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6.
An Raimund

Köln, den 21. August.

»Haben Sie schon das Innere des Domes gesehen?« Mit dieser Frage brachte mir gestern Rosalie ihren Morgengruß. Ich war verstört und wüst von den Erlebnissen der vergangenen Nacht und konnte mich kaum besinnen. »Der Bischoff liest heut die Todtenmesse für den verstorbenen Prior,« fuhr Rosalie fort, »finden Sie Vergnügen an der Kunst, so begleiten Sie mich. Des Cultus halber, den Sie gewiß längst genau kennen, will ich Sie nicht bemühen.«

Ich sagte dankend zu. Der schmerzliche Vorwurf in den letzten Worten des duldenden, schönen Weibes traf mich hart, weil unverschuldet. Es scheint, Rosalie lebt des Glaubens, ich verachte jeden Cultus. Das ist eine Täuschung. Mir kann der Cultus heilig werden, nur verlange ich mehr Innerlichkeit, weniger Tand! Und gesetzt, ich wiese jede Erinnerung daran als Individuum von mir, so will ich damit nicht die Aufhebung des Cultus für die Gesammtheit ausgesprochen haben. Laßt der Gemeinde, was ihr frommt, aber bekehrt Euch selbst zuvor und anathematisirt nicht den Eklektiker!

Wir frühstückten ganz allein mit Felix. Bardeloh erschien nicht. »Er arbeitet sich zur Ruhe,« sagte Rosalie, »unter ein paar Tagen wird er sich schwerlich sehen lassen.« Felix war der unbefangene Knabe wie immer.

»Sigismund,« sprach er und kletterte auf meinen Schoos, »nun bin ich schon zehn Jahre und einen halben Tag alt, wenn ich noch einmal so lange gelebt habe, werde ich ein Märtyrer sein.« Lächelnd, ohne den tragischen Sinn des Wortes zu fassen, grub er seine zierlichen Finger in meine Augen. »Das blitzt!« fuhr er fort. »Wenn Auguste hier wäre, kriegte ich gewiß einen Kuß von ihr; denn das närrische Mädchen behauptet, jeder Kuß sei ein Blitz der Liebe. Da muß die Liebe oft blitzen.«

Ich fragte, warum er denn in zehn Jahren ein Märtyrer zu sein glaube.

»Das ist so ein Einfall des Vaters,« erwiederte Felix mit rührender Harmlosigkeit. »Auch will ich's ihm gern zu Gefallen thun, wenn's nun eben sein muß, nur mag ich mich nicht auf dem Rost braten lassen, wie's ehemals Sitte gewesen sein soll im Märtyrerleben. Kann man denn nicht lustig bleiben und lachen, wenn man ein Märtyrer wird?«

Mir war es unmöglich, dies Gespräch ohne Erschütterung fortzusetzen. Die letzte Frage blieb ich dem Knaben schuldig und suchte seine Aufmerksamkeit auf etwas Anderes zu lenken.

»Begleitest Du die Mutter in die Messe?«

»Ich soll, lieber Sigismund oder ›Mund des Sieges,‹ wie Auguste spricht« (ich hätte den Knaben vor Seelenfreudigkeit mit Küssen ersticken mögen für seine kindische Offenheit. Die Verrätherei eines Kindes ist erhaben und heilig!) »aber ich will nicht.«

»Und warum denn nicht, mein Herzenskind?«

»Weil ich zu oft fromm sein muß.«

»Wie denn das?«

»O Du stellst Dich entsetzlich albern,« lächelte Felix. »Weißt Du denn nicht, daß in einem Todtenamt aller zwei Minuten ein- und mehrmal geläutet wird zum Niederknieen und Bekreuzigen? Das aber ist mir langweilig, denn ich bin oft gar nicht betselig, wenn die steinerne Kuppel so sinnend über mir hängt. Da hat der Vater einmal Recht! Der spricht, wenn der Weihrauch dampft und die Glocke ruft, schmoren die Sünder ihr Gewissen.«

»Du könntest Dir ganz andere Lehren des Vaters merken,« fiel Rosalie ein, »aber Du hast nur Ohren für die Bitterkeiten, die der Vater nicht Dir, sondern mir sagt.«

»Ja, siehst Du, Mutter, das ist wieder nicht meine Schuld. Du gibst mir immer nur Süßes und Angenehmes zu hören und zu essen, und wenn nun der Vater zu uns kommt, merke ich mir immer blos das Bittere und Wunderliche, weil mir das etwas ganz Neues ist. Versuch's einmal und kehre die Gewohnheit um, da wirst Du Dich ganz wundern, wie ich mich dann über Deine Süßigkeiten erfreuen werde.«

Rosalie küßte des Knaben Stirn und entfernte sich, um Toilette zu machen. »Da siehst Du's,« wandte sich Felix an mich, »war das nicht hübsch von der Mutter? Hätte ich dem Vater so was gesagt, so würde ich blos ein finsteres Gesicht dafür gekriegt haben. Ach, Sigismund, wenn Du den Vater heiter und lustig machen könntest, ich wollte Dich küssen, so herzlich wie Auguste.«

Der tiefgefühlte Schmerz des so gut als verwaisten Kindes ergriff mich tiefer als manch' anderes, allgemeineres Weh. Es ist hart, daß ein schuldloses Kind in den Blüthenmonaten seines Lebens so gewaltsam hineingerissen werden muß in den großen Trauerzug, der eine halbe Welt zu Grabe geleitet. Dieses Ertödten der zarten Kindlichkeit erscheint mir grauenhafter als Alles, was uns bedrückt, und wollte man unsere Zustände durch alle ersinnlichen Fechterstreiche der Dialektik zu rechtfertigen suchen, ein einziges Kindesherz, das gebrochen und zerquetscht wird von den stillen, innerlich wühlenden Kämpfen, beweist die Verdorbenheit unseres Lebens. Jetzt erst fasse ich den Gram Bardeloh's, der ihn wie ein Erzittern der Nerven an der galvanischen Batterie durchbebt beim Anblick seines Kindes. Er fühlt, daß keine Rettung gegeben ist für ein harmloses Kindesherz, und daß die Pflicht, der Allgemeinheit zu Hilfe zu eilen, mächtiger ist als die specielle Vatersorge. Ein Mensch wie Bardeloh sollte nicht Vater sein! Dieser ironische Zufall kann den großen Menschen zu einer That verleiten, die gewiß immer eine unsittliche bleiben würde, wenn auch der Conflict, aus dem sie geboren wird, ein milderndes Urtheil fällen möchte. Versetze ich mich an Bardeloh's Stelle, nehme ich mit seinem Geist und seiner Stellung auch all' seine Schmerzen in mich auf, so fühle ich tief, daß ich als Vater entweder ein Tyrann aus Liebe sein könnte gegen mein Kind, oder freiwillig aus dem Leben zu scheiden für die größte meiner Pflichten ansehen würde. – Wahrhaftig, kann der Einzelne, dem im Tiefblick seines Geistes die Monstrosität der Weltlage in zwerghafter Verkrüppelung klar geworden ist, nichts thun zur Errettung des Ganzen, so ist es wol an der Zeit zu sterben. Ach, es ist weit gekommen in Europa! –«

Felix begleitete uns nach dem Dome. Eine unzählbare Menschenmenge drängte sich durch das Portal, den langen Gang hinab, dessen linke Seite von riesenhaften Fenstern durchbrochen wird, die uns in den brennendsten Farben die Kunst der Glasmalerei bewundern lassen. Man fühlt sich niedergedrückt, vereinsamt in diesem gigantischen Baue. Der ungeheure Raum verschlingt den Blick, das Oede, Trümmerartige weckt tragische Empfindungen. Ein Gebäude wie der kölner Dom ist eine Tragödie des Mittelalters, die nicht fertig geworden und nun von allen Jahrhunderten besprochen und befühlt wird, ob sie sich wol vollenden lasse. Es ist aber eine abgeschmackte, gotteslästerliche Thorheit, sich mit einem solchen Gedanken nur zu tragen. Unserer Zeit fehlt die religiöse Begeisterung zur Vollendung, ja zum Verständniß eines solchen Baues. Unsere Dome sind langgestreckte, dünnleibige Fabrikgebäude. Die Begeisterung für das Materielle, reell Nutzbare harmonirt wenig mit dem erhabenen Schwung einer mittelalterlichen Phantasie. Dazumal hatte der productive Mensch in seinen Gedanken noch etwas Riesenmäßiges, Himmelstürmendes. Er baute seine Wünsche aus zu Himmelsstiegen, die auch in ihrer Zertrümmerung noch großartig genug sind, um den nachgebornen Geschlechtern Stoff zu klugen und unklugen Diatriben zu geben.

Wir traten in den hohen Chor, den einzigen vollendeten Theil des Domes. Wie heiße Dankgebete stürzen sich aus der Tiefe der Muttererde die Springquellen der Säulen hinauf zum Himmel und vereinigen sich in tausend auseinander wachsenden Armen zur Palmenkrone des Gewölbes. Ein religiöses Gemüth muß beten können unter dieser steinernen Himmelsdecke, wem aber die Seele erkaltete in der Mattherzigkeit des Weltlebens, oder, wer sich mit Ekel abwendete von der Profanation des Göttlichen, die wol auch hie und da Jahrhunderte lang vollzogen ward in solchen Tempelräumen; der fühlt sich wie unter einem steinernen Sargdeckel begraben.

Ich weiß nicht mehr, mit welchen Empfindungen ich diesen Chor betrat, aber eine unaussprechliche Angst ergriff mich, als die Bigotterie kniebeugte und Kreuze schlug, und an dem Hochaltare, von tausend Kerzen erhellt, in den Nimbus des sündenverdeckenden Weihrauchduftes gehüllt, der amthaltende Bischoff sein lateinisches Formular herlallte. Der Opferduft stieg hinauf in den ungeheuern Raum und kräuselte in blauen Wolken an der Wölbung.

»Macht uns denn dieser Rauch andächtiger?« fragte Felix.

»Gewiß, wenn wir glauben. Darum, Kind, bestrebe Dich nur zu glauben, so wirst Du Dich nie unglücklich fühlen.«

»Da sprichst Du grade, wie der Vater,« meinte der Knabe.

Ein Kirchendiener stieß mich an und fragte, ob ich das Grab der Heiligen drei Könige sehen wolle. Diese Menschen haben eine merkwürdige Gabe, die Fremden aus Hunderten und Tausenden heraus zu erkennen. Ich bemerkte, daß uns das Hochamt wol daran verhindern möchte.

»Keineswegs, Herr Baron,« versetzte der Cerberus der heiligen drei Schädelknochen, »ich bin jederzeit zum Herumführen disponirt.«

Das »Herr Baron« kitzelte zwar meine echt deutsche Seele, dennoch ließ ich mich nicht verführen. Ich wieß den dienstfertigen Geist ab und suchte eines andächtigen Gedankens habhaft zu werden.

»Gib acht, Sigismund,« sprach Felix, »der Bischoff hat schon die Monstranz in den Händen.«

Der aufmerksame Knabe hatte richtig prophezeit. Lautes Geläut brach sich an dem Gewölbe, die Menge stürzte blindlings auf die Knie, wider Willen ward ich mit niedergerissen. Als wir uns wieder erhoben, fuhr Felix fort zu plaudern:

»Wissen möchte ich doch, ob im Himmel auch Messe gelesen wird?«

»Es kann uns gleichgiltig sein,« versetzte ich.

»Nein, Sigismund,« erwiederte der Knabe, »mir wär's gar nicht gleichgiltig. Denn ich sehe nicht ein, wo die Menschen alle hinsollten mit dem Kniebeugen, und wenn sie übereinander fielen, müßt's doch recht curios lächerlich sein im Himmel.«

»Ist das Dein Ernst, Felix?«

»Ja, Sigismund, man darf's aber nicht laut sagen.« –

Mir ward zu eng. Der dampfende Weihrauch erregte mir Schwindel, ich wandte mich dem Ausgange zu. »Mutter,« rief Felix leise, »wir gehen fort, ich mag den Leib des Herrn nicht räuchern sehen.«

Rosalie lag in Andacht hingesunken im Betstuhl. Sie hörte die kindische Bemerkung ihres Sohnes nicht, sie war in der That noch glücklich! Nur das Weib in der Reinheit seines geistigen Seins, auch hier die Empfangende, kann sich ohne Argwohn der Innigkeit einer künstlich erregten Begeisterung überlassen. Dem Manne, diesem suchenden, forschenden und zerstörenden Ableger der Gottheit, sind jene künstlich-stillen Freuden des Seelenlebens nicht mehr verstattet in der Gegenwart. Ich meines Theils glaube sogar, es gibt von Natur gar keinen religiösen Mann mehr, und was sich in ihm noch dafür halten läßt, ist zur Religion gewordene Gewohnheit oder ein Aufnehmen des Weiblichen durch Entsagung kräftiger Männlichkeit. Auch besteht die Religion des Mannes jetzt mehr in der That, als im Gebet, und nur, weil unsere Zeit zu weibisch geworden, ist sie zu schwach zur Production einer gewaltigen That. Der Mann, welcher den Dom zu Köln erbaut hat, ist gewiß kein Frömmler, kein religiöser Beter im Sinne der Gewöhnlichkeit gewesen. – Niedergeschlagen, schweigsam, und fast, möcht' ich sagen, zerrissen, weil ich nicht glücklich sein konnte, wie Rosalie, kehrte ich an ihrer und Felix' Seite nach Hause zurück.

Es war gut, daß der Knabe mich durch sein kindisches Plaudern unterhielt.

 

Des Nachts.

Indem ich jetzt in heiliger Nachteinsamkeit das heut Morgen an Dich Geschriebene wieder überlese, beschleicht mich der Gedanke, ich sei zum Gotteslästerer, zum Heretiker geworden, ohne es zu wissen und zu wollen. Die Unergründlichkeit unserer geistigen Natur ist die Säugamme unseres Elends! Wir Alle suchen umher in den verstecktesten Winkeln des Lebens nach einem Rettungswege aus diesen dunklen Labyrinthen, die Weltirrthum und Weltforschung über uns hingebreitet. Der Zorn über unsere eigene Ohnmacht zupft die liebe Vernunft bei der Nase, und im liebevollen Hingeben unseres Selbst an das vermeint Göttliche brechen wir die Säulen wie der blinde Simson und begraben uns unter ihren tönenden Trümmern. Es muß, scheint mir, noch viel gelästert werden, Raimund, ehe der Tag neuer Weltheiligung über unser unglückliches Jahrhundert heraufleuchten wird. –

Wenn ich hinausschiele durch das Fenster und die graue Masse des Domes emporsteigen sehe in den sternenbesäten Nachthimmel; so beugt sich der friedliche Gott meines Herzens vor dem Heiligenschreine, den sich eines großen Mannes Begeisterung ausgemeißelt hat für seinen Gott. Dieser Bau weckt große Gedanken; der Angstruf einer verschütteten Welt stammelt wie ein Sterbender in mir, ich möchte gern helfen und retten in dem allgemeinen Unglück, aber die Kraft will sich nicht erheben, weil der Einzelne in sich zu keiner Selbstbegeisterung mehr emporwachsen kann. Diese Impotenz ist entsittlichend und verweichlichend, weil durch sie die Männlichkeit anschwillt zur trägen, phlegmatischen Fettmasse. Bleibt wol noch etwas anderes übrig, als Bardeloh's verzweifelnde Verachtung, Mardochai's auflösender Haß, des Mönches Wahnwitz, Friedrich's Blödsinn oder Gleichmuth's raffinirte Selbstentweihung? Hier liegt der Todtschlag des Jahrhunderts, der Mord unserer Kinder, die Selbstentleibung eines müden, lebensmatten und -satten Welttheils! O mir stürzen die Thränen über die Jammergestalt unserer Zeit, über mich, ihr unseligstes Kind, in die überwachten Augen! –

Es ist an der Zeit, Dir wieder ein Bruchstück aus Gleichmuth's Lebensgeschichte mitzutheilen. Anatomischer hat noch kein Gelehrter sein Seelenleben zergliedert. Daß es mir vergönnt wäre, diese Biographie von Religion, Cultus und kräftiger Menschlichkeit aller Welt in die tauben Ohren zu schreien! Vielleicht lernte sie wieder hören und bekäm' ein helles Auge und besseren Geschmack. Eine Restauration der gesunden fünf Sinne könnte ihr nur von Nutzen sein.

Bekenntnisse eines durch Zeit, Menschen, Lehre und Streben Irregeleiteten

(Fortsetzung.)

»Das Verschwinden Eduard's stimmte mich anfänglich überaus lustig. Es war mir neu, zu sehen, wie ein Mensch, hingerissen von der finstern Macht einer fixen Idee, die heitere Welt mit ihren spielenden Freudenklängen verlassen und freiwillig einer fünfzehnjährigen Sklaverei sich hingeben konnte, aus der die Rückkehr zu den größten Unwahrscheinlichkeiten gehörte. Viele meiner sonstigen Bekannten spotteten gleich mir über den bigotten Schwärmer, waren aber in's Geheim der Meinung, der Verschwundene werde einmal unversehens in unserm lustigen Kreise wieder erscheinen. Das Letztere traf nun zwar nicht ein, wol aber erhielten wir unsichere Nachrichten von Eduard, die uns seinen Eintritt in ein Kloster sehr wahrscheinlich machten.

»Die Jugend hält sich nicht gern an Vergangenes; ihr größter Reiz liegt im Erfassen des Augenblicks, der sie hinweghebt über Angst und Sorge des Lebens. Nach einigen Wochen war Eduard vergessen, nur meine Wette trieb unruhig, wie ein Nachtvogel, in düstern Träumen um meine verdämmerten Sinne.

»Die Nothwendigkeit oder, wenn man lieber will, ein ironisches Pflichtgefühl, zwang mich, dem Studium der Theologie Zeit und Kräfte zu opfern. Anfangs vermeinte ich noch immer, es würde sich, aller Widersprüche ungeachtet, die der wahrhafte Mensch in mir gegen die starre Inquisitionsmiene dieser und jener Lehre erhob, ein Weg stiller Vereinigung ausmitteln lassen, doch mein Hoffen blieb vergeblich und erfolglos. Die Lehrer waren zu sehr befangen in Engherzigkeit. Das, was ich das Urmenschliche nennen möchte, und was zugleich der glänzendste Abdruck der Gottähnlichkeit in uns ist, war längst erblindet von unablässigem Gebrauch, den die solide Gewöhnlichkeit davon gemacht hatte. Mangel an schöpferischer Gedankentiefe und ein Hang zur Bequemlichkeit, die jedem Gelehrten anhängt, ließen sie nicht den Zwiespalt erkennen, der zwischen dem Gelehrten und dem Angeborenen entstehen mußte. Freilich war auch die Mehrzahl derer, an die das todte – gewöhnlich sagt man das »lebendige« – Wort gerichtet ward, von zu gemeiner Constitution, um zu erkennen, woran es gebreche. Die Masse der Menschen, auch der gebildeten, will nichts, als sich Fremdes zu eigen machen. So Zugeeignetes, wenn es das Aussehen geistiger Färbung hat, nennt man Gelehrsamkeit, und wer die größten Schober davon um sich aufhäuft, erhält den Beinamen eines tüchtigen Kopfes, eines talentvollen Menschen. O, der Schmach und Verläumdung des Heiligsten in uns! Als ob der Esel, welcher vermöge seines Knochenbaues im Stande ist, die größere Last zu tragen, dadurch auch befugt werde, einer höhern Ordnung der Geschöpfe anzugehören. Wahr ist es freilich, er bekommt weniger Püffe! –

»Mir regte diese Art, Vorgetragenes als wahr hinzunehmen oder durch öfteres Betrachten dafür zu halten, die Galle auf, und je deutlicher ich sah, daß, wie fast in allen Wissenschaften – die Medicin etwa ausgenommen – nur das Mechanische als das Große und Wahre auch in der Theologie docirt, abgefragt und geachtet werde, desto heftiger ward die Opposition dagegen in mir. Da ich keinen fand, der mir Rede stehen wollte, meine Zweifel löste und die verzehrende Unruhe stillte; so ging ich mit mir selbst zu Rathe. In stiller Einsamkeit fand ich nun geschieden den reinen Menschen von dem starren Theologen, und in wie fern dieser als bevorzugter Repräsentant aller christlichen Lehrsätze betrachtet ward, zugleich auch von dem gewöhnlichen Christen. Denn es konnte mich nicht beruhigen, daß Reinchristliches von dem Dogmatisch-Begründeten eben so weit abstehe, als die Sonne von der Erde.

»Ich empörte mich oft vor mir selbst, wenn ich meine gesunde Vernunft hinableuchten ließ in diesen Wust von Satzungen, wo jede Gesundheit des Geistes verkümmert. Ich konnte mich eines bitter-wehmüthigen Lachens nicht enthalten, wenn ich das Auge aufschlug zu dem blauen Himmelsgewölbe, das tiefsinnig wie das niedergeschlagene Augenlid der Gottheit über mir hing, sich schämend der Geschöpfe der Erde! – Gern wäre ich umgekehrt und hätte einen Weg verlassen, der nach allen Seiten hin mich nur zu einem abgeschwächten, eingebildeten Glück, oder zu einem elenden Untergange führen mußte. Schon war ich entschlossen, ihm zu entsagen; da bedachte ich, daß es wol größer und edler sei, darauf zu verharren, vielleicht wäre ich bestimmt, beizutragen zur Aufklärung dunkler Zustände. Der böse Geist eines zweideutigen Ruhmes umdüsterte mich, ich gab nach, ich sah mich als Märtyrer für das geistige Wohl einer halben Welt dastehen, und schwur Treue dem, was ich doch von ganzem Herzen nicht achten konnte.

»Dies war meine erste Ordination zum Geistlichen, zum Gottesgelehrten. Mein Entschluß stand fest – ich wollte ganz Mensch sein und ganz Theolog – wie sich beides bei meiner zerbröckelnden Characteranlage mit einander werde in Einklang bringen lassen, blieb mir noch unklar.

»In dieser Zeit innerer Zerrissenheit, in der die Unschuld des Menschen mit der Beflecktheit der geschichtlichen Theologie rang, trat der Jude Mardochai langsam meinen Kreisen näher. Es hatte dieser Mann mit der Jugendlichkeit seiner morgenländischen Phantasie etwas Bewältigendes für Alle, die in engere Berührung mit ihm kamen. Mardochai war voll geistiger Regsamkeit; ich habe nichts gekannt, was seiner Fassungskraft zu schwer gewesen wäre. Er liebte die Kunst, namentlich die Poesie und Musik und wählte seine Freunde so, daß diesen mannigfachen Gelüsten durch die Wahl selbst schon eine Befriedigung erwuchs. Seine unablässigen Begleiter waren Friedrich, Casimir und ich; doch schien er bei dieser Auswahl sein geheimstes Augenmerk nur auf mich gerichtet zu haben, während die andern Beiden mehr das aufflackernde Kunstmoment nähren und unterhalten mußten. Mardochai war bewandert in den heiligen Büchern seines Volkes, er kannte genau die Lehren des Talmud und hielt sich streng an die Vorschriften seiner Religion. Dies fiel mir auf, da ich wol bemerken konnte, daß nicht Ueberzeugung, sondern nur Gewohnheit, wo nicht gar schlaue Berechnung, ihn zu so widersinniger Pflichtübung vermochten. Seltsamer Weise deuteten einige Bemerkungen in unsern Gesprächen darauf hin und Mardochai berührte mit frivoler Grazie Gegenstände, die eine sinnliche, leicht erregbare Natur zu wilder Gluth entflammen mußten. Der beabsichtigte Eindruck blieb nicht aus; er sah mich zittern, vernahm meine Seufzer, die mehr unterdrückten Flüchen als Gebeten um Abwendung der Verführung glichen. Seine Ruhe blieb dieselbe, nur einzelne, wie zufällig hingeworfene Fragen, mußten mich beredt machen und ihm das Geheimniß entlocken, an dem mein begehrerisches Leben freudlos verkümmerte.

»Wir hatten unsern gewöhnlichen Spaziergang angetreten, die dunklen Kastanienalleen entlang, die nach Poppelsdorf führen. Der Kreuzberg lag, gehüllt in sonnige Nebelschleier, vor uns, die Kapelle glänzte wie ein ins Grab stürzendes Kreuz. Wir stiegen den Berg hinan, immer tiefer in ernste Gespräche uns versenkend.

»»Sind Sie ein wunderlicher Mensch,«« sagte Mardochai, als ich offen die Ursache meines gramvollen Lebens ihm enthüllt hatte. »»Nichts leichter, als hier Einigung und Befriedigung. Sie kennen gewiß die Geschichte Ihrer Kirche besser, als ich, der Jude, Sie werden auch als Protestant nicht fremd sein in der Geschichte der katholischen Kirche. Sagen Sie mir doch offen, was Sie von den Heiligen dieses christlichen Bekenntnisses halten?««

»Die Frage war mit so liebevoller Harmlosigkeit gestellt, daß ich ohne Argwohn meine Meinung dahin gab. Ich erklärte die gesammte Geschichte für ein Denkmal bald aufrichtiger, bald erheuchelter Schwärmerei und bedauerte nur, daß bei so viel Poesie, die unbestritten darin liege, so wenig Erkleckliches für die Menschheit daraus hervorgegangen sei. »»Wäre ich Dichter,«« fügte ich noch hinzu, »»so würde mein tiefstes Bemühen darin bestehen, das Weltpoetische in dieser Erscheinung menschlich zu lösen. Es gibt kein reicheres Feld, Ruhm zu ärndten, und Großes und Bleibendes zu wirken für den Dichter, als ein Aufsuchen und künstlerisch-poetisches Ordnen der feinen psychologischen Fäden, die verborgen liegen in der Geschichte der Heiligen. Daraus würde eine Geschichte des Menschenherzens sich gestalten, an der sich der sinnende Mensch eben so erfreuen als belehren könnte.««

»»Darin will ich Ihnen recht geben,«« versetzte Mardochai, »»nur glaub' ich die Heiligkeit selbst auf ganz andere Gründe zurückführen zu müssen.««

»Wir standen an dem Kloster, die Sonne neigte sich dem Untergange zu, der Rhein quoll, ein dunkelgrüner Königsmantel, aus der Schlucht des Siebengebirges in die freie Ebene, die wie ein Unterthan seinen Saum mit liebender Lippe berührte. In der Kapelle ward die letzte Messe gesungen.

»»Da drin,«« fuhr Mardochai fort, »»lebt auch noch ein Rest aussterbender Heiligkeit. Was gibt ihnen das Vorrecht zu diesem Titel?««

»»Ihr Gelübde.««

»»Freilich! Wenn man nur nicht wüßte, warum das Gelübde dem Menschen verbietet, sein Herz als Herz schlagen zu lassen.««

»»Diese Bemerkung verstehe ich nicht.««

»»Sonderbar!«« rief Mardochai, »»ein Theologe versteht nicht, was er selbst beklagt! –««

»Es trat eine Pause ein, ich versank über die Worte des Juden in tiefe Gedanken. Wir hatten uns auf die Treppenstufen gesetzt, die zur Klosterkirche führen. Vor uns lag das Siebengebirge mit den Ruinen des Drachenfels und Godesberg. Es war ein Abend, mit Wollustreiz überströmt, und wenig geeignet für Gespräche, wie das unsrige.

»»Es muß ein eigener Kitzel sein,«« begann mein Begleiter, »»der den Geist in gänzlicher Scheidung von aller sinnlichen Erregung Befriedigung finden läßt. Ob nur diese Menschen keine Sinne besitzen?««

»»Wer weiß,«« erwiderte ich, »»welch' Unglück die Meisten zur Verläugnung irdischer Freudigkeit getrieben haben mag!««

»»Ja, wer weiß es!«« wiederholte Mardochai und schwieg abermals. Einige Zeit darauf fuhr er fort: »»Bei alle dem hat das Klosterleben doch mancherlei für sich, z. B. ist es gar nicht zu tadeln, daß dem Weltmüden ein Asyl geboten wird, wenn er, geschwächt vom Genuß, sich einem stillgeweihten Leben in Gott überlassen will. Und meiner Ansicht nach kann ein Leben in Gott, ja überhaupt ein theologisches Leben erst nach vorhergegangenem Schwelgen in allen Freuden der Welt wahrhaft fruchtbar werden.««

»»Glauben Sie das wirklich?«« fiel ich dem Redenden mit einiger Heftigkeit in's Wort.

»»Wahrhaftig! Auch habe ich an mir selbst schon erfahren, daß Einigung des geistigen und sinnlichen Menschen nicht denkbar, Scheidung beider aber vernichtend ist. Sollte es da nicht weise sein, der Natur freien Lauf zu lassen und diese geschiedenen Elemente für das Leben aufzufassen jedes zu seiner Zeit? Namentlich hart ist mir es erschienen, daß die Kirche von dem Gottesgelehrten eine immerwährende Enthaltsamkeit oder doch große Mäßigung fordert, die gewöhnlich nachtheilig selbst auf die freisinnige Entfaltung des Geistigen einwirkt. Ich habe immer gefunden, daß die unbedeutendsten kirchlichen Lehrer auch die enthaltsamsten waren. Sehr natürlich! Es kann Einer leicht, was man sagt, fromm sein, wenn keine Leidenschaft ihn verzehrt und der Leidenschaftslose ist immer ein Simplex. Kommt es aber zufällig vor, daß ein geistig lebendiger, gedankenreicher Mensch sich dem heilig genannten Studium hingibt, so muß er auch dem sinnlichen Lebensreize auf irgend eine Weise den natürlichen Tribut zollen, oder es entstehen unnatürliche Laster. Mir als Juden werden Sie es verzeihen, wenn ich alle Klöster die versteinerte Lasterhaftigkeit der gegen den Willen der Natur unterdrückten Sinnenlust nenne. Diese Mauern sind stumm, aber ein geistiges Ohr kann sie seufzen hören.««

»»Was folgern Sie daraus?«« warf ich ein, denn eine bange Scheu hielt mich zurück, das selbst zu sagen, wonach mein eignes Leben doch verlangte.

»»Folgern!«« lächelte Mardochai. »»Ich bin Arzt und verweise aus Gewissenhaftigkeit den Menschen immer an die Natur. Was die Natur verlangt, ist, jedem Sittengesetz oft zum Trotz, immer das Weltmoralische. Man versuche es und zwinge ihr Fesseln auf, sie rächt sich früher oder später! Gibt es nun Satzungen in der Welt, die Klugheit und Politik für nothwendig erachteten, oder an deren Befolgung gegenwärtig das Geschick ganzer Nationen gebunden ist – gut: so befolge man sie als öffentlicher Mensch! Die Natur hat ihren Tempel für sich, ihre Priester und Priesterinnen. Habt Ihr keine Scheu, dem Gesetz der Klugheit die verborgene Sittlichkeit Eures individuellen Menschen aufzuopfern, so sehe ich nicht ein, was Ihr anstehen wollt, im vollen Arm der Natur einen Freudenbecher zu leeren, der Euch die Leiden und Mühen eines erkünstelten, angelernten Lebens leichter ertragen läßt. Scheidet das Gesetz, sei's heilig oder profan, den Menschen in zwei Wesen, so ist es Pflicht der Natur, die Geschiedenen in neuer Schöpfung zu vereinigen. Als Theolog – das Bekenntniß wäre für mich kein Hinderniß – würde ich in den Jahren, wo es meine Kraft erlaubte, dem Reiz der Weltlust, dem sinnlichen Leben geben, was es verlangt, um später desto freier, umsichtiger, durchlebter, der stillen Gottesbetrachtung obliegen zu können.««

»»Die Liebe ist das höchste Gesetz unserer Religion,«« seufzte ich laut in die dunkler herabstürzende Dämmerung.

»»Das ist's, was mich von jeher zum Christenthum hingezogen hat,«« versetzte Mardochai. »»Wäre ich nur nicht ein wunderlicher Kauz, so würde ich mich taufen lassen, allein – ich halte nichts von Ceremonien bei einem Religionswechsel. Ohne Taufe will's nicht gehen, gut, so bleib' ich Jude.««

»»Ich fürchte, Mardochai, Sie verwechseln den Begriff der christlichen Liebe mit dem der weltlichen.««

»»Diesen Einwurf konnte ich erwarten, ich will Sie aber beruhigen. Scheinbar mag ein Unterschied bestehen zwischen geistiger oder christlicher und weltlicher oder sinnlicher Liebe. Der Unterschied liegt aber nur in der Einbildung. Scheidet nicht, so habt Ihr Einigung, und wollt Ihr consequent sein in der Befolgung Eurer Vorschriften, so müßt Ihr auch sinnlich lieben können mit einer Andacht und Inbrunst, die der geistigen Liebe nichts nachgibt.««

»»Daraus würde eine wollüstige Religion entstehen.««

»»Nichts weniger,«« fuhr Mardochai fort. »»Liebt Ihr Euren Nächsten wie Euch selbst, so werdet Ihr doch wol auch die Nächste nicht ausschließen von dieser demokratischen Gesinnung. Liebe ist Hingebung, Aufgehen des Einen in den Andern, sei's im Geist, sei's in der Gluth sinnlich zitternder Andacht! Und wäre ich ein christlicher Lehrer, ich würde mich hineinstürzen in die glühendste Woge der Liebe, um in der Lust bebender Sinne, in Kuß und Umarmung einen Maßstab zu finden für meine dereinstige geistige Liebe, die ich predigen soll dem Volke der Verblendung. O, daß ich kein Christ bin, ich Elender! Daß ich nur die Eine Liebe kenne und nicht die Seligkeit der Andern, die erst emporsteigt aus dem Genuß, der ihre Mutter ist! Das ist der Fluch Eures Gottes oder Propheten, der jeden Einzelnen meines Volkes verfolgt bis an das verachtete Grab. Danken Sie Ihrem Gott, daß er Sie zum Christen erschuf und Ihnen das Glück der Liebe eröffnete in all seinen entzückenden Reizen!««

»Während dieses Gesprächs waren wir langsam wieder herabgestiegen von dem Kreuzberge. Die gesunde Begehrlichkeit meiner Natur regte sich immer lauter und forderte ungestüm Gehör. Mardochai erbarmte mich, ich ließ mich hinreißen von unzeitiger Weichheit und forderte ihn mit fieberischzitterndem Händedruck auf, fortzufahren. Die Dunkelheit der Nacht verbarg mir sein Mienenspiel, ich hörte nur den Sohn des räthselhaften, ewig jungen Morgenlandes. Er sprach, was ich längst mir zu gestehen nicht gewagt, aber von einem Dritten zu hören sehnlichst gehofft hatte.

»»Sie werden es erfahren in Ihrem spätern Leben,«« fuhr der Jude fort, »»daß beinahe alles Verbotene das Erlaubte ist, nur hingestellt, um den Muth des Menschen zu erproben. So war's schon zur Zeit der Schöpfung. Ohne den berüchtigten Apfelbiß fehlte uns alle Geschichte, mindestens alle Romantik des Lebens. Das für sündhaft Gehaltene ist das Poetische, die Schalheit der tagesflachen Wirklichkeit Heiligende. So auch mit der Moral. Versuch' Einer erst, diese Moralität in schönen Leichtsinn seines göttlichen Bewußtseins einzuhüllen und mit ihr davon zu laufen; glauben Sie wol, es erfolge irgend eine Reue darauf? Nur die Schwäche bereut, weil sie nicht productiv ist in sich und das Erschaffen eines Neuen weder begreifen noch ertragen kann. Wollten wir moralisch, tugendhaft, religiös sein im strengen Sinn dieser Worte; so wäre jede Productivität des Geistes eine Sünde, weil sie immer eng verknüpft ist mit dem Zertreten eines Festen, Gegebenen. Jeder Fortschritt wäre dann unmoralisch, denn in ihm liegt die Verachtung des eben Geltenden; jede neue That wäre eine Lästerung der Geschichte, weil sie so frei ist, ohne Compliment sich neben oder über das Vorhandene zu stellen. Es dürfte überhaupt nichts Gedankliches mehr geduldet, alles eigentlich Lebendige müßte todtgeschlagen werden, und heilig allein, tugendhaft und religiös wäre nur der Automat und die Maschine. Dies führe ich nur an, um zu beweisen, daß jedes Verbot eine versteckte Aufforderung ist, es zu übertreten. Seid muthig, keck, dreist und Niemand wagt es, Euer Thun unmoralisch zu nennen; wollen Sie mir aber Einwürfe machen, so bin ich so frei, Ihnen zu sagen, daß alsdann Ihre ganze Religion, das Christenthum mit seinen hundert Ablegern und Aesten, als die konsequenteste Unmoralität in der Geschichte der göttlichen Schöpfung dastehen würde, weil grade durch diese größte That des Geistes alles früher für heilig Geachtete umgestoßen und vernichtet wurde. Es ist nichts leichter als dies, aber auch nichts wahnsinniger, als ein solcher Einfall. Nur im ewigen Umsturz des als absolut moralisch Hingestellten und von den Schergen des Verstandes, der Orthodoxie und Bigotterie, gehüllt in die aschgraue Livree der Bornirtheit, Vertheidigten, liegt die ewig wandelbare und eben nur im Wandel heilig bleibende Moralität der Weltgeschichte.««

»Diese Deduction, mit der schlauen Unbefangenheit jüdischer Skepsis vorgetragen, entschied über mich. Mardochai dolmetschte meine Gedanken, Gefühle, Empfindungen. Die Sinnlichkeit brach wie ein Orkan in mir aus und eh' eine Stunde verging, lag ich zum ersten Male vor dem Altar einer Gottheit, deren Namen zur Bezeichnung leiblicher Schönheit in allen Welttheilen bekannt ist. Vielleicht wäre ich nicht gefallen, hätte nicht Mardochai den Stachel der Lust listig zu schärfen verstanden durch die Poesie der Situationen. Als es längst zu spät war, begriff ich erst, mit welchem Vorbedacht mich dieser schweigsam zürnende Mensch verführt hatte. –

»Eine dämmernde Mondnacht zitterte über Flur und Stadt. Mardochai sprach mit so folternder Ruhe, daß ich ihn vor Ungeduld hätte ermorden können. Er führte mich in ein abgelegenes Haus. Ringsum die geheimnißvollste Stille. Ein Zimmer, klein, reinlich, von Ambraduft durchzogen, öffnete sich. Auf dem Ofen, der in Adlergestalt sich erhob, glommen noch die Ueberreste der Kohlen, von denen das Räucherwerk verzehrt ward. Kein Licht brannte, nur der Mond dämmerte still und heimlich durch die halbgeschlossenen Jalousien. Am Fenster stand ein Bett, mit weißem Seidenstoff überzogen.

»»Treten Sie näher,«« sagte Mardochai, »»wenn es Ihnen hier gefällt.«« Mit sanfter Gewalt stieß er mich hin zum Lager. Eine geschickte Handbewegung schlug die Jalousien am Fenster zurück, das volle Mondlicht erleuchtete Zimmer und Bett, ich erblickte in stillem Schlummer eine schöne Frauengestalt. »»Eugenie!«« rief Mardochai laut. Die Schlummernde regte sich, im nächsten Augenblick umschlang sie mich mit warmem Arm – ich erlag der Aufregung – Eugenie, das schönste Weib, das je mein Auge erblickte, gab mir den Himmel, um mein Herz der Hölle als Pfand zu überreichen. – Mardochai war verschwunden. Ich hörte seine Stimme erst wieder, als die Morgenröthe mich übergoß mit dem erborgten Purpur der Scham, die ich nicht mehr kannte. Eugenie ruhte neben mir; – es hätte ein Gott straucheln können bei diesem Reiz der Schönheit! –

»»Mardochai!«« rief ich, »»Mardochai, wo bin ich!««

»»Wo Sie fortan immer sein können, wenn Sie in dieser Nacht gefühlt haben, daß ein muthiges Uebertreten weniger schmerzhaft ist, als ein feiges Folgen.««

»Und von Stund' an ward Eugenie, Mardochai's Geliebte, wie ich erst späterhin erfuhr, auch die Meinige. Die Eifersucht kannte Mardochai nicht, ob aus Klugheit, Diplomatie oder sonstigen Gründen, habe ich nie ermitteln können. – Das sinnlich glühende Fleisch ward nunmehr meine Speise, die ich von Stund an in weltheiliger Begeisterung mir reichen ließ von der schönsten Priesterin der Natur. Ich hing in süßer Verzückung an den Brüsten, die Weisheit spendeten in der Gluth ihrer schwellenden Bewegung. Ich betete an in Liebe die Schönheit fleischgewordener Göttlichkeit und suchte den Himmel mit seiner ätherischen Liebe zu begreifen in auflösender Umarmung. Ich ward ein Schüler Mardochai's und folgte doch nur meiner Ueberzeugung. Die Lehre der Ascese zu verstehen, das Geheimniß heilig gewordener Menschen zu fassen, lebte ich wie ein Bacchant in unstetem Rausche. Kein Gedanke der Reue warnte mich vor diesem gefährlichen Dasein. Es war Liebe und nur Liebe, die mich führte, trieb, geißelte von Genuß zu Genuß. Ich glaubte tief zu fühlen, daß nur derjenige das Leben verstehen könne, der es genossen habe wie ich; ob ich nach solchen Wollustbädern auch ein Lehrer der Liebe würde sein können, daran dachte ich nicht, wenn die schäumende Fluth des Genusses in tausend scherzenden Perlen über mich zusammenstürzte. –

»Es lag eine hohe Poesie in diesem Leben. Keine spätere Zeit hat mich so duftig umhaucht, wie jene, ganz an die Unschuld der entfesselten Leidenschaft hingegebene. Mich riß nicht die Gemeinheit an den wollüstigen Leib der Schönheit, sondern eine Anschauung der Welt, die irrig sein mochte, aber mir doch erhaben schien. Erst später, als sich eine Art Besonnenheit, wie der Spion umherschleichender Satanstücke in den Rausch mischte, ergriff mich ein Schwindel der Feigheit. Ich sah mich umgeben von ähnlich Handelnden, aber anders Denkenden. Da schauderte ich, zog mich zurück, ward schwermüthig. Der Leichtsinn meiner Genossen suchte mich auf, es kam zu Erklärungen. Meine Fragen wurden mit bornirter Gutmüthigkeit beantwortet oder mit ekelhaft gemeiner Frivolität. Diese Rotte schnobberte am sinnlichen Leben umher, wie ein Hund, der die Küche wittert am Duft der Speisen. Das war keine Poesie, kein süßes zauderndes Entschleiern der Geheimnisse der Menschennatur – das war nur gemeines Schwelgen in grober, entarteter Sinnenlust. –

»»Man muß sich's mitnehmen, weil es Gelegenheit gibt, später tritt die Ernsthaftigkeit und die Strenge der Lebensregeln ein.««

»So sprachen Hunderte der Jünger des Herrn, unbewußt den Fluch ausstoßend über sich selbst und ihre Genossenschaft. Es war die nackte Wahrheit, nur in grasser Wirklichkeit hingestellt wie ein Skelett! –

»Betäubung, Ekel, Widerwillen am Leben und Forschen hielten mich lange in tiefster Einsamkeit. Mardochai rüttelte mich endlich aus diesem dumpfen Hinbrüten auf.

»»Geht Ihre Poesie schon zu Ende?«« redete er mich mit derselben zurückgehaltenen, leidenschaftlichen Wärme an, die ihm eigen war. »»Sie fangen an zu karthäusern, ein unpassendes Spiel für einen Protestanten.««

»Ich erzählte ihm meine Erfahrungen und legte offen und blos den mit Asche bedeckten Heerd meiner Gedanken. »»Das ist ein Gemälde unserer christlichen Welt,«« schloß ich, »»an solch wurmgefräßiges Holz lehnt sich die Kirche.««

»»Diese Entdeckung ist nicht neu,«« erwiederte Mardochai. »»Betrachten Sie die Sache jedoch ruhig, als Christ, mit Liebe, Duldung und unparteilichem Auge! Gehen Sie Lehre und Leben durch und ziehen Sie Parallelen zwischen beiden. So lange Sie trennen, wird keine Einheit geboren. Das Leben im Genuß sinnlicher Lust, ist's etwas anderes, als die in heiliger Umzäunung verrückt gewordene Liebe? Mögen Sie's dem Menschen verdenken, daß er an der Natur sich erheben will, wenn ihn zuvor die Unnatur herabgewürdigt hat durch Demuth zur Carikatur des Hundes? Lieber Freund, ich finde, Sie sind ungerecht! Harte Gesetze verlangen raffinirte Witze, um sie unschädlich zu machen. Besäße ihre Kirche keine Wissenschaft der Moral, so hätten Sie keine Unmoral zu bekämpfen; ohne Ascese gäb' es keinen outrirten Wollustgenuß. – Wo wollen Sie hin mit Ihrem Seufzer über Sündhaftigkeit? Es ist keine Sünde, was sich der gesunden Vernunft als nothwendige Folge einer thörichten Vorschrift zeigt. Auch der begabte Mensch thut aus Instinkt, was aus Freiheit zu thun ihm seine papiernen Herrscher verbieten. Es ist blos das jus talionis, das er an sich selbst, dem ursprünglichen Frevler, vollzieht. Daß Untergang des Gestraften oft eng damit verknüpft ist, gehört unter die vielen tragischen Witze, die der Schalksnarr Gottes oft auf Kosten seiner eigenen Ehrlichkeit an dem Rande der Weltgeschichte reißt. Auch Gott ist humoristisch, wenn er verdrießlich wird! –««

»Mit diesem vernichtenden Troste verließ mich Mardochai. Ich begann zu feiern in der Poesie des Liebesgenusses und suchte mein gefoltertes Herz im Forschen nach Wahrheit zu erfrischen. Das Leben der Vergangenheit und Gegenwart brachte ich unter die Lupe meines vernichtenden Gedankens. Beide nahmen gleiche Gestalt an, die Geschichte war und blieb Kokette von Anfang bis zu Ende, das christliche Element schmückte sie nur aus zu haltbarer Liebenswürdigkeit. Mardochai's Worte fanden Bestätigung in allen Nüancen – ich war beruhigt; denn geschieden auf immer ward von Stund an in mir Mensch und Priester.

»Die Liebe lag, wie eine Jungfrauenleiche mit gebrochenen schönen Augen auf dem blutrothen Sarge meines Herzens. Ueber sie gebeugt streute die Unschuld die letzten Sonnenfunken ihrer Herrlichkeit, dann sank sie zusammen, ein farbloser Schleier. Sie ward zum Grabtuch für Liebe und Herz. Eins verging und verweste mit dem andern.

»Von jener Zeit an datirt sich die Zeit meines ungetrübten Glücks. Leidenschaftlich bewegt für alle Interessen der fortschreitenden Menschheit, war ich theilnahmlos als Lehrer derselben. Ich konnte nicht mit Ueberzeugung Christ sein, weil ich ohne Ueberzeugung Kirchendiener war. Das Menschenthum stand ausgeschlossen von beiden, wie ein betender Zöllner an der Schwelle des Tempels. Ein dumpfer, schrillender Ton fuhr wie Memnonsklingen durch die gewitterschwüle Luft meiner Gedanken, und schlug die Rosenflügel eines neuen Morgens auf in meinem Herzen. »»Heuchele,«« sprach die Stimme des Gottes der Welt in mir, »»heuchele der Moralität zu Liebe und erringe auf protestantisch-jesuitischem Wege der Zukunft und ihren Kindern, was Offenherzigkeit dem bornirten Umherblinzeln der Gegenwart nicht anbieten darf. Schicke dich in die Zeit, sei klug und in der Klugheit glücklich!««

»Es fehlte mir nicht an Gelegenheit, die Trefflichkeit dieses Grundsatzes praktisch zu erproben. Die Meisten von denen, welche sich der Theologie ergaben, waren geistesarme, beschränkte Menschen, denen eine dereinstige Anstellung und leiblich solides Auskommen das höchste Ziel aller Wünsche blieb. – Glückliche Einfalt, Göttin der Dummheit, warum verehrst du nicht Jedermann bei Zeiten eine warm wattirte Schlafmütze, dieses Ruhekissen der Gedanken, unter deren Knistern wolthätiger Schlaf auf die armen Schlucker herabfällt? – Die Wenigen, denen gleiche Zweifel die Seele zerrissen, wußten nur auf ähnlichem Wege mit mir Befriedigung zu finden. –

»Immer damit beschäftigt, ein Mittel ausfindig zu machen, das geeignet sein könnte, die Welt aus jener mißlichen Lage zu befreien, in die sie gerückt worden ist durch verstellte Frömmigkeit und unbegriffenen Bekehrungseifer, glaubte ich es gefunden zu haben in dem stillen Untergraben der Gläubigkeit. Man darf nur gleichgiltig, theilnahmlos auftreten, um Kälte zu erzeugen. Das tödtet, das mattet wenigstens ab, und wo Schlaffheit eintritt, ist der umgestaltenden Kraft bedeutend vorgearbeitet.

»Mit dieser Ueberzeugung ward und blieb ich Theolog. Mein Leben unterwarf ich keiner Aenderung. Ich setzte es jetzt aus Verachtung der zukünftigen Abgeschlossenheit fort, wie ich es früher begonnen in begeisterter Liebe. Seltsam nur und bitter ironisch war mir der Gedanke, daß ich gerade im Gegensatze von dem, was Eduard als Heiligendes und Vollendendes anerkennen zu müssen glaubte, meine Heiligung und Vollendung ohne langes Suchen gefunden hatte. Ich sehe mit Verlangen dem Ablaufe des fünfzehnjährigen Cyclus entgegen, um Gewißheit darüber zu erlangen, wer von uns beiden der Glücklichere geworden sein wird.« –


Hier breche ich abermals ab, Du wirst ohnehin genug zu denken finden an dem Mitgetheilten. Der Arme, er ahnt noch nicht, daß ein unseliges Geschick ihn selbst triumphiren ließ über den frommen Wahn des Andern. Eduard ist jener tolle Mönch Bonifacius, den ich aus dem Kloster gerettet habe, den die rasend gewordene Sinnlichkeit zum Mörder seines Priors gemacht, in dem ich seinen Verführer zu erkennen glaube.

Mardochai aber, Mardochai, Du bist ein entsetzlicher Mensch! Denn glaube mir, Raimund, daß nur Rache an dem Christenthum diesen stolzen Geist einen Glauben erfinden ließ, der bei einzelnen Wahrheiten ein blendendes Gewebe verführerischer Dialektik ist! Ich kann nicht glauben, daß Gleichmuth, dieser Mensch der Besonnenheit, jetzt den Betrug nicht merken sollte. Mardochai hat sich in der That Shylock zum Muster genommen und sein Pfund gerissen aus der Brust des Christenthums als Zinsen der Rache. Er hat einen seiner edelsten Söhne an den Rand des Verderbens gelockt und als Aschenhaufen mit kümmerlicher Flamme wie ein Irrlicht daran herumgaukeln lassen, um ewig zu zittern vor der Angst des Todes! Es ist eine große, poetische Rache des Judenthums, aber dennoch entsetzlich! Und nun ist dieser Mardochai ein Handelsmann geworden! Wie liegt hier Ironie neben Ironie; wie springt ein verzweifelter Humor mit hellem Gelächter durch die Lebensgeschichte zweier Religionen in ihren Repräsentanten!

Morgen oder übermorgen verlasse ich diese Stadt der Dumpfheit auf einige Tage. Unterwegs will ich Bardeloh das Manuscript mittheilen, er soll mir enträthseln, was noch im Dunkeln liegt. Das Ende dieser Verkettungen, alle geboren aus der Unnatur europäischen, religiösen, socialen und politischen Lebens, kann kein friedliches sein. Ich beklage mich oft selbst, daß ich ein Kind heiße dieser Zeit und dieses Erdtheils! – Aber wohin fliehen, um dem Gift misverstandener Civilisation, verkannter Glaubenslehren und boshaft verdrehter Menschenrechte zu entgehen? Kein Land ist so rein und heilig, daß die Gemeinheit sich nicht anranken könnte mit dem kletternden Finger ihrer reizenden Frivolität. Wie die Einfachheit das Bezaubernde der Tugend, so ist die Grazie das Verführerische des Lasters. Unschuld besticht durch Natürlichkeit, Sünde und Verderben durch den Glanz einer erheuchelten Natur, der Koketterie! Dieser Verführerin entgeht kein Land und kein Volk, nur der sittliche Gedanke, dieser Augenstern der wahren Gottheit, mag sie verscheuchen, so lange er nicht ganz verdunkelt wird von der Trunkenheit des Augenblicks. –

Da erhalte ich einen Brief – er ist von Auguste! – Alles Elend wird mir entrückt, in weite, weite Ferne. Wie ein Wüstenbild nur steht es drohend am Horizont der umwälzenden Zeit, und wieder als leitender Magnet, zitternd bewegt und doch friedlich still, glänzt die Liebe mir entgegen und hüllt mit tausend süßen Träumen mich ein in das beseligende Sterbekissen aller Welt! – Ja, es ist und bleibt wahr – die Geliebte ist mein Erretter! –


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