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Köln, den 19. August.
Heut ist der Geburtstag des muntern Felix und ein origineller Genuß wartet mein. Ich schreibe diese Zeilen aus der psychologischen Warte Bardeloh's, die ich mir zum Aufenthaltsort von ihm erbeten habe für die Dauer des heutigen Abends. Es ist große Gesellschaft geladen, und eingeweiht, wenigstens zum Theil in die Geheimnisse des hiesigen Lebens, will ich Beobachtungen anstellen, deren Erfolge für mich eben so belehrend als genußreich sein werden. Du kannst auf ein lebensvolles Bild mit Sicherheit rechnen, denn ich werde mit Gewissenhaftigkeit aufschreiben, was mich der Fernblick durch diese Spiegelfenster erkennen läßt.
Schon ist es Abend, die gallonirten Diener Bardeloh's gleiten, wie gewichste Gespenster, in den Sälen auf und nieder, fegen und putzen, zünden die Kronleuchter an, und ordnen Stühle und Ottomanen. Bardeloh und Rosalie sind bemüht, zum Rechten zu sehen, Ersterer mit der Miene einer weltverachtenden Ironie, Letztere nur den Dank erfüllter Mutterwünsche auf den Zügen der Entsagung. Es bettet sich auf dieser sanften Stirn die Anmuth des Weibes mit allen verwandten Tugenden in die Kissen der Versöhnung. –
In den letzten Tagen war Bardeloh ausschließlich mit Durchsicht der Papiere beschäftigt, die sich in dem Klosterarchive fanden und etwa Aufschluß über das Schicksal seines Bruders geben können. Der unglückliche Mönch lebt still hier im Hause. Noch hat er kaum ein Wort gesprochen, nur zu Felix scheint er ein unbegrenztes Vertrauen zu haben. Dieser bringt oft stundenlang bei ihm zu und erzählt, was ihm eben in den Sinn kommt. Dann lacht der Unglückliche vergnügt, summt die Melodie seines unseligen Liedes und zählt die wenigen Haare, die ihm, wie Dornenbüschel, über die Stirne herabhängen. Die Dienerschaft ist verschüchtert durch diesen neuen Hausgenossen und hält sich möglichst fern von dem Zimmer, das er bewohnt. Mich selbst, ich läugn' es nicht, überläuft zuweilen ein Frostschauer, wenn ich alle die Möglichkeiten durchdenke, die ein etwaiger Ausbruch wilder Raserei bei dem Mönche zur Folge haben könnte. Bardeloh wird ohnehin noch manchen Angriff abwehren müssen, den offen und versteckt die erbitterte Geistlichkeit gegen ihn leiten dürfte. Zwar fürchtet man die Verbindungen des geheimnißvollen, reichen Mannes nicht minder, als seine geistige Überlegenheit; dennoch aber kann es den jesuitischen Ränken und Kniffen gelingen, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Der Pförtner des Klosters scheint Zeuge gewesen zu sein von dem unseligen Auftritte, und die beleidigte Kirchenautorität wird gewiß nicht säumen, Rache dafür zu nehmen. Man sagt, das außerordentliche Ereigniß werde genau untersucht werden und dann könnten sich große Schwierigkeiten für Bardeloh ergeben, wenn nicht etwa Furcht vor Entdeckung mancher Geheimnisse Kirche und Geistlichkeit zu großer Vorsicht nöthigt. –
Es gibt kein größeres Unglück, Ferdinand, als das Vermögen zu tief in die Welt und ihre Geschicke blicken zu können! Das ist der wahre Gram des Lebens, der Alles, auch das Schönste gänzlich vernichtet. In dem süßen Namen Vater schließt sich gemeiniglich die irdische Seligkeit ein. Der Geburtstag eines Kindes ist der Sonnenblick im Leben. Er glättet die sorgenvolle Stirn des Vaters und um die schmerzentstellte Lippe legt sich sanft lächelnd der Rosenkranz junger Hoffnungen. – Aber glaubst Du, daß Bardeloh Aehnliches empfinde? Gott im Himmel, diesem Manne des Geschickes ist der heutige Tag blos ein neuer, gewaltiger Schlag auf sein blutendes Herz! Unter seiner Last schleicht er geistig gekrümmt einher, wie die verkörperte Buße der Welt. Seine ganze Erscheinung ist ein einziger, entsetzlicher Seufzer!
Hättest Du das Auge gesehen, als ihn heut Morgen beim Frühstück das glückliche Kind begrüßte. Die schuldlose, strahlende Hoffnung beugte sich vor dem Modergeruch des Grabes. Rosalie küßte den Knaben mit der Innigkeit mütterlicher Liebe und schenkte ihm Blumen und andere Kleinigkeiten, Bardeloh aber faßte die Hand seines Sohnes und fragte ihn, ob er sich freue. Auf das Bejahen dieser wunderlichen Frage versetzte der Vater: »Nun, so wisse, daß ich mich nicht freue! Zwar ist mir es lieb, daß Du mein Sohn bist, besser aber wär' es, Du hättest das Licht der Welt nicht erblickt! Denn so lange die Zeit Zeit bleibt, ist Fluch und nur Fluch der Segen für ein europäisches Menschenleben! Dies bedenke, Felix, und nimm die Zeit wahr. Damit Du es kannst, empfange diese Uhr. Je kürzere Zeit Du davon Gebrauch machen darfst, desto besser wird es sein für Dein eignes Heil.« –
Mit diesen Worten überreichte ihm Bardeloh eine werthvolle, goldene Uhr. Felix nahm sie, zitternd vor Angst, hin und küßte die Hand des Vaters. Große Thränen hingen an seinen kastanienbraunen Wimpern, er eilte fort und erst Mittags sahen wir ihn wieder.
Nach diesem unerhörten Auftritte hatte ich eine Unterredung mit Bardeloh. »Warum können Sie sich noch wundern über meine Aeußerungen,« sagte er, »da Sie doch von meiner Weltansicht einen hinlänglichen Theil kennen?«
»Nicht die Aeußerung, nur die Grausamkeit derselben dem Kinde gegenüber entsetzt mich.«
»Schwachheit! Der Junge muß bei Zeiten erkennen lernen, daß Leben nichts ist, als eine Uebung in allen Arten von Qualen.«
»Felix ist noch zu sehr Kind, um dies zu begreifen.«
»Es gibt kein Kind in Europa!«
»Ein starkes Paradoxon, dessen Beweis Ihnen schwer fallen würde.«
»Mir? Lieber Sigismund, mir fällt nichts schwer, was sich mit einem bloßen Beweise abthun läßt. Ich will Ihnen so strict und firm beweisen, Sie seien ein Grashüpfer, daß Sie sich nur darüber wundern sollen, wie Sie schon nicht längst selbst zu dieser Einsicht gekommen sind.«
»Sie lächeln,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »und doch ist noch nichts Wahreres als jener Ausspruch behauptet worden. Europa kennt weder Kinder noch Menschen, es trägt nur noch Caricaturen. Wie also wollen Sie von Unschuld reden und mir Vorwürfe über meine Grausamkeit machen? Nichtgeborensein ist jetzt das einzige Glück, was sich ereignen kann in Europa.«
»Daran sterben wir ja eben,« fiel ich ein. »Es wird keine That mehr geboren.«
»Freilich,« versetzte Bardeloh, »ich sprach aber von Menschen. Ein nichtgeborner Mensch ist Alles, ist glücklich, weil er nichts ist. Für die That wird gesorgt werden.«
»Haben Sie Hoffnung auf Erfolg?«
»Genug.« – Der Mönch ließ seinen Gesang in diesem Augenblicke erschallen, Bardeloh erhob die Hand. »Hören Sie's? Dort lallt die Hoffnung. Macht aus dem alten Welttheil ein solch fideles Ungethüm und Ihr habt Alles errungen. In geistigem Todtschlage liegt die neue Zeugung.«
Damit verließ er mich und verschloß sich wieder in seinem Zimmer. Es nimmt Alles mehr und mehr die Form der Zerrissenheit in ihm an. Selten gibt er einen ganzen, ausgeborenen Gedanken, es sind bloße Gedanken-Embryonen Diese Verwüstung seines tiefsten Lebens muß zu irgend einer gewaltigen Eruption führen. Es keucht und tobt Alles in Bardeloh nach einer That, und ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß er mit sich zu Rathe geht, um diese vorzubereiten. Er schreibt und liest viel. Oefters hört man ihn auch laut mit sich selbst reden, namentlich des Nachts; dann dringen die Laute seiner abgerissenen Gedanken, wie irreguläre Pulsschläge eines Fieberkranken, bis in mein entlegenes Zimmer. Eben jetzt sitzt er noch emsig an seinem Pult. Der geheime Wandschrank steht offen, die fahle Lampe loht empor aus dem weißen, glänzenden Schädel, und in einem Doppelkreuz darüber senkt sich eine Menge glänzender Dolche. Schwerlich ahnet er, daß ich ihn beobachte. Ein kleines Fenster in der Thür, die aus der Warte nach Bardeloh's Studirzimmer führt, ist wahrscheinlich durch ein Versehen offen geblieben. Vor ihm liegen mehrere Bücher und eine Menge Manuskripte. Alles um ihn ist so geordnet, daß es eine künstliche Aufregung der Seele verursachen muß. Weihrauch steigt, wie bei der Messe am Hochaltar, von einem Kohlenbecken aus der geheimen Nische auf und bildet seltsame Formen. Aus dem mephistophelischen Zuge um Bardeloh's Lippen läßt sich schließen, daß auch dieses nur eine Mummerei sei, angestellt, um den Ekel an dem zu vermehren, was er nicht mit Unrecht die verstandesschwache Nachgeburt des übercivilisirten Europa nennt. Nochmals sage ich, wir sind Alle europamüde, Bardeloh aber ist unter den Müden der Müdeste und darum auch der Thätigste! – Jetzt erlischt die Lampe, Richard hat seine weltverfluchenden Studien beschlossen.
Zwei Stunden später.
Die Säle füllen sich, die blendenden Gasflammen strömen Tageshelle weit umher. Flüsternd schleicht das in die Seidenstoffe der Convenienz gehüllte Europa über das Parquett, weich und biegsam, bleich und schmiegsam wie eine Seele, die ihre Zeugungskraft abgetödtet. O, ich könnte hier einen Vergleich hinschreiben, der treffend wäre und zerschmetternd, wie ein Donner in den Hochgebirgen Mexikos, aber ich muß schweigen aus Etiquette. Bardeloh und Rosalie spielen die graziösen Wirthe. Für jeden Ankömmling ist eine neue Redeblume bereit, wie ein abgewürgtes Leben wirft man sie den Gästen vor die Füße, die ihrerseits die Schuhsohlen daran putzen. Es liegt eine höllische Malice in diesen Empfangsfeierlichkeiten! – Verdient es aber das befrackte Geschlecht anders? Kann man wol einen ganzen Menschen herauslesen aus diesem verstümmelten Habitus, der nichts weiter ist, als ein trefflicher Schnitt für den zusammengeschrumpften Geist?
Wenn diese Menschen wüßten, daß ein Geheimschreiber ihre Physiognomien belauschte und auf die Lippen achtete, an deren Bewegung die Heuchelei saugt, wie ein Blutegel! Das ist ja nothwendig die Folge der Unmoralität, daß sie Alles um sich her mit hineinreißt in ihre Strudel, und die Menschheit zur Huldigung zwingt, um das Gefühl der Versunkenheit wieder in ihr zu wecken. –
Buntgeschmückte Damen flattern, wie farbige Schmetterlinge, um die strahlenden Lüstres. Auch Lucie und Auguste sind bereits eingetreten. Lucie ist die scherzende Nymphe, die sich auf der sprudelnden Silberpalme der Freude und Lust hinaufschaukeln läßt in die zusammenstürzende Krone, und jauchzend wieder herabfällt, um das süße Spiel von Neuem zu beginnen. Auguste scheint verstimmt. Ihr braunes Auge fliegt, ein fragender Liebeskuß, von Gruppe zu Gruppe; es klopft mit flüsterndem Licht an die trügerische Spiegelwand und bricht, wie ein zu früh ausgesprochener Wunsch, schüchtern zusammen, um in sich selbst einen Ausgang über gegenwärtige Hindernisse zu finden.
Gleichmuth, das Kreuz am Halse, wie eine Kette, die ihn hinrichten soll, bringt seine frommen Wünsche dem überraschten Felix. Ihm folgt der fromme Pietist, Steinhuder, dann der junge Mann, an den Lucie ihr lustiges Herz verschenkt hat, der Mennonitenprediger und Mardochai, der morgenländische Rachegott in einem abendländischen, christlich frivolen Salon. Eine Fluth von Dandies und lieblichen Grazien schwärmen überall umher, während Bardeloh mit diplomatischer Schlauheit den Heitern spielt, und Rosalie das Glück erfassend, über den Moment die düstre Leerheit eines langen Lebens vergißt. – Jetzt muß ich lauschen, vielleicht errathe ich die hohe Gesinnung eines gebildeten Publicums im Prachtsalon eines feinen Europäers.
»Fräulein N. hat heute Abend eine sehr anmuthige Toilette gemacht,« sagte ein junger Mann seinem Nachbar in's Ohr. »Ich finde, daß fallende Locken sie besser kleiden, als festgesteckte.«
»Ja, Fräulein N. weiß, wodurch sie fesselt,« antwortet der Nachbar. Beide gehen vorüber, eine Gruppe Mädchen drängt sich nach dem Spiegelfenster und kokettirt im Vorübergehen mit ihren Fächern.
»Als mich Otto jüngst auf dem Rhein nach Mühlheim hinabfuhr, war er wirklich ganz allerliebst.«
»Ich begreife Deinen Geschmack nicht, Marie,« erwiederte ihre Gefährtin. »Otto geht nie nach der neuesten Pariser Mode gekleidet.«
»In der That, vier Wochen ist er immer zurück in der Weltgeschichte,« fällt eine dritte, allerliebste Blondine ein.
»Das ist gerade meine Passion,« betheuert Marie. »Nur das Augenblinzeln sollte er sich abgewöhnen.«
»O, er geht auch mit einwärtsgewandtem Fuß!«
»Darum gewiß tanzt er nie eine Française.«
»Ja es hat Alles seine Ursachen.«
Sie gehen vorüber, Matronen wallfahrten an meinem Dionysiusohr vorbei, sie näseln, aber so geheimnißvoll, daß ich nichts verstehen kann. Abermals ein Trupp verliebter Dandies, fashionable gekleidet und gebürstet, vom Wirbel bis zur Zeh.
»Es wird getanzt, Mardochai sagt' es und der weiß immer, was vorgeht im Hause dieses Nabob.«
»Wenn er nicht so reich wäre, möchte ich ihn am liebsten nasenstübern,« versetzt ein junger, neidblasser Mensch mit gelddummem Gesicht. Ich glaube der Laffe ist Zahlbrett in einem Wechselgeschäft, denn seine ganze Physiognomie ist eine abgegriffene Münze, die das Aussehen eines tombackenen Zahlpfennigs hat. Pfui! steckt eine Menschenseele in dem ausgebügelten Schneidergeschöpf? – Die Lüstlinge haben eine Entdeckung gemacht am andern Ende des Saales, sie drängen sich mit civilisirter Anmuth durch den bunten Menschenwald. Gern möchte ich diese Kreuzritter in einem amerikanischen Urwalde sich winden und wenden sehen; was sie wol für affenverwandte Gesichter schneiden würden! –
Hinweg jetzt mit Scherz und Bitterkeit! Mardochai kommt Arm in Arm mit Bardeloh herauf, die übrige Gesellschaft stärkt sich in umhergereichten Erfrischungen. Felix hat sich an Auguste geschmiegt, die Unschuld an den Engel. Der Mensch ist immer glücklich, kann er sich und die Welt vergessen mit all' ihren Schmerzen in der Erinnerung an das Lallen der Kindheit, und ihren schönen, heiligen Zaubermährchen.
»Sie haben also meinen Bruder gekannt?« fragt Bardeloh den Juden.
»Wir waren oft beisammen. Unsere Studien und Neigungen ließen uns bald enger mit einander bekannt werden und es entstand eine Art Freundschaft, die der Blutsverwandtschaft nahe kam, wodurch unsere Vorfahren sich früher berührten.«
»Dies ist vorbei, Mardochai. Ueberdies wissen Sie, daß ich jedes Bekenntniß hasse, wenn es bevorzugt sein will.«
»Ich auch, Richard, das meinige ausgenommen!«
»Gut. Davon ein andermal. Wie zeigte sich mein Bruder in jener Zeit?«
»Wie ein Mensch von gesunder Vernunft. Er haßte Europa, als die Made, die sich selbst verzehrt.«
»Weiter, Mardochai.«
»Wir hatten oft lange Gespräche über die Wiederbelebung des Fleisches im Geiste. Woher kommt es, sagte Eduard, daß Ihr Juden Alle regsamer, spekulativer und in einem gewissen Sinne auch productiver seid als wir Christen? Daher, antwortete ich, weil wir gedrückt und gegeißelt von Euch, die Kraft in uns zusammenraffen und nur einen einzigen Zweck bei allen unsern Handlungen haben, den Haß! Wir Juden setzen die Consequenz des Hasses dem Terrorismus entgegen, und dieser Haß wird siegen, weil er ein Kind der Liebe unserer sechstausendjährigen Nationalität ist. Ein Jude ist immer Jude, ein Christ aber ist nur Christ, wenn er Appetit dazu hat.«
»Sehr schön, Mardochai. Wie kam es denn aber, daß Eduard so plötzlich seine Gesinnungen änderte?«
»Es gab damals einen jungen Mann in Bonn, der hinsichtlich seines Geistes nur Ihnen gleich kam. Dieser Mann hielt sich eng an Eduard, weil sein Widerspruchsgeist die Skepsis seiner eigenen Brust schärfte und seine Seele geißelte. Auch ich lernte ihn kennen, gewann ihn lieb, weil ich ihn gern gehaßt hätte – denn wir lieben, wenigstens unter den Männern, nur die, welche wir hassen möchten – und so entdeckte ich in ihm alle Anlagen zu einem Reformator. Dieser Mann unterhält sich eben mit dem frommen Kopfhänger dort. Es ist der Pastor Gleichmuth.«
Bardeloh fährt zusammen wie vom Blitz getroffen. Schon haben sich beide unter die Gesellschaft gemischt. Das fernere Gespräch ist mir entgangen. – Die Feder schwankt hin und her in meiner zitternden Hand, der Vorhang, der bisher die schlafenden Dämonen verhüllte, ist plötzlich gerissen. Der unglückselige Mönch ist jener Eduard, der, verlockt durch die Schlauheit eines jesuitischen Priesters, die entsetzliche Wette einging mit Gleichmuth. Tausend Zweifel legen sich wie gefleckte Schlangen um mein Herz, ich muß hinaus, muß Bardeloh, muß Gleichmuth sprechen, und wenn ich zur Entdeckung der priesterlichen Schleichwege beigetragen habe, dann fort aus dieser blendenden Pracht. In Auguste's Armen will ich wieder finden den Menschen, den ich verliere, sobald der gleißnerische Basiliskenblick des siechen Europa mich anlächelt, wie das sündengeschwächte Auge einer verbuhlten Dirne. Gib mir Leben, Liebe, Seligkeit, Du Himmelsglanz, der in Deinen Augen zittert, bebt, flammt und Frieden webt über jedes Erdenleid! Bedecke mich, Auguste, mit den dunklen Flechten wie mit den Schatten der Liebe, und laß mich mitten in dieser schmachvollen Zerrissenheit erkennen, daß es einen Frieden gibt im Kuß der Geliebten! –
Gegen Morgen.
Endlich haben sich die Stürme wieder gelegt, es ist still, todtenstill um mich. Nur in mir klingen die erregten Töne in schmerzlichen Vibrationen aus. Ich möchte schweigen, um nicht die Unschuld des jungen Morgens zu entweihen mit Dingen, die besser nie hereinbrächen in den vollen Tag des Lebens; aber mein eignes Herz zwingt mich, die Qual von mir zu stoßen, soll es nicht brechen und sich selbst verzehren. Es ist eine niederschlagende Erscheinung, daß sich Lust und Leid im modernen Dasein so grauenhaft eng verketten! Bald wird es kein Fest mehr geben, wo nicht die Sorge verstohlen umherschleicht, und die stillgenährte Sünde ihr kahles Haupt ausruht auf dem Polster schuldloser Freuden.
Die Verkettungen, in denen mich ein seltsames Ungefähr zu handelndem Mitgliede ausgesucht, spornten mich an, Bardeloh's Verhältniß zu dem Juden Mardochai näher zu erforschen. Das gesellschaftliche Umhertreiben verliert bald seinen Reiz, wenn nicht Schönheit und Grazie ihren Doppelkranz unablässig darüber schwingen. Das Leben in dem Salon meines Gastfreundes bot zu so enger Verschwisterung dieser beiden Erdengöttinnen wenig Gelegenheit. Ein finsterer Unhold kroch durch den bunten Tand; er zerdrückte jede Freude, die jubelnd aufspringen wollte, und verzerrte den Nachtigallenschlag der Liebe in das Wimmern eines Gefolterten. Wenn das Leben in Gesellschaften zu ernst wird, zerbrechen die Staubfäden der Freuden in sich selbst. – So bei Bardeloh. Das Heitere, Ungenirte, Harmlose zog sich bald zurück in enger begrenzte Räume, nur dem lächelnden Verdacht blieb das bunte Parquett. Die Schlange mit dem civilisirten Gebiß kokettirte im Schillern ihrer Farben auf der gefleckten Haut der künstlichen Erde, von der allein sie ja nur leben kann.
Bardeloh war nicht habhaft zu werden. Mit der leichten Tournüre eines Weltmannes hatte er Angst, Sorge, Verdacht und Verachtung schnell aus seinen Zügen entfernt, und den Sonnenstrahl gutmüthiger Gastlichkeit in den lebenswilden Falten sich anhängen lassen. Ich suchte die frohe Geschwätzigkeit der jungen Damenwelt. In einem Nebenzimmer, den glücklichen Geburtstäger in der Mitte, überließ sich das lustige Völkchen den Eingebungen anmuthiger Scherze. Felix hüpfte, froh, des Zwanges überhoben zu sein, von Einer zur Andern und übte sein wunderliches Augenstechen.
»Wer am längsten ausdauert,« sagte er, »der hat das meiste Herz.«
Es war leicht zu begreifen, daß Alle gleich viel Herz haben wollten. Der Knabe konnte seine Liebhabereien bis zur Ausgelassenheit treiben. Das Schauspiel war amüsant und wurde desto interessanter, je mehr Männer sich nach und nach um den Herzensprüfer versammelten. Als der kleine Held des Tages sein Müthchen gekühlt hatte, wurden Spiele vorgeschlagen und Schabernack getrieben nach Herzenslust. Wir vergaßen das Beengende, Rosalie gesellte sich von Zeit zu Zeit zu uns, und bald verbreitete sich eine allgemeine Heiterkeit. Man gab das Zeichen zum Tanz. Rosalie spielte das Fortepiano. Mit dem Springquell der Musik stiegen die Empfindungen auf den Gipfel der Verzückung. Ich war sehr glücklich, zog mich aber nach einigen Touren wieder zurück in Bardeloh's Warte. Es war keine Absicht in diesem Absondern, nur der Trieb, eine Welt, berauscht im Aether der Musik und dem Zittern aufgeregter Gefühle, sich buntfarbig durch einander winden zu sehen, wie einen brennenden Blumenkranz, ließ mich den Tummelplatz lautklopfenden Lebens verlassen, um zu beobachten. Auch im Tanz lassen sich Studien machen.
Ein unterdrückter Ausruf des Erstaunens im Nebenzimmer wandte meine Aufmerksamkeit ab von dem Gewimmel der Tanzenden. Ich erblickte durch das schon erwähnte Fenster Auguste vor dem geöffneten Wandschranke in Bardeloh's Studirzimmer, mit neugieriger Hast die ungewöhnlichen Dinge betrachtend. Die Gasflamme goß ihren vollen Glanz herab auf die schlanke Gestalt, die ein dünnes Rosaseidenkleid, wie das Morgenroth der Liebe, durchsichtig umflatterte. Der schöngeformte Nacken stieg blendend weiß aus der blassen Rosenwelle, die schlanke Schulter winkte zum Kuß mit süßem Beben. Das dunkle Haar legte sich in zierlich losem Gelock um Nacken und Schultern und ein heimliches Verlangen hob in fröhlicher Bewegung den sanft verhüllten Busen. Instinct trieb mich vom Beobachten zum Handeln. Meine Hand suchte das Schloß zur Tapetenthür, ein leiser Druck öffnete es – ich stand hinter der in süße Träume Verlorenen. Wenige Augenblicke und eine heiße Umarmung weckte sie aus dem beschaulichen Sinnen. Sie wollte rufen, aber das bange Sehnen der Liebe bog mit schalkhaftem Finger das gefaltete Rosenblatt ihrer Lippe zum reizenden Lächeln der Vergebung. Wir hatten keine Worte, die Flügeldecken der Liebe drückten uns mit sanfter Gewalt schmeichelnd in die schwellenden Kissen. Wie eine volle Rose brach die weiche Frische der reizenden Körperfülle aus den zuckenden Gewändern. Unter uns sank die Erde ein mit ihrer irdischen Qual, der Himmel warf seinen Sternenschleier auf uns herab. Wir glaubten selig zu sein, als eine kalte, dürre Hand an meine glühende Brust klopfte. Todesschauer durchrieselte mich, der Frost des Entsetzens setzte sich wie Reif an in den Kanälen des Lebens. Ich schreckte empor, Auguste sank mit verdecktem Auge zurück wie vom Schlage getroffen. Hinter mir stand das bleiche Geripp des Mönchs. – Die Kutte hatte sich verschoben, eine knöcherne, von Geißelhieben in tausend Narben zerwühlte Brust ward sichtbar – das unfruchtbare Ackerfeld blöder, grauenhaft misverstandener Demuth! – Auf seinem fahlen Gesicht stand das versteinerte Lächeln jahrelang einsam gehegter Wollustgedanken. Die Runzeln der Haut buhlten blutschänderisch mit der Ohnmacht ihres ausgemergelten Lebens. Sein Blick, starr, bleich, von momentanem Glühen gräßlich erleuchtet, schien uns durchbohren zu wollen, die Lippen, zwei über zu früh begrabenem Leben eingebrochene Sargwände, bebten wie im stummen Gebete, und wie aus weiter Ferne wimmerte aus der öden Brusthöhle die Melodie des bekannten frechen Liedes.
Der Entsetzliche würde in der Raserei des Augenblicks, die ihm übermenschliche Kräfte verlieh, vielleicht mir und Auguste gefährlich geworden sein, hätte nicht ein abermaliges Ungefähr – Du wirst es die ewige Vorsehung nennen – mich und die Geliebte gerettet. Eine Violine, durchdringend, jauchzend in klagender Wehmuth, weinte herüber aus dem Saale. So konnte nur ein Einziger den Bogen führen und die leblosen Saiten ertönen lassen. – Der Mönch stutzte, er ließ den Dolch, nach dem seine Knochenhand schon gegriffen, wieder fallen, und laut den letzten Vers seiner unkeuschen Dichtung wiederholend, stürzte er fort – ein Bild des wahnsinnig gewordenen Todes. –
Auguste lag regungslos, die vollen, weißen Glieder quollen marmorrein aus den aufgelösten Seidengewändern. So steigt der Tag aus dem Flammenbade des Morgens! Eine unwillkürliche Bewegung bedeckte die keusche Aphroditengestalt. Ich beugte mich über sie, meine Küsse weckten sie auf zu neuem, warmem Leben.
»Haben Sie schon die neun Siegel des anvertrauten Manuscripts erbrochen?« fragte eine bekannte Stimme, die selbst in ihrer stillen Sanftmuth wie das Grollen eines fernen Donners klang. Pastor Gleichmuth stand neben mir; auf den schwarzen Rock fiel das weiße, kreuzgeschmückte Zeichen seines Standes. Ich fand keine Worte und nahm Auguste am Arm.
»Lassen Sie das jetzt, mein Bester,« fuhr Gleichmuth fort. »Es wird besser sein für Sie, wenn Sie sich entfernen und das Fräulein meiner zärtlichen Sorgfalt anvertrauen.«
»Ihnen!« rief ich mit schlecht verhehltem Unmuth, in den sich ein leiser Abscheu mischen mochte.
»Ja mir, lieber Sigismund. Fräulein Auguste ist sicherer bei mir, als bei Ihnen. Denn von mir hat kein Weib, und wär' es das schönste, das Geringste zu fürchten. Lesen Sie das Manuskript!«
Ich verstand den Unglücklichen. Sein wehmüthiges Lächeln, in das der Triumph der Hölle seinen faunischen Hohn, wie zuckende Lichter, verstreute, ließ mich das Entsetzliche errathen. Im Saal entstand ein wilder Lärm, Frauen schrien laut auf, Männerstimmen tobten dazwischen, die Tanzmusik verstummte, nur die Violine jammerte, johlte, sprang und raste in allen Tonnüancen, wie der tollgewordene Genius der Musik, durch den hundertstimmigen Lärm.
Ich trat in den Salon und noch jetzt, indem ich mir das Bild allgemeiner Bestürzung zurückrufe, lähmt Entsetzen all meine Kräfte.
An eine Thürpfoste gelehnt stand Friedrich, der blödsinnige Virtuos. Seine Tracht war die gewöhnliche; große, betheerte Wasserstiefeln reichten weit über die Knie herauf, schmutzige Matrosentracht deckte den übrigen Körper, ein breitkrempiger Hut, gestaltlos, beschattete das Gesicht. Anscheinend unbekümmert um den Wirwarr, den sein Erscheinen in der Gesellschaft angerichtet hatte, spielte er den schreiendsten Wahnsinn heraus aus der Violine, in genialer Wildheit aus einer Tonart überspringend in die andere. Es war kein Spiel mehr, es war ein Wühlen und Rasen in allen Tönen und Accorden. Auf's Rad der Folter geflochten wurden den Aechzenden die Herzen gebrochen und zuckend vor den sterbenden Augen hin und hergeschwenkt. Es war der Ausbruch einer neuen Revolution; die Schreckenszeit begann im Reich der Musik, und Friedrich war Richter und Henker zugleich, und mordete mit kaltem Gleichmuth Alles dahin.
Neben ihm stand, ein neuer Mephistopheles, Mardochai. Behaglich strich er sich mit der Hand den vollen Bart, das einzige Stück Vaterland, das sich das Volk der Unruhe gerettet hat aus dem allgemeinen Untergange. In seinem dunklen Auge glaubte ich die Sättigung einer langgenährten Rache lesen zu können. Shylock konnte nicht mit größerer Begier auf den Moment harren, wo des Richters Wort ihm das bedungene Pfund Fleisch zuerkennen werde, als Mardochai auf das Schauspiel höhnisch lächelnd herabsah, das seine suffisante Schlauheit angerichtet hatte. – Denn während Alles unstätt und verstört durcheinander rannte, Frauen und Mädchen wie verscheuchte Rehe sich flüchteten und umsonst an den wie durch Zufall verschlossenen Thüren rüttelten, tobte ganz allein in der Brunst fleischlicher Lust die Gestalt des wahnwitzigen Mönch's mit Luciens voller Körperschöne in abenteuerlicher Tanzimprovisation durch die gasbestrahlte Halle des Salons. Spieler und Tänzer schienen zu wetteifern in der Poesie der Raserei. Töne, die kein Mensch gehört, weinten aus den Saiten der Violine, Accorde, die grell und doch harmonisch in das Wirrsal dieser unkeuschen Belustigung hereinschrieen, lösten sich in den süßesten Wohllaut auf. Wie glühende Küsse schwammen sie durch den Saal und fielen als Rosen der Scham nieder auf Nacken und Busen der unfreiwilligen Tänzerin. Die eisernen Glieder des Mönchs hielten die Ohnmächtige umschlungen und zerrten die leichten Gewänder in eine bedenkliche Unordnung. Entfesselt wogte die milchweiße Welle des Busens und schaukelte wie in gaukelndem Scherz eine duftige Rosenknospe. Darein fiel in Pausen die parodirte Hora des Mönchs, dessen Lebenskraft zu wachsen schien mit den Klängen der Musik.
Nach langem vergeblichen Mühen gelang es endlich Luciens Geliebtem, mir und Bardeloh dem Rasenden seine Beute zu entreißen. Oskar schäumte, man mußte ihn halten, um Blutvergießen zu verhindern. Der Mönch ward gleichfalls überwältigt und in seinen Gewahrsam zurückgebracht. Zum ersten Male sah ich Bardeloh herausgerissen aus seinem felsenfesten Gleichmuth. Er wollte wissen, wer Eduard's Gefängniß geöffnet habe – Alles schwieg. Da trat mit der Offenheit bewußter Schuldlosigkeit Felix zum Vater und bekannte sich als den Thäter. »Der arme Mann rief mich,« sagte der Knabe, »und als ich die Thür aufschloß, und die Musik im Saale begann, vergaß er mit mir zu spielen und lief singend davon.«
Bardeloh schwieg und stieß den Knaben von sich. Er trat zu Lucien, die todtenblaß, ohnmächtig in meinen Armen hing. Mehrere Frauen schafften sie in ein Nebenzimmer. Gleichmuth trat ein und lispelte mir in's Ohr »Auguste ist geborgen. Sie können Sie in ihrer Wohnung besuchen, zuvor aber – lesen Sie das Manuscript.«
In einer Fensterbrüstung stand der Pietist und brach die Hände. Der gute Mann konnte nicht begreifen, daß die Welt an seltsamen Conflicten eben so reich ist, als an religiösen Narren. Er sprach vom Untergange Sodoms und Gomorrha's, von der Rotte Korah und vielen andern alttestamentlichen Raritäten. Der Mönch war mir furchtbar, der Violinspieler ergriff mich dämonisch, dieser Pietist aber regte meinen ganzen Abscheu gegen alles frömmelnde Sectenwesen bis zum Ekel in mir auf. Erst später erfuhr ich, daß er Luciens Onkel ist und Oskar als einen Freigeist wie die Pest fürchtet. Dabei steht er mit den bigotten Katholiken auf freundschaftlichem Fuße.
Bardeloh setzte sein Examen fort und begehrte zu wissen, wer die Thüren zu den übrigen Zimmern so plötzlich verschlossen habe? Frauen und Mädchen entfernten sich eiligst, bald waren nur noch lauter Männer zugegen. Friedrich spielte, aller Verbote spottend, unablässig seine infernalische Geige.
Mardochai hatte bisher einen stummen Zuschauer abgegeben. Jetzt verließ er seinen Platz und trat in die Mitte der Männer zu Bardeloh.
»Richard,« sagte er, die Hand fest auf seine Schulter legend, »Richard, das war ein amüsantes Stück Christenarbeit. Ich bin zwar nur ein elender Jude, aber ich muß gestehen, daß mir bis heut Ihre Religion noch nie in so schöner Märtyrerglorie erschienen ist. Der furiöse Mensch war ein guter Christ – wer will's läugnen? – Die hübsche Tänzerin war eine schöne Christin – habt Ihr 'was dagegen? – Der händeringende Mann dort am Fenster ist ein frommer Christ. – Wer kann sagen: Nein! – Pastor Gleichmuth muß ein außerordentlich trefflicher Christ sein – wer möchte daran zweifeln, da er Priester ist? Und der arme Mensch dort, das Geigengenie mit dem hirnverrückten Schädel – ist's nicht ein Christ nach Noten? – O, ich beuge mich tief in den Staub vor der Majestät Eurer vielfältigen Religion! Sie hat viele, große Tiefen; es liegt ein unergründlicher Abgrund der Tiefsinnigkeit in ihr, den ich erst heut Nacht erkannt habe. Seltsam, daß sie verschlossene Thüren so nackt zeigen und brünstig machen!
»Mardochai,« sprach Bardeloh, »hast Du die Thüren verschlossen?«
»Ich mußt' es, Richard,« versetzte mit der Ruhe eines Geschäftsmannes, der einen Handelsbrief unterschreibt, der Jude, »sonst wäre ich in Gefahr gekommen, für den engagirten Violinisten dort mein Geld umsonst ausgegeben zu haben. Der Schwank trägt mir überhaupt keine reellen Zinsen.«
»Du hast also auf ideelle gerechnet?« fragte zitternd mein Gastfreund.
»Du sagst es!« sprach kalt Mardochai. »Sie sind mir in der That reichlich geflossen! Sieh« fuhr er fort, und streckte die lange, weiße Hand aus wie ein Prophet über die schweigenden Männergruppen, »sieh! Das ist Europa, umarmt vom Christenthume, und hier steht eine Trümmer meines von diesem Christenthume zertretenen Stammes. Bardeloh, ich rufe Dich auf zum unparteiischen Richter! Wer ist der Gesündere? Ich bin ein Jude und versammle ich hunderttausende meiner Brüder um mich, so ist jeder Einzelne ein Jude, wie ich; keiner mehr, keiner weniger. Wir sind krank, tief krank, wir kranken noch an dem ›Kreuziget ihn!‹ unserer Vorfahren. Wo ist hier die Consequenz? Ist Eure Liebe so arm, daß sie sich nicht auch erstrecken kann über das kleine Häuflein eines sterbenden Volkes? Und wo ist Eure Einheit in Liebe? Hier stehen dreißig Christen und mehr. Wer ist gleich dem Andern? Wer glaubt und vertheidigt in seinem Glauben, was sein nächster Bruder lehrt? Und doch nennt Ihr Euch Christen? Wehe, wehe, Eure Religion ist verkäuflich! Wer da zahlt am glänzendsten, dem ist der heilige Geist am gnädigsten! Das beweist der Katholicismus auf eine grauenhaft prägnante Manier. Und wollt ihr entgegnen: hier steht der Protestantismus, so strecke ich meine Hand auch aus über ihn, und frage: Wo ist in ihm die Liebe, das weiche Sterbekissen Eurer ganzen Religion? Die Liebe grübelt und läugnet nicht, sondern glaubt und sättigt sich an der stillen Hingebung zu dem aufflatternden Himmel. Eure Religion aber ist nicht belebt von der Liebe, die Ihr predigt; der Gleichmuth nur, die Kette des Verstandes, sind es, die sie erhalten haben bisher. Was Ihr so nennt, das ist die Religion der Welt, wenn sie herabsinken wird zum bloßen Wechselgeschäft. Sie wird zur Weltreligion aufsteigen, wenn das letzte Herz verwelkt ist in der Welt. Ich beneide Keinen darum, der es erlebt, zuvor aber will ich sterben als Jude, in mir ein Herz bewahrend, das zwar gebrochen wurde von der Perfidie der Weltgeschichte, aber doch noch frisch genug blieb, um bis zum letzten Schlage mit Liebe zu verehren den Stolz seines Volkes. Werdet stolzer, ihr Christen, und Eure Religion wird gewinnen an innerem Leben. Der Bettlermantel der Demuth, der Euch um die dürren, lieblosen Schultern flattert, deckt nicht mehr Eure Blößen! – Schlaft wol, christlich liebende Brüder! Mardochai, der arme, vernachlässigte Jude wollte nur sehen, wie eine im Christenthum geborne Civilisation sich gebehrde, wenn bei verschlossenen Thüren ein durch die sogenannte Liebe gebrochenes Herz spiele, ein anderes tanze und ein drittes in wahrhafter Liebe weinendes dirigire. Mardochai hat genug gesehen. Der Jude bleibt immer noch stolz auf sein armes, verspottetes Bekenntniß; er mag nichts wissen von Eurer Religion der falschen Liebe!«
Still und stolz wie ein Prophet ging der Sohn des Morgenlandes durch die verblüfften Secten der Christenheit. Ihm folgte spielend der blödsinnige Friedrich. Bardeloh und Gleichmuth waren die Einzigen, welche dem Verschwindenden in unterdrückten Seufzern den Hauch der Versöhnung nachsandten. Die Uebrigen sprachen, nickten und blickten ein finsteres Anathem über und auf ihn herab.
Fünf Minuten später war ich mit Bardeloh allein, die Diener löschten die Lichter. »Sigismund,« sprach Richard, »Gleichmuth hat Ihnen seine Lebensgeschichte gegeben, wie er mir sagte. Wir wollen diese zusammen lesen, aber nicht hier. In ein paar Tagen reisen wir den Rhein hinauf. Ich muß Luft schöpfen, wenn ich nicht ersticken soll im Gram dieses schmachvoll costumirten Europäismus!«
Auf der Straße weinte Friedrich's Violine noch immer ihre dämonischen Accorde. Wir schieden. Das Resultat meines nächtigen Lebens ist in diesen Blättern bewahrt. Denke der Liebe, wenn Du sie gelesen und schleudere keinen Fluch, auch nicht einmal im Gedanken, auf denjenigen, der zu schreiben wagt, was das Leben sich nicht schämt zu gebären. Ist die Geburt erlaubt, so konnte auch die Zeugung nicht sündhaft sein. Warum also davon schweigen? Wahrlich, das Unmoralische wird nur in der Jämmerlichkeit unseres abgestumpften, demuthfrechen Geistes geboren! –