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»Und das ist es nun also, was wir beide hier zustande gebracht haben, Herr Stilling?« fragte Jons. »Daß sie zum zweitenmal die Erde anzünden in einem Menschengeschlecht und unsere Bücher und Weisheiten und Pläne in den Staub treten mit ihren genagelten Stiefeln?«
Er blickte finster auf die Weltkugel, vor der er saß und auf der Stilling das Dorf Sowirog mit einem winzigen roten Stecknadelkopf bezeichnet hatte. Das Fenster war geöffnet, und wenn sie lauschten, konnten sie das ganz ferne Dröhnen von Flugzeuggeschwadern hören, die aus den östlichen Räumen zurückkehrten.
»Nein, Jons«, erwiderte Stilling leise, aber bestimmt. »Das ist es nicht. Aber das ist es, daß hier und woanders und auf der ganzen Erde zwei Menschen zusammensitzen und danach fragen können. Daß nicht alle marschieren und jubeln und lärmen wie die Berauschten, sondern daß überall ein paar Stille da sind, viele Stille, die nicht teilhaben am Lärm und am Blut. Das ist es, was wir beide hier zustande gebracht haben, Jons. Es wird dir wenig erscheinen, aber mir scheint es viel, denn ich bin ein alter Mann, der gerne sehen möchte, daß etwas übrigbleibt von seinem langen Leben, und ich sehe, daß du und dieses Dorf in den Krieg wie in ein Gericht gehst statt wie in ein Fest, und das ist ein Trost für meine weißen Haare.«
Der Monat war vorübergegangen, die Uhr holte zum Schlagen aus, aber das Dorf sprach nicht von dem, was kommen würde, sondern nur von dem, was gewesen war: von dem Erntefest, das der Herr von Balk ihnen auf der Insel ausgerichtet hatte. Es war, als habe er sie damit gepanzert und gefeit gegen alle Plagen der Erde. Auch sie hörten die Flugzeuggeschwader und in den stillen Nächten das leise Dröhnen stählerner Räder, die nach Osten rollten. Auch sie taten es beiseite. Sie wußten, daß es kommen würde, und es bedurfte nicht des Anblicks von Maschlanka, der die Dorfstraße entlanglief und die letzten Nachrichten in die Häuser schrie. Sie schlugen die Türen zu, oder sie ermahnten ihn, rechtzeitig seinen Tornister zu packen, da er ja wohl unter den ersten sein werde, die den polnischen Lanzenreitern an die Kehle springen würden.
Sie wußten vieles, weil ein Dorf viel weiß, das durch die Jahrhunderte gegangen ist. Wie nach jedem Frieden der Haß sich leise weiterfrißt gleich einem Moorfeuer, das unter der Rasendecke schwelt, immer weiter und weiter, bis er plötzlich ausbricht. Wie von den Kanzeln zu den kleinen Leuten gesprochen wird, und die kleinen Leute bewahren es in ihrem Herzen, aber die Gedanken der Großen sind andere Gedanken, und wenn es Zeit ist nach ihrer Meinung, dann haben auch die Kanzeln es auszusprechen, daß es eine gerechte Sache sei und daß Gott die Waffen der Gerechten segnen solle. Und immer fängt es mit den Kränzen für die Stirn des kleinen Mannes an, und immer hört es mit den Kreuzen für den kleinen Mann auf.
Das wußten sie alle, und viele von ihnen hatten es schon einmal am eigenen Leibe erfahren. Und das beste war, den Pflug in die Hände zu nehmen, solange sie es einen tun ließen, und das Sälaken umzubinden und einen Segen über diejenigen zu sprechen, die hinausgehen mußten. Und auch das war gut, sein Leben noch einmal zu bedenken und das größte Unrecht auszulöschen, wie die Witwe Kroll es getan hatte, ehe es über einen kam und man keine Zeit mehr hatte. Wie damals, als die Kirche in Flammen aufging und dann die Häuser und Ställe und Scheunen, und nichts übriggeblieben war als die nackten Schornsteine, die aus den verkohlten Balken in die dunstige Luft stiegen. »Desselbigengleichen, wer auf dem Felde ist«, hatte ihr Pfarrer gesagt, »der wende nicht um nach dem, das hinter ihm ist ... zween werden auf dem Felde sein; einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden ...«
Der Monat war vorübergegangen, die Uhr holte zum Schlagen aus. Und als der Zeiger fiel, nahmen sie auf den Feldern die Mützen ab und falteten die Hände zu einem Vaterunser und holten dann wieder mit den Sensen aus, um den goldenen Hafer zu schneiden. Und die meisten sahen verstohlen zum großen Moor hinüber, wo die alten Eichen standen, ob sie die Gestalt des Gogunsohnes erblicken könnten. Denn für ihn war es nun wohl Zeit, in die Öde zu gehen, ehe sie ihn noch einmal holten. Und wenn er den Jerominenkel mit sich nähme, so würde es noch besser sein. Es war nicht nötig, daß das Blut des Dorfes für diejenigen floß, die in großen Wagen durch das Land gefahren waren. Es war schon in Friedenszeiten geflossen, oder doch in den Zeiten, die die anderen so genannt hatten. Das Dorf brauchte sein Blut für sich und für den Acker. Es brauchte keine Kränze.
Das Schicksal ist also wieder aufgestanden, oder es scheint den Menschen wenigstens so. Sie haben vergessen, daß sie es geweckt und gerufen haben, seit sieben Jahren oder seit zwanzig Jahren, und wahrscheinlich noch länger. Sie haben geglaubt, daß sie das Recht gerufen haben, oder die Größe, oder einen der anderen Begriffe, die sie durch die Lautsprecher geschickt haben. Aber in Wirklichkeit rufen sie niemals etwas anderes als das Schicksal. Sie wecken es und bereiten es mit ihren eigenen Händen, mit jedem Wort, das sie sprechen, mit jedem Glaubenssatz, den sie verkünden, mit jedem Urteil, das ihre Richter fällen. Es ist nichts, was außen steht wie ein Räuber im Wald und auf seine Stunde wartet. Es wächst auf den Äckern ihrer Zeit, und wie sie es ausgesät haben, so geht es auf. Ein Samenkorn ist nicht mehr zu verwandeln, wenn es in die Erde gelegt ist.
Und es läßt auch nichts aus, nicht einmal das Dorf Sowirog. Denn auch dort ist gesät worden. Man kann klagen über die Art, wie es die Sichel hebt und zuschlägt, aber später, drei oder zehn Jahre später, wird man erkennen, daß es nur das seinige getan hat und daß auch der Tod seine Gnade haben kann.
Der Herr von Balk war in der Kreisstadt gewesen, um zu ordnen, was für das Kommende noch zu ordnen war, und dann hatte er seine Flasche Burgunder getrunken, als die Nachricht gekommen war, daß die Stunde nun geschlagen habe. Sie war nichts Neues für ihn gewesen, und er hatte nur die Lippen verzogen über die Worte, mit denen man sie in die Herzen der Einfältigen schickte. Aber es waren andere Leute in den kleinen Hotelzimmern gewesen, von den Worten berauschte Leute, und sie hatten zu singen begonnen, mit erhobenen Armen und einem verzückten Taumel in ihren Gesichtern. Und einer von ihnen hatte gefragt, ob der Herr wohl kein Deutscher sei.
Herr von Balk hatte zuerst das Glas in das rechte Auge geschoben und den Fragenden von seinem Rockkragen bis zu den Spitzen seiner glänzenden Stiefel angesehen, und dann hatte er mit eisiger Miene geantwortet: »Ein Deutscher wohl, aber kein Idiot.«
Und dann hatte er noch einiges dazugesetzt, was sich nicht gut wiederholen ließ, und war hinausgegangen und in seinen Wagen gestiegen. Es gab nicht viele Leute in der Kreisstadt, die es gewagt hätten, den Herrn von Balk aufzuhalten, wenn er zu seinem Wagen ging, und diese in dem Hotelzimmer gehörten nicht dazu.
Man hätte sagen können, daß es an der Flasche Burgunder gelegen habe. Aber wahrscheinlich war es so, daß der Zorn und der Ekel, so viele Jahre schweigend beherrscht, einmal den Damm durchbrechen mußten, ehe sie ihm die Seele zerfraßen. Daß das Schicksal des Herrn von Balk, an dem er ein langes Leben lächelnd oder gütig oder verächtlich geformt hatte, nun fertig war, reif und nicht mehr veränderlich, und daß es nun seine Hand hob. Das Dorf mochte es ein bejammernswertes Schicksal nennen, und die Leute in der Hotelstube mochten es ein verdientes nennen. Aber es war keines von beiden. Es war ein sich vollendendes, weiter nichts. Und schon ein paar Jahre später erkannten die Leute von Sowirog, daß es auch ein gnädiges gewesen war.
Denn es war dem Herrn von Balk nicht gegeben, unter Knechten leben zu können. Nicht etwa, daß er hatte leben wollen, wie sein Vater noch gelebt hatte, mit der Reitpeitsche in der Hand und wie einer der Satrapen vergangener Zeit. Aber er hatte als ein Herr leben wollen und gelebt. Als ein adliger Bewahrer eines großen Erbes an Feldern, Menschen und Vieh. Niemandem Untertan und niemandes Fronvogt. Nicht einmal dem Wort Untertan, geschweige denn der Phrase oder dem Massenwahn. Ein Auserlesener und Ausgewählter aus altem Blut, mit verschlossenem Herzen und verschlossenem Visier, einer, der den Schild über die kleinen Leute hielt, wie seine Vorfahren die Peitsche oder das Schwert über sie gehalten hatten. Und da die Zeit für die Herren erfüllt war, so war auch das Schicksal nichts anderes als ein Spiegel oder Vollender der Zeit, und es war barmherzig, wie alle Vollendung barmherzig ist.
Es war niemand in der Nähe gewesen als der alte Gärtner, der vor der Terrasse die ersten welken Blätter zusammenfegte. Er war verstört, wie alte Leute es sind, wenn Hagel in ihren behüteten Garten schlägt, aber soviel war seinen Reden doch zu entnehmen gewesen, daß in der Morgenfrühe ein Wagen vor dem Schloß gehalten hätte und daß zwei Männer um das Haus herum in den Park gekommen und über die Terrassenstufen in die Bibliothek gegangen waren. Gewöhnliche Männer, sagte er, nur daß sie ihn angesehen hätten, als stehle er Obst in einem fremden Garten.
Dann hatte er die Stimme des gnädigen Herrn gehört, eine scharfe, kalte und zornige Stimme, wie er sie haben konnte, wenn ein Pferd geschlagen wurde, und dann waren Schüsse gefallen, zwei oder drei oder vier, und dann war es still gewesen. Die Knie hatten ihm gezittert, und er hatte sich eine Weile auf seinen Hackenstiel stützen müssen, ehe er die Stufen hinaufgegangen war. Und da hätte der gnädige Herr auf einem roten Teppich gelegen und vor ihm die beiden fremden Männer, und ein anderer, ein dritter hatte dahintergestanden, und er war wahrscheinlich von der anderen Seite in die Bibliothek gekommen, denn die Tür hatte noch offengestanden, die in die Halle führte.
»Mörder!« hatte der Gärtner gerufen. »Zu Hilfe! Mörder!« Und dann hatte der dritte Mann die Pistole gegen ihn gehoben und war schnell hinausgegangen, und er hatte den Wagen vom Hof fahren hören. Und nach einer halben Stunde waren zwei Wagen gekommen, hatten die beiden fremden toten Männer mitgenommen und waren wieder verschwunden. Zu des gnädigen Herrn Füßen aber hatte ein roter Zettel gelegen, ein Haftbefehl, und den hatte er heimlich aufgehoben und in die Tasche gesteckt.
Als Jons und die ersten Leute von Sowirog kamen, lag der Herr von Balk noch immer auf dem roten Teppich, lang und gerade und still wie ein Schlafender. Sie hatten ihm die Augen zugedrückt und die Hände über die Brust zusammengelegt, aber sie hatten die Pistole nicht aus seinen Fingern lösen können, und so lag sie nun bläulich schimmernd auf seiner Brust, wie in früheren Zeiten ein Buch oder ein Schwert auf solchen Toten gelegen hatte. Seine Lippen schienen zu lächeln, und von der Seite, die im Schatten lag, sah es so aus, als sei es ein kühles, spöttisches und durchaus überlegenes Lächeln.
Die tödliche Kugel war von hinten durch seinen Nacken gegangen.
Niemand sprach ein Wort, nur die Mädchen weinten leise vor sich hin.
Jons gab im Nebenzimmer ein Telegramm an den Vetter auf, der am Rand der Lüneburger Heide lebte, und rief die Staatsanwaltschaft an. Dann sprach er ein paar Minuten mit dem Oberinspektor, und dann war vorläufig nichts zu tun. Er stand noch eine Minute vor dem Kamin, in dem die weiße Birkenasche lag, und beugte sich über das geöffnete Buch auf dem kleinen, runden Tisch. Es war der »Schüdderump« von Wilhelm Raabe.
»Kommt nun«, sagte er leise zu den Leuten von Sowirog und sah sich noch einmal um.
Die Morgensonne schien auf die Bücherrücken über dem Kamin und erreichte eben die silbernen Stäbe des Käfigs. Der alte Papagei bewegte sich und blickte mit seinen starren, verschleierten Augen auf den Toten und die vielen fremden Menschen. »Otto«, sagte er heiser und verschlafen, »sei doch nicht komisch ...«
Aber der Herr von Balk war allen Bezirken des Komischen schon weit entrückt.
Langsam ging Jons den sandigen Weg nach Sowirog zurück. Auf der Höhe, wo sie damals gestanden hatten, blieb er noch einmal stehen und sah sich um. Hier hatte der Herr von Balk von der schwankenden Erde gesprochen. Die Mähmaschinen gingen durch die letzten Haferfelder, und vor dem blauen Rand der Wälder wurde schon die Stoppel gepflügt. Tau lag auf den Gräsern, und hier und da war eine der Birken schon mit Gold bedeckt. Der Wachtelkönig rief nicht mehr. Das Jahr ging zu Ende, die große Erde hatte das ihrige getan.
Jons wandte sich zur Seite und sah in der Ferne das Dorf liegen, mit dem stumpfen hölzernen Turm der Kirche. Rauch stand über den Schornsteinen, und Piontek trieb die Herde aus. Da waren sie nun, Menschen, Tiere und Häuser, für die er zu sorgen hatte. Er jetzt ganz allein. Es bedurfte keines Testamentes. Er wußte, daß der Tote es nun in seine Hände gelegt hatte. Und er wollte gehorchen. Ohne Widerspruch und ohne Angst. Auch sein Schicksal war nun gekommen. Es ließ niemanden aus.
Aber für das Dorf war es doch, als hätte ein Schlag vor die Stirn es betäubt. Immer, so lange es denken konnte, war es gewesen, als wäre es durch den Herrn von Balk angeknüpft an das, was sie die Vorsehung nannten. Er war die Mauer, die zwischen ihnen und den Großen stand. Er war der Schild, der sie vor der Willkür behütete, vor der Rechtlosigkeit, vor der Gewalt. Von seinen grauen Augen über dem Sattel war soviel Trost ausgegangen, soviel Ruhe, soviel lächelnder Spott über den Lärm der Welt. Nun waren sie nichts als die kleinen Leute, die man wieder vor den Pflug spannen konnte, die man leben und sterben heißen konnte, wie man wollte. Nun war nur noch Jons Ehrenreich da und sie selbst. Der Wegweiser im Wald hatte mit seinem grauen Arm auf sie gewiesen, und da standen sie nun, zusammengedrängt wie vor einer Wagenburg, und warteten.
Der Herr von Balk war in dem großen Ahnensaal aufgebahrt, wo die alten Bilder von den Wänden blickten. Schmale, harte Gesichter über Harnisch oder Halskrause, und die Frauen sahen aus, als hätten sie sich hierher nur verirrt. Die hohen Fenster waren weit geöffnet, und auch der Rasen des Parkes war erfüllt von einer schwarzen, schweigenden Menge.
Das erste, was Jons beim Eintreten erblickte, waren zwei unfeierlich gekleidete Männer, die an der hinteren Tür standen, nicht ganz so sicher, wie sie sich auszusehen bemühten, und ab und zu mit einem geflüsterten Wort sich verständigend.
Er ging sofort auf sie zu und sagte leise, daß er ihnen wohl den Rat geben dürfe, diesen Raum und dieses Haus sofort zu verlassen. Er könne sich für keinen der Hunderte verbürgen, die hierhergekommen seien, nicht einmal dafür, daß nicht viele von ihnen eine Waffe unter dem Rock trügen. An dieser Landschaft und ihren Menschen sei nun genug getan worden, und wenn sie sich die Gesichter ansähen, würden sie vielleicht bemerken, daß hier einiges auf des Messers Schneide stände.
Die beiden versuchten gelassen und hochmütig auszusehen, aber dann zuckten sie doch die Achseln und drückten sich langsam aus der Tür. Ob er sich verbürge, daß hier kein unziemliches Wort gesprochen werde, fragte der eine noch.
Er verbürge sich für gar nichts, erwiderte Jons kalt, und was ziemlich oder unziemlich sei, wisse man in solchen Häusern etwas besser als anderswo.
Tobias stand zwischen den hohen Wachskerzen und sprach über das Wort des Propheten Jesaja: »Aber deine Toten werden leben, meine Leichname werden auferstehen. Wacht auf und rühmt, die ihr liegt unter der Erde! Denn dein Tau ist ein Tau des grünen Feldes; aber das Land der Toten wirst du stürzen.«
Er sprach nichts »Unziemliches«. Er klagte nicht an. Er sagte nur, daß ein Edelmann von ihnen gegangen sei und daß sie alle nun edler werden müßten, um das Verlorene nicht ganz zu verlieren. Vielleicht habe der Tote Gott nicht gesehen, aber Gott habe ihn gesehen, ja, er habe ihn nicht aus den Augen gelassen. Nur die Menschen verdammten den, der Gott nicht sehe, aber Christus habe die Menschen nicht gelehrt zu verdammen. Der halte nicht Christi Hand, der zu seinem Bruder sage: »Du Narr!« Und wenn der Tote nicht Gott gesehen habe, so habe er doch die Herzen der kleinen Leute gesehen. Er habe ihm nur einen anderen Namen gegeben, nichts weiter. Er sei ein Tau des grünen Feldes gewesen. Er sei abgewischt worden vom Felde, aber die Wurzeln der Gräser würden ihn bewahren für lange Zeit. Und sie selbst, die Menschen dieses Hauses und die Menschen von Sowirog, sollten nicht weniger sein als die Wurzeln der Gräser. »Einer wird angenommen werden, einer wird verlassen werden«, schloß er. »Aber wenige werden so angenommen werden wie dieser.«
Sie gingen langsam zurück, über die herbstlichen Felder, die Höhe hinauf und wieder hinunter. Ein langer, schwarzer, schweigender Zug. Die Glocken von Sowirog läuteten noch immer und übertönten den fernen Lärm der Flugzeuge, die nach Osten flogen. Die Sonne sank schon, und viele von ihnen sahen nach der rötlich beglänzten Insel, wo der Tote ihnen das letzte Fest ausgerichtet hatte. Es schien ihnen, als habe er alles vorausgewußt und als habe er die Tür weit aufgemacht, um das Schicksal eintreten zu lassen.
Jons ging allein. Er hatte der Gräfin gedankt, die ihn in ihren Wagen hatte nehmen wollen, und auch der Frau von Bohnen, die mit ihrem Mädchen gekommen war. »Sie denken nun, daß Sie allein sind, Jeromin«, hatte die Gräfin gesagt. »Aber Sie sind nicht allein. Es ist ein Irrtum, zu meinen, daß die Toten fortgehen. Keiner geht weniger fort als die Toten. Viel eher die Lebendigen. Stehen Sie nun zwischen den Toten, Jeromin, damit die Lebenden Sie sehen können!«
Jons trug einen versiegelten Brief in der Tasche, den man unter den Papieren des Toten gefunden hatte. Aber er wollte ihn nicht öffnen, noch lange nicht. Der Tote war nicht so weit fort, daß er ihm zu schreiben brauchte. Er hatte den Klang seiner Stimme noch im Ohr: »Aufrecht, Jons!« hatte sie gesagt, und mehr konnte auch in einem versiegelten Brief nicht stehen. Die Hüfte war eingerenkt, wie Kiewitt es vorausgesagt hatte, und nun mochte Gott wohl noch manches mit ihm im Sinne haben.
Die erste leise Dämmerung fiel, als er in das Dorf kam. Die Leute standen noch auf der Straße zusammen, wie sie gegangen waren, und blickten mit abweisenden Augen auf die ersten Panzer, die den Weg nach Sowirog gefunden hatten. Das war das Tier, das aus dem Meer aufgestanden war, das gehörnte Tier. Für sie war es nichts anderes, und die Kanonen, die drohend in die Höhe ragten, waren für sie das Zeichen, das Gott dem Tiere gegeben hatte.
Die jungen Leute, die in den Luken standen, lachten ihnen zu, stolz und der Macht gewiß, die sich auf stählernen Raupen unter ihnen unaufhaltsam bewegte. Aber die Leute von Sowirog verzogen keine Miene. Es war ihnen nicht zum Lachen zumute. Und so verstummten die Scherzworte langsam, und die jungen Sieger meinten gekränkt und geringschätzig, daß sie in ein Dorf von Wilden gekommen seien, abseits der aufbrechenden Welt, und manche meinten, daß es ebensogut schon ein polnisches Dorf sein könnte und sie ihre Kanonen ruhig zum erstenmal auf diese grauen, feindseligen Hütten richten könnten.
Und wenn sie noch einen Zweifel gehabt hatten, so waren sie ihrer Sache nun gewiß, als ein alter Mann mit Ohrringen und einem Stab mit merkwürdigen Kettengliedern diesen Stab plötzlich hob und über sie hinaus auf einen der dämmernden Hügel wies. Sie sahen noch, daß die Frauen und die Kinder die gefalteten Hände vor die Brust hoben, und dann sahen sie an einem der Ackerraine ein altes, fahles Pferd stehen, abgemagert wie ein Skelett, mit einem weißen Schweif, der bis zur Erde reichte. Es hatte den Kopf erhoben, als ob es wiehern oder schreien wollte, aber es starrte nur regungslos über das Moor hinaus, aus dem die ersten Nebel aufstiegen, als sehe es dort etwas, was sie alle nicht sehen konnten.
Es war ein bißchen unheimlich, wie alles, was hier in der Dämmerung um sie lag oder stand, und zuerst wurden sie still und blickten mit den Leuten von Sowirog auf die seltsame Erscheinung. Aber dann kam ihnen der Übermut und der Leichtsinn und das Berauschende dieser ersten Fahrt gegen den Feind wieder zurück, und einer von ihnen zog seine Pistole und begann auf die fahle Scheibe zu schießen, die dort vor der fernen, dunklen Hecke aufgebaut stand.
Aber nach dem ersten scharfen Knall, der von den Rohrdächern widerhallte, geschah etwas noch Seltsameres. Das Pferd hob sich auf die Hinterläufe, als ob es getroffen wäre oder als ob es sich nur zornig gegen eine fremde Hand bäumte, und während aus seiner Kehle ein heller, drohender und ganz und gar untierischer Schrei ertönte, schoß es mit einem langen Sprung über die niedrige Hecke und jagte dann wie ein Nebelstreif über Stoppeln und Äcker auf das Moor zu. Die Mähne flatterte, der Schweif wehte hinter ihm her, und der Schlag seiner Hufe gab einen eigentümlichen, dumpfen Ton, als jage es über einen hohlen Boden.
So verschwand es in den Nebeln des Moores, dort, wo noch kein Tier einen Pfad gefunden hatte. Es verschwamm mit ihnen, es löste sich in ihnen auf, es war wie ein Teil der fahlen und beglänzten Öde, die sich von dort nach Osten erstreckte.
Und das war das letzte, was die Leute von Sowirog jemals von ihm erblickten.
Sie starrten ihm noch nach, als die Panzer schon dröhnend aus dem Dorfe rollten. Der helle Staub blieb wie eine Wand hinter ihnen stehen, und hinter dieser Wand würde es nun vor sich gehen, das Unbekannte, das nicht zu Wissende, das mit Blut gesäumt wurde.
Die Leute von Sowirog seufzten einmal auf, Männer, Frauen und Kinder, und dann drehten sie sich um. Sie wußten, daß sie keinen Engel vor ihren Türen erblicken würden, dessen Silberflügel im Abendrot leuchteten. Und sie sahen ihn auch nicht. Aber auf der Schwelle des Bojarhauses sahen sie Jons Ehrenreich stehen, und er hielt das Enkelkind der Witwe Bojar auf der linken Schulter. Er hatte die nackten, schmutzigen Füße des Kindes in seine Hände genommen und blickte den Panzern nach. Er lächelte nicht, und er hatte auch kein Gesicht wie der Erzengel Michael. Aber als er nun die Augen zurückwendete, zu den Leuten von Sowirog, war es ihnen doch, als habe wenigstens der Fittich eines Engels ihn gestreift, so hell und still und ruhig stand sein Gesicht über ihnen. Er sagte nichts, er sah sie nur an, eines nach dem andern, Männer, Frauen und Kinder, und sie wußten nun, daß alles gut war. Nicht so gut, wie die Menschen es sich bei diesem Wort zu erhoffen pflegten, aber er würde bei ihnen bleiben, ganz und gar einer der Ihrigen, das Klügste und Beste auf der Welt, das sie kannten, und damit eben war es gut.
Das Kind hielt an einer Schnur ein Spielzeug in der Hand, eine schmutzige, ehemals helle Kugel, mit einem verblichenen Kranz von Blumen, der um die Rundung lief. Es bewegte langsam die müdegespielte Hand, und die Kugel schwang an der hellen Schnur langsam hin und her. Es sah aus wie ein Perpendikel, der vor Jons Ehrenreichs Herzen schweigend auf und nieder glitt.