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Rede über Österreich

verfaßt für die Schwedisch-Österreichische Gesellschaft in Stockholm zur Republikfeier am 12. November 1929.

Alle Rechte vorbehalten. Copyright by F. G. Speidel'sche Verlagsbuchhandlung Wien

 

Meine Damen und Herren!

Wenn ich heute die Ehre habe, zu Ihnen als Vertreter österreichischen Kultur- und Geisteslebens zu sprechen, so tue ich dies als der Abgesandte eines Landes, welches nur mehr ein kleiner Teil jenes großen Reiches ist, das noch vor etwas mehr als einem Jahrzehnte die geographische Mitte unseres Weltteiles bildete. In seinem Westen berührte dieses jahrhundertealte Staatsgebilde die Gewässer des Bodensees, gegen Nordosten und gegen den Aufgang zu grenzten seine Gebirge, sein Steppen- und Ackerland an jene Gebiete Europas, welche die Vorlande Asiens bilden, während der Süden des Reiches über Alpen und Karst hinabreichte, einerseits bis zu den Lorbeer und Ölbaum spiegelnden Buchten des Gardasees und anderseits bis an die blauen Fluten des Adriatischen Meeres. Dieser mächtigen räumlichen Ausdehnung entsprach die geradezu phantastische Vielfalt der Völkerstämme, die das versunkene Reich bewohnten. Es waren dies Slawen, Romanen, Magyaren, und von den Slawen hinwiederum: Tschechen, Polen, Slowaken, Kroaten, Slowenen und Serben. In den Gebieten des äußersten Nordostens siedelten Kleinrussen und Rumänen; dort, wo die Grenzen des Reiches südwärts vorgeschoben waren bis in die Berg- und Küstenlande des Balkans, hausten Dalmatiner, Bosnier und Herzegowiner; in den Herzlanden dieses gewaltigen Völkerreiches aber – und wohl auch sonst die andersvölkischen Sprachgebiete vielfach durchsetzend – hielten Deutsche an der Erde fest, die ihnen seit mehr als einem Jahrtausend die Heimat bedeutete. Sie waren es auch, in deren Gebiete die Metropole des Gesamtstaates gelegen war; ihrer Sprache gehörte die Herrscherfamilie an, die das Reich jahrhundertelang, zuerst als eine Einheit und dann als zwei staatsrechtlich getrennte Hälften, regierte, und diesen Deutschen blieb schließlich auch lange genug die Aufgabe vorbehalten, das Gesetz eigener kultureller Entwicklung den in verschiedenen Graden durchzivilisierten Mitvölkern aufzuerlegen.

War somit den Deutschen im alten Österreich die kulturelle Hegemonie bis zum Ende der Symbiose unbestritten, so ging ihnen die politische seit dem Beginne des vorigen Jahrhunderts immer rascher und unaufhaltsamer verloren. Noch bis dahin hatten die Habsburgischen Herrscher zugleich auch die deutsche Kaiserwürde innegehabt, noch bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts gehörte Österreich dem deutschen Bunde an, dann aber wurden die staatsrechtlichen Bande zwischen den beiden mitteleuropäischen Großmächten völlig zerschnitten, und damit war auch der Rückhalt zerstört, den die Deutschen Österreichs an dem mächtigen und einheitlichen Volkstume des Reiches bis dahin gehabt hatten. Zwar war ihnen durch ein Bündnis auch weiterhin die Rolle zugedacht, den Völkerstaat, insonderheit in Gestalt seiner Streitkräfte, der deutschen Politik zur Verfügung zu halten, allein diese Aufgabe, so treu sie auch übernommen und so treu sie auch bis zum Ende erfüllt wurde, war gestellt wider den Geist der Geschichte und wider die Tatsachen eines immer mächtiger erstarkenden nationalen und demokratischen Bewußtseins. So brach denn auch dieses Konzept auf den Schlachtfeldern des Weltkrieges zusammen. Nicht weil die Deutschen Österreichs ihre Schuldigkeit zu tun unterlassen hätten, sondern deshalb, weil sie außer einer Welt äußerer Feindschaft und Bedrängnis auch noch im Innern Ideen gegen sich hatten, die 1866 noch nicht so mächtig gewesen waren wie 1914. Ob dieser Zusammenbruch wirklich in der Weise erfolgen mußte, daß das alte Reich völlig von der Landkarte Europas verschwand und sein Gebiet der Balkanisierung anheimfiel, dies ist eine andere Frage. Denn es erscheint als eine allzu leicht hingenommene Behauptung, daß der frühere Nationalitätenstaat in seinen Grundfesten morsch und als solcher unmöglich gewesen wäre. Unmöglich war er bloß als Schwerthelfer des Germanentums, und vor allem als solchem wurde ihm auch ein Untergang von seltener Grausamkeit bereitet. Dies darf wohl einmal rückhaltlos ausgesprochen werden, besonders in einer Stunde wie dieser, da es gilt, vor Ihnen, meine Damen und Herren, Zeugnis abzulegen für das neue Osterreich. Denn wir Werkleute an dem Aufbau dieses neuen brauchen das alte nicht zu verleugnen. Im Gegenteil, wir wissen genau, daß wir ihm vorläufig noch so ziemlich alles zu verdanken haben, mag auch die Erbschaft, die uns nach ihm eingeantwortet wurde, mit manchem Fluche und Leidwesen belastet sein. Aber es sind auch Werte in der Verlassenschaft, Werte einer ehrwürdigen Kultur und eines besonderen Menschentums, und nur von diesen beiden soll im folgenden die Rede sein.

Da war also ein Reich gewesen, meine Damen und Herren, das drittgrößte in unserem Europa, das nächstgrößte nach Deutschland, und in seinem Herzen, in dem deutsches Blut pochte und deutscher Geist Kulturarbeit leistete, fernhinwirkend bis an die Tore des Orients, in diesen Herzlanden, welche allein das heutige Osterreich bilden, kreuzten einander von altersher die Straßen vom Aufgang zum Untergang, von Mittag nach Mitternacht. Der Erzschritt der Legionen war auf ihnen erklungen genau so wie die Schlachtengesänge der Germanen. Hunnen, Awaren und Türken waren auf ihnen ins Land gedrungen und hatten mit wilden, mordgierigen Waffen gepocht an die Bastionen des Abendlandes. Die Römerzüge deutscher Kaiser nahmen auf ihnen den Weg der Sehnsucht nach dem Süden, der Dreißigjährige Krieg überflutete sie mit seinen zusammengewürfelten Haufen, und dem korsischen Weltreichträumer dienten sie lange genug als Siegeszeilen seiner unwiderstehlichen Bataillone. Und immer wieder geschah es, daß auf dem blutgetränkten Boden, auf dem diese Straßen einander kreuzten, nicht nur um sein eigenes Schicksal gerungen wurde, sondern daß hier auch die Würfel fielen über das Schicksal des ganzen Weltteiles, und dies herab bis in unsere Tage, bis zu den Karpathenkämpfen des Weltkrieges, in denen das bereits dem Untergange geweihte, aus tausend Wunden verströmende Osterreich zum letzten Male seine Pflicht tat für Europa. So ist der Österreicher seit Jahrhunderten gewöhnt an das unmittelbare Erleben von ganz großen Vorgängen der Geschichte, deren blutige Rechnung er unzählige Male bezahlt hat, und dies ist das erste Moment, das ihn frühzeitig, wenn auch in einem mehr schmerzlichen und passiven Sinne, über sich selbst erhoben und zum Europäer gemacht hat.

Dazu kommt jedoch noch ein anderes: die Macht der Habsburger reichte im Verlauf ihrer mehr als sechshundertjährigen Regierungszeit weit hinaus über die Grenzen der Erblande. Es hat Zeiten gegeben, da die Sonne in ihrem Reiche nicht unterging. Aber auch noch später beherrschten sie (außer Österreich) Spanien, große Teile Italiens und die Niederlande; und viele ihrer Dynasten, die, wie erwähnt, zugleich auch die deutsche Kaiserwürde innehatten, übten ihre Weltmacht in Österreich aus und residierten in der Hofburg zu Wien. So wurde hier jahrhundertelang Weltpolitik gemacht, und Weltpolitik bringt mit sich Weltkultur. Und in der Tat, in welcher Fülle strömte eben diese besonders in der Stadt an der Donau zusammen! Durch das Herrscherhaus gelangten ungezählte Meisterwerke der großen deutschen, spanischen, italienischen und niederländischen Maler, gelangten ungeheuere Schätze der Kunst und des Kunsthandwerkes in die kaiserlichen Galerien und Sammlungen und somit in den Volksbesitz. Mit Kleinodien des schaffenden Geistes und der Buchkunst, mit allgemeingeschichtlichen und kulturhistorischen Dokumenten des Okzidents und Orients füllten sich die kaiserlichen Bibliotheken und Archive und wurden so zu unausschöpfbaren Fundgruben der Wissenschaft. Der Wiener Hof lockte Künstler, Gelehrte, Kriegshauptleute und Politiker aus aller Welt an. Aus Welschland kamen die Baumeister und Architekten, die in Österreich Schlösser, Klöster und Kirchen bauten: für die Bischöfe, für den Adel, für das Erzhaus. Die köstliche Blüte des österreichischen Barock entfaltete sich aus der gegenseitigen und glücklichen Durchdringung des südlichen und des bodenständigen Baustiles. So entstand das Barockwunder der herrlichen Bischofstadt Salzburg, so erwuchsen, von Parken und Gärten umblüht oder eingefügt in die ehrwürdigen Gassen und Gäßchen Wiens und der anderen österreichischen Städte, ungezählte Paläste des Adels und eines standesbewußten Bürgertums, das es dem Adel gleichtun wollte. Und wie die welschen Baukünstler, so kamen auch die welschen Theaterkünstler an den kaiserlichen Hof und legten von da aus den Grund zu einer Theaterkultur und zu einer Technik des theatralischen Apparates, die lange ihresgleichen suchten in deutschen Landen. War diese Theaterkultur auch zunächst nicht deutsch und war sie auch vorerst bloß den vornehmsten Ständen vorbehalten – während sich das Volk an den derben und urwüchsigen Spaßen des Hanswurst vergnügte – so schuf sie doch theatralische Tradition und bereitete so den Boden vor, aus dem späterhin die deutsche Oper und das deutsche Kunsttheater emporblühen sollten. Denn Wien ist die Stadt, von der aus die »Zauberflöte«, der »Figaro« und später der »Fidelio« ihren Siegeszug über die Erde antraten, und Wien ist die Stadt, in der das erste Nationaltheater der Deutschen schon zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts gegründet ward: jene Schaubühne edelsten Stiles, welche unter dem Namen Burgtheater den Ruhm, die erste deutsche Bühne zu sein, noch bis in unsere Tage hinein behauptet hat. Und diesem verschwenderischen Reichtum Wiens an künstlerischen Traditionen und Einrichtungen entsprach der Zustrom schaffender Geister, die teils der österreichischen Erde entstammten, teils von außen her zuwanderten. So lebten hier um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts Beethoven, Mozart, Haydn und Schubert als Zeitgenossen und schufen hier, was – abgesehen von den Werken der Frühitaliener und denen Handels und Bachs – fast der ganze lebendige Weltbesitz an klassischer Musik ist. Und das nämliche musikhistorische Phänomen ereignete sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, als Johannes Brahms, Anton Bruckner, Gustav Mahler, Hugo Wolf und, nicht zu vergessen, Johann Strauß Sohn zu gleicher Zeit in Wien lebten und hier die höchste Reife ihrer Kunst erreichten.

Aber nicht nur in musikalischer Beziehung war die Stadt ein Mekka schaffender und ausübender Künstler, sondern auch in literarischer bildete sie ein Zentrum. Zwar scharte sich die unsterbliche Blüte deutscher Dichtkunst um den Hof von Weimar, in Wien aber ging den Deutschen die dritte Sonne im Dreigestirne ihrer klassischen Poesie auf: Österreichs größter Dichter und zugleich einer der bedeutendsten der Weltliteratur, Franz Grillparzer! Und mit ihm als Zeitgenossen lebten hier der Diethmarsche Friedrich Hebbel, die Österreicher Johann Nestroy, Ferdinand Raimund, Adalbert Stifter und der Deutschungar Nikolaus Lenau, besonders die beiden letzteren Dichter von einem Formate, daß ihre Werke heute zum Besitz aller Deutschen gehören. Ist dies alles Zufall? Nein, meine Damen und Herren, solche Zufälle in der Geschichte des menschlichen Schöpfergeistes gibt es nicht, und es bedarf ihrer auch nicht, um sie zur Erklärung dieser unerhörten Konzentration kulturbedingter und kulturschaffender Kräfte in Wien heranzuziehen. Denn eben dieses Wien, das mehr als einmal den Einbruch des asiatischen Chaos in die abendländische Kultur aufgehalten hat, eben dieses Wien, von dem aus 1815 die letzte gesamteuropäische Katastrophe vor dem Weltkrieg liquidiert wurde, eben dieses Wien, die Kaiserstadt an der Donau, war zu einer Zeit, da Deutschland sich noch lange nicht seiner gewaltigen Volkseinheit bewußt war, die erste eigentliche Großstadt auf deutschem Boden, ja mehr als dies: neben London, Paris und Rom die deutsche Weltstadt katerochen in Europa. Und in ihr, aber auch sonst in Osterreich, unter den Ausstrahlungen ihres politischen und kulturellen Lebens, bildete sich im Laufe der Jahrhunderte ein Typus heraus, den ich am liebsten bezeichnen möchte als den österreichischen Menschen. Und von diesem und zu diesem, meine Damen und Herren, lassen Sie mich hiemit vor Ihnen ein Bekenntnis ablegen!

Ja, meine Damen und Herren, ich wage dieses Bekenntnis zum österreichischen Menschen, obwohl ich dadurch mit einer Tradition breche, an welcher der Österreicher bisher, besonders wenn er ins Ausland ging, sehr zu seinem Nachteile festzuhalten pflegte. Jetzt aber, da wir, wieder einmal von vorne beginnend, eine Erbschaft an Kultur übernommen haben, wie sie bedeutsamer nicht sein kann, jetzt aber, da wir im Begriffe sind, dieses kostbare Inventar in unser neues, wenn auch kleineres Haus einzubauen und es zu verwalten, nicht als engherzige Eigentümer, sondern gleichsam als Treuhänder der gesamten kultivierten Menschheit, in diesem wichtigen und hoffnungsvollen Augenblick ist es an der Zeit, der Unart falscher Bescheidenheit und allzu unbedenklicher Selbstpreisgabe zu entsagen und in uns allmählich ein anderes heranzubilden, nämlich das historische Bewußtsein und den Stolz des Österreichers!

Trotzdem, meine Damen und Herren, wenn ich vom österreichischen Menschen gesprochen habe, so ist damit gewiß nichts Anmaßendes gemeint, ganz gewiß nichts, womit ich ihn gegenüber den Menschen anderer Nationen und Rassen hochmütig abzugrenzen wünschte. Ich wäre nicht selbst Österreicher, wenn ich mich dessen vermäße. Indessen, etwas anderes ist es, von einem Volke bloß aus der Entfernung und sozusagen nur durch Gerüchte zu wissen, die meistens nicht eben aus den reinsten Quellen stammen, und ein anderes ist es, aus seinem Blute hervorgegangen, in seiner Mitte aufgewachsen zu sein und mit ihm sowohl die Tage der Wohlfahrt als auch die Zeiten des Elends durchlebt zu haben. Und da darf ich wohl sagen, daß sich mir gerade in den Stunden der furchtbarsten Prüfung das tiefste Wesen des österreichischen Volkes am weitesten erschlossen hat: eben jenes österreichische Menschentum, welches ein Ergebnis ist seiner besonderen Geschichte, seiner Kultur und seiner natürlichen Anlagen.

Um zuerst nochmals kurz von der Geschichte zu reden: sie hat den Österreicher leben und werden lassen in einem Staatswesen, in dem die Deutschen der Zahl nach zwar immer Minorität, ihrer politischen und kulturellen Rolle nach aber das Führer- und Staatsvolk waren. So lernte der österreichische Mensch zweierlei: Psychologie und das Dienen an einer Idee! Denn Führerschaft, wenn sie nicht bloß auf brutale Gewalt gegründet ist – und eine solche war schon durch die Minderzahl der Deutschen in der Monarchie unmöglich! – denn Führerschaft ist immer auch Richterschaft, und diese erfordert hinwiederum ein Über-den-Parteien-Stehen, welches im gegebenen Falle identisch war mit einem Stehen über den Nationalitäten. So lernte der Deutschösterreicher alles, was er in Bezug auf den Gesamtstaat dachte und aussprach, in soundsoviele andere Sprachen übersetzen und begegnete dabei der geheimnisvollen Tatsache, daß jeder Satz der eigenen Sprache, ob auch in der fremden dem Sinne nach gleich, dennoch in dieser nicht nur phonetisch, sondern auch seelisch einen anderen Klang hat. So wurde er zu einem Menschen, der sich hineindenken konnte, ja, hineindenken mußte in fremde, nationale Gefühlswelten, in fremde Volksseelen, so wurde er Völkerkenner, Menschenkenner, Seelenkenner, mit einem Wort: Psychologe. Und Psychologie ist alles! Und Psychologie ist Pflicht im Zusammenleben der Menschen und Völker! Das Unheil, das immer wieder in Gestalt von Kriegen oder Klassenkämpfen die Welt überflutet, es stammt zumeist von dem Mangel an Psychologie, von dem fehlenden Willen zur Psychologie, von der Trägheit der Geister und der Herzen, die sich mit bloßen Gerüchten über den anderen begnügen, anstatt ihn zu erkennen und dadurch in seiner Wesensart, in seinen Leidenschaften, Empfindlichkeiten und Ansprüchen zu begreifen. Dieses Erkennen und Begreifen nun ist sozusagen die historische Natur des österreichischen Menschen. Freilich bedeutet solche Einfühlungsgabe – und dies muß unumwunden zugegeben werden – in gewissem Sinne auch Hemmung. Denn wer es nicht notwendig hat oder nicht genug Phantasie besitzt sich vorzustellen, was seine eigenen Worte und Handlungen in anderen – denen sie gelten, denen sie vielleicht sogar Gesetz sein sollen! – an geistigen und seelischen Reaktionen auslösen, ein solcher hat es bei weitem leichter, Tat- und Herrenmensch zu sein; seine Aktivität ist ungebrochener, sein Wesen ohne Zwiespalt und sein Auftreten entschiedener. Ein solcher Tat- und Herrenmensch nun, besonders in nationaler Beziehung, ist der Österreicher nicht. Das mag für das Fortkommen in der Welt, das mag vom Standpunkte nationaler Selbstbehauptung ein Mangel sein, von der höheren Warte reiner Menschlichkeit aus gesehen ist es ein Fehler kaum. Nicht ohne tiefere Ursachen rührt der Ausspruch: »Von Humanität über Nationalität zur Bestialität« von einem Österreicher, von Grillparzer!

Und noch ein anderes, das ich bereits früher erwähnte, hat der Österreicher aus seiner Geschichte gelernt: die besondere Fähigkeit zum Dienen an einer Idee. Denn der österreichische Staat der Vergangenheit, er war in einem sublimeren Sinne, als es jeder Staat schon an sich ist, etwas Begriffliches. Er war eigentlich der verdinglichte Herrschaftsgedanke seiner Dynastie und im übrigen bloß ein Konglomerat von vielen verschiedenen Heimaten, aus dem sich der Begriff des gemeinsamen Vaterlandes nur durch einen komplizierten staatsrechtlichen Denkprozeß ergab. Verwirklicht war dieser Begriff des Vaterlandes eigentlich nur im Mitimperium der kaiserlichen Beamtenschaft und in der Einheit der Armee. Daher auch das berühmte Wort des nämlichen Grillparzer an den Feldmarschall Radetzky: »In deinem Lager ist Osterreich!« und daher auch die starke Idealität, die sich von Bürokratie und Armee aus auf das ganze österreichische Volk auswirkte. Wenn Sie dazu noch in Betracht ziehen, daß die Österreicher – mochten im alten Staate auch fast alle übrigen Glaubensbekenntnisse vertreten gewesen sein – in der Mehrzahl dem römischen Katholizismus anhängen, der auch seinerseits eine Schule des übernationalen, auf eine universelle Idee gerichteten Denkens, Fühlens und Dienens bedeutet, so scheinen mir die tiefsten und lebenswichtigsten Wurzeln vom Wesen des österreichischen Menschen bloßgelegt, und es ergibt sich von ihm das folgende, freilich noch immer nur andeutungsweise und im platonischen Sinne ideale Bildnis:

Der österreichische Mensch ist seiner Sprache und ursprünglichen Abstammung nach Deutscher und hat als solcher der deutschen Kultur und Volkheit auf allen Gebieten menschlichen Wirkens und Schaffens immer wieder die wertvollsten Dienste geleistet; aber sein Deutschtum, so überzeugt und treu er auch daran festhält, ist durch die Mischung vieler Blute in ihm und durch die geschichtliche Erfahrung weniger eindeutig und spröde, dafür aber um so konzilianter, weltmännischer und europäischer. Und der österreichische Mensch ist tapfer, rechtschaffen und arbeitsam, aber seine Tapferkeit, so sehr sie auch immer wieder Elan bewiesen hat, erreicht ihre eigentliche sittliche Höhe erst, wenn seine leiderfahrene Philosophie in Kraft tritt: im Dulden. Und was seine Rechtschaffenheit anbelangt, so ist sie mehr Gesundheit und Natürlichkeit der Instinkte als moralische Doktrin. Und sein Fleiß wird ihm nicht so leicht zur Fron, die den Menschen aushöhlt und abstumpft und ihn feierabends zu grellen und aufpeitschenden Mitteln greifen läßt, auf daß er seiner gerade noch inne bleibe. Das hängt damit zusammen, daß der österreichische Mensch irgendwie eine Künstlernatur ist und daß seine Methode der Arbeit mehr die der schöpferischen Improvisation und des schaffenden Handwerks geblieben als die der disziplinierten, aber auch mechanischeren Fabrikation geworden ist. Man hat dem österreichischen Menschen, unter anderem auch deshalb, einen gewissen Konservativismus und ein gewisses Zögern gegenüber dem Fortschritt und dem jeweils Neuen nachgesagt, und dieser Leumund hat etwas Wahres in sich. Indessen, wem historisches Bewußtsein und Psychologie zum Instinkt geworden sind, der neigt dazu, nicht gleich in jedem Wechsel der Dinge einen Fortschritt zu erblicken; und wer alte Kultur besitzt, der beruht zu sehr in sich und ist seines Geschmackes viel zu sicher, um in jedem Neuen allsogleich ein Evangelium zu vermuten. Ihm fehlt jene Barbarenfreude am Wertlos-Glitzernden, das sich für kostbarecht ausschreit, die protzige Lust des Kulturparvenüs an den sogenannten Errungenschaften, die zumeist höchstens solche der Zivilisation sind, und er durchschaut so manchen Pofel und Schwindel, auf den die ewig Heutigen, die nur wenig oder keinerlei Tradition über Bord zu werfen haben, pünktlich und reklamegläubig hineinfallen. Mag sein, daß er dabei nicht immer ganz auf der »Höhe der Zeit« einherschreitet, aber er wird dafür auch nicht so leicht und ahnungslos in ihre Abgründe stürzen. Mag sein, daß er das jeweils vorgeschriebene Tempo nicht ganz und gar mitmacht und nicht behende genug mittut im Veitstanze einer immer mehr entheiligenden Zivilisation, aber er wird dafür ein anderes bewahren, worauf es denn doch vielleicht einmal noch ankommen wird, wenn die Völker der Erde dereinst etwa nach anderen Maßen als denen der Gewalt- und Konkurrenzfähigkeit gezählt und gewogen werden sollten: das menschliche Herz und die menschliche Seele! –

Man hat uns Österreicher ein Volk von Phäaken genannt und hat uns damit als zwar liebenswürdige, aber zugleich auch als allzu unernste und genießerische Leute abfertigen wollen, die Gott einen guten Mann sein lassen und spielerisch in den Tag hineinleben. Das mag für manche Abschnitte unserer Geschichte gegolten haben, in denen wir patriarchalisch bevormundet, vom edlen Wettbewerb freier Geister abgeschnitten und auf die bloß sinnlichen Freuden verwiesen wurden. Indessen, welches Volk hätte solche Perioden nicht mitgemacht? Und andrerseits, wenn überhaupt, so galt dies immer nur für gewisse Schichten unseres Volkes und auch in diesen nur für jene Enkelgenerationen, wie sie in aller Welt den Typus des bloßen Erben repräsentieren. Der Großteil unseres Volkes aber war immer regsam, tätig und in seinen Genüssen bescheiden. Nur daß es vielleicht das Wenige, das es zu genießen hatte, seiner ganzen Art nach auskostender, mitteilsamer und heiterer zu genießen wußte, als dies anderwärts der Fall sein mag. Aber hat es deshalb jemals, wenn es aufgerufen wurde von der Geschichte, seine Pflicht verabsäumt? Oder ist unsere Erde nicht bebaut bis an die äußersten Grenzen des Fruchtens? Und sind ihre Kräfte und Schätze nicht genützt und gehoben? Wenn es gewiß auch noch vieles zu nützen und zu heben gilt in dem neuen Osterreich! Und dann, meine Damen und Herren, man muß dieses Volk in seinem tiefsten Unglück gesehen haben, in der Zeit, da die Not an jede Türe pochte und der Boden fast unter jeder Existenz schwankte! Die früher zu genießen verstanden hatten, die wußten jetzt ebenso zu entbehren und zu hungern! Und die Verzweiflung der Niedergetretenen, in diesem Volke ist sie niemals ausgeartet ins Unmaß der Wut, obwohl es derer genug gab, die seinen Zorn verdient hätten! Denn der Verderber, der Versucher, der Aufwiegler, er hat auch in ihm seine Köder ausgeworfen und seine Schlingen gelegt; aber in der Sündflut von Schmutz und Verwirrung, die jeder Zusammenbruch einer Staats- und Gesellschaftsordnung entfesselt, ist der Wesenskern unseres Volkes unversehrt geblieben, und jene, auf die es letzten Endes immer ankommt in einer Nation, die Priester und Diener an ihrem idealen Gut, sie haben um der Butter aufs Brot willen die Ehre nicht verkauft, sie haben das Brot lieber trocken gegessen. Der Künstler, der Gelehrte, sie haben mit frierenden Händen in schlecht beleuchteten Räumen ihr Werkzeug weiter gehandhabt, und während alles und jedes ringsum zusammenzubrechen drohte, haben Hungerskelette von Senaten unbeirrt das heilige, klare Recht gesucht und verkündet wie in den Tagen des Wohlstandes! Nein, meine Damen und Herren, eine härtere Probe auf die Seele und die Kultur eines Volkes wurde noch niemals gefordert, und der sie bestanden, das ist, von allen Geißeln gestriemt, von allen Dornen verwundet und an alle Pfähle geschlagen, der österreichische Mensch! Nur in einem Punkte, meine Damen und Herren, will ich die Märe, daß wir Österreicher Phäaken seien – so leichtfertig sie auch sonst ist! – gelten lassen:

Als der herrliche Dulder Odysseus an die Küste des Phäakeneilandes verschlagen worden war, da begegnete ihm als erste die liebliche Königstochter Nausikaa, labte den Erschöpften, bekleidete seine Blöße und nannte ihm den Weg zum Palast ihres Vaters. Gastliche Ehren erweist der König dem Fremdling, und beim festlichen Mahle gebietet er dem Sänger, »welchen die Völker ehren«. Und dieser rührte die klingende Harfe erst zum heiteren Liede und Tanze, dann aber – nachdem sie sich auch am Wettlauf und Weitwurf erfreut hatten – hub er die Weise an von Trojas Fall und von dem Sterben der Helden:

»Dieses sang der berühmte Demodokos. Aber Odysseus
Faßte mit nervichten Händen den großen purpurnen Mantel,
Zog ihn über das Haupt und verhüllte das herrliche Antlitz ...«

Und ihm, »der den Krieg und die Schrecken der Meere bestanden,« unaussprechliches Leid und unbeschreibliche Irrfahrt, ihm stießt, erschüttert von der Macht des Gesanges, die Träne.

In diesem Sinne, daß unser mit allen Gotteswundern der Schönheit begnadetes und von freundlichen Menschen bewohntes Land auch weiterhin ein Eiland des Gesanges sei und daß von ihm die edle Heiterkeit und die starkmütige Ergriffenheit menschlicher Herzen ausgehe, in diesem Sinne wollen wir Österreicher Phäaken sein und bleiben!


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