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3.
An Ferdinand

Köln, den 4. August.

Mit jedem Tage spannen sich hier meine Erwartungen höher. Ich selbst gewinne an Individualität unter diesen geheimen Stößen, seit ich mir nicht mehr allein angehöre. Es ist Alles anders geworden in mir seit dem Abende, wo Bardeloh's Haus jene wunderliche Gesellschaft versammelte. Noch dämmert jene stille Mondnacht wie ein glückliches Mährchen in meiner Seele, in der mir zum ersten Male das Geheimniß gelöst ward, von dem Niemand eine Ahnung spürt als diejenigen, in denen es selbst in seligen Räthseln das Leben erzählt. Fürchte nicht, daß ich dich mit Liebesgeflüster langweilen werde. Du sollst von meinem eignen Sein nur dann etwas erfahren, wenn es sich mit dem Geschick von Personen verflicht, die in ihren großartigeren Eigenthümlichkeiten einen Theil des Weltlebens umfassen.

In den letzt vergangenen Tagen war ich bemüht, das Innere der Stadt genauer zu besichtigen. Köln ist häßlich, eng, finster. Ein dunkler Schatten, den die Bigotterie des Mittelalters zurückgelassen hat, kriecht rastlos über die Stadt fort und will sich nicht von ihr scheiden. Diese alt-katholische Atmosphäre hat für einen Protestanten immer etwas Beängstigendes.

In Köln fehlt es weder an Kirchen noch Klöstern. Auf allen Straßen ragt ein solcher steinerner Zahn gen Himmel, halb zertrümmert oder doch dem Zerbrechen nahe. Und in dem hohlen Gehäuse betet einsam die Andacht ihren Rosenkranz, Weihrauch dampft als eine Ergänzung des ambrosianischen Lobgesanges um den Hochaltar, und die Kerzen dunkeln dem Erlöschen zu, wie geschwächte Augen, die das blendende Licht des hereinbrechenden Tages nicht mehr ertragen können.

Ach, mir ward schwer und bang auf meinen einsamen Wanderungen! Gedanken, vielleicht mehr als groß und unnennbar, weil zu neu, wühlten sich aus dem Schutt der alten Religiosität hervor, und klopften mit dem hellen Puls jugendlich stürmischen Lebens an das bemooste Herz des so verständig still gewordenen Menschengeschlechts. Wie mir da seltsam zu Muthe ward! Wie mir in diesem weiten, eigentlich öden Köln die Religion unsers Jahrhunderts so verlassen, beinahe verfallen erschien! Diese Stadt, noch voll innigen Glaubens an die Lehren des katholischen Kirchenthums, kommt mir vor wie ein großes, gothisches Grabgewölbe, das die Entwickelung der Jahrhunderte auseinandergesprengt hat. In den Riß hinein stürzt ein milder Freudenblick des heitern Lebenshimmels und erhellt den weihrauchstillen Raum, in dem der einbalsamirte Leichnam des Gottes schläft, dessen Andenken die Welt mit vollstem Recht zur Religion erhob. Aber Himmel, wie hat sich dieser duldende Versöhner verwandelt! Das edle Gesicht ist zusammengesunken und darauf liegt der bunte Moderstaub von achtzehn langen Jahrhunderten! Um den Gesalbten aber kniet, betet, stammelt und röchelt das ungläubige Kind der armen Gegenwart, und ist erfreut, wenn der feuchte Stern der Fäulniß, der auf der verwesten Pupille sein dämmerndes Licht anzündet, es anstrahlt mit der Bewußtlosigkeit des Todes! – Ja, Ferdinand, komm hierher, in diese heilige Stadt, da kannst Du erkennen lernen, wohin es gekommen ist mit unserm verkannten Christus! Ich habe heute gekniet an seinem moderbedeckten Leichnam, und bin aufgestanden mit gebrochenem Herzen und dem zitternden Lebensweh: o daß doch Rettung erschiene vom Himmel oder der Hölle für die verlornen Völker Europa's!

Ob du mit mir fühlst, was mich beängstigt? Ob du begreifst, wie in der Vernichtung des Göttlichen, das so grell überall heraustritt, auch ein Zusammenbrechen menschlicher Lebenszustände gegeben sei? Es wird mir immer gewisser, daß alle unsere modernen Verwirrungen nicht von Grund aus zu lösen sind, wenn wir nicht zugleich die religiösen Elemente von dem angehängten Schmutze zu reinigen suchen. Ein Heimweh des Geistes zieht den Menschen in das Heiligthum seines Schmerzes, das durchduftet ist von einem Aether, dessen verschiedene Bestandtheile sich consolidiren zur Religion. Nennt diesen Aether des Geistes, wie Ihr wollt, es kommt nichts dabei heraus. Immer wird er Religion bleiben, wo er sich auch zeigen, wie er sich auch gestalten mag. Erscheine ich unreligiös, so ist es nicht die innere Nothwendigkeit, die mich dazu antreibt, sondern eine unerklärliche Scheu vor diesem äußerlich Bindenden, die mir Herz und Seele in einen Sklavenring zwängt. Wenn ich beten will, so brauche ich keine Vorschriften. Die Lettern meines Gemüths sind dem Gotte verständlich, zu dem die Begeisterung meine Worte hinweht. – Freilich ist es mir wol bekannt, daß Ihr, Du und deine Anhänger, immer nur behauptet, ohne Schale verderbe auch der Kern; ich möcht' aber nur den Beweis dafür sehen. Gleichnisse führen hierbei zu keinem Ziele, und ich bin gewiß, daß ein der Ueberzeugung des Individuums völlig frei gegebener Cultus trotz seiner äußerlichen Verschiedenheit der innerlich geeinteste sein würde. Das Herz ist sich immer gleich, und betet man blos an, wenn es das Bedürfniß erheischt, so gibt es auch nur eine Art der Anbetung. –

Es kommt vielleicht sehr bald eine Zeit, wo ich Dir Ausführlicheres über dieses Thema mittheilen kann. Durch den Kirchenbesuch zufällig darauf geführt, kehr' ich jetzt wieder zu meiner Berichterstattung zurück. Auch ohne das stillere Gedankenleben drang so Vieles mit wundersamer Gewalt auf mich ein, daß ich mich veranlaßt fühle, davon zu sprechen. Es geschieht nichts ohne Einfluß auf das Ganze, und so trägt auch das kürzlich Gesehene und Erlebte bei, Dir jenes Bild ergänzen zu helfen, zu dem sich mein kleines Leben formt im Zusammenstoßen mit dem anderer und bedeutenderer Individualitäten.

Ich besuchte zuvörderst mehrere katholische Kirchen, unter denen ich als die historisch merkwürdigsten nur die Peterskirche mit Rubens'schen Gemälden, die Gereons-, Apostel- und St. Ursulakirche nenne. Letztere fesselt viele Fremde, da in ihr die Schädel der 11,000 Jungfrauen aufbewahrt werden. Wie gewöhnlich jagte mich von dannen, was Andere hält. Die Todtenschädel mochte ich nicht bewundern. Ich liebe das Leben, das mir ohnehin noch zu todt ist, und Jungfrauenschädel habe ich lieber in lebendiger Frische. Interessanter als diese Schädel war mir daher auch eine in dunkle Seidengewänder gehüllte Gestalt, die in einer Seitenkapelle anscheinend in Andacht versunken auf den Knieen lag. Die Welt sprach zu lockend aus den edlen Formen, die unter der dunkeln Verhüllung hervorschimmerten, als daß ich unbeachtet der Betenden hätte vorübergehen können. Ein Altargemälde betrachtend war ich bemüht, den herabfallenden Schleier mit dem Blick zu durchforschen. Dies schwierige Experiment gelang mir nur zur Hälfte, doch glaubte ich zu bemerken, daß ein paar funkelnde, rheinische Augen sich mehr der Außenwelt zuwendeten, als in innere Tiefen blickten. Das schlanke Mädchen erhob sich, ein Fehltritt machte es schwanken, es wäre beinahe die Stufen herabgefallen. Behend erfaßte ich es am Arm und verschob dadurch den Schleier. Ein weltlich-frohes Gesicht von dem lieblichsten Oval, das ein Stumpfnäschen noch mehr verschönte, lächelte mit naiver Verschämtheit mich an.

»Danke dem Herrn,« lispelte das holde Kind, zog, als wolle es mich necken, den Schleier wieder herab und verschwand im Schiff der Kirche. An der Thür trat ein junger Mann zu der Beterin, der lebhaft sprechend mit ihr fortging. Ich folgte dem Paare durch einige Gassen und merkte mir das Haus, in dem es verschwand.

Müde des katholischen Wesens, und von Glück und Unglück gleichermaßen gefoltert, trat ich in die protestantische Kirche, weniger, um in diesem Augenblicke meinem Bekenntniß ein Genüge zu thun, als den Contrast recht innerlich durchzufühlen, der in einer ächt katholischen Stadt immer grell dem Protestantismus gegenüber sich heraushebt. Die Kirche war einfach und gänzlich schmucklos. Es mußte eine Frühpredigt oder ein Gebet gehalten worden sein, denn ich bemerkte den Pastor noch in der Sakristei. – Es gehört mit zu meinen Liebhabereien, die Prediger aller Secten möglichst zu beobachten. Daraus läßt sich oft ein ziemlich genauer Schluß folgern auf das Bekenntniß selbst, dessen Vorsteher und Vertheidiger wir in ihnen erblicken. Als der Mann aus der Sakristei durch das Schiff der Kirche ging, traute ich kaum meinen Augen. Es war die Gestalt, Haltung, Physiognomie des hagern, erdfahlen Mannes mit den gestickten Ueberschlägeln, der mir in Bardeloh's Hause so widerlich aufgefallen, vor dem sich Auguste entsetzt hatte und dessen ausgeprägte Charakterschroffheit Bardeloh mit Entzücken erfüllte.

Unbemerkt wollte ich mich entfernen, der Geistliche hatte mich gesehen und redete mich an.

»Sie sind fremd in Köln, nicht wahr?« – Ich bejahte die Frage.

»Irre ich mich nicht,« fuhr der Prediger fort, »so haben wir uns schon im Vorübergehen kennen gelernt. Waren Sie nicht vor einigen Tagen in der Abendgesellschaft bei dem Particulier Bardeloh?«

»Ich erfreue mich seiner Freundschaft und wohne in seinem Hause.«

»Das ist viel behauptet! Bardeloh kennt keine Freundschaft. Dazu ist er zu gebildet.«

»Aus dem Munde eines evangelischen Geistlichen ein solches Wort zu vernehmen, kommt mir seltsam vor.«

»In der That? Nun wenn Sie ein Freund des Seltsamen sind, so können Sie bei mir Befriedigung finden. Mein Haus steht Ihnen jederzeit offen. Ich wohne gleich neben an und stehe zu Diensten. Jetzt entschuldigen Sie – meine Amtstracht –«

Mit einer stummen Kopfbeugung, begleitet von jenem Glitzern des Auges, das eben sowol Geist als Geringschätzung wo nicht Verachtung der Welt ausdrückt, verließ mich der Prediger. Die wenigen Worte, die er an mich richtete, waren ganz geeignet, eine nähere Bekanntschaft mit ihm zu wünschen. Ich entschloß mich der Einladung zu folgen, sobald als möglich.

Die Mittagszeit war bereits herangekommen, als ich den Rückweg antrat. Noch zu wenig orientirt, verlief ich mich in dem Gewirr enger, dunkler Gassen und kam in die Nähe eines der Klöster, die es hier gibt. Die grauen Mauern, die schleichende Stille, die aus jedem Steine seufzt, ließen mich das alte, finstere Gebäude eine Zeit lang betrachten. Das Leben schien ausgestorben um diese Wohnungen des Friedens, wie die Gutmütigkeit religiös-barocker Gemüther die Marterkammern des vom Geschick verfehmten Menschen genannt hat. Gerade über mir in bedeutender Höhe vor einem schmalen Fenster blühte ein dürftiges Röschen, ein Paar Vergißmeinnicht neigten die verweinten Augen schüchtern in das klare Sonnenlicht, dunkle Winde rankte an dem Fensterstock hinan, Epheu mit dem finstern, scheuen Laube griff sich phantastisch herab vom verwitterten Schieferdache und umspann zur Hälfte die enge Oeffnung. Dumpfe, hohle Todtenstimmen begannen die Hora zu singen. Dieser Jammerlaut der Entsagung klang wie der Verzweiflungsruf und das wüste Pochen eines Lebendigbegrabenen an den mitleidslosen Sarg. Kein lebendiges Wesen außer mir war zu erblicken; am hellen Tage schrie im Thurm die Eule. Der angeborne Abscheu gegen Klöster und Zellen stürzte über mich, wie der Schauer eines kalten Bades; ich wollte forteilen, als plötzlich mit humoristischem Tone in den fernen Horagesang eine schreiende, lustige Männerstimme einfiel. Horchend blieb ich stehen. Der Ton kletterte an den Wänden herab, ich sah hinauf nach dem Fenster – ein eingefallnes, bleiches Mönchsgesicht leuchtete wie ein gefangener Geist durch das Gewebe des Epheu, das die Winkelspinne der Weltgeschichte anheftet überall, wo die Dunkelheit über das Licht triumphiren will. Anfangs konnte ich nur einzelne Worte verstehen, da aber der singende Mönch sich selbst zu erheitern schien an seinen Versen, den wahrscheinlichen Productionen hirnverzehrender Einsamkeit; so gestaltete sich bald in der Wiederholung ein Ganzes aus den Bruchstücken. Ich möchte Dir gern eine Probe dieser Klosterzellenpoesie geben, wenn ich nicht fürchten müßte, Dich dadurch zu verwunden. Klöster sind ganz besondere Verwahrungsorte. Ich möchte sie als die Büchsen in der Weltapotheke betrachten, in denen unter hermetischem Verschlusse das potenzirte Gift des Geistes verwahrt wird, wenn die Heiligkeit des reinen Menschen in ihm zu Tode gekitzelt worden ist. Doch ich bin still und füge nur noch bei, daß der Mönch in seinem Liede weltlich frivole Ausdrücke, die an die tiefste Gemeinheit grenzten, so barock, so furchtbar ergreifend mit den feierlich-ernsten Worten der Hora und des erschütternden alten Kirchenliedes » dies irae, dies illa« zu verschmelzen wußte, daß auch der kälteste Mensch mit Entsetzen vor diesem Gesange zurückschaudern würde. Dabei hielt er die Melodie des angeführten Liedes mit einer wunderlichen Lustigkeit fest, was dem Ganzen ein unaussprechlich grelles Gemisch von dämonischem Hohne und verrückter Brunst verlieh. Nur des letzten Verses kann ich mich noch ziemlich deutlich erinnern. Ich glaube er schloß ungefähr, wie folgt:

»Lustig, lustig, hört Ihr's girren?
– Ingemisco, tanquam reus –
Dirnen lachen, schäkern, kirren
Heil'ge Brüder – mit Monstranzen
– Stürzen hin im wilden Tanzen –
Culpa rubet vultus meus. –
Lustig, lustig, hört Ihr's girren?
– Preces meae non sunt dignae –
Sei gegrüßet, holde Schöne!
Dich, Maria, mit Gestöhne
Bet' ich an – 'nen Kuß, 'nen Kuß! –
– Sed tu, bonus, fac benigne,
Ne perenni cremer igne.

Deinem Leib fall' ich zu Fuß.
Heisa, lustig! dies illa – in favilla – in favilla!«

Wie gefällt Dir das Lied, Ferdinand? Schüttle nicht den Kopf, verhülle nicht Dein Auge! Immerhin laß die Thräne rinnen vor dem Angesichte der Welt in den Kelch der Gnade, den der sterngeschmückte Himmel allnächtlich dem Menschen herabreicht. –

Noch zittern mir die Glieder, wenn ich des singenden Mönchs gedenke, dessen grauenhaftes Lied wie ein Abriß des Weltgerichts hereinheult in die vollen, heiligen Stunden des Lebens. Hättest Du ihn singen hören, diesen Mönch, dessen leise Umrisse ich kaum auffangen konnte! Ist er krank, ist er toll, oder verpestet die Seuche des vom Gelübde der Keuschheit ausgemergelten Leibes ihm den Sternenhimmel des Gedankens, der fleckenlos bleiben muß, wie sein Ebenbild, wenn er in den bald stillen, bald von Leidenschaften erbebenden Dom der Menschenbrust seine heiligen Schauer senden soll? –

Das sind Entdeckungen, die gewaltig viel dazu beitragen, mich auf die sündhafte Trennung hinzuführen, die leider noch immer besteht zwischen Fleisch und Geist. Auch dies gehört zu den Folterqualen des europäischen Lebens. Man ist so human gewesen, Daumschrauben, spanische Stiefeln und Hexenproben für unvernünftig zu erklären und doch noch nicht darauf gefallen, jener geistigen Folter ein Ziel zu setzen, die nur Schwärmerei und Bigotterie zu einer Gott wolgefälligen Uebung erheben konnten. Sobald einmal etwas erfunden wird, sind die Menschen wie toll, es sich zuzueignen, tritt aber der Fall ein, daß eine neue Zeit die Nichtigkeit des ehemals Erfundenen erkennt und auf Entfernung desselben dringt; hält man es fest mit hundert Händen, sollte dabei auch die liebe Vernunft in hunderttausend Fetzen zerreißen. Ach, es ist schwer, ein Mensch zu bleiben!

Das Kloster suche ich nächstens wieder auf, vielleicht auch erfrage ich etwas Näheres über den Mönch von Bardeloh oder dem protestantischen Mephistopheles. Heut Abend habe ich große Dinge vor. Würde ich so glücklich, als ich in diesem Augenblicke vernichtet bin! –

 

Nach Mitternacht.

Nur in der verschwiegenen Nachtstille kann ich Dir vertrauen, was ich in den letzten Stunden erlebt habe. Man darf es nur darauf anlegen, Erfahrungen machen zu wollen, und die Sammlung dieser herzzerreißenden Raritäten wächst an zu einem großartigen Kabinet. Schade, daß die Mitwelt so stumpf ist, wenig darauf zu achten! Einer, der es sich vornehmen wollte, sein Leben mit Ausstellungen so gesammelter Seltenheiten zu fristen, würde schlechte Geschäfte machen. Der Gedanke wäre zu poetisch und im Grunde ist doch nur die verloren gegangene Poesie in Wissenschaft, Leben und Religion das Aufreibende, Vernichtende im modernen Dasein.

Als ich von meiner Morgenwanderung zurück kam, fand ich Bardeloh in einer ungewöhnlich heitern Stimmung. Felix war bei ihm und konnte sich ungestört seinen naiven Scherzen überlassen. Dies war ein Blick des geöffneten Himmels in meine gequälte Seele. Ich drängte den individuellen Schmerz zurück, ließ die hinter jedem civilisirten Menschenkopfe herabflatternde Lachmaske – diese Kaputze des Jesuitismus – über mein Gesicht fallen und spielte eine erträgliche Humoreske.

»Sie müssen unser Nest gut durchstöbert haben,« sagte Bardeloh. »Seit Tages Anbruch fort kommen Sie eben jetzt erst zurück? Nicht wahr, Köln hat auch einige Seiten, von denen es fesselt, lange, lange fesselt?«

»Das Alterthum« versetzte ich, »hat es den Deutschen angethan, und mehr oder weniger hat Jeder von uns seine alterthümlichen Gelüste.«

»Mich dürfen Sie davon ausschließen.«

»Nicht ganz. Ihr Reservoir dort hinter der Tapete fällt mit diesem nationalen Hange der Deutschen zusammen.«

Bardeloh verfärbte sich und an dem Spiel seiner Finger, das bei jeder Aufregung sehr lebhaft wird, bemerkte ich ein innerliches leidenschaftliches Toben.

»Sie müssen Unterschiede machen, lieber Sigismund,« erwiederte mein Gastfreund, die vorige Haltung frischer Ruhe wieder annehmend. »Ich sammle nicht, ich forsche blos; und wenn ich aus der Augenhöhle eines Todtenschädels so glücklich bin, den Lebenslauf eines Jahrhunderts herauszulesen, so werden Sie diese Fähigkeit nicht zu den Liebhabereien eines Alterthümlers zählen können. Wo das Lebende nicht ausreicht, psychologisch die Menschheit zu erforschen, zwingt uns die Noth, das Todte zu Hülfe zu nehmen. Und ich sehe nicht ein, warum nicht in einem hohlen Schädel so viel Witz stecken soll als in einem mit Gehirn erfüllten.«

Felix, der unterdeß an der Fensterscheibe den preußischen Zapfenstreich getrommelt hatte, jauchzte hier laut auf, riß die Fensterflügel aus einander und rief einmal über das andere: Guten Tag, guten Tag!

»Was fällt Dir denn ein, Junge?« wandte sich der Vater an den Knaben.

»Ach, da hat sich der Friedrich mit seinen großen Wasserstiefeln uns gegenüber an die Laterne gelehnt und stimmt seine Geige!« erzählte Felix. »Eine ganze Schaar Gassenjungen sammelt sich um ihn und gib Acht, Vater, Friedrich wird einen Tanz loslassen, daß die Häuser wackeln. Im Geigen thut's ihm nur der Paganini zuvor.«

»Was Du bewandert bist,« versetzte Bardeloh. »Weiß der Junge schon, daß es einen Paganini gibt.«

»Ja das kommt von deinem Geplauder, Vater. Du hast den Paganini immer gelobt und nanntest ihn dazumal den Satansfiedler. Nun der Friedrich bringt's doch noch weiter. Der wird Dir noch den Todtentanz streichen.«

»Still!« gebot Bardeloh auf diese Bemerkung. Felix verließ das Fenster und suchte verschüchtert Schutz bei mir. »Nun hab ich's wieder ganz versehen beim Vater,« flüsterte er mir zu, »denn wenn er mich so kalt ansieht, hat er mich nicht lieb. Du bist aber immer sanft, Dein Auge strahlt blos. Das lieb' ich weit mehr, als das knisternde Brennen, was ich beim Vater ordentlich hören kann, wenn ich ihn recht genau ansehe. Hörst Du? Nun geigt der Friedrich.«

Es bedarf wol kaum der Bemerkung, daß jener Friedrich kein Anderer war, als der Schifferknecht, dessen Erscheinung mir am Hafen schon aufgefallen. Die Art und Weise, die Violine zu handhaben, der Strich des Bogens, die Tanzweise, Alles ließ mich augenblicklich errathen, daß ich den Virtuosen vor einigen Tagen in der stillen Nacht am Hafen gehört hatte. Wer dieser Friedrich sein mag, will mir Niemand verrathen. Gewiß hat er bessere Zeiten gekannt, und Felix hat in seiner kindischen Unbefangenheit, ihn Paganini an die Seite zu stellen, nicht ganz unrecht. Friedrich spielt die Violine nicht nur meisterhaft, sondern sogar genial. In manchem Tone sieht man das Auge einer lang getäuschten Welt brechen und ein Schluchzen, wie es aus diesen abgerissenen Tönen klingt, kann nur die Melodie eines verkümmerten Genius aus der seelenlosen Saite weinen lassen.

Bardeloh's Mienenspiel bei dieser wahnwitzigen Tanzmusik kann ich Dir nicht schildern. Ein solches Gemisch von Ingrimm, tiefem Weh, frivoler Wollust, grauenhafter Weltverachtung und fashionablem Anstande habe ich noch in keines Menschen Gesicht in solch' trauter Innigkeit sich paaren sehen. War dies Muskelzucken ein Schatten der Vibrationen, die Bardeloh's Herz folterten, so liegt in diesem Menschen eine Welt verschlossen, die in ihrer naturgemäßen Entfaltung geeignet sein würde, Alles zu vernichten, was ihr entgegenträte und über Europa die Sonne einer neuen Thatenära aufglänzen zu lassen.

Eine Zeit lang hörten wir schweigend zu, ich zugleich meinen Wirth, wie den Spieler beobachtend. Die Gassenjugend benutzte die Gelegenheit und sprang nach Herzenslust um den fidelen Geiger. Bardeloh nahm einen Beutel aus dem Secretair und rief den Buben zu, auseinander zu gehen; er wolle Jedem vier Groschen schenken. Dem Versprechen folgte die That auf der Stelle. Jubelnd empfing die Gassenjugend die verheißene Gabe und zerstreute sich. Den Rest des Beutels warf er dem Geiger zu. »Hier, Friedrich,« rief er mit kaltem Tone, »trinke meine Gesundheit und spiele nicht auf den Straßen. Merke Dir's, Friedrich, sonst lasse ich Dich einsperren.«

Friedrich nahm den Hut ab und küßte den Beutel. Er trat dem Hause näher. Sein gutmüthig-schlaues Gesicht wandte sich dem Sprecher zu, indem er antwortete: »Die Erde lebt vom Sonnenschein. Es hat sich noch keine Maus vom Speck gemästet, wenn die Katze im Speisegewölbe Reveille schnurrte. Mein Herr und mein Meister, wäre ich nicht arm, so würde der Himmel ein paar Zwillinge mehr in seinem Busentuche hätscheln.« Nach dieser Antwort lief er so eilig als möglich mit den knasternden Theerstiefeln in die nächste Gasse.

Ist das nicht eine Shakspearesche Narrenantwort? Wer kann hinter ihren wahrhaftigen Sinn kommen? – Bardeloh hatte den Kopf sinnend an den Fensterstock gelehnt, es vergingen fünf peinliche Minuten. Gern hätte ich gesprochen, aber eine unerklärliche Scheu verhinderte mich daran. Selbst Felix, sonst immer unbefangen, bedeckte mit beiden Händchen sein Gesicht, als fürchte er einem Geheimniß in die geisterhaften Augen zu sehen. Der Eintritt Rosaliens unterbrach diese peinliche Ruhe. Wir gingen zur Tafel, an der eine unerquickliche Einsilbigkeit heimisch blieb. Erst bei dem Dessert und als der schäumende Moselwein ein künstliches Leben in uns angeregt hatte, begann Bardeloh ein Gespräch, in das bald der kindlich heitere Felix seine Bemerkungen mischte. Bardeloh brachte mich abermals auf meine Excursionen, und einmal in's Erzählen gerathen, erwähnte ich meines Irregehens und des Klosters. Schnell dazwischen geworfene Fragen Bardeloh's verriethen ihm bald die Lage desselben und ehe ich noch selbst das Gespräch auf den Mönch hingeleitet, hatte er mir bereits ein unfreiwilliges Geständniß entrissen.

»O, daß die ewige Gerechtigkeit des Weltenschöpfers Feuer vom Himmel regnen ließ,« rief er wie verstört aus, »damit doch endlich diesem Unsinn ein Ziel gesetzt würde!«

»Gottlob, er ist's!« seufzte Rosalie dazwischen. – Ich saß wie versteinert, mein Blut gefror in den Adern; mich zu erwärmen stürzte ich ein Glas Wein nach dem andern hinab.

»Was ist's mit dem Mönch? fragte ich endlich.

»Eine bloße lustige Geschichte,« versetzte mit lächelnder Weltverachtung mein Gastfreund. »Wenn Sie bibelfest sind, wie ich, so werden Sie sich erinnern, daß Christus die Krämer gelegentlich einmal aus dem Tempel geißelte. Der Brut geschah ohne Zweifel sehr recht, und es war verdienstlich von unserm Herrn, daß er sich zu dieser Charge selbsteigen degradirte; wissen möchte ich nun aber doch, was dieser selbige Herr Christus mit dem Gezücht anfangen würde, das sich jetzt und zwar seit Jahrhunderten mit seinem vermaledeiten Schacher eingenistet hat in den Kirchen. Sonst verkaufte man doch nur Tauben und Opfervieh, jetzt aber legt man sich mit allem Raffinement pfiffiger Entsittlichung auf den Handel mit Tugend und Moralität. Setzt sich die heilige Gesellschaft hin und scheert sich den Kopf halb kahl, um der Erleuchtung nachzuhelfen, und ist doch nicht klug genug zu bemerken, daß zum Gedeihen des Fettwerdens ein Capaunerschnitt unerläßlich! Und wenn's nun einem muntern aufgeweckten Menschen zu Kopfe steigt und das Fett, statt im Wanst sich anzusetzen, nach den Gehirnkammern treibt; steckt man einen solchen misrathenen Halbkapaun in ein enges Gemach, damit er sich die unnatürlichen Fettwammen abwimmern kann.«

»Es sind fast zehn Jahre, seit wir ihn vermissen,« fiel Rosalie dem Erbitterten in die Rede. »Es wäre entsetzlich, wenn dies die Rache des Geschickes für eine unzeitige, bigotte Rechtgläubigkeit sein sollte.«

»Mir wär's angenehm,« versetzte Bardeloh und hob die Tafel auf. »Ohnehin muß man ja immerfort gestachelt werden, wenn's frisch bleiben soll hier in dieser Tropfsteinhöhle.«

Er legte die Hand auf's Herz und maß das Zimmer mit großen Schritten. »Morgen, mein theurer Sigismund,« fuhr er zu mir gewandt fort, »morgen müssen Sie mich zum Prior jenes Klosters begleiten. Dann will ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die Ihnen beweisen soll, daß ein Mensch wie ich in Europa nöthigenfalls wol als Gestorbener aushalten kann, bei Lebzeiten aber den Leichentuchgeruch doch zu aromatisch findet, um ihn zu ertragen, und wäre er mit kölnischem Wasser versetzt. Einstweilen haben Sie Dank für die Nachricht. Ich wußte wol, daß ein Hausschlüssel in Ihrer Hand zum Dietrich für Himmel und Hölle sich gestalten würde.« –

Damit endigte unser Gespräch und Beisammensein. Neue Zweifel, neue Erwartungen waren in mir angeregt worden. Bardeloh schloß sich in seinem Zimmer ein und hielt Zwiesprache mit der List seines Gedankens. Neugier und Unruhe jagten mich hinaus an den Strom, der, ein ewig strahlendes Hoffnungsauge, aus der heiligen Grotte der Alpen hervorblickt mit der Verheißung großer Thaten, und mit bewegtem immer heller schimmerndem Lid durch Deutschlands Auen schweift, sie deckend, schirmend und beschattend mit weinthauender Wimper. O, wer nie hineingeschaut in den goldgrünen Himmel dieses Auges, der kennt nicht den Schmerz und die Freuden der Hoffnung! Ich habe die flüsternden Wellen über mir zusammenschlagen lassen und mich gebadet lange Tage in dem Glanz der Verheißung. Bis tief hinein in das Farbenchaos der Nacht stand ich am Bord der zuckenden Fluth und harrte des Momentes, wo der Puls dos Weltalls durch die Schlagadern des Himmels die funkelnden Stunden der Freude trieb und ihren matteren Abglanz aus dem Kristall unter meinen Füßen vorüberjagte. – Ob ich auch nur eine dieser glänzenden Stunden herausschöpfen werde aus meinem Lebensbrunnen? Ob ich erhasche, was jedem Europäer die Geburt verheißt, ein befriedigtes Alter nach bitterm Kindesschmerz und verwüstenden Lebensstürmen? – Sei's und werd' es, wie das Recht der Geschichte will, meiner Hand soll weder Schwert noch Kreuz vor der geeigneten Stunde entfallen! –

Die Dämmerung wob ein warmes, farbenschillerndes Netz über die Trümmer der vielen Thürme und Kirchen. Ich war den Rhein entlang hinausgegangen bis an den äußersten Thurm, dessen Fuß in den Strom hinabsinkt. Duftig lag auf dem Azur des Himmels das vom Abendroth umflammte Siebengebirge am Horizont, wie das zerrissene Herz Deutschlands, dem Himmel dargereicht auf blauem Kissen, und bluttriefend starrte daraus empor der Drachenfels als seine letzte verstümmelte Schlagader. Dunkler und glühender stürzte der Abend herab und der Strom trieb wie auf grünen Muscheln mit weißen Perlen gestickt das eingeschlürfte Blut des Herzens dem Ocean entgegen. Ich wandte mich der Stadt zu. Aus dem vergitterten Thurmfenster klagte ein armer Gefangener. Es war schon dunkel als ich an der Wohnung des protestantischen Predigers stand. Der Besuch ängstigte mich und doch konnte ich kaum den Eintritt erwarten. Ich mußte mehrere Male läuten, ehe geöffnet ward. Pastor Gleichmuth war zu Hause. Ich ließ mich anmelden und ward vorgelassen.

Der Prediger empfing mich in einem comfortabel eingerichteten Zimmer, dem es jedoch keineswegs an den Insignien der Gelehrsamkeit gebrach.

»Es ist mir sehr erfreulich, Sie als Mann von Wort kennen zu lernen,« redete mich der Pastor mit zuvorkommender Freundlichkeit an. »Lassen Sie uns ein Stündchen in traulichem Gespräche zubringen und die Störnisse vergessen, die sich so gern an glückliche Momente wie neidische Schwämme ansetzen.«

Mit einer civilen Artigkeit, wie das Herkommen eine zur Gewohnheit gewordene Lüge schmeichlerisch nennt, setzte ich mich neben ihn aufs Sopha. Er ließ Licht bringen und eine zwar interessante aber körperlich verkümmerte Dame, die mir als Frau Pastorin vorgestellt ward, bereitete im Nebenzimmer vortrefflichen Thee.

»Gedenken Sie längere Zeit in Bardeloh's Hause zu bleiben?«

»Wahrscheinlich so lange, als mein Aufenthalt in Köln dauert!«

»Und darüber dürften noch verschiedene Wochen und Monate vergehen, nicht wahr?«

»Schwerlich; doch kann ich darüber selbst nichts Genaues bestimmen. Hätte ich immer eine Gesellschaft, wie Sie mir sie bieten dürften, so würde ich wol auf längere Zeit gefesselt.«

»Sehr verbunden!« lächelte mit verachtender Höflichkeit mein Sophanachbar. »Eine Tasse Thee? – Bitte, bedienen Sie sich.« – Wir tranken und waren sehr still. Ich beobachtete den Prediger, auch sein kleines, tief eingesunkenes Auge funkelte, wie das einer Klapperschlange, aus der braunen Höhlung.

»Bardeloh ist ein guter Mann,« begann Pastor Gleichmuth, indem er sich das Ueberschlägel abband, »ein sehr guter Mann,« fuhr er rascher, belebter, ungenirter fort und in sein ganzes Wesen schien ein elektrischer Funke gefahren zu sein. »Ich liebe diesen Menschen, wie er mich, denn er verachtet Alles, was nur leise zusammenhängt mit einer Doctrin der Willkür.« Sein Auge fixirte mich bei diesen Worten mit der Schärfe eines Tigerblick's.

»Aus Ihrem Munde, Herr Pastor, klingt dies paradox.«

»Ich bin nicht Pastor,« sagte ruhig, fast kalt der Prediger.

»Wie? Nicht Pastor!«

»Der Pastor hat Abschied genommen mit diesem Läppchen,« versetzte Gleichmuth mit einer Ruhe, die seinem Namen Ehre machte. »Sie wundern sich, was ich sehr begreiflich finde. Indeß mache ich Ihnen bemerklich, Herr Sigismund, daß ich im Priesterrock und Ueberschlägel Amt und Würde eines evangelischen Predigers bekommen und übernommen habe. Der Mensch saß während der Ordination freilich unter der Hülle, ich glaube aber nicht, daß er bei mir etwas von den Gelübden wußte, die der Pastor that. Ich schwor, gelobte, versprach als Maske – und was ich als solche Maske geschworen, gelobt und versprochen habe, das werde ich als Maske auch immer zu halten wissen. Jetzt sehen Sie in mir den Menschen demaskirt, suchen Sie auch den Geist, der die Maske belebt, da, wo jene liegt.«

Der Pastor trank eine zweite Tasse Thee, ich folgte seinem Beispiele und hielt Rath mit meiner Vernunft, die wie ein erschrockenes Kind im Hintergrund meiner Seele saß.

»Wie gleicht sich denn bei einer solchen Gesinnung der Zweifel zwischen Glauben, Lehre und Ihrer eigenen Ueberzeugung aus?« fragte ich den unheimlichen Mann.

»Sehr bequem. Als Pastor bin ich nicht mehr Ich. Mein Individuum ist aufgegangen in den Falten des schwarzen Talars, der Mensch schläft in dem gestickten Kreuze, das meinen Hals ziert. Nicht das Wort des Menschen, sondern des Priesters spricht aus meinem Munde. Ich thue nicht mehr und nicht weniger, als was die Kirche verlangt, ich bin ein Diener, ein δοῦλος τοῦ ´Ιησοῦ Χριστοῦ.. Wer Knechtsdienste verrichtet, müßte sehr bornirt sein, wollte er dabei zugleich auch seine eigenen Angelegenheiten verhandeln.«

»Dem läßt sich weniger logisch widersprechen als menschlich,« versetzte ich, »nur bin ich der Meinung, Sie selbst leben in einem Irrthume, der Ihnen weder ein reines Glück, noch eine wahre Freude vergönnen wird. Als praktischer Theolog müssen Sie unglücklich sein, da Sie immer lehren, was Sie nicht achten.«

»Einbildung, Grillenfängerei! Das Kleid docirt, nicht mein Ich, oder wenn Sie lieber wollen, der in das Kleid eingenähte Geist. Diese feine Substanz kann nicht heraus, und ängstigt sich ab im Bemühen, zu entfliehen. Die Stoßseufzer, die er vernehmen läßt, sind die Tröstungen wenigstens meiner Religion.«

»Achten Sie sich noch selbst?« fragte ich.

»Ich hoffe ein menschliches Antlitz zu tragen, wie Sie, mein Verehrtester.«

»Und im Priesterrocke –?«

»O, der Geist hat viele Gestalten, in die er zu Nutz und Frommen der Menschheit sich hüllen kann.«

»Ich beneide Sie nicht um Ihr Amt, Herr Pastor.«

»Bitte sehr, nennen Sie mich schlechtweg Gleichmuth. Der Pastor hängt dort, das Kreuz und seine Lehren liegen unter meinem linken Ellbogen.«

Gleichmuth's Gattin brachte Backwerk, mir dunkelte es vor den Augen. Einen solchen Diener des Herrn hatte ich noch nicht kennen gelernt. Ruhig fuhr der Prediger fort:

»Consequenz, mein Theurer, ist das große Geheimniß, das Alles zum Ziele führt. Die Welt im Allgemeinen ist viel zu gutmüthig-bornirt, als daß sie an einer schlau durchgeführten Consequenz im Geringsten zu zweifeln wagte. Alle Staaten hielten sich, so lange eiserne Consequenz der Verkündiger ihrer Tugendhaftigkeit war, sie fielen langsam oder schnell, je nachdem ein unvorsichtiger Moment die Maske verrückt oder gelüftet hatte. Dies erleidet auf alle Religionen genau dieselbe Anwendung. Ich frage nicht nach dem Werth einer Religion – denn es taugt keine sehr viel, sobald sie zu einer unwandelbaren Norm und Form erhoben wird – sondern immer nur nach der Weisheit ihrer Maximen. Dem zufolge nun ist heut zu Tage der Islam die beste, dem sich am engsten im christlichen Bekenntniß der Katholicismus anschließt. Der Protestantismus taugt am wenigsten, weil er das Menschliche gutmüthig einigen wollte mit dem Priesterlichen. Das führt nur zu Spaltungen, zu Unglück der Einzelnen, wie der Völker, und geistig-politische Gährungen sind unvermeidliche Folgen. Soll ein Cultus frommen, so muß er äußerlich phantastisch sein und innerlich hohl, oder der Fanatismus der Leidenschaft, zur Moral erhoben, muß ihn beseelen. Beides fehlt dem Protestantismus, der in kindischem Wahne das Gesetz der Liebe erfüllen will, während die Skepsis seiner Verständigkeit ihm doch beweist, daß man Schmetterlinge nicht angreifen darf, wenn sie den Schmelz der Farben nicht verlieren sollen.«

»Wie pflegen Sie es denn bei solcher Ueberzeugung zu halten?«

»Ich trenne, weiß zu scheiden und bin nicht so thöricht bigott oder tief religiös verbinden zu wollen, was Gott selbst lächerlich finden müßte. Die Consequenz des Schweigens ist der Talisman meines Erfolgs. Meine Gemeinde achtet mich und ich dulde sie. Was ich als Mensch, d. h. ohne Priesterrock, thu' und denke, wird mir nicht eingerechnet in mein Amt.«

»Hier freilich nicht« bemerkte ich, »sollten Sie aber nicht zuweilen in sich selbst ein Warnen hören, das mit unwiderstehlichem Zittern durch Ihre Seele bebt?«

»Treffliche Anlagen zu einem Bußprediger! – Nein, Sigismund. Diese Qual eines mißrathenen Gewissens kenne ich jetzt nicht mehr. Dieser Livreebediente der ewigen Gerechtigkeit hat bei mir von Jugend auf eine sehr gute Erziehung genossen, was mir ungemein zu Statten kommt, da er allen Fieberanfällen und seelischen Epidemien ungehindert widersteht. In mancher Hinsicht freilich reut mich diese strenge Erziehung, da sie Ursache ist, daß ich Vieles an mir jetzt muß vorübergehen lassen, was doch zum Ausleben des menschlichen Daseins meinen Jahren erst gehört. Ich zähle zweiunddreißig (ein bleicher Schatten wehte, wie die rächende Hand der Sünde über sein eingestürztes Gesicht) und sehe für dieses Alter etwas zurückgekommen aus. Wäre ich in der Jugend eben so Herr meines Denkens gewesen, wie jetzt, so dürfte dies leicht anders sein. Meine Wünsche aber tanzten nach der Wünschelruthe älterlicher Machtvollkommenheit. Der Theolog war geachtet, ein leidliches Auskommen ward jedem gesichert, sobald ein regerer Lebenssinn ihn nicht hindrängte zu Genüssen, die in keinem Verhältnisse stehen mit der Oekonomie seines Haushaltes. Dies bedachte ich frühzeitig und richtete darnach mein Leben ein, was mir in meiner jetzigen Würde einen ungeheuchelten Ernst oft wider Willen sichert und meine Gemeinde nicht auf den Gedanken bringt, ich huldige dem Studium der heiligen Geschichte zu wenig. –«

Der Theolog schwieg einige Augenblicke, in mir stritten sich Verachtung und Bewunderung dieses Mannes um den Vorrang. Ein Zug um den Mund verrieth mir jedoch das Vorhandensein eines Grames, dessen tiefes Weh nur zu scharf beobachtet ward, um laut aufzuschreien in der Qual seiner Fesseln.

»Sie scheinen Theil zu nehmen an mir,« fuhr der Pastor fort, »und nicht unempfindsam zu sein gegen den Menschen, der sich als Geistlicher erlaubt, einen Unterschied zu machen zwischen Beiden. Ich will offen sein, um Ihnen nicht verachtungswürdig zu erscheinen. Schenken Sie mir Ihren tiefsten Haß, so sollen Sie dagegen von meiner verborgensten Liebe getragen werden!«

Er stand auf und öffnete einen Wandschrank. Aus einer sorgfältig mit vielen Schlössern verwahrten Schatulle nahm er ein neunfach versiegeltes Manuscript.

»Hier, mein Theurer,« sagte er, die Rolle mir zeigend. »Unter diesem neunfachen Siegel (ich würde deren sieben darauf gedrückt haben, wenn ich, der Ungläubige, aus Aberglauben diese Zahl nicht haßte) liegt der Schmerz eines dreißigjährigen Lebens. Lesen Sie diese meine Lebensgeschichte, und lernen Sie aus ihr die geheime Biographie des theologischen Menschen im Allgemeinen kennen. Doch versprechen Sie mir, die Siegel nicht am Tage zu lösen, sondern nur unter dem Schatten der Nacht. Die Keuschheit des Gedankens entsetzt sich vor diesen Bekenntnissen, und selbst die Pracht der Sterne könnte verschießen und der Baldachin des Himmels zum Garderobestaat für die Fastnacht der Erde herabfallen, wenn Sie nicht behutsam umgehen mit diesem Vermächtniß eines auf dem Altar des Gehorsams geopferten Herzens.« –

Gleichmuth stieß das Fenster auf. Sternschnuppen, wie umhergestreute Schwärmer spielender Engel, stürzten in schöner Silbergluth über das Steingeripp des Domes, der sich vor meinem Auge in der vollendeten Schönheit des ersten Riesenentwurfes dunkel am Himmel abzeichnete, als wäre es eine fata morgana, aus dem Todtenauge des Werkmeisters heraufzitternd in die Nacht. Gleichmuth ergriff meine Hand und führte mich an's offene Fenster.

»Es ist finster, der Mond wenigstens scheint nicht. So darf ich mich zeigen vor dem vielleicht Schuldlosen, weil er glücklicher war als ich.« – »Ein unentweihtes Kreuz,« fuhr er fort, »steht am Zenith. Sehen Sie hinauf. (Er zeigte nach dem Sternbilde des Schwanes, dessen helle Welten ein Kreuz gestalten.) Um diesen Stamm zittert in schwärmenden Meteoren eine Krone. Bei diesem Kreuz, umwunden von jener Krone, schwören Sie mir, Ihr Wort nicht zu brechen!«

Er hielt das Manuscript dem Himmel entgegen. Ich schwur in dumpfen Sinnen. Ueber dem Krahne des Domthurmes zerschmetterte mit Knistern eine Leuchtkugel. Gleichmuth schloß das Fenster, wir traten zurück, die Rolle lag in meiner Hand.

»Narr!« sprach er, die Hand an die gerunzelte Stirn legend. »Hätte ich mich doch kaum selbst für so kindisch gehalten.« – Halb bewußtlos eilte ich hinaus in die weiche, warme Sommernacht. –

Auf den weniger abgelegenen Straßen war es noch lebendig. Menschengruppen, denen nur der Thyrsusstab und die Weinranken im Haare fehlten, um für jubelnde Bacchanten gelten zu können, durchstreiften singend und scherzend die Stadt. Ungeachtet der nördlichen Lage hat das Volksleben hier, wie den ganzen Rhein hinab, eine südliche Färbung. Die Rebe rankt sich mit ihrem saftigen Freudenauge hinein in das verschwiegnere Leben und bringt den Strom der Rede in freieren Fluß.

Es gehört zu meinen Liebhabereien, an fremden Orten das Leben überall zu fassen. Nacht und Tag sind mir gleich, und ist der Mensch in mir aufgeregt zu üppigem Genusse, mäkele ich auch weniger an der Genossenschaft. Wie überall ist es auch hier nur der Moment, der mich bestimmt, zum Glück oder zum Unglück, zu Freude und Lust, oder zu Leid und Trübsal hinreißt. Hätte nicht ein zu tiefer Eindruck die Lebenswoge meines Herzens zertrümmert gehabt, ich würde mich dem göttlichen Leichtsinn angeschlossen und das Glück geschöpft haben aus reinstem Kristall. Die Unterredung mit Gleichmuth, das Manuskript, dessen Convolut ich in der Brusttasche fühlte, zogen mich dem Schatten entgegen. Dennoch wagte ich nicht, schon in dieser Nacht die Siegel zu brechen. Ich wollte mich erst laben am Sonnenblick der Liebe, stürzte die steilen Gassen hinab zum Rhein und stand mit klopfender Brust an der Wohnung Auguste's. Ihr Fenster war erhellt, ein Zug an der Klingel öffnete mir den Eingang zum Paradiese.

Die Hausflur war finster. Ich griff mit umherfahrenden Armen nach der Treppe, stieß aber überall an und fiel endlich polternd über altes Gerümpel.

»Ephraim!« rief eine warme Frauenstimme von Oben herab, in der ich sogleich den silbernen Ton Auguste's erkannte. »Ephraim Klapperbein, so laß doch Dein Singen und leuchte hinab! Die Menschen zerstoßen sich ja Köpfe und Beine an Deinen Korbflechtereien.«

Während ich mich wieder aufzuraffen suchte, schimmerte ein Lichtstreif die Treppe herab und mit ihm zugleich stolperte die lustige Sangesweise eines jovialen Liedes an mich heran. Meine Lust am Gesange ist Dir bekannt, so wenig auch meine eigne Kehle gesangsfähig erfunden wird. Ein lustiges Lied läßt mich auf Augenblicke den Untergang einer Welt vergessen. Mit kindischem Kosen hänge ich mich in die Locken eines singenden Greises, dessen Jugend glücklicheren, heiteren Zeiten angehörte, als die unsern sind. Ephraim Klapperbein, ein Mensch, so curios, wie sein Name, schlappte in Holzpantoffeln langsam die Treppe herunter, und ließ sich nicht im geringsten dabei in seiner Gesangübung stören. Von seinem Liede verstand ich nur folgende Verse:

»Fehlt' mir's nicht an Geld und Wein,
Möcht' ich ewig leben,
Auf und ab den goldnen Rhein
Mit dem Schifflein schweben.

»Müßt' ein muntres Dirnlein auch
Frei den Mund mir reichen.
'Sist ein guter alter Brauch,
Lockt zu losen Streichen.

»Küssen, lieben, trinken, Geld –
Das ist mein Vergnügen.
Und wer's mit der Erde hält,
Dem wird's auch genügen.

»Bleibt mir mit dem Himmel fort!
Kommt zurecht noch immer.
Selig bin ich hier und dort
Blinkt mir Weingeflimmer!«

»So,« sagte Ephraim Klapperbein, ein alter rüstiger Greis von einigen siebenzig Jahren, und beleuchtete mich von allen Seiten, »so! Also in meine Körbe ist der Herr gefallen? Wunderliche Zeit, fremde Leute zu besuchen. Nachts in der neunten Stunde! Als ich jung war, gingen nur junge Bursche an's Fenster der Liebsten. Was will der Herr?«

»Lieber Alter, meldet mich bei dem Fräulein vom Hause.«

»Fräulein vom Hause!« wiederholte der schlaue Fuchs. »Ein ganz neues Geschlecht; gibt keins dieses Namens in ganz Köln. Vor alter Zeit könnt' es sein, es wäre so 'was von dieser Ausländerei hier zu Lande vorhanden gewesen, dazumal, als das römisch Zeugs sich mausig machte am Rhein. Heut zu Tage aber ist's ausgestorben ganz, rattenkahl, auf Ehre!«

»Ich frage nach Fräulein Auguste.«

»Ist mir ganz unbekannt.«

»Ephraim!« rief es von Oben wieder in demselben lieblichen Flötentone. »Was schwatzest Du denn?«

»Gleich, gnädiges Fräulein,« antwortete Klapperbein.

»Das ist die Jungfrau, der ich eine wichtige Nachricht zu bringen habe,« fiel ich ein, »ich kenne sie an der Stimme.«

Oberhalb der Treppe ward ein zweites Licht sichtbar, ich drängte den Alten zur Seite und flog eilig die Treppe hinan. Unten hörte ich den Korbflechter noch murmeln: »Kennt meine Herrschaft an der Stimme! Ueber die Einbildungen! Und ist doch der Mensch ganz gewiß nicht mehr der Jüngste. Saubere Geschichten! Ephraim, Ephraim, Du kömmst in die Jahre und magst Dir den Witz schleifen lassen, wenn er künftig hin noch schneiden soll!«

Auguste empfing mich mit banger Verschämtheit. Sie machte mir Vorwürfe über mein spätes Kommen und geleitete mich mit sanfter Eile in ihr liebliches Zimmer. Der Genius weiblicher Ordnungsliebe waltete in diesem zierlich ausgeschmückten Raume. Ein Fortepiano stand am Fenster, darüber hing eine Mandoline. Vor dem einen Fenster duftete ein kleiner Blumengarten. Die warme Nachtluft wehte leis durch die geöffneten Flügel. Ueberall sprach sich ein süßes Behagen aus und reizte zu stillem, verschwiegenem Genusse. Schon wollte ich mich dem ungebundenen Geschwätz überlassen, als ich bemerkte, daß eine dritte Person gegenwärtig sei. Wie ein plötzlicher Nebel den Himmel, störte diese Erscheinung meine aufspringende Freude. Mein innerstes Leben, die Ufer übersprudelnd, ebbte zurück in die Borde zahmer Gewöhnlichkeit. Doch nur Minuten dauerte mein Unmuth. Es war eine volle, verführerisch üppig gebaute Mädchengestalt, die Auguste in die Arme schloß und mich mit lächelndem Gruß bewillkommte. Ein Blick genügte, mir zu sagen, daß dieses Mädchen meine jüngst durch Zufall neu erworbene Bekanntschaft aus der Kirche der heiligen Ursula sei.

»Bist Du doch glücklich, Auguste!« rief die Fremde mit einem fast komischen Seufzer aus. »Dein Geliebter läßt nicht auf sich warten, während mein Oskar grausam genug ist, oft einen ganzen Tag nichts von sich hören zu lassen. Seit gestern ist er wie verschwunden. Ich glaube, er ist in den Rhein gesprungen. O Auguste!«

Sie schlang in komischer Angst ihren Arm um Auguste's Nacken, die ihrerseits durch die naive Vermuthung ihrer Freundin mit schöner Purpurgluth übergossen ward. Auch mir stieg das Blut in's Gesicht.

»Lucie, Du bist närrisch,« sagte Auguste, die Ungestüme von sich losmachend.

»Freilich,« erwiederte das lebhafte Mädchen, »das ist ja eben das Unglück. Ich wollte lieber ganz toll sein!«

Sie riß alle Fenster auf und setzte sich dann an das Fortepiano, auf dem sie Töne anschlug, die im Reich der Harmonie noch kein Bürgerrecht erlangt haben.

Auguste saß neben mir. In unsern Blicken lag tausendmal mehr Melodie als in dem Geklimper Luciens. Die sanfte Gewalt, mit der uns ein jungfräuliches Auge in seinen Kreis zu bannen weiß, hat für mich immer mehr Reiz gehabt, als die momentan hinreißende Gluth, die aus Wesen, wie Lucie ist, uns überfluthet. Lucie ist verführerisch, Auguste liebenswürdig. In Lucie jauchzt der Triumph der Liebe seine vorüberrauschenden Dithyramben, durch Auguste's Wesen klingt ein feierlicher Hymnenton, der den Genuß erhebt zur Innigkeit eines dauernden Glückes. Wie Lucie nur den Moment, der in seiner keuschen Entschleierung heilig ist, zur Erscheinung bringt, so feiert in Auguste die unschuldige, ewig reine Weiblichkeit in nackter Schönheit ihre Apotheose. Lucie besitzt nur die neckende Launenhaftigkeit dessen, was liebenswürdig ist am Weibe, Auguste aber verhüllt diesen bleibenden Reiz unter einer Zurückhaltung, die eine intensivere Wärme verräth.

Ich will Dich nicht mit dem unterhalten, was wir mit einander plauderten. Dazu taugt weit besser die halb natürliche, halb kokette Unruhe Luciens. Denn diese Art der Liebe ist phantastisch und spricht in ihrer Launenhaftigkeit weit mehr an, als jene stille Poesie der Liebe, die mit dem Senkblei tieferer Seelenbeschauung herausgehoben sein will aus dem Perlenmutterschrein der Keuschheit.

»Oskar ist ein ekelhafter Mensch!« sagte Lucie und schlug einen noch nie gehörten Accord auf dem Fortepiano an, in dessen herzzerreißendem Gewimmer wirklich ein paar Saiten im Herzen des Instrumentes zersprangen. »Sobald er zu mir kommt, geb' ich ihm Nasenstüber.«

»Daran thust Du ganz recht,« sprach Auguste. »Besser aber wär' es noch, Du ließest ihn gar nicht mehr herein. Wirklich, glaube mir! Der Mensch ist Deiner Liebe nicht werth.«

»Nein, das geht nicht, Auguste; ich muß ihn doch ärgern. Das kann ich nur mündlich.«

»Wenn Sie ihm einen Kuß geben,« fiel ich ein.

»Da möchte er lange warten müssen. Ich hasse das Küssen.«

»Immer?« fragte ich. »Die Erfahrung wäre ganz neu.«

»O, mein Bester,« sagte Lucie, sich vor mich hinstellend, »glauben Sie denn die ganze Welt von Erfahrungen schon hinter sich zu haben?«

»Sie beweisen mir das Gegentheil, Fräulein Lucie.«

»Bei mir sollten Sie zu rathen bekommen!«

»Wenn Sie es zufrieden sind, wollen wir einen Versuch mit einander wagen.«

Hier schlug mich Auguste auf den Mund und meinte, ich sei ein unausstehlicher Mensch. Lucie lachte und ließ die Mandoline wie einen Perpendikel an der Wand hin und herschwanken.

»Mein Gott,« rief sie wieder aus, die Hände angstvoll über den Busen kreuzend, »wenn er nun aus purem Wahnsinn in den Rhein gesprungen wäre! Herr Gott, was sollte ich anfangen! Gestern schlug ich ihn so heftig mit dem Fächer auf die Stirn, daß er bös ward und von mir ging. Ich wollte doch lieber, ich hätt' ihn todt geschlagen, als –«

Auf der Straße ward ein lustiges Lied gesungen. Lucie sprang an's Fenster, warf ein paar Blumenstöcke, die ihr im Wege standen, in das Zimmer und rief laut und vernehmlich »Oskar!« hinunter.

»Was Du für eine wilde Hummel bist!« schalt Auguste, die zerbrochenen Töpfe aufhebend. »Vor Dir hat nichts Ruhe. Erst das Unglück wird Dich vernünftig machen.«

Lucie hörte nichts mehr. Sie griff nach Hut und Shawl, und hatte diesen im Augenblick zerrissen, als ich ihr beim Umschlagen helfen wollte. »Gute Nacht, Auguste,« sprach das wundersam lebhafte Mädchen, die Freundin flüchtig küssend. Dann riß sie an der Klingel, daß die Glocke gar nicht läutete und rief dreimal in einem Athem nach Ephraim.

Der Alte war sehr schwer aus seiner Ruhe zu bringen. Ehe er erschien, hatte das muthwillige Kind schon wieder sechsmal vergeblich gerufen und auch eine Art Dialog mit Oskar auf der Straße improvisirt.

»Du bist also nicht ertrunken?« fragte sie hinunter.

»Ertrunken?« wiederholte verwundert Oskar.

»Nun ja doch. Ich dachte, Du hättest Dich in den Rhein gestürzt.«

»Nein, theuerste, süße Lucie, nur in sein glühendes Rebenblut.«

»Gut, gut, Oskar! Aber ich war recht böse auf Dich und hatte große Lust Dir die Lippen blutig zu küssen.«

»O die Nacht ist noch lang, mein süßes Leben! Komm nur herab, so wollen wir nachholen, was wir seit gestern versäumt haben.«

Endlich trat Ephraim ein. »Wer ist denn die leibhaftige Ungeduld,« fragte der Korbflechter. »Das hat ja ein Mündchen und eine Kehle, wie gebohrt. Als ich noch jung war, mußten wir Geduld haben. Ist das Jüngferchen bereit, so will ich ihr den Arm reichen.«

»Ueber den alten Gecken!« rief Lucie, warf uns Beiden ein Kußhändchen zu und hüpfte zur Thür hinaus.

»Was? Alter Stecken?« wiederholte Ephraim. »Mein allerliebstes Kind, zwar heiße ich Ephraim Klapperbein, aber so gar steckenartig sehe ich doch noch nicht aus. Und hören Sie, Jüngferchen, wenn Sie einmal in mein Alter getreten sein werden, so wird sich's auch nicht mehr so rund und voll herumspringen lassen.«

Für Lucie ging diese Rede verloren. Sie war schon die Treppe zur Hälfte hinunter. In der Thür drehte sich Ephraim noch einmal um. »Und der Herr? Gehen der Herr mit? Es ist ein Thüraufmachen und so ziemlich an der Zeit, nach Hause zu gehen. In fünf Minuten gehe ich zu Bett und kein Nachtschwärmer soll mich wieder herausbringen, so wahr ich Ephraim Klapperbein heiße und in einem Jahre zehn Eimer Wein getrunken habe.«

»Geh nur, Ephraim,« sagte Auguste, »meinen Gesellschafter werde ich schon selbst über die schwierigsten Passagen unserer Treppe hinwegbringen.«

Wir blieben allein. In den Duft der Blumen mischte sich das Aroma der säuselnden Sommernacht, Feuerfliegen schwärmten herein und glänzten in den aufgelösten Locken Auguste's wie dunkle Rubinen. Bei allen Schrecken, die über mir hingen, verlieh mir doch diese Nacht auch die seligsten Augenblicke. So verketten sich die Ringe von Glück und Unglück, wie zwei Schlangen, farbenschillernd, giftschäumend und doch bezaubernd im wandelnden Feuer, das auf ihren Schuppen spielt. –

Es schlug Mitternacht, als ich Auguste verließ, reich, wie ein Nabob, denn ich war im Besitz ihres Herzens! – Du fragst, ob dies Alles sei? Ob mich der heilige Rausch nicht hingerissen habe in seiner glücklichsten Betäubung und ich mich gebadet in der Flammengluth des Fleisches, über dessen zitternde Wogen die Psyche mit keuscher Hand den Himmel ihrer Flügeldecken wirft? – Ach, Ferdinand, Du kennst sie nicht, die wunderlichen Launen der Weiber! Auguste hat mir Alles gegeben, ihr Herz, den Glanz ihres Auges, in dessen lichter Wölbung ich die wundersamste Sterndeuterei begann, Lust und Umarmung, aber die Seligkeit auf Erden –? Das holde Kind meinte, nur die Verheißung sei beseligend. Sie entriß sich mir; es gab noch mehr Unglück unter den Blumenstöcken, ich mußte mich beruhigen. –

Du kannst es ebenfalls. Dein Begriff der Tugend und Unschuld, von dem ich nie viel gehalten, steht noch sehr leserlich auf meiner Brust geschrieben. Bis Du Dich an den Gedanken der Vernichtung dieser wundersamen Gottheit gewöhnt haben wirst, soll er Dir bewahrt bleiben. Dann aber will ich ihn ausbrennen und dennoch mich nicht schämen vor Deiner schneckenkalten Sittlichkeit. –

Sieh! die Sommernacht neigt sich wieder dem Ende zu. Eine Welt in Trümmerschutt ihres Chaos habe ich hingeworfen auf das geduldige Papier. Was sich daraus formen wird, wer mag's bestimmen? Ueber eins aber freue ich mich. Dies ist der alte Ephraim, der erste rein vergnügliche Mensch, der mir seither begegnet ist. Dieser brave Greis weiß nichts vom Schmerz des jugendlichen Europäers. Seine Zeit ist mit ihm alt geworden und die schöneren Erinnerungen aus der Sonnenwelt der Jugend trägt er wie Reliquien mit sich herum, in deren Kusse er die welke Lippe des Alters frisch badet. Wir Andern alle, die wir uns hier getroffen, sind mehr oder weniger dem Ungemach der Gährung hingegeben. Selbst Auguste und Lucie, gewiß noch die Fleckenlosesten aus meiner Bekanntschaft, fühlen dunkel die Qual, die mit dem Fortwandeln der Tage wie eine dunkelgefleckte Boaschlange sich auf den Ast des Weltbaumes aufrollt, um sich auf ihre Opfer zu stürzen.

Der morgende Tag soll neue Räthsel lösen, vielleicht auch schürzen. Die Geschichte der Ewigkeit ist über und um mir, wie der ferne, grause Donner des Malstromes. In seinen Schlund hinab fährt, dünkt mich, das Schiff der Europa. Uebermuth mit Schwäche und feigem Alter gepaart ist sein Kapitän, Koketterie und Bedientendemuth sein Steuermann. Glück auf die Reise, du europäischer Koloß mit dem Colosseum deiner tausend und abertausend Heldengräber! Erweckt die alten Schläfer das Donnergebraus' des Weltenstrudels, so wird dir ein Todtentanz aufgeführt, der selbst den Schatten deines versunkenen Leibes noch einmal zur Welt beleben könnte. Vergessenheit, zerdrücke den Docht meines Geistes, damit ich nicht gegenwärtig sein darf bei der Grablegung Europa's! –


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