensblick ihrer Reize den Schmerz in der Tiefe schweigen läßt. – Und dennoch bin ich unter diesen etwa hundert Menschen, die zugleich mit mir von Mainz absegelten, ein paar Gesichtern begegnet, die, wie der Abgrund einer versunkenen Welt, geisterhaft mich anstarrten. Hier nun löse ich mein Dir gegebenes Wort, auch auf die Gefahr hin, von Dir mißverstanden oder als ein abenteuernder Sonderling verlacht und bemitleidet zu werden. –
Auf Reisen wird man schnell mit einander bekannt. Die Barrieren der Etiquette und lächerlicher Convenienz sinken zusammen, sobald wir den parkettierten Salon mit der Heerstraße vertauschen. Man sucht sich, weil Reisende in irgend einer Weise immer mit einander sympathisiren. Meine unglückselige Neigung, mich abzusondern, wenn der Strom freier Weltbewegung seine Wellen um mich peitscht, ist Dir bekannt. Eben so gut weißt Du, daß nicht in aristokratischem Stolze die Ursache dieses Vereinsamens liegt, sondern ganz allein in dem Ekel, immer und immer nur dem Gewöhnlichen wieder zu begegnen. So kommt es, daß ich mich suchen lasse, oder in stiller Beobachtung mir wenigstens erst aus der Ferne Denjenigen herauslese, an den mich ein etwaiges Interesse fesseln kann. –
Der Morgen war heiter, der Rheingau, im Schmuck der Frühlingszier, breitete sich längs dem mächtigen Strome hin aus. Links dunkelte der Niederwald und barg in seine historischen Schatten die versunkene Größe Karls des Großen, der fast zur Fabel geworden ist wie sein Prachtpalast zu Niederingelheim, von dem man auch vergebens eine Spur sucht. O, wenn ich zurücksehe in dieses Chaos todter und begrabener Jahrhunderte, dann bricht erst recht mit vernichtender Gewalt ein lauter Hohn in mir aus, der Alles verspotten möchte, was je geschehen ist auf Erden! Dann könnte ich nicht etwa vor Schmerz, sondern vor bitterer, blutiger Wuth Thränen vergießen über die Narrethei der Welt, zu deren winzigem Complement auch ich gehöre. Da seufze, ringe und rase ich nur nach einer That, dem Einzigen, was der Zeit noth thut; und ein Blick auf die Geschichte, die mit gebrochenem Auge um uns den ewigen Schlaf der Vergessenheit träumt, genügt doch schon mich selbst von der vielleicht lächerlichen Thorheit dieses glühenden Wunsches zu überzeugen. – Was nützt jetzt Karls Streben und Mühen? Es ist längst vergessen und eingesargt in den Staub der Bibliotheken, oder wol gar verstreut in alle Winde. Die Sohle des Wanderers nimmt ein Atom seiner sichtbaren Thaten mit sich hinweg, damit es vielleicht am andern Morgen der Schuhputzer abstäube. – Und doch, lebt der Name nicht? Hat er nicht für ein ganzes Jahrtausend geschaffen, und sind wir nicht zum Theil ein Product seiner Thaten? Da werden die Felsentrümmer um mich her lebendig, die grauen Ruinen, die den ewigen Strom bewachen, zeigen wie verwitterte Fragezeichen gen Himmel, als wollten sie dort Lösung des Räthsels suchen, dessen Deutung auf Erden keiner mehr unternehmen mag. Sind dies nicht alles Anmahnungen zu neuem Beginnen? Stottert nicht der Geist der Vergangenheit in diesen Leichensteinen seiner Helden die zornige Frage: ob denn Alles vorüber sei auf ewig, und die Kraft völlig erlahmt, die sie zu herausfordernden Wahrzeichen aller Jahrhunderte gemacht hat?
Gefoltert von solchen Gedanken, Träumen, Empfindungen, hatte ich mich an das Geländer gelehnt und starrte in die frühlingglänzende Gegend. Der Taunus legte den dunkelblauen Gürtel seiner Berge um die Hüften des jungfräulichen Gaues. Biberich, die alte Abtei Erbach, der Johannisberg mit dem Gold seiner Reben, wallfahrteten vorüber an meinem Auge. Mainz sank in die silbernen Fluthen und der Rochusberg mit Bingen und dem alten Drususkastell, dem Klopp, drängten sich näher in den Gesichtskreis. Das Verdeck füllte sich mit Neugierigen, die alle das Bingerloch von fern schon bewundern wollten. Es ist viel Langweiliges in diesen Passagieren. Die Meisten sind Engländer, die sich mit breiter Verdrossenheit auf die Bänke werfen, oder an die aufgeschichteten Koffer lehnen und die Gegend mit ihren Herrlichkeiten nur im Buche bewundern. Das nennen nun diese Menschen reisen! Einer saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Kajütenfenster, die Rheincharte vor sich, das Reisehandbuch daneben. » That is Johannisberg,« sagte er phlegmatisch-theilnamlos, und » that is Geisenheim!« Er hob kalt das Auge, sah wieder in's Buch und fuhr fort zu murmeln » a very beautiful country!« Andere hüllten sich in ihre barocken Reisemäntel, oder promenirten wie toll auf dem Verdeck umher. Man mußte sich vorsehen, um nicht von ihnen umgerannt zu werden. Einige Franzosen waren vergnüglicher. Sie schwatzten ohne Ende von den Schönheiten der untern Seinegegenden, und stießen zuweilen einen komischen Sehnsuchtsseufzer nach Paris aus. Munter bewegten sich ein paar junge Holländerinnen unter der Gesellschaft. Die nette, reinliche Kleidung, das zierliche Mieder, der graue, an unsere Tyrolerinnen erinnernde Hut mit den bunten hellfarbigen Bändern gaben den freundlich offenen Gesichtern einen doppelten Reiz. Sie schwatzten allerliebst in ihrer weichen Muttersprache und waren nicht spröde. Es ist ein gutmüthiges Volk die Holländer, so lange man ihrem Gelde nicht zu nahe kommt. Ich sah aber alle diese Gestalten nur Schatten gleich an mir vorüberwandeln. Fest das Auge auf die satanische Krone des Dampfschiffes geheftet, klang die Außenwelt mit ihrem bunten Tongeräusch nicht in reiner Wärme an mein Herz. Unheimliche Gefühle beschlichen mich, mir war, als säh' ich den Teufel triumphiren über das wunderliche Menschengeschlecht. Die Riesenkrone drohte auf dem Schlot wie ein Siegerkranz. Das böse Princip hatte gesiegt, alle Welt fuhr sicher unter seinem Geleit. Die Satanskrone war das allgemeine Weltpanier geworden, vor dem sich die Flagge jeder, auch der stolzesten Nation, willig zusammenfaltete. Eben wollte ich laut ausrufen: »Der Teufel ist Capitain auf der Fahrt durch Welt und Leben, und doch gelingt uns keine That mehr!« – als ein lauter Aufschrei mich aus meinen überspannten Träumereien emporschreckte. Ich kehre mich um und gewahre eine zarte Frauengestalt von den schönsten Formen weit hinausgebeugt über das Geländer und ein feines Umschlagetuch von dem Schaufelrade in die Wellen hinabschleudern. Die Gewalt des Rades, die Schnelligkeit des Umschwunges hätten sie beinahe über das Geländer gerissen, ehe sie Zeit gewann, das herausflatternde Tuch vollends zu lösen. Einer Ohnmacht nahe sank sie in meine Arme, die Gesellschaft drängte sich um uns, zerstreute sich aber sehr bald wieder, als die Gerettete die Augen aufschlug. Das Dampfschiff legte vor Bingen an und nahm neue Passagiere an Bord.
»Haben Sie meinen Fächer?« fragte mit zitterndem Silberklang das schöne Weib, auf dessen Stirn noch die Blässe der Angst lag. »Ihren Fächer? Ich habe keinen bemerkt.«
Ein peinliches Lächeln küßte die schönen Lippen. »Er liegt im Rhein,« sagte sie kaum vernehmbar, »bald wäre ich ihm gefolgt. Sie haben mich gerettet, nehmen Sie meinen Dank, obwol es vielleicht besser gewesen, ich wäre mit ihm hinabgesunken in den schönen Strom.«
Mir starb das Wort auf der Zunge, ich konnte nur durch einen starren, fragenden Blick antworten. Die schöne Frau mußte ihn bemerkt haben, ihre Wangen überzog ein leises, duftiges Roth. Sie reichte mir den Arm, der noch zitterte und führte mich dem Steuerrade zu. Die Passagiere hatten sich meist nach dem Vordertheil des Schiffes gedrängt, wir waren allein. Die Fremde setzte sich, ich nahm Platz an ihrer Seite. Da sie schwieg, hatte ich Zeit genug, sie zu betrachten. Ich schämte mich vor mir selbst, daß ich erst jetzt durch einen Zufall diese Frau bemerkte. Sie konnte für ein Ideal moderner Weiblichkeit gelten, denn sie war in Allem, auch dem Aeußern, ein vollkommener Gegensatz der antiken. In dieser hohen, bleichen Stirn, an deren Schläfen die blauen Adern wie hüpfende Schlangen bebten, lag alles Leid, Sinnen und Träumen moderner Weltbewegung. Das Auge schwamm in feuchtem Glanz und verrieth ebensowol eine unbegrenzte Hingebung an die Seligkeit der Liebe, als der Ausdruck schwärmerischer Andacht in ihm zitterte. Und nun diese schlanke Gestalt, der blühende Leib, umhüllt von dem schillernden Seidengewande, das sich verrätherisch schmeichelnd an die üppigen Formen legte!
Du schüttelst mißbilligend den Kopf. Deine Unempfindlichkeit, Dein unerschütterlicher Gleichmuth begreifen nicht, wie die Schönheit des Weibes den Mann zu schwärmerischer Gluth hinreißen kann. Bleibe Dir treu, Rigorist, nur lasse mir die Seligkeiten des Augenblicks! Mein Himmel kettet sich um die Erde nicht in der gläubigen Schönheit und Kindesanmuth Deiner Dogmen, sondern angethan mit der Fülle natürlicher Grazie. Auch in ihm ist die Liebe das höchste Gesetz, nur nicht vereist und versteinert in der Kaltwassertaufe heilig gehaltener Askese.
Meine Schützlingin schwieg noch immer, das Dampfschiff flog, gejagt von dem keuchenden Element, dem Bingerloch zu. Die Wellen tanzten in weißen Schaumbüscheln um den fabelhaften Mäusethurm, überall strudelte der grüne Strom an den Felsenriffen, und Alt und Jung wollte die Gefahren der berühmten Passage mit Augen sehen.
Ich fragte meine schöne Nachbarin, wie weit sie den Rhein hinabzufahren gedenke.
»Bis Köln.«
»Werden Sie sich lange in der alten Stadt aufhalten?
»Es ist mein Wohnort,« gab sie freundlich lächelnd zur Antwort. »Und Sie?«
»So lange es mir gefällt. Ich bin an keine Zeit gebunden.«
»Dann müssen Sie glücklich sein.«
»Die Ungebundenheit ist oft der Dieb des Glückes.«
»Das sind Gedanken, die ein Mann von Ihrem Alter mit Gewalt verscheuchen sollte. Will die jugendliche Manneskraft schon ihr tiefstes Leben der Laune hingeben, so wird ihr das spätere Lebensziel in unerreichbare Ferne gerückt.«
Ein Dritter unterbrach die Ermahnungen der liebreizenden Lehrmeisterin. Wir kehrten dem Schiffsschnabel den Rücken, um die verschwindende Gegend besser übersehen zu können. Eine sonore starke Mannesstimme sprach:
»Das ist eine bloße Schwachheit, mein Herr! Sobald ein vernünftiger Mensch die Ueberzeugung gewonnen hat, daß für ihn auf Erden nichts mehr zu thun sei, ist es Pflicht, die Welt zu verlassen.«
»Ja, wenn dies in seiner Gewalt stände,« versetzte sein Begleiter. »Leider oder vielmehr glücklicherweise können wir den Tod nicht commandiren, wenn es uns aus Spleen etwa gerade beliebt, mit ihm Bekanntschaft zu machen.«
»Ich bin kein Engländer, mein Herr,« gegenredete der Erste. »Was ich sage, ist immer Ausdruck tiefster Ueberzeugung. Ich hasse das Schwatzen und Bramarbasiren.«
»Dann werden Sie mir auch Recht geben.«
»Recht geben! Als ob es mir nicht frei stände, mich hinabzuschwingen über das Geländer, und diesem Dasein thatenloser Langweiligkeit ein schnelles Ende zu machen!«
»Richard,« rief das Weib an meiner Seite, und ergriff des Redenden Hand. »Sprich nicht so, Du weißt, es ängstigt mich!«
»Warum thun Sie es denn nicht?« fragte der Andere.
Der Fremde von meiner schönen Geretteten mit »Richard« Angeredete zeigte auf die reizende Gestalt und winkte seinem Begleiter, ihn allein zu lassen.
»Daß es noch solche Affen geben muß,« fügte er hinzu. »Es thäte noth, ihnen zu Gefallen allemal die Probe auf jede Behauptung, die man aufstellt, gleich mit in den Kauf zu geben.« – Die junge Frau suchte den Blick Richards aufzufangen, er zog ihre Hand an seinen Mund, und schien sein Auge versenken zu wollen in den feuchten Glanz ihrer braunen Pupille.
Mir ist noch kaum eine Gestalt so aufgefallen, wie dieser Richard. Denke Dir einen jugendlichen kräftigen Mann, Ferdinand, tief in die dreißig, hoch gewachsen, muskulös, aber hager. Eine Salonfigur seinem Aeußern nach; die Kleidung aus den feinsten Stoffen, nach dem elegantesten Schnitt, nur mit einem Anfluge genialer Negligenz. Die blüthenweißen Manschetten lose herabfallend über die schöngeformten, weißen Hände. Ein buntes Tuch leicht um den Hals geschlungen, das ovale Gesicht von einem dichten, schwarzen Bart umflossen. Aber welch' ein Gesicht! Kaum kann ich es glauben, daß eine Stirn, weiß geglüht von der verzehrenden Flamme des Gedankens, auf so fashionable Hüllung herabschauen mag. Es ist kein Blutstropfen mehr in diesen bleichen, marmorbleichen Wangen, und dennoch flackert in der Sonnenhelle seines Auges nicht das ungewisse, irrende Licht, das gewöhnlich seinen falben Todtenschein über die Trümmer eines verwüsteten Lebens wirft. Erschreckend freilich fliegt die finstere Wolke unergründlicher Melancholie um das tiefliegende Auge, wie die Motte um ein Licht, oder der stille Nachtvogel um den kalten Schimmer einer offenen Gruft. Noch weiß ich nicht, was dieser Richard, dessen Geschlechtsname Bardeloh ist, für eine Rolle spielt in der großen Welt. Meine schöne Gerettete ist sein Weib, sein glückliches Weib, und doch scheinen Beide sehr unglücklich zu sein. Ich hielt ihn anfangs für einen Diplomaten, dem aber widerspricht die Offenheit seines Auges, der ehrliche Schnitt seines Gesichtes, wie die Verachtung aller Heuchelei, die darin sichtbar ist.
Nach den ersten Begrüßungen entspann sich bald ein Gespräch zwischen uns, das schnell an Interesse gewann und für mich eine Hinneigung zu dem kaum gesehenen Fremdling zur Folge hatte. Seine Gattin Rosalie scheint ihn zu umschweben wie ein Genius. Sie allein scheint er zu achten, aber glücklich ist er dennoch nicht.
Und kannst Du glauben, daß gerade diese Entdeckung mich ruhiger gemacht hat? So erbärmlich ist der Mensch, daß er immer und ewig an den jüdischen Trost Tubals: »Andere Leute haben auch Unglück,« die elende Hütte seines Glückes anlehnt. Doch zu meiner eignen Ehrenrettung muß ich gestehen, daß meine Beruhigung ihren Grund nicht in einer so gemeinen Gesinnung hat. Nur daß ein gleicher Schmerz diesem Bardeloh das Gemüth belastet, und auch er bei äußerem Glück ruhelos umhergetrieben wird, tröstet mich, weil es einen Beweis für meine Behauptung abgibt, die Welt sei lahm und schwach geworden, und ersticke unter dem Ekel erregenden Dunst einer raffinirten Civilisation. –
»Watt und Fulton waren doch zwei große Männer,« begann nach einiger Zeit Bardeloh. »Diese Menschen brauchen sich nicht der Jahrzehnte zu schämen, in denen sie gelebt haben. Ihrer Thatkraft ist es gelungen, eine totale Umbildung zweier Hemisphären vorzubereiten. Dampfschiffe und Dampfwagen sind eine Erfindung, die ihrem Werthe nach nur der Buchdruckerkunst gleichgestellt werden kann. Haben Sie in Mainz den Gutenberger Hof besucht?«
Ich bejahte die Frage, worauf Bardeloh fortfuhr: »Nun dieser Gutenberg war ein ganzer, vollendeter Mensch. Das ist genug. Mehr darüber sagen zu wollen, wäre Frevel. Ich hasse das Zerfasern einer Wahrheit. Aber unsere Zeit will Alles spinnennetzfein haben. Für jeden Ausspruch muß der Grund angegeben, mit der Sonde und nöthigenfalls auch mit dem Senkblei untersucht werden, um zu sehen, ob er denn auch wirklich gleich sei dem Boden; und erst dann, wenn man sich durch Fühlen und Rechnen hinreichend davon überzeugt hat, begnügt man sich. Was halten Sie von unserer Zeit?«
»Sie ist nichts und kann Alles werden.«
»Da treffen Sie zum Ziele,« versetzte Bardeloh. Rosalie trocknete ihm mit ihrem Taschentuche die Stirn, auf der große Schweißtropfen standen. »Richard,« bat das herrliche Weib, »Du bist noch unwol und gerade diese Gespräche solltest Du vermeiden. Hast Du die Vorschriften des Arztes schon wieder vergessen?«
»Erinnere mich daran, mein Herz,« erwiederte Bardeloh, indem er einen Kuß auf Rosaliens Hand drückte. »Uebrigens ist es Bedürfniß, mich wieder einmal auszusprechen.« Er wandte sich abermals zu mir und fuhr fort: »Man spricht heut zu Tage viel von neuen Lebensbahnen, unerhörten Umgestaltungen, großen Epochen. Man hat Recht, aber nur bedingt. Ich meines Theils bin überzeugt, dieser Erdtheil, auf dessen einer Ader wir eben wie ein rollender Pulsschlag fortgetrieben werden, gebiert nichts, oder doch nur wenig von alle dem, was erst spät hineinleuchten wird in den dunkeln, annoch unerhellten Weltenbau. Europa kommt nicht heraus aus dem ancien régime; der Fluch klebt ihm an und hält es darnieder in einem halben Todesschlafe, wie der Fluch des kreuztragenden Gottes das Volk des Unglückes, auf das er herabsank. Wie dieses Volk jetzt noch seufzt unter der Schattenlast jenes Kreuzes, dessen Bürde es den schuldlos Verurtheilten nicht wollte ablegen lassen; so hinkt das mattgehetzte Europa schwindsüchtig in seinen Gedanken, mit verpesteter Lebenskraft immer und ewig um sein offenes Grab, und schaufelt es täglich um einige Fuß tiefer. Es hat der Einfachheit der Natur die Thür gewiesen, und an deren Statt das Raffinement der Gelüste eingelassen. Dieser Unhold wird es umbringen und den erdrosselten Leichnam seines Opfers dann hinwerfen zum Fraß für hungerige Wölfe. Dieser Tag aber wird der Anfang sein einer neuen Epoche, das Grabgeläute übertünchten Elends, die Wiedergeburt frischer Thatkraft! Nur fürchte ich, es sterben zuvor noch einige Jahrhunderte, aufgezehrt von Gram und Schwäche wie wir, der Einzelne so gut als die Gesammtheit, d. h. diejenigen, die befähigt sind, den Jammer zu fühlen, weil sie sich einen Rest gesunder Urkraft aufbewahrt haben.«
»Ist Ihnen ein Rettungsmittel bekannt, das man den Wenigen bieten könnte?« unterbrach ich hier den Unzufriedenen, »oder meinen Sie, es sei blos die Rache des herausgeforderten Schicksals, gegen die Niemand ankämpfen dürfe?«
»Was thaten Cato Uticensis und Brutus? Was so viele Andere alter und mittler Zeit?«
»Einen freiwilligen Austritt aus dem Leben zählt unsere Religion unter die ärgsten Verbrechen. Sie können unmöglich wünschen, daß ein Gedanke, verpestend und entsittlichend, sich festsetzen solle in dem Gemüth unserer Jugend, der leider ohnehin schon mehr, als wünschenswerth ist, die Herzen derselben umstrickt hat. Mit der Gleichgiltigkeit gegen das Leben zerfällt jede moralische Regung. Predigen wir den Selbstmord als eine Tugend, so sehe ich nicht ein, wie Rettung kommen soll für die Unmündigen.«
Bardeloh war aufgestanden, seine Gattin saß in schmerzliches Sinnen verloren am Schiffsspiegel und starrte gefühllos in die grüne, schäumende Fluth. Das Schiff flog an Bacharach vorüber der Pfalz zu. Längs dem Ufer an die niedrigen Hügel lehnten sich alte Römerthürme in großer Anzahl und erzählten, wie umhergestreute Todtenschädel, von dem regen Leben früherer Zeiten. Bardeloh zog mich an's Schiffsgeländer. »Junger Mann,« sprach er, »es gibt keusche, heilige Sünden und daneben auch Tugenden, vor deren roher, schmutziger Unkeuschheit jedes Herz, das noch im Zustande republicanischer Einfachheit sich selbst bewacht, erröthen und zusammenschrumpfen muß. Sind Sie so bewandert in der heiligen Geschichte des Menschenherzens, daß Sie wagen, dieser gegenüber die Satzung frommer Willkür zu erheben? Den möchte ich sehen, junger Freund, der sein Herz zerschmetterte, wenn er es retten könnte durch einen zornigen Ausruf gegen dasjenige Wesen, dem wir die Ehre der Schöpfung zugestehen. Ich weiß, daß die Masse lieber die Perle ihres Rosenkranzes küßt, als den süßen Mund der Geliebten; daß sie frivol wird auf Kosten sanctionirter Untugenden, ehe sie frei und muthig in dem ewigen Lebenselemente die geschwächten Glieder badet. Halten Sie dies für Religion, so fürchte ich sehr, Sie reden oder fühlen sich nur aus Langweiligkeit gewaltsam in ein Weh hinein, von dem Ihr rein menschlicher Theil nichts empfindet. So lange Sie fest kleben an der Convenienz irgend einer Societät, entschlagen Sie sich des Gedankens, als seien Sie mit berufen, den Opfertod zu sterben für die Befreiung eines Geschlechts, das nur noch ein Flechten- und Moosleben führt. Sehen Sie hinüber an das Ufer! Dort liegen die zersprungenen Glieder jener großen Thatenkette, womit die Römer das Schicksal einer ganzen Welt an sich banden. Was hat sie zersprengt und rostig umhergestreut in allen Ländern, wo Civilisation herrscht? Nichts als die That, die man ihnen entgegenstellte. Wären unsere Vorfahren elende Schwächlinge gewesen, wie wir, entsittlicht durch das Gift des feigen Gedankens; sie hätten nie der Thatkraft Roms sich widersetzen können! Wer etwas vollbringen will, mein Freund, der darf sich durch die winzigen Scrupel der Gewissenhaftigkeit nicht beengen und abschwächen lassen.«
»Sie sind also in der That willens, den Mord, und zwar Selbstmord, als Rettungsmittel zu empfehlen für unsere jetzigen Zustände?«
Bardeloh lächelte mitleidig-ironisch. O, könnte ich Dir sagen, wie mich dieses Lächeln zugleich entzückte und zermalmte! Nur die Weltheiligkeit, umflossen von der Glorie eines Märtyrthums, wofür die Geschichte bis jetzt noch keine Belohnung erfunden hat, vermochte sich in diesen Schmerzenszuckungen um Mund und Kinn zu flechten. Ich beneidete den gedankenbleichen Mann in seinen mephistophelischen Qualen. Ein Anderer vielleicht wäre schüchtern mit dem Beben tugendhaften Abscheu's davon geschlichen, indem er in Bardeloh die Gestalt des ewigen Verführers erblickt hätte; mir aber, – ja Ferdinand, ich rufe Dir's zu unter dem Purpurmantel, den eben die Sonne mildthätig über die entzückenden Gefilde dieser Rheinlandschaft faltet – mir erschien er als ein Prophet, als ein Johannes der Täufer, der vorausgesandt worden dem Christus des neuen Jahrhunderts! – Da stand der bleiche Mann an dem keuchenden Schlot, unter ihm seufzte die dämonische Maschine, der schwarze Rumpf des Schiffes durchbrach die wallende, grüne Fluth des Stromes und stürmte, wie ein infernalischer Vogel, mit seinen blutrothen Flossen durch das schimmernde Krystall. Da stand er, der bleiche, unglückliche Sohn unsres Jahrhunderts, das in unnatürlicher Brunst die Keuschheit seines Herzens abgetödtet an sich selbst. Ich sank auf das Kajütenfenster, denn es war mir nie klarer geworden als jetzt, daß Tausende und Abertausende mit diesem Bardeloh sich nicht emporarbeiten können zum frohen, lichten Thatendrange, weil die Kette der Ohnmacht angeschweißt worden an das warme Fleisch ihrer Herzen!
Nach langem Schweigen trat Bardeloh wieder zu mir und legte seine Hand auf meine Schulter. »Sie sind noch ein schuldloses Kind in Ihrem Jammer,« sprach der seltsame Mann. »Ich würde mit Ihnen sprechen von meinen Hoffnungen und Befürchtungen, aber ich muß ausrufen wie Christus: ›Ihr könnt es noch nicht tragen!‹«
»Mord, Selbstmord!« stammelte ich halblaut vor mich hin, während Bardeloh's Worte klagend durch meine Seele schrien.
»Wer spricht von Selbstmord?« erwiederte mit der Sicherheit des klarsten Bewußtseins mein neuer Bekannter. »Eine That ist kein Mord. Thun Sie etwas, geißeln Sie die Menschen bis aufs Blut zur That, sein Sie ein Despot der Freiheit, und lassen Sie die scharfen Drachenzähne der Freiheitspeitsche tief einhauen in das Fleisch der Sklaven fluchwürdiger Erschlaffung; so morden Sie nicht, sondern befreien blos. Hat ein Mensch die Rückenmarkschwindsucht, weckt nur der glühende Stahl das verdorrte Lebensmark, oder glauben Sie, daß eine schwindsüchtige Welt mit Pfefferkuchen und Marzipan zu heilen sei? Schlagt sie in die glühenden Ketten der Scham, so wird sie gesunden!«
Hier klang wehmüthig klagender Hörnerruf von dem sinken Rheinufer herüber und hüpfte von Fels zu Fels, von Berg zu Berg, vielfach gebrochen auf der Tonleiter des Echo in die Ferne. Das Schiff steuerte vorüber an den Klippen des Lurlei. Bardeloh's Auge schien die Töne zu trinken; er horchte lange den fernzitternden Schwingungen der beschworenen Rheinnymphe, sah stumm und kalt das Schiff über den Strudel des wilden Gefährts brausen und stieg dann hinab in den unteren Raum zur Maschine, in dessen glühender Atmosphäre die Arbeitenden wie Kyklopen von Gluth und Asche gebräunt die bewegende Flamme unterhielten. –
Rosalie hatte keinen Theil genommen an meinem Gespräch mit ihren Gatten. Schweigend genoß sie die vorüberziehenden Reize der Ufer und schien übrigens viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie dem lebhaften Verkehr der mannigfaltigen Fremden hätte Interesse abgewinnen können. Durch mein Bekanntwerden mit ihr hielt ich mich für berufen, sie als eine Schutzbefohlene zu betrachten und nahm wieder Platz an ihrer Seite. Sie gewahrte mich kaum, als sie theilnehmend und bewegt nach Richard fragte. Beruhigt durch meine Antwort fuhr sie fort, mir einiges Nähere über ihren Gatten mitzutheilen, wobei sie jedoch mit weiblichem Zartsinn Alles umging, was mich tiefer in die geheimeren Verhältnisse ihres gegenseitigen Lebens hätte blicken lassen. Ich erfuhr, daß sie aus Wiesbaden zurückkehrten, wo sie während eines Monates die Heilquellen gebraucht, um ihre beiderseitig wankende Gesundheit wieder herzustellen. Ihr sei dies so ziemlich gelungen, bei Richard aber, meinte sie, träfen zu viele Uebel zusammen, um eine Heilung des Körpers in so kurzer Zeit bewerkstelligen zu können.
»Richard,« sprach sie, »leidet weniger körperlich als geistig, und auch dieses geistige Leiden ist nicht wie gewöhnlich ein Symptom seelischen Krankseins, sondern eher der Beweis überkräftiger geistiger Gesundheit. Es wird Ihnen dies sonderbar vorkommen, sollten Sie aber durch ein längeres Zusammenleben mit uns Richard näher kennen lernen, so werden Sie meine Behauptung bestätigt finden.«
Rosalie schien sich zu erheitern, ich war daher bemüht, den Moment aufknospender Gemüthsfreudigkeit festzuhalten und wo möglich zu verlängern. Ich that einige unbedeutende Fragen, die jedoch selten bei einem weiblichen Gemüth ihres Zweckes verfehlen. Ich gedachte der Häuslichkeit und der Rückkehr zu gewohnten, liebgewonnenen Oertlichkeiten.
»Das wäre gewiß mein süßestes Vergnügen,« erwiederte Rosalie, »wenn für Richard nicht gerade daraus der Giftquell neuen Schmerzes träufelte. Alles Gewöhnte und Stillebehagliche haßt er mit einem Abscheu, der mich oft besorgt macht um seinen Geist. Wohl begreife ich, woher sich dieser Haß schreibt, aber es ist Unrecht, der stillen Freude, die lieblich und mit dem Friedensblick eines Kindesauges voll gewinnender Unschuld sich uns anschmiegt, bitter entgegenzutreten. Man soll den Himmel nicht verhöhnen, wenn er uns nur den Glanz der Sterne gönnt, nicht die Flamme selbst, die jene Welten belebt. Warum einen Frevel begehen an seinem Glück und an sich selbst unter Verhältnissen, deren Aenderung nicht in die Hand Eines Individuums gegeben ist? Mir scheint es immer, als schwelle die Qual der Seele zur unerträglichen Bergeslast an, wenn wir zu stolz oder zu hart sind, den Moment zu erfassen, in dem oft ein wunderbarer Zauber der Beschwichtigung liegt. Noch hat es – dies ist meine Ueberzeugung – keine Zeit gegeben, in der sich alle Wünsche erfüllten. Hart freilich drückt der Zwang der Verhältnisse auf die freie und glückliche Entfaltung unserer Lebenskeime. Die Gegenwart ist zum Alp geworden, der uns ängstigt und selbst den schönen Frieden eines kindlichen Herzens zerquetscht. Immer jedoch bleibt noch eine Hoffnung, die zur Rettung werden kann bei sicherem Wagen und vorsichtigem Umhertasten. Möchte nur die schroffe Männlichkeit, die in vielen unserer bedeutenderen Menschen zu ungebunden hineinschlägt in das Getriebe des Weltlebens, sich enger verschwistern mit dem weiblichen Theile des Daseins. Der starke Geist sollte eine stille, heilige Ehe eingehen mit der hingebenden Sanftmuth weiblicher Empfindung. Wie das Streben so vieler tüchtiger Männer auf Freibleiben zielt, so verachten sie auch eine geistige Ehe. Man trennt zu viel, zu schroff, in der Absicht, durch unerbittliches Scheiden die zerrissenen Theile zu freiwilliger Einigung zu nöthigen; aber ich fürchte, aus diesem Zerspalten entwickelt sich ein Cölibat, dessen Folgen mit Vernichtung der urewigen sittlichen Weltordnung endigen werden.«
Wahrlich! das Weib sprach so ruhig und wahr, daß ich mich einen Augenblick vor mir selbst schämte, und nahe daran war, Bardeloh zu zürnen. Rosalie hatte Recht. Dieses weibliche Element, das sie der modernen Welt gerettet sehen will, läßt man allerdings zu sehr außer Acht, allein wer mag denn die Frage beantworten, ob es wol jetzt auch schon an der Zeit sei, Rücksichten zu nehmen auf das sanft Begrenzende, jetzt, wo es ja wesentlich auf ein Niederreißen alles Begrenzten, Abgeschlossenen und Hemmenden ankommt? Nur so viel scheint mir einleuchtend, daß dieser weltstürmende Bardeloh in Rosaliens liebreizender Engelsgestalt eine Beschützerin zur Seite hat, die den Ungestümen nicht wird sinken lassen in den Abgrund eines völligen Unterganges.
Mich ergreift ein unaussprechlich schmerzhaftes Weh, ich möchte es das Weh eines ganzen Welttheils nennen, wenn ich die Zukunft hineinrechne in die Gegenwart. Zwar sollte ich diese Klage nicht vor das Forum Deines Herzens bringen, das keinen Puls, kein Gefühl kennt für dies mein Leid. Indeß ich will es wagen und appellire an Deine Discretion oder Toleranz, wie Du es nennen magst. Bist Du bemüht, Proselyten zu machen, so wirst Du mir gewiß auch das Recht zugestehen, das für wahr Erkannte dem Opponenten gegenüber zu vertheidigen. Ist es nicht ein wahnsinniges Beginnen, frische Lebenswege nach dem Todten, Vergangenen abzumessen? Unsere Zeit siecht an der Epidemie, unsere eigenen Lebenswirren nach Art längst in Staub zerfallener Epochen schlichten zu wollen. Darüber ist sie in Streit gerathen mit dem ewigen Geist der Geschichte und dem Gott der Welt. Sie hat nicht bedacht, daß ein Vervollkommnen alles Seins auch alte Zustände vernichtet. Nun ringt der Geist, eingesunken in den Schlamm und Moder vieler Jahrtausende, ohne Rast und Erfolg, weil er zu bedenklich ist, einen Frevel zu begehen, der in sich selbst keiner mehr wäre, sobald der Gedanke sich consolidirte zur That. In diesem Schwanken und Zaudern besteht die Unmoralität der Gegenwart wie aller Geschichte. Brechen wir los mit einer ganzen vollen That, die in ihrer Offenbarung schon sich als Sieg darstellt, so erkennt alle Welt das als bloßen Wunsch für Unmoralität Verachtete in seinem Gelingen als einen moralischen Fortschritt, und folgt willig dem Vorausgegangenen. Moral ist ein vager, leerer Begriff, die That erst gibt ihr den Freibrief der Göttlichkeit. Aus den Conflicten fällt die Wahrheit dem zu, der mit dem letzten Wort den Gegner zum Schweigen bringt. Dies ist das Recht des Stärkeren im Reich der Geister. Es wird gelten, so lange es eine Welt gibt, und darin besteht das eigentliche Kriterium alles Wahren und Guten, das nur insofern ein absolutes sein kann, als es sich in den verschiedensten Modificationen nicht als ein Vernichtetes, Absorbirtes verliert. Die Form allein ändert sich, der Kern bleibt immer derselbe, aber die Form ist kein Willkürliches, denn sie entspringt aus der Nothwendigkeit gegebener Begriffe, die ihrerseits wieder von der jedesmaligen Lage der Societät und der Welt bedingt und bestimmt werden.
Sollte denn in unsern Tagen die Nothwendigkeit, alles bisher Dagewesene zu ignoriren und es mithin zu vernichten, nicht klar bemerkbar sein? Warum also noch länger zaudern und die Menschheit hinhalten, bis ein gewaltsamer Stoß sie hinreißt zu unerhörten Greueln? Hätte man immer darauf geachtet, so würde die Geschichte weniger Blutbäder aufzuweisen haben, aber freilich auch an Interesse verlieren. Es scheint, das Juste milieu ist verhaßt im Cabinet des Weltregierers. Dort herrscht der Radicalismus mit seinen freien, bewegten Formen, die nie veralten, weil sie sich immer verjüngen.
Ich breche ab, Coblenz liegt vor uns, hinter den weinumzogenen Hügeln der Mosel sinkt die Sonne. Lichte Schatten flattern herüber von den Bergen über die schimmernde Fluth. Die Glocken läuten, an den mosaikartigen Mauern des Ehrenbreitsteins rinnt, wie ein Blutstrom, der letzte Schein der Sonne nieder. Ein Dampfboot segelt den Strom herauf, das Verdeck füllt sich, die Brücke fällt. Das hervorstürzende Leben verscheucht den stillern, verschlossenen Unmuth des Herzens. Bardeloh ist wieder heraufgestiegen aus dem Raume. Was er dort gebrütet haben mag! Sein Gesicht bedeckt eine fast noch tiefere Blässe als zuvor; er sieht krank, lebenskrank, erdenmatt, europamüde aus. Nur sein Blick liegt auf Welt und Menschen um ihn her wie ein Fernrohr, das die stille, sinnende Sphinx der Zukunft gerichtet hat auf die Gegenwart, dieses colossale Grab alles bisherigen Lebens, über dessen Hügel der finstere, blutbefleckte Schatten eines ungeheuern Kreuzes schwankt. Aber der Leichnam ist herabgestürzt von diesem Kreuze und nur die Nägel starren noch aus dem Holz. Man sieht nicht mehr den Umriß des hingeopferten, zur Versöhnung gestorbenen Gottes, nein, nur seine Marterbank. Und zu ihr – o Gott, zu ihr allein richtet die blödsüchtige Welt ihr scheues Gebet? – –
Es ist finster, die Passagiere haben großentheils das Schiff verlassen. Die Nothwendigkeit zwingt mich, zu schließen. Könnte ich mich doch, ein Geist, hüllen in den silbernen Nebelglanz, der vom grünen, stillen Strome die Rebenhügel hinanklimmt! Ach, diese Welt wäre schön, betete sie nicht größtentheils nur an am nackten, morschen Stamme des Kreuzes! –