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Man erzählt vom Dichter Frauenlob, der sein ganzes Lied und Leben in so reinem Dienste den Frauen geweiht, daß er aus Dankbarkeit von Frauen zu Grabe getragen worden. Herr Sinner ist nun zwar kein Dichter, wenn er aber einmal stirbt, was jedenfalls recht schade ist, so hat er gewiß dieselbe Ehre von den Frauen verdient. Besingen kann er sie zwar nicht, sonst thät' er's gewiß auch, aber seine Verdienste um sie sind viel mannigfacherer Art, und viel reeller. Das werden wir begreifen, wenn wir ihn nur durch eines seiner Tagewerke begleiten.
Herr Sinner hat keinen bestimmten Beruf, wenigstens jetzt nicht mehr. So lang seine gute Mutter lebte, betrieb er gewissenhaft die vom Vater übernommene Apotheke, gewissenhaft, aber nicht mit großem Vortheil. Da waren so viele Arme, von denen er nichts nehmen konnte, so viele bedrängte Weiber, die ihm ihr Leid klagten und denen zu lieb er Gänge zu machen hatte, so viele arme Kinder, denen er gesammelte Kamillen, Käfer, Wollblumen und was alles theurer abkaufte, als er's wieder los wurde – die armen Schelme mußten doch etwas haben! –, daß er nach der Mama Tode selbst einsah, es sei besser, wenn er die Apotheke vortheilhaft verkaufte und bei seinen bescheidenen Bedürfnissen von den Zinsen lebte.
Warum er nicht geheirathet? Er hat mir's nicht anvertraut; ich denke, so lang die Mutter lebte, wollte er ihr keine Mitregentin aufdrängen, sie war etwas eigen, und nachher fand er gar nicht mehr Zeit dazu.
Eben nimmt seine gefällige Hauswirthin das Frühstücksgeräth hinaus. »Sie müssen heute verzeihen, Herr Sinner; der Kaffee war nicht gut, meine Mine versteht's noch nicht recht; sie hat ihn überkochen lassen.« – »Thut gar nichts,« antwortet Herr Sinner freundlich; »hab' gar nichts bemerkt, bin ein Bischen in Eile. Recht gut, daß Sie die Kleine schon so anhalten, recht gut; trinke gern die Lehrprobe, wird schon besser kommen.« Und frisch und heiter geht Herr Sinner an den Rechenschaftsbericht eines Vereins für brodlose Mädchen, den er heute noch einer hohen Dame zu überbringen gedenkt.
Noch ehe er damit fertig ist, klopft es an der Thüre. »Guten Morgen, Herr Sinner,« damit tritt eine bescheiden gekleidete ältliche Frau ein. »Verzeihen Sie, daß ich so früh störe.« – »Stören nicht, Frau Maier,« sagt Herr Sinner mit strahlendem Gesicht, »eben wäre ich selbst zu Ihnen gekommen. Ich habe die besten Neuigkeiten für Sie, die allerbesten!« Das etwas trübselige Gesicht der Wittwe erheitert sich. – »Das Kapitälchen ist gerettet!« verkündet Herr Sinner triumphirend; »war gestern selbst an Ort und Stelle, habe die Güter noch gut untergebracht. Sie verlieren keinen Kreuzer! Die Zinsen kann ich Ihnen sogleich ausbezahlen, ich bekomme sie in den nächsten Tagen.« – »O bitte, bitte!« wehrt die erfreute Frau, »und Ihre Auslagen?« – »Gar nichts, gar nichts, eine Bagatelle! Sie wissen ja, wie gut ich zu Fuß bin; so ein Spaziergang von ein paar Stunden ist mir ein wahrer Spaß, eine Erholung; ich habe mich noch bei Ihnen zu bedanken für die Veranlassung. Und noch Eins: für Ihre Emilie hab' ich ein herrliches Plätzchen gefunden, wie gemacht für sie, bei einer Cousine von mir, einer Pfarrerin. Ein paar herzgute Leute! Viele Kinder, Garten, ein bischen Oekonomie, viele Gäste; das ist eben recht für junge Mädchen, das übt sie; und der Gehalt ist für eine Anfängerin recht anständig. Die Trennung wird Ihnen freilich wehe thun, aber es ist nicht zu weit; ich nehme ein paarmal einen Einspänner und führe Sie hin, daß Sie sehen können, wie's dem Töchterlein geht.«
»Ach, wie kann ich Ihnen alles vergelten!« ruft die tiefgerührte Frau, die sich all ihrer Sorgen mit einemmal enthoben sieht. – »Das können Sie,« erwiedert Herr Sinner ernsthaft und mit einiger Verlegenheit; »Sie können mir einen sehr großen Dienst erweisen.« – »Ich?« – »Ja, sehen Sie, Sie sind jetzt allein, wenn Emilie geht; eine Magd wollen Sie nicht nehmen; wenn Sie nun ein recht gewandtes Mädchen zu sich nähmen, die keinen Lohn verlangte, die Sie in der Zwischenzeit mit Handarbeiten beschäftigen oder um Lohn waschen lassen könnten, für deren Kost ich Ihnen noch eine kleine Entschädigung versprechen könnte?« – »Ei, Herr Sinner, das ist mir gar zu gut, das ist am Ende so eine aus dem Zuchthaus? da dank ich!« – »Nun ja, eine entlassene Strafgefangene, aber es war der erste Fall, daß sie sich zum Diebstahl verleiten ließ. Bedenken Sie nur …«
Wir wollen aber Herrn Sinner nicht durch die ganze schwierige Mission begleiten; es ist so schwer, die Vorurtheile der Frau Maier zu besiegen, daß er sie, weil er ohnehin ausgehen muß, noch bis an ihr Haus begleitet, wo er ihr endlich das Versprechen abdringt, sie wolle wenigstens auf einen Monat den Versuch mit dem Mädchen wagen. Genug, er hat soweit gesiegt und eilt erfrischt und aufgeheitert davon nach der Kleinkinderschule, wo die alte Frau, die ihr vorsteht, immer so erfreut ist über seine Besuche. Aber es geht nicht so rasch bei Herrn Sinner, wie er wünscht. Zuerst begegnet ihm ein kleiner Bube, der einen unverhältnißmäßig schweren Butten trägt, den muß er eine Weile erleichtern, unbehindert durch das Anstarren der Vorübergehenden. Dann hört er in einer Seitengasse klägliches Kindergeschrei; da liegt ein Wägelchen umgestürzt und ein Halbdutzend kleiner Arme und Beine wälzen sich unter Zetergeschrei im Koth; er richtet das Wägelchen auf und stellt die kleine Fracht wieder auf die Beine. Nun füllt er die weiten Taschen seines Ueberziehers mit Aepfeln; ein paar kleine Mädchen, die zur Schule gehen, sehen so lüstern zu; diese bekommen auch einen Antheil, und endlich, ja endlich erreicht er die Schulstube. Es ist nicht leicht, rasch an's Ziel zu kommen, wenn man keinen Käfer hülflos liegen sehen kann und wenn man so unwiderstehlich herzensgut aussieht, wie Herr Sinner. Wer seinen Weg verfehlt hat, der fragt von zehn Begegnenden gewiß nur ihn und weiß zum voraus, daß er nicht nur freundlichen Bescheid gibt, sondern ihn auch begleitet, bis er nicht mehr irren kann.
Aber für all seine Mühen belohnt ihn die Kleinkinderschule und der unendliche Jubel der Kleinen bei seinem Eintritt. Da quillt seine warme unverwüstliche Kindesnatur in reichster Fülle hervor, und wie er mit den Kleinen Soldaten spielt, ihnen Seifenblasen macht, seltsamliche Bilder auf ihre Tafel malt, ihre Lieder anhört und ihnen Geschichten erzählt, da möchte man denken, ein fröhliches Kind sei nur zum Spaß in eine alte Menschenform geschlüpft.
Aber er kann nicht bleiben, wie gern er möchte, nicht einmal die Kleinen auf dem Spaziergang begleiten. Es geht nun auf einen traurigeren Schauplatz, zum Arbeitshaus für Weiber, das sich in der Stadt befindet. Es ist schon lange her, daß Herr Sinner dort Zutritt hat. Er ist nicht mit einer Predigt auf den Lippen eingetreten, dazu ist er zu schüchtern, fühlt sich nicht würdig genug; aber er hat eine kleine Manufaktur von Pulverdüten, Pillenschachteln u. dgl. dort angelegt, mit denen er seine ehemaligen Kollegen versorgt, und er hat Erlaubniß, die armen Geschöpfe die Handgriffe dabei zu lehren. Das thut er denn auch mit geduldigem Ernst; er läßt sie dabei unter sich reden, fragt sie, was sie früher gearbeitet, nach der Heimath, nach Vater und Mutter, und wenn die Arbeit von statten geht, liest er auch wohl etwas vor. Die Rohesten benehmen sich wenigstens still und sittsam in seiner Gegenwart, manch verhärtetes Herz ist unter dem allmähligen Einfluß seiner innigen Herzensgüte aufgethaut, und wie vielfach er auch hier schon belogen und betrogen worden, er weiß doch gewiß von Einigen, die mit seiner Hülfe gebessert dem Leben zurückgegeben wurden, und am Andenken an diese Wenigen erwärmt sich sein Herz immer wieder, wenn es kalt und muthlos werden will. So viel ist gewiß, daß es Allen ist, als ginge die Sonne auf, wenn das alternde freundliche Gesicht in den trübseligen Arbeitssaal herein schaut.
Sinner kommt ziemlich spät nach Hause und seine Hauswirthin bedauert, daß er das Essen etwas kalt findet. – »Hat nichts zu bedeuten; ich muß ja heute noch zum Kaffee bei der Frau Präsidentin.«
Heute Nachmittag geht's also in die große Welt! Der Frau Präsidentin, einer sehr wohlthätigen Dame, hat er nämlich seine Mitwirkung zu einer Lotterie für arme Brandverunglückte versprochen, und er ist da sicher, nebenher noch irgend welchen kleinen Beitrag für verborgene Leidende zu erhalten, deren er immer etliche auf dem Herzen trägt. Obgleich ihn der satyrische Gemahl der Präsidentin eine wandelnde Armenbüchse nennt, ist er doch jederzeit eine willkommene Erscheinung. Mit demselben einfachen herzlichen Benehmen kommt er in der ärmlichsten Hütte wie im glänzendsten Salon zurecht, und er weiß so hübsch zu erzählen, welche Freude er mit den Wohlthaten bereitet, welche die Damen durch seine Hand fließen ließen, und findet überall praktische Auswege, wo sie sich in Theorien verwickelten.
Lang kann er beim Kaffee der Frau Präsidentin nicht verweilen; er hat heute noch der Sitzung eines Vereins für verwahrloste Kinder anzuwohnen und Statuten eines Vereins für Krankenpflege zu entwerfen. Doch hilft er noch zuvor Fräulein Muz für eine wohlthätige Lotterie die Loose verfertigen und die Gewinne arrangiren. Fräulein Muz ist eine Art Gegenstück zu Herrn Sinner. Obgleich er nicht weiß, von wannen sie stammt, ist er doch sicher, sie auf allen seinen Pfaden zu treffen, in Hütten und Palästen, in Suppenanstalten und Flickvereinen. Ihre heitere Laune ist eben so unzerstörbar als sein guter Wille; wo er für Juden sammelt, da sammelt sie für Heiden; bettelt sie für Nervenfieberkranke, so bettelt er für arme Confirmanden; wo seine Kraft am Unterliegen ist, da hat sie noch einen Scherz auf der Lippe. – Herr Sinners Freundinnen und Gönnerinnen pflegen schalkhaft zu lächeln, wenn die beiden wieder zusammentreffen, und ihm Platz neben ihr zu machen. Es wird wahrhaft gefährlich zwischen Herrn Sinner und Fräulein Muz.
Außer der Sitzung und dem Statutenentwurf hat er aber noch seine geheimen Gänge in Häuschen und Hinterstübchen, die nur er kennt. Da bringt er dem kranken Kind ein hübsches Spielzeug, der vergessenen alten Ahne, die von ihren Kindern verwahrlost wird, ein tröstliches Traktätlein, den armen Mädchen bei der blinden Mutter Arbeit. O er hat ein reiches Tagewerk vollbracht, wenn er am Abend erschöpft heimkommt, wo ihm die Hauswirthin eine gute Wassersuppe bereit hält.
Vor dem Tode fürchtet er sich nicht, er hat längst sein Testament niedergelegt und sein Haus bestellt. Er hat immer noch etwas zu hinterlassen, trotz seiner maßlosen Herzensgüte. Die selige Mutter, die ihn gar wohl kannte, hat ihm das feierliche Versprechen abgenommen, daß er den Grundstock seines Vermögens unangetastet lassen wolle. Das hat er redlich gehalten, und wo es nicht zureichen wollte, sich damit getröstet, daß er auch mit Hunderttausenden nicht aller Noth abhelfen könnte. Nahe Verwandte hat er nicht. Die Hälfte seines Vermögens hat er zur Unterstützung älterer unverheirateter Frauenzimmer bestimmt, die andere Hälfte zu Legaten vertheilt, und er lacht oft vor innerlichem Vergnügen, wenn er einen der von ihm Bedachten ansieht und denkt: »Aber du wirst Augen machen, wenn ich gestorben bin!« Er kanns manchmal selbst kaum erwarten, bis er die Leute so überrascht, und doch lebt er auch gern. »Der liebe Gott weiß immer noch ein Geschäftchen für mich,« sagt er unverdrossen.
Man hegt aber starken Verdacht, daß das Testament doch noch ungültig werden, und daß Herr Sinner und Fräulein Muz sich noch bleibend associiren könnten. Ich muß deßhalb eilen, um noch diese Perle der Reihe meiner Hagestolzen einzufügen. Was die Welt zu erwarten hätte von einem solchen Bund der Herzensgüte und Heiterkeit in eigener Person, das müssen wir einstweilen geduldig abwarten.
Ein reiches Feld für die Schilderung läge noch vor uns in zahllosen Junggesellen; aber dies würde uns theils in Gebiete führen, deren Darstellung wir gern andern Federn überlassen, theils ist es, aus dem im Eingang angeführten Grunde, der männlichen Verschlossenheit minder zugänglich; auch sind nur die Lichtseiten des Junggesellenlebens mannigfaltig, seine Schattenseiten sind mehr oder minder dieselben.
Lassen wir deßhalb den Gelehrten, der so in sein Wissen vertieft ist, daß er seine Frau vergäße, wenn er eine hätte, ruhig in seiner Studirstube. Der Forscher, der in die geheimen Werkstätten der Natur hinabsteigt und nach ihrem innersten Pulsschlage fühlt, durchziehe die Erde von Süden bis Norden, unbehindert von Weib und Kind. Der Patriot, der getäuscht in seinen theuersten Hoffnungen, in seinem redlichsten Streben, keine Hütten bauen will auf einem Boden, der ihm untergraben dünkt, brüte still in seinem Weltschmerz. Der Priester, dem seine Kirche die Pforte zum Eheglück verschließt, finde in erhabener Entsagung die läuternde Vorbereitung auf die Zeit, wo wir sein werden »wie die Engel Gottes im Himmel.« – Wir wollen und können es nicht hindern, wir wollen nicht einmal fragen, ob nicht sie Alle eine Stunde gehabt, wo sie ihr Haupt gern an ein treues Herz gelegt hätten, wo sie aus tiefster Seele gesprochen: »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei!«