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III

Es waren die großen Ferien, denn zu Ostern war er in der Stadt geblieben. Das Anatomische Institut war umgeräumt und neu geordnet worden, und es war ihm gelungen, einen der Helferposten zu bekommen. Er verdiente etwas Geld damit, ein paar alte Präparate, ein paar zerlesene Bände, und einmal war der alte Geheimrat bei ihm stehengeblieben, hatte nach seiner Arbeit und seinem Zuhause gefragt und dann eine Weile aus den bestaubten Fenstern gesehen. »Auch bei uns gibt es Kärrner«, hatte er dann gesagt, »aber ich sehe Ihnen schon ein paar Wochen zu. Es gibt nicht viele, denen ich gern zusehe, und einmal wird Ihr Dorf Freude an Ihnen haben ... wie heißt es doch ... Sowa ...«

»Sowirog, Herr Geheimrat.«

»Sowirog, ja ... alles slawische Namen ... und was bedeutet es?«

»Der Eulenwinkel, Herr Geheimrat.«

»Der Eulenwinkel, ja ... dort wird keiner von diesen jungen Herren hingehen ... Sie werden allein sein dort, Jeromin, allein mit Ihrer Kunst und Ihrem Gewissen. Denn das gibt es wohl dort noch, ein Gewissen, nicht wahr?«

»Ja, das gibt es, Herr Geheimrat.«

Dann nickte der alte Mann ihm unmerklich zu und ging mit seinem schweren, schleppenden Gang in den nächsten Raum, wo das Gelächter der Helfer plötzlich verstummte.

An dieses Gespräch dachte Jons, als er am Waldrand stand und auf Kiewitts Acker blickte. Er hatte sich nicht angemeldet und war zu Fuß gekommen. In der Erntezeit gab es keine Fuhrwerke in Sowirog.

Er stand eine Weile, auf seinen Stock gestützt, und sah zu, wie Kiewitt die mageren Korngarben auflud. Das weiße Pferd drehte den Kopf und sah ihm entgegen. Es war wachsamer als ein Schäferhund.

Ja, das gibt es hier noch, dachte Jons, und das wird es wohl noch eine Weile geben ...

Niemand war da, der Kiewitt hätte helfen können, aber er lud die Garben so sauber auf, daß er auch keiner Hilfe bedurfte. Er konnte alles allein, Kochen, Säen und Pflügen, und sicherlich würde er auch allein sterben können.

Aber Jons ging doch schnell über das Feld. »Soll ich hinauf aufs Fuder, Kiewitt?« fragte er. »Ich will schon ordentlich laden.«

Kiewitt zuckte einmal mit der Schulter, denn er hatte ihn nicht kommen hören, aber dann schüttelte er den Kopf und lehnte sich an die lange Gabel. »Der Herr Student«, sagte er und sah ihn nachdenklich an. »Hat Gott sie eingerenkt, Jons?«

»Ich denke, ja«, erwiderte Jons, »und er hat wohl auch mehr zu tun, als sich um meine Hüfte zu kümmern.«

Kiewitt ließ die hellen Augen einmal über seinen Acker und dann in der Richtung des Meilers gehen. »Viel hat er zu tun«, sagte er. »Siehe, er kommt mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen, und die ihn gestochen haben; und werden heulen alle Geschlechter der Erde. Ja, Amen.«

Jons wußte nicht recht, was er erwidern sollte. Die Sonne schien über das warme Feld, und vom See hörte man den Schrei des Adlers. Es kam etwas unerwartet über ihn, dieses »Donnerwort« aus Kiewitts Munde.

»Das ist aus der Offenbarung?« fragte er zaghaft.

Kiewitt nickte. »Nein«, sagte er dann. »Laß es nur sein, Jons. Ich werde auch so fertig. Sie warten auf dich ... kannst du es nun schon, helfen und heilen?«

»Ich fange an, Kiewitt, ganz von vorne. Es dauert lange Zeit, viele Jahre.«

Kiewitt nickte noch einmal und stach dann langsam die Gabel in die nächste Garbe. Die Sonne neigte sich schon. Aber bevor Jons ging, rief er ihn noch einmal an und deutete auf den Meiler. »Es steht kein Rauch mehr über dem Wald«, sagte er, »aber vergiß es doch nicht, Jons ... auch dies steht geschrieben: ›Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem verborgenen Manna, und will ihm geben einen weißen Stein und auf dem Stein einen neuen Namen geschrieben, welchen niemand kennt, denn der ihn empfahet.‹«

Und dann legte er die nächste Garbe auf den Wagen.

Nein, Jons vergaß es nicht. Nicht den Meiler und nicht Herrn Stilling, nicht Korsanke und den alten Piontek, die Lebenden nicht und die Toten nicht. Es war ihm, als sei er länger fortgewesen als während des Krieges, aber als sei es nun eine bessere Heimkehr.

»Jeromin ... Jeromin, hilf mir, meine Zunge ist jrien ...«, sangen die Kinder auf der Dorfstraße. Sie hatten Hasenklee gekaut und zeigten ihren grünen Mund. Dann lächelte Jons wie in Kinderzeiten, zupfte sie an den weißblonden Haaren und dachte, das seien nun die ersten Patienten, die nach ihm verlangten. Aber sie wollten nicht sagen, von wem die ungeschickten Verse stammten, und Jons war auch ohnedies sicher, daß die fröhliche Barbara die Urheberin war.

Die ersten Tage, bevor er wieder zu arbeiten begann, war er wie in einem Zauber. Von der frühen Morgenstunde an, wenn das Rindenhorn des alten Piontek ihn weckte, bis zur Nacht, wenn der rote Mond über den Giebeln stand und die Fledermäuse lautlos um den Ahorn glitten. Es war nicht nur dies, daß er wieder zu Hause war; daß die Kammer, in der er schlief und lebte, ebenso gebaut war wie die, in der sie als Kinder gelebt hatten; daß Steine und Straßen versunken waren. Es war dies, daß er nicht mehr allein war. Daß er wieder hineingeflochten war in das Schicksal des Dorfes, ein kleines Schicksal, aber es ging ihn an. Die Kuh bei Gina Bojar, die an Blutnetzen erkrankte, ging ihn an. Die Eiterung an Pionteks Hand, die er mit einem Messerschnitt öffnete, ging ihn an. Stillings Zahlentabellen und Korsankes leiser Schmerz. Das Gewitter, das über der Haferernte heraufzog, und das Feuer am Moorrand, das sie mit Spaten und Löscheimern bis in die Nacht bekämpften. Es war nicht zu glauben, wieviel in einem so kleinen Dorfe geschah. Und alles geschah auch ihm, und viele glaubten, daß nur er allein helfen könnte. Die Hochachtung vor aller Wissenschaft war tief in ihre gläubigen Herzen gesenkt.

Er war zur Meilerhütte gegangen, noch bevor er das Dorf betreten hatte, und die Mutter hatte auf der Schwelle gestanden und ihm entgegengesehen. Wieder war der Zug einer leisen Angst in ihrem Gesicht gewesen, der ihn beim Abschied so ergriffen hatte. Sie hatte nicht viel gesprochen, und ihre Stimme war ganz leise geworden, wie die eines Menschen, der von Geistern umgeben ist. »Bist du gesund, Jons?« hatte sie gefragt. Und: »Bleibst du lange, Jons?« Das war alles gewesen. Aber zum Abschied war ihre harte, kalte Hand einmal über seine Wange geglitten, wo sie ihn damals geschlagen hatte, scheu und wie aus Versehen, und sie hatte sie gleich wieder zurückgezogen. »Gehe nun zu den Deinigen, Jons«, hatte sie gesagt. »Sie warten auf dich.« Und ehe er etwas hatte sagen können, war sie zurückgetreten und hatte leise die Tür hinter sich geschlossen.

Und er hatte eine lange Weile am Waldrand stehen müssen, ehe er imstande gewesen war, zu den »Seinigen« zu gehen. Und auf dem Stein einen neuen Namen geschrieben ..., dachte er. Ja, sie wußten wohl alle nicht, daß Kiewitt der Klügste von ihnen war. Und nicht nur, weil er noch einmal getauft worden war.

Er hatte auch bei Stilling gesessen, und hier hatte er am tiefsten das Bewußtsein der Zeit verloren. Er rührte mit der Hand leise die Weltkugel an, bis die Festländer und Meere sich lautlos zu drehen begannen. »War das nicht gestern, Herr Stilling«, fragte er leise, »als ich noch hier saß und die schönen amerikanischen Namen lernte? Minnesota und Minnehaha?« Und der alte Lehrer blickte mit ihm auf die langsam kreisende Erde, an deren einem nie zu wissenden Punkt der verlorene Sohn nun wandern oder schlafen mochte, und nickte seinem Schüler zu. »Alles war gestern, Jons Ehrenreich«, sagte er, »und auch morgen wird schon alles ›gestern‹ sein. Aber du hast für das ›Morgen‹ zu leben, Jons Ehrenreich, du ganz besonders, und das sollst du nie vergessen.«

Und dann fragte er nach der Mark, und Jons beruhigte ihn. »Daß die Ärzte sich um die Mark kümmern, glaube ich schon«, sagte er, »aber die Medizin kümmert sich nicht um sie. Auch für sie wird das einmal ›gestern‹ sein.«

Aber Stilling schüttelte weiter den Kopf und blickte auf die kreisende Erde, als ziehe sie alles Ersparte der Welt mit sich und lasse es hinter der Krümmung der Kugel ins Bodenlose stürzen.

Dann kam Elisa herein und betrachtete ihn mit der milden Nachsicht, die sie für »geistige Arbeiter« übrig hatte. »Ist es wahr«, fragte sie, »daß ihr dort einen Polizeipräsidenten habt, der ein Roter ist und früher ein Maurergeselle war?«

Ja, das sei wahr, erwiderte Jons lächelnd, und er sei nicht schlechter als die Herren von und zu, die sie früher gehabt hätten.

»Aber ein Auge soll er nur haben«, sagte Elisa mit nüchterner Kälte. »Das andere hat Gott ihm genommen für seinen Unglauben.« Und sie sah ihn prüfend an, ob er selbst noch beide Augen habe, oder ob eines schon im Begriff sei, zu erblinden.

»Du bist eine Närrin, Elisa«, sagte Stilling milde.

Aber sie hob drohend die Hand mit der Stricknadel und deutete mit der grauen Spitze auf sie beide. »Wer aber zu seinem Bruder sagt: ›Du Narr!‹ der ist des höllischen Feuers schuldig«, sagte sie, und es war, als verurteile sie beide zum Tode.

Stilling lächelte nur, aber Jons hielt die Stricknadel scherzend fest und meinte: »Sie kennen die Bibel so gut wie mein Vater, Tante Elisa. Nur daß er die anderen Worte sagte, die guten und die tröstenden.«

»Er war ein Jeromin«, erwiderte sie ungerührt, »und auch du wirst nicht anders werden. Auch wenn du Ehrenreich heißt.«

Er hatte auch beim Herrn von Balk gesessen, vor dem Kamin, und auch hier hatte er gemeint, daß es keine Zeit gebe. Zeit gab es wohl nur in den Städten, wo die Erde nicht mehr war. Die langen Bücherreihen schimmerten im Schein des Feuers, und der Papagei rührte sich leise in seinem vergoldeten Käfig. »Allons, enfants ...« sagte er mit seiner heiseren, verschlafenen Stimme.

»Ist das neu?« fragte Jons lächelnd.

»Ganz neu«, erwiderte Balk. »Wußtest du nicht, daß sie mich den ›roten Balk‹ nennen? Meine Standesgenossen?«

Nein, das wußte Jons nicht, und er glaube auch nicht ganz, daß das wahr sei.

Er auch nicht, meinte Balk. Aber für manche Leute sei derjenige schon rot, der einen Stock statt einer Reitpeitsche trage. »Die neue Zeit, Jons«, sagte er. »Auch zu uns ist sie gekommen. Unglaublich, wo sie überall hinfindet. Sogar in den Eulenwinkel!«

Aber er habe noch nichts davon bemerkt, erwiderte Jons.

»Medizineraugen fangen erst beim Mikroskop an«, sagte Balk spöttisch. »Sieh dir euren neuen Pestalozzi an! Das ist der Keimträger der neuen Kulturen. Landschullehrer waren immer Keimträger, so oder so. War hier und beschwerte sich, daß die Kinder beim Kartoffelsetzen helfen müssen. Sei eine Mißachtung des Geistes, meinte er. Eine Versklavung der Unmündigen. Konnte schöne Sätze sagen, Des-dur mit Pedal. Fragte ihn, ob er lieber Kartoffeln oder Unmündige zum Abendbrot esse. Zog die roten Augenbrauen hoch, als ob ich vom Monde gefallen wäre, ihm gerade vor die Füße.«

»Und wie ging es aus?« fragte Jons belustigt.

» Es ging nicht aus«, erwiderte Balk, »sondern er ging aus. Der Papagei nämlich. Muß ihm etwas verdächtig vorgekommen sein, denn plötzlich saß er auf dem Pestalozzihaupt und flog mit der Perücke davon. Hatte es selbst kaum bemerkt. War alles so glatt an dem Burschen, daß auch dies in einem hinging. War eine große Jagd, weil er auf der Platonbüste saß mit seinem Raube. Hielt ihn wahrscheinlich für eine Platonische ›Idee‹. Rief den ganzen Hof zu Hilfe. Zeugen machen so etwas lustiger. Er stand wie ein kochender Seehund dabei. Mit abgekrümelter Würde. Tröstete ihn, daß Papageien unmündig seien, gerade so wie Kinder. Schließlich überreichten wir sie ihm wieder, etwas derangiert. Stülpte sie auf und schoß wie ein Bolzen aus der Bibliothek. Die Leute grinsten, und der Papagei kreischte natürlich ›Idiot!‹ Findet immer das Passende ... Ist nie wiedergekommen.«

Jons lachte, und Herrn von Balk fiel es plötzlich ein, daß er ihn lange nicht lachen gesehen hatte, Jahre wahrscheinlich.

»Aber die anderen«, fragte Jons, »Daida und Gonschor, und das Dorf eben, nennt man sie auch die ›Roten‹?«

Herr von Balk zog die Augenbrauen hoch. »Immer gemeint, daß Studium ein gefährliches Handwerk ist«, sagte er. »Ärzte sollen nicht farbenblind sein. Noch nicht gewußt, Jons, daß die Armut grau ist? Begehrlichkeit ist rot, und Dummheit ist schwarz, aber die Armut, mein Freund, war immer grau, und das wird auch die Farbe in Sowirog bleiben. Nein, der Volksbeglücker und sein Freund Czwallinna sind vorläufig die einzigen. Natürlich möchten die anderen eine ganze Menge haben, mehr Lohn und mehr Weide und mehr Hasen, aber sie trauen der Geschichte nicht. Siehst du, der Kaiser ist unabsetzbar für solch ein Dorf. Sie begreifen nicht, daß Leute ihm die Krone nehmen können, Leute, von denen sie nie gehört haben. Sie meinen, daß es da eine Rechenschaft geben wird, wie bei einer Brandstiftung oder einem Pferdediebstahl, und deshalb machen sie das lieber auf eigene Faust, mehr Weide und mehr Hasen zum Beispiel. Das sind sie gewohnt, und das geht im stillen ab. Die anderen reden ihnen zuviel.«

»Und hier, bei Ihnen, Herr von Balk?«

»Ja, hier ist das schon ein bißchen anders. Nicht bei den alten Leuten, aber bei denen, die ein paar Jahre in Gefangenschaft waren. Da hilft denn nichts, als ihnen vom Deputat abziehen, wenn sie streiken wollen. Kartoffeln und Roggen, das sind reale Dinge, realer als Geld. Und schließlich hilft gegen die Phrase nur eines, Jons: das Wort. Das richtige, klare, ruhige Wort. Das ist natürlich immer noch eine Macht. Stärker als Gendarmen. Und das Beispiel, Jons! Czwallinna und der Volksbeglücker geben schlechte Beispiele, und daran scheitert die Färbung hier, die richtige, meine ich, und für die richtige ist es die höchste Zeit in diesem sogenannten Ostelbien.«

Dann fragte Jons noch, ob Herr von Balk es für richtig halte, daß er von nun an während der Ferien in eine Fabrik gehe, um Geld zu verdienen und etwas von der »akademischen Würde« abzustreifen.

Aber Herr von Balk hielt es für ganz und gar falsch. »Das sind so moderne Mätzchen, Jons«, sagte er. »Für das Geld werde ich sorgen, denn Stilling wird bald aufhören damit, wie ich die Entwicklung sehe. Er hat seine Pension und sein Erspartes, aber ich habe Felder und Herden und Wald, und das ist ein gewaltiger Unterschied. Das ist der Lohn der Erde, sozusagen, und der ist unveränderlich. Und das andere ist einfach Unsinn. Würde hast du genug, aber keine akademische, und diese Art von Würde streifst du nicht ab, hoffentlich nicht. Und wer in Sowirog aufgewachsen ist, und dazu im Jeromin-Haus, weiß von Gott und von der Armut so viel, daß die Universitätsprofessoren Deutschlands von ihm lernen können ... aber reiten könntest du wieder ein bißchen mit mir.«

Jons schüttelte den Kopf. »Erstens habe ich zu arbeiten, Herr von Balk«, sagte er, »vom Morgen bis zur Mitternacht. Und dann kommt es mir nicht zu, zu reiten, wenn andere auf Krücken gehen. Ihnen kommt es zu, und Korsanke auch, aber nicht mir.«

Auch bei Piontek hatte Jons gesessen, am Abend, bevor er die Herde eintrieb. Piontek trug noch immer silberne Ohrringe, und seine Hände, mit denen er Pilze auf die Holzkohlen legte, waren wie Baumrinde anzusehen. Er erzählte nicht viel, denn vom Unveränderlichen ist nicht viel zu sagen, aber er war derjenige, der am meisten von allen wissen wollte. Ob die Professoren vierspännnig in die Universität führen und ob sie mit »Gnädiger Herr« angesprochen würden. Ob es wahr sei, daß sie Tote zerschnitten auf großen Tischen und nachher wieder lebendig machten, und dann fehle meistens ein Stück, ein Bein, oder ein Arm, oder gar das Herz. Und ob es wahr sei, daß vor einer Taglöhnersfrau nun jeder aufstehen müsse, wenn sie in ein Theater komme, und sich erst hinsetzen dürfe, wenn sie sich auf ihren Hintern gesetzt habe.

Jons versuchte, ihm seine Arbeit und sein Leben zu erklären, aber es gelang ihm nicht recht. Piontek kannte das Dorf und das Moor, die Jahreszeiten und seine Herde. Er kannte den Urgrund der Schöpfung und den Ablauf uralter Gesetze. Aber er konnte sich nicht vorstellen, wie die Menschen dort lebten, wenn sie am Morgen über ihre Schwelle traten, und ein großer Wagen ohne Pferde klirrte an ihnen vorüber. Oder zehntausend Menschen zogen in einem einzigen Zuge durch steinerne Straßen und hielten Stangen in den Händen, und auf den Stangen war etwas zu lesen. Und am wenigsten konnte er begreifen, daß Mädchen neben Jons in den großen Sälen saßen, richtige Mädchen, »mit Kopftüchern und Schürzen«, wie er sagte, und das hielt er für eine richtige Lüge.

»Du flunkerst, Jons«, sagte er und schüttelte mißbilligend seine Ohrringe. »Die olle Baronsche hinterm See, wo mein Schwesterkind im Dienst ist, die soll ja auch eine Menge Schrauben los haben. Spielt auf der Fiedel und raucht Zigarren wie der Herr von Balk. Aber das hat sich noch keiner von ihr zu sagen getraut, daß sie mang das Mannsvolk 'rumgesessen und an Toten 'rumgeschnipselt hat.«

Auch das versuchte Jons ihm zu erklären, aber Piontek lächelte nur listig. »Du hast das von Jakob«, sagte er schließlich wie erleichtert. »Der war ein zuverlässiger Mann, aber manchmal konnte er so Dinge erzählen, daß dir die Augen übergingen. Dann kam es wohl über ihn, der Meiler und der dunkle Wald und daß er mit keinem Menschen sprach als mit sich selbst. Und so kommt es wohl auch über dich, und du weißt es nur nicht.«

Dabei blieb es nun, aber bevor sie das Feuer löschten, nahm der alte Hirt Jons vorsichtig am Arm. Eine Rohrdommel rief im Moorwasser, und Piontek deutete mit seinem weißen Kopf in die Richtung des dumpfen Rufes. Sein Gesicht nahm den geheimnisvollen Ausdruck an, der seine alten Geschichten begleitete, und Jons war es immer, als komme dann plötzlich das tausend Jahre Alte zum Vorschein, das in Großvaters Augen gewesen war und das tief unter dem Sandboden des Dorfes schlief, in den Särgen, die übereinander standen und zu Staub zerfielen.

»Es ist etwas unterwegs, Jons«, sagte Piontek leise, und seine hellgrauen Augen erfüllten sich mit einem fremdartigen Licht. »Sie rufen, wie sie siebzig Jahre nicht gerufen haben, und es bedeutet etwas ...«

»Was soll es bedeuten?« fragte Jons, und auch seine Stimme wurde leise.

Aber Piontek schüttelte den Kopf. »Nur der Herr weiß es«, sagte er einfach.

Und dann stand er auf und trieb die Herde zusammen, und es war, als hätte er Jons ganz und gar vergessen.

Und dann waren die Abende um den großen Herd im Jeromin-Haus, und Maria stand wie früher am Herd, und der kleine Jons und Barbara hörten zu, wie sie das Märchen vom Fischer und seiner Fru erzählte. Und Jons Ehrenreich hörte noch stiller zu als die Kinder. Die Stimme war noch die gleiche, die tiefe, tröstende, mütterliche Stimme wie in seiner Kinderzeit, aber die Augen waren andere geworden, und mitten in den Versen von »Buttje in de See« konnten sie den Bruder anblicken, mit einer verlorenen Zärtlichkeit und einem Gram, der ihm das Herz zusammenpreßte. Und wenn sie den Blick über ihn hinweg zum Fenster wendete, wußte er, daß die unendlichen Ebenen vor ihr lagen, durch die Jumbo und er und der Verschollene marschiert waren. »Liebe Schwester ...«, sagte er ganz leise. Aber sie schüttelte unmerklich den Kopf und fuhr fort, zu erzählen, wie die Frau nun Kaiser geworden war.

War sie aber zurückgekehrt von ihrem abendlichen Gang zum Rand des Moores, hatte sie alles draußen gelassen, was den Bruder bedrücken konnte, und wie eine junge Mutter des Hauses saß sie am Tisch, wo Jakob gesessen hatte, oder am Spinnrocken. »Erzähle, Jons«, sagte sie. »Von den Professoren und vom schwarzen Fräulein. Von den Streiks und vom Schuster. Alles vom Leben und Sterben ...«

Erdmuthe kauerte vor der Herdflamme, immer noch wie ein verflogener Vogel, und das Mädchen aus dem Nachbardorf hatte die Hände im Schoß gefaltet, über ihrem Strickzeug, lehnte den Kopf an die Wand hinter sich und blickte mit weit offenen Augen auf die rötlichen Lichter, die über die Balkendecke glitten. Wahrscheinlich sah sie die Insel im See oder das »Paradies«, und wahrscheinlich hörte sie das Lied der Flöte, das Menschen und Tiere bezaubert hatte. Und nicht zuletzt ihr eigenes Herz.

Und in der dunkelsten Ecke saß Christean, die Krücken neben sich, und blickte heimlich auf Jons, als hätte er ihn seit zehn Jahren nicht gesehen. Von allen Menschen des Dorfes war Christean der scheueste geworden, und er stand vor seinem Bruder, als trüge dieser schon den Lorbeer des Berufes um seine Stirn, indes er selbst am Boden kauerte, mit durchschnittenen Sehnen, und nichts erwartete als den Hohn aller Sieger.

Es traf Jons wie ein unverdientes Gericht, und er fühlte den schweren Preis, um den man sich über seine Brüder erhob.

Erst am dritten Tage, als er mit Christean in der kleinen Werkstatt stand, zu der er fast mit Gewalt hatte vordringen müssen, fand er die Brücke zu dessen hilflosem Herzen. Er erkannte sofort, daß in dem kleinen sauberen Raum etwas geschehen war, was nur aus Einsamkeit und Schmerz hatte geboren werden können: daß alles Spielerische und Kindliche aus seiner Kunst verschwunden war und daß die wahre Schöpfung sich abzuzeichnen begann, der Sieg über das tote Holz, die Beseelung des Leblosen zu einem neuen, höheren Leben. Da war eine Büste des Vaters, noch nicht vollendet, aber schon aus dem Unvollendeten blickte Jons die Ewigkeit entgegen. Nicht das Zeitliche des Vaters, wie er es am Meiler gesehen hatte und dann, als er Abschied genommen hatte, um nicht mehr wiederzukehren. Dieses Zeitliche, wie es in der Form und Haltung gelegen hatte, in der Bewegung der Lippen, im Blick der Augen. Sondern eben das Ewige, wie es immer dahinter gestanden hatte, aber sie hatten es nicht erkannt: die ungesprochenen Worte eben, die ungedachten Gedanken, die Verklärung, die hinter den Grenzen der Leiblichkeit gelegen hatte, immer da, immer bereit, aber erst der Tod hatte sie frei gemacht, und erst Christean hatte das Freigemachte erkennen und wieder in die faßliche Form zurückbringen können.

Lange stand er davor, wie vor einem Auferstandenen, und dann erst legte er den Arm um Christeans Schulter. »Du dachtest, lieber Bruder«, sagte er leise, »daß ich vorausgelaufen wäre, schnell und in großen Ehren, und du dachtest, daß es dir zukomme, dich im Dunklen zu verbergen, so lieb du mich hattest. Ja, gerade weil du mich so lieb hattest. Und indessen weißt du nicht, daß du mir so weit voraus bist, daß ich dich niemals einholen werde. Niemals, lieber Bruder. Weil du ein Schöpfer bist und ich ein Handwerker. Denn in einem Jahr werde ich dir jede Faser und jeden Knochen und jede Funktion in diesem Kopf sagen können, aber niemals mehr. Namen und Bilder, nichts mehr. Du aber hast ihn von den Toten auferweckt, was nur Christus gekonnt hat, und du wirst alles auferwecken können, was du in deine Hand und in dem Herz nehmen willst. Du bist nicht gering, lieber Bruder, so daß du dich vor mir verbergen mußt, sondern du bist der Größte aus unserm Hause, und ich bitte dich nur, Nachsicht mit mir zu haben, wenn ich soviel Platz und Zeit für mein Leben brauche.«

Er hatte den Weinenden lange trösten müssen, aber er wußte sehr gut, daß Christean nur vor Glück weinte.

Die Kinder aber lehnten zwischen Jons' Knien und wendeten die glänzenden Augen nicht von seinen Lippen, und wenn er auf Erdmuthens Kind niederblickte, war ihm alles wie ein Traum, und er sah des Bruders Gesicht noch einmal auf die Erde zurückgekehrt, das strenge, ernste, fast finstere Gesicht, für das es keine bestechlichen Worte gab und vor dem das Leben wie ein steiniger und gefährlicher Acker lag.

War er schon alt, daß er hier saß und Geschichten erzählte, Kinder zwischen seinen Knien, aus denen das Gesicht von Toten wie aus einer Dämmerung herausschien? Oder waren es nur das Haus und das Dorf, die ihn einspannen? Aus denen er hervorgegangen war und zu denen er wieder zurückkehren würde? Und am Meiler saß die Mutter, ohne Märchen und Geschichten, und trug ihre Welt zu Grabe ...

Es fröstelte ihn plötzlich zwischen den Schultern, und er sah nach dem Fenster, ob dort jemand stehe. Aber nur die Schwärze der Nacht war hinter den Scheiben, und Barbara fragte, ob da etwas sei.

»Nein«, sagte er, »es ist nichts ... nur die Zeit war da ...«

Aber es blieb nur der letzte Abend zum Geschichtenerzählen. In der Nacht stellte Jons einen seiner »Pläne« zusammen, und damit war das Tagwerk von drei Monaten entschieden. Es begann bei Sonnenaufgang und endete vor Mitternacht, wie in der Stadt. Er hatte die vier Bände der topographischen Anatomie mitgebracht, und zu Beginn des neuen Semesters wollte er sie in sich haben, so daß er nur Blatt um Blatt in seinem Geiste umzuschlagen hatte, um sie vor sich zu haben. Und dann war da ein Grundriß der Botanik, der Zoologie und der Chemie, eine Geschichte der Medizin und seine Notizen aus zwei Semestern.

Er lag in der Kammer, die so gebaut worden war wie die Kinderkammer im abgebrannten Hause. Er sah die Sterne hinter dem Fensterkreuz langsam vorüberziehen, und es war ihm, als hörte er den Atem der Geschwister sanft oder unruhig in dem kleinen Raum. Ja, die Zeit war da, die vor dem Küchenfenster gestanden hatte, und aus dem Erdgeschoß hörte er ganz leise die alte Uhr, deren Pendel diese Zeit zerteilte und maß. Die Bäume warteten, die dunklen Giebel, das schlafende Dorf. Und am meisten wartete der Vater, der soviel stille Sorge um ihn getragen hatte, ob er bleiben würde, ein Gefangener des Dorfes, oder ob er sich aufmachen würde in die große und drohende Welt, um das Licht zu holen für die Armen. Die »Gerechtigkeit auf dem Acker« oder nur den Trost für die Beladenen. Damals, auf der Laubstreu in der Meilerhütte, hatte das Kind es versprochen, und es hatte nichts vergessen, und am allerwenigsten den tiefen Seufzer des Glücks, mit dem der Vater das Versprechen empfangen hatte.

Er lag ganz still und lauschte, wie die Nacht über das Dorf ging. Ein Hund bellte, ganz fern, hinter dem »Paradies«, und die Eulen riefen vom Moorwald. Und ab und zu ging der dumpfe Ruf über die Erde, von dem Piontek gesagt hatte, daß er etwas bedeute. Aber er bedeutete nur, daß eine neue Nacht über das Land gefallen war und daß die Zeit wartete.

Er öffnete seine Hände und schloß sie langsam wieder zu, und es war ihm, als halte er nun alles zwischen ihnen, was sein Leben ausmachen werde: Kraft und Freudigkeit und jenes große Geheimnis, mit dem man das Salz der Erde dämpfen konnte.

Aber es war nun doch anders als in der großen Stadt. Wenn die Sonne aufging und das Dorf und den See aus der Nacht heraushob, hörte er Maria vorsichtig die Herdringe aufheben. Dann ging er leise die Treppe hinunter und saß bei ihr vor dem knisternden Feuer. Sie aßen noch immer den Buchweizenbrei aus ihrer Kinderzeit und das schwarze Brot, und Jons erzählte von Fräulein Holstein und wie sie nun wohl einsam und in verlassener Trauer auf dem Sofa sitzen und an das Ende der Ferien denken würde. Die Schwester konnte so gut zuhören, und mitunter glitt das alte kindliche Lächeln um ihre verhärmten Lippen. »Wir finden immer jemand, der uns gern mag, Jons«, sagte sie. »Und wir kommen doch alle aus einem schweren Hause. Auch der Küster mochte mich gern, auf seine Weise, als ich im Dienst war, und nur ihr Herz habe ich nicht gewinnen können. Es war ein Pfennigherz.«

Einmal, als eine Woche vergangen war und er schon in der Tür stand, um zur Arbeit hinaufzugehen, drehte er sich noch einmal um und sagte leise: »Ist es noch immer so mit dir, liebe Schwester?«

Sie verstand ihn sofort, und er erkannte es an dem fieberhaften Glanz, der in ihre Augen trat. Sie wandte das Gesicht nach dem Fenster, als täten sich draußen nun sofort die weiten Ebenen auf, über die der Verschollene wanderte. »Ich weiß es, Jons«, erwiderte sie mit einer leisen, abwesenden Stimme. »Ich fürchte mich, aber ich weiß es.«

Dann sprach er nie mehr davon.

Bis zur Mittagsstunde blieb er nun in der Kammer, deren Fenster auf den Wald ging und auf eine stille Bucht des Sees. Nur daß er ein oder zweimal für eine Viertelstunde in den kleinen Garten ging, um mit den Kindern zu spielen. Nach dem Essen lag er für eine Stunde am Ufer oder ruderte zur Insel hinüber, wo das Kreuz für den Großvater groß und einsam über dem Wasser stand. Und an jedem Nachmittag, bei Sonnenschein oder Regen, ging er ein paar Stunden durch den Wald oder über das Moor, sammelte Heilkräuter, deren Wissenschaft ihm nun sehr am Herzen zu liegen begann, und brachte heimlich einen Frosch, eine Eidechse, eine Kreuzotter heim, die er ebenso heimlich in den Nachtstunden unter das Messer nahm, bis er jeden Knochen aus dem Gedächtnis aufzeichnen konnte. Er tat es heimlich, weil er nicht wollte, daß die Kinder es wüßten.

Ab und zu fuhr ihm Maria mit der Hand über das Haar. »Ist es nicht zuviel, Jons?« fragte sie. »Hast du nicht zu wenig Schlaf?«

Aber er lächelte. »Ich bin jung«, sagte er, »und nach so vielen Geschlechtern muß einer wachen. Und weißt du, was mein bestes Erbteil ist, Schwester? Ein untrügliches Gedächtnis und ein Hunger, der dort alles aufzeichnet wie in einem Vorratshaus. Der Vater hat es an die Bibel gewendet, und ich muß es nun an den Menschen wenden.«

Aber am schönsten waren die Nachmittage vor dem Sonntag. Dann hatte er wirklich Ferien, auch in seinem Gedächtnis, und wenn er die Treppe herunterkam, standen sie schon in der offenen Haustür mit leuchtenden Gesichtern: der kleine Jons, Barbara, Johannes, der schweigsame Gogunsohn, der seines Vaters unsichtbares Grab gesehen hatte, und manchmal Christean, der in einem kleinen Wagen saß, die Krücken über die Leitern gelehnt, und immer mit der bedrückten Frage, ob er ihnen nicht zu schwer sei. Aber Jons sagte, für die Jerominkinder sei nichts zu schwer, und wenn sie durch das Dorf zogen, standen die Leute in den Türen und erinnerten sich der Zeit, als Christean so zur Schule gefahren wurde, und ihre Gedanken gingen zu den anderen Geschwistern, den Toten und den in einem fernen Glanz oder einer fernen Sünde Lebenden, und sie meinten, daß Jons Ehrenreich ein guter Doktor werden würde, einer mit hilfreichen Händen und einem hilfreichen Herzen.

Sie aber zogen langsam über die sonnige oder schattige Straße nach den Erdbeerhängen und später nach den Himbeeren und dann nach den Brombeeren. Jons und Johannes hielten die Deichsel, das Mädchen lief ein paar Schritte voraus, und der kleine Jons, den sie nun Micha nannten, ging hinter dem Wagen her, eine ernste, schweigsame Nachhut, und seine Augen waren ganz die seines Vaters, als stünde immer rechts oder links des Weges ein Feind unter den Büschen.

Johannes tat nicht viel mehr, als daß er ab und zu mit der Hand in den Wald deutete, und sie erstaunten, wie vertraut ihm alles war. Dort wußte er den Horst der Gabelweihe, hoch in der Fichtenkrone, und dort den des Hühnerhabichts, der der Todfeind des Dorfes war. Dort führte er sie zu dem verborgenen Fuchsbau und wies ihnen die Fährten der jungen Füchse im feuchten Sand. Hier war ein Ameisenbau, und als er die oberste Spreu zur Seite räumte, erschien ein schneeweißes, leuchtendes Gebilde, der Kopf eines Raubvogels, von dem die letzte Spur von Federn und Fleisch abgezehrt worden war. Er wußte, wo die Mandelkrähe brütete, der Wiedehopf, der schwarze Storch. Sein stilles, schmales Gesicht leuchtete, wenn die anderen Freude an seinen Geheimnissen hatten, und seine schwermütigen Augen waren so schön wie die eines treuen Hundes.

Nach den Kranichen fragte Jons ihn nicht.

Dann ließen sie Christean unter einer alten Kiefer, ein Stück Holz und sein Schnitzmesser in den Händen, und begannen die Früchte zu sammeln. Die großen weißen Wolken zogen über den Wald, und wenn Jons sich heimlich aufrichtete, um nach seinen Schützlingen zu sehen, atmete er den Duft der Nadeln und des Harzes ein, und oft war ihm, als sei dies das Glück: mit Kindern Erdbeeren zu sammeln und hinter den rotbeleuchteten Stämmen das Dorf zu wissen, den Abend, das Feuer im Herd, die Zeit hinter dem dunklen Fenster. Aber er wußte, daß am Meiler die Gestalt des Vaters stand, auf die Stange gelehnt, und ihm zunickte. »Es ist nicht genug, Jons«, sagte er, und Jons wußte es.

Dann saßen sie um Christean im Heidekraut, die gefüllten Körbe zwischen sich, aßen ihr schwarzes Brot, tranken die Milch aus der großen, dunkelgrünen Flasche, und manchmal legte Johannes Pilze auf das kleine Feuer und erzählte seine kleinen Geschichten. Von den Irrlichtern im Moor, von der Kröte mit der goldenen Krone, von der Rohrdommel, die eine Hexe gewesen war. Und der schöne, tiefe Aberglaube versunkener Geschlechter stand aus ihnen auf und erfüllte die erste Dämmerung unter den leise rauschenden Wipfeln. Der wilde Fingerhut leuchtete auf den Lichtungen wie eine Zauberpflanze, der Pirol rief noch, der aus dem Paradies verstoßene Vogel, der sein Lied nicht wiederfand und es immer von neuem versuchte, und der Schwarzspecht, der die Springwurzel trug, rief klagend aus den finsteren Gründen.

Dann saßen sie regungslos und lauschten, und über die kindlichen Gesichter ging jeder Ton des großen Waldes mit einer sichtbaren Spur der Spannung, der Angst oder nur der süßen Verzauberung. Barbaras kleine, schmutzige Hand stahl sich ganz leise und heimlich in die von Jons, und an ihrem Handgelenk konnte er den Schlag des kleinen Herzens spüren. Eine unendliche Zärtlichkeit erfüllte ihn, zu diesen Kindern seines Blutes und seiner Erde, zu dem schweigenden Wald und der Weite des großen, östlichen Himmels, zu dem Leben, das in seiner Hand schlug, zu allem Lehen, das er behüten und retten wollte. Und wenn sie aufbrechen mußten, rief er sie leise dazu auf, und leise zogen sie aus dem Walde, bis das große brennende Abendrot über dem Dorfe sie wieder tröstend umfing.

Am schönsten aber, am »allerschönsten«, wie Barbara sagte, war es, wenn sie einmal im Monat auf die Krebsjagd gingen. Dann hatte Johannes alle Fugen in dem großen grauen Kahn gedichtet und den Boden mit Kalmus bestreut, hatte kleine Weißfische und Frösche gefangen, deren Fleisch unter Wasser weißlich leuchten sollte, die kleinen Fangnetze nachgesehen und die an einem Ende aufgespaltenen Haselnußstöcke zusammengelegt, an denen der Köder befestigt wurde. Dann wurde Christean in das Boot getragen, und während die Frauen ihnen vom Ufer nachblickten, fuhren sie ab.

Hinter der Insel stiegen sie ans Ufer, alle nun fiebernd vor Aufregung, und Christean steuerte das Boot langsam in das schwarze Fließ, das düster und fast ohne Bewegung unter Erlenwipfeln dahinfloß und wo in schwarzen Höhlungen und unter grauen Wurzeln die Krebse wohnten. Hier war eine fahle, geheimnisvolle Landschaft, Ausläufer des Moores mit Hügeln, auf denen alte Eichen wuchsen; Binsenwälder, deren Halme sich immer unheimlich rührten, von unsichtbarem Getier, das verstohlen an sie streifte; Rohrweihen, die niedrig und lautlos über die Schilfhalme glitten, und Kraniche, die sich plötzlich mit tönendem Schrei bläulich aus der Rohrinsel hoben. Von den grauen Wipfelästen der Eichen schwang sich der Schreiadler oder der Wanderfalke ab, mit klagendem Ruf, der wie aus einem anderen Himmel herabfiel, und die Kinder standen atemlos, mit ihren Netzen und Fangstöcken beladen, und nahmen mit großen Augen diese fremde, gefährliche Landschaft in sich auf, die wie ein anderer Erdteil war, und selbst der Ruf des Wiedehopfes, der sie doch jeden Morgen weckte, klang hier wie der Ruf eines Zauberers, der sie zu Schritten verlockte, die in die Seligkeit oder auch ins Verderben führen konnten.

Nur der Gogunsohn blickte still, mit schwermütigen Augen, in die braune, flimmernde Ferne, und er mochte wohl den dunklen Flecken im Moor erblicken, an dessen Rand ein Haselhuhn lag und an dem die leeren, gelbglänzenden Patronenhülsen das Ende eines Lebensweges bezeichneten.

Dann rief Jons sie mit einem fröhlichen Wort in die Wirklichkeit zurück, und dann verteilten sie sich lautlos am Ufer des Fließes, steckten den Köder in das Haselnußholz und dieses unter dem schwarzen Wasser in die Uferböschung, so daß das weißliche Fleisch eine Handbreit unter der Oberfläche leuchtete. Dann kauerten sie sich im hohen Grase nieder, das Fangnetz an einem langen Stiel in der zitternden Hand, und warteten. Dann stahl Barbaras Hand sich wieder in die ihres Beschützers, und wieder fühlte er ihr Herz schlagen, wenn aus den Höhlungen unter den Erlenwurzeln die ersten Schatten herauskamen und sich langsam und vielgliedrig auf die schimmernde Speise hinabbewegten.

Selbst Jons fröstelte es ein wenig, wenn er auf das gespenstische und lautlose Sichregen der Totenesser niederblickte, und während er die linke Hand fest und tröstlich um das zarte Handgelenk des Kindes schloß, schob er mit der Rechten langsam und unmerklich das Fangnetz unter das dunkle Gewühl, das um den Köder tastete, und hob nach einer atemlosen Pause mit einer jähen Bewegung das Ganze in die Höhe, Netz und Köder und Wasserblasen und ein Dutzend schwerer, feucht gepanzerter Krebse, während die Entkommenen in wilder Flucht wieder in die schwarze Tiefe hinunterschossen.

Dann atmete das Kind wie aus einem bösen Traum auf, und der Jubel deckte das leise Grauen zu, auch wenn es schnell ein paar Schritte zurücktrat, wenn Jons die Beute in den geflochtenen Korb schüttete und mit frischen Brennesseln zudeckte.

»War es schön, kleine Barbara?« fragte er und strich ihr über das Haar.

Sie behielt seine Hand eine Weile an ihrer Brust und seufzte tief auf. »Ganz schrecklich schön, Onkel Jons!« erwiderte sie.

Das war der große Krebsfang, das wilde Abenteuer ihrer jungen Herzen, und selbst Micha blickte mit strahlenden Augen von einem zum andern, wenn er seine Beute vorwies. Keiner von ihnen aber erreichte den Sohn Goguns, der wie ein Zauberer des Moores an sich lockte, was er wollte, und dem alles gehorsam zu sein schien, was hier auf und unter der Erde war.

Dann halfen sie Christean aus dem Kahn und saßen unter einer der alten Eichen, das Schwarzbrot mit dem Erdbeermus in den Händen, und es dauerte lange Zeit, bis ihre Erregung vorüber war und das große Schweigen der Landschaft sie wieder umschloß. Immer Neues und Seltsames erschien unter dem hohen, dunstigen Himmel: ein schwarzer Storch, der in großen, ruhigen Kreisen sich über das Moor schraubte; ein Kolkrabenpaar, wie dunkle Adler anzusehen, und Johannes kannte seinen verborgenen Horst; der Fischadler, der vom See zurückkam, und der gekrümmte Fisch in seinen Fängen schimmerte wie ein Silberreif, und einmal ein Zug von Kronschnepfen, deren hoher, klagender Ruf wie aus den letzten Bezirken des Himmels herniederfiel und die Lauschenden einsam und verloren zurückließ.

»Wieviel hier geschieht ...«, sagte der kleine Micha und wendete die ernsten Augen wieder vom Himmel auf das bräunliche Moor zurück.

»Es gibt dort einen Weg«, begann Johannes nach einer Weile und deutete auf die Binsenwälder, »ich habe ihn gefunden, und keiner weiß ihn außer mir. Rechts und links ist das Grab.«

›Er spricht wie ein alter Mann‹, dachte Jons und sah ihn von der Seite an. »Du solltest vorsichtiger sein, Johannes«, sagte er.

Aber Johannes blickte weiter mit seinen schwermütigen Augen nach dem Binsenwald. »Ich habe ihn mit kleinen Ästen gezeichnet«, fuhr er fort, »und die Rinde von ihnen fortgenommen, damit sie auch nachts zu sehen sind. Man weiß nicht, wozu man es brauchen kann ... man kommt tief ins Moor hinein. Keiner kann einen mehr sehen. Dort habe ich eine kleine Hütte gebaut, aus Rasen und Schilf. Kein Regen kommt durch das Dach. Wenn man die letzten Zweige herauszieht, ist man allein ...«

Sie starrten ihn alle an.

»Aber wozu?« fragte Jons.

Johannes blickte mit seinen traurigen Augen über das Moor hinaus nach Osten. »Wenn sie kommen ...«, erwiderte er wie im Traum.

»Wer soll kommen?« fragte Christean.

»Die mit den kleinen Pferden ...«

Eine schmale Wolke glitt über die Sonne und dämpfte das Licht. Es war nicht das erstemal, seit sie hier saßen, aber es war ihnen, als hätten sie es vorher nie gemerkt. Ein schmaler Schatten glitt über das Moor, über Schilf und Binsen, verdunkelte das Fließ für einen Augenblick und wanderte dann zum Hochwald hin.

Sie schwiegen bedrückt, und alle außer Johannes folgten mit ihren Augen der schmalen, lautlosen Spur. Es war, als ginge jemand ohne Füße über das Moor.

Dann legte Christean seine Hand auf Johannes' Schulter und lächelte ihm zu. »Der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann ...«, sagte er leise.

Sie saßen dort, bis die Schatten länger wurden und stiegen dann wieder in den grauen Kahn. Eine Weile vorher hatte Johannes den großen Kochtopf genommen und war am Fließ entlang zum Ufer gegangen. Sie sahen von weitem, wie er Hose und Hemd abstreifte und dann ins Wasser ging. Sein schmaler Körper leuchtete hell vor dem dunklen Hintergrund. Mit einer Hand hielt er den großen schimmernden Topf vor sich im Wasser, mit der anderen schwamm er langsam nach der Insel, um Feuer zu machen und den Kessel mit Wasser aufzusetzen. Er dachte an alles, obwohl er in diesem Frühjahr erst siebzehn Jahre alt geworden war.

Sie folgten ihm langsam. Das Wasser war nun ganz still und dunkel, und an der Mündung des Fließes lagen die weißen Seerosen wie große Sterne auf der Schwärze.

»In jeder geht zur Nacht ein Elfenkind schlafen«, sagte Barbara und beugte sich über den Bootsrand. »Dann schließen die Blätter sich zu ... es ist wie in einem Haus.«

»Und wenn der Mond scheint?« fragte Christean.

»Wenn der Mond scheint, ist es, wie wenn die Mutter nebenan sitzt und die Lampe brennt noch.«

Die Sonne sank schon hinter den Wald, und das Kreuz des Großvaters auf der Insel schnitt mit den beiden schwarzen Balken in das erste Abendrot. Die Fische sprangen, und die hellen zitternden Kreise liefen bis unter ihre Ruder. Rauch stand über den Schornsteinen des Dorfes, und das Echo von Pionteks Rindenhorn lief rings die Wälder entlang.

»Siebenmal!« sagte Barbara andächtig und hob die Finger in die Höhe. »Ach, ich bin so glücklich ...«

Sie lächelten alle, aber sie verbargen es. Jons ließ einen Augenblick die Ruder sinken, und sie lauschten, wie das Kielwasser leise unter ihren Füßen dahinzog.

Das Feuer brannte schon, ohne Rauch, der Kessel stand in der Glut, und Johannes trug noch neues Holz hinzu. Eine Weile standen sie vor dem Kreuz des Großvaters, aber für Micha und Barbara war er nur ein toter alter Mann. Sie wußten noch nicht viel von ihm.

In der Ferne sahen sie Maria vom Moorrand zurückkommen, klein und armselig gegen den großen Abendhimmel. Dann fuhr Johannes hinüber, um die Frauen zu holen.

Der Abendstern stand schon über den Kiefern, als sie die roten Krebse aus dem Wasser nahmen. Sie zerbrachen die Scheren mit den Fingern und redeten einander zu, daß es herrlich schmeckte. Aber Krebse sind wohl kein Kätneressen, und Barbara drehte sich ab. Nein, sie mochte nicht. »Sie riechen«, sagte sie und zog die Schultern zusammen, als friere sie.

Und für alle war das Feuer schöner als die Krebse, dieser ganze herrliche Tag mit Vorfreude und Abenteuer, mit Wasser und Schilf und dem Ruf der fremden großen Vögel. Mit etwas Traurigkeit, die plötzlich da war und wieder ging, wie eine Wolke geht. Mit etwas Angst, die aus dem schweigenden Moor aufstieg wie ein kühles Gespenst, und soviel Sicherheit, wenn man Jons ansah. Mit etwas Müdigkeit, die sich aus der Glut des Feuers über sie legte. Aber, alles zusammengenommen, mit einem ungeheuren Glück, das sich schwer über die Herzen legte. Ein erfüllter Tag, ein ganz und gar erfülltes Leben, und eine unbewußte Ahnung von Traurigkeit, die hinter dem schwarzen Wasser stand. Wie ein Mensch hinter einer geschlossenen Tür.

Sie legten sich zurück und blickten zu den Sternen hinauf. Ab und zu schoß eine goldene Bahn aus dem Unendlichen herunter, ein glühender Streif, und sie warteten, ob es im Wasser aufzischen würde in einer Wolke von Dampf. Zuerst riefen sie ihre Wünsche hinterher, aber sie kamen immer zu spät, und das Schweigen war so groß, daß sie verstummten. Der kleine Hund bellte wieder hinter dem »Paradies«, und die Rohrdommel rief aus dem Moor. Die Erde und das Wasser atmeten, und mitunter kam es warm aus dem Walde herüber, ein Luftstrom, der die Flamme leise zur Seite neigte, und es roch nach Erdbeeren.

Dann sangen sie leise, und auch der Gesang war nur ein Teil der Erde und der Nacht. Ihre Gesichter waren rötlich vom Feuer beschienen, die Grashalme, der Rand des Schilfes. Dahinter war eine abgründige Schwärze, und nur vor dem westlichen Himmel zerlegte die Erde sich wieder in Himmel und Wald.

Jons sah zu, wie die Sterne sich neigten und andere Bilder über den östlichen Erdrand stiegen. War es nicht genug der Welt in diesem kleinen Raum? Das Grabkreuz des Großvaters und darunter die Kinder, die mit glänzenden Augen in die Flamme blickten? Sterne und Wasser, das die Sterne spiegelte? Ach, er wußte wohl, daß es nicht genug war, aber es war schön, es zu denken. War er je so jung gewesen wie diese Kinder, deren Atem seine Wange streifte? Er mußte es wohl, aber er hatte es vergessen. Der schwere, einsame Lauf der jungen Jahre, und nun lag er und atmete, so langsam und tief, wie die Erde atmete.

Er streckte leise die Hand aus und legte sie auf Marias Hand. Sie erzitterte kaum merklich unter der Berührung und lag dann still. Dasselbe Blut floß in ihnen, dasselbe Schicksal, dieselben Toten.

Ein neuer Stern schoß hernieder, und die kleine Barbara legte aufseufzend ihre Wange an Jons' Schulter. Sie schlief schon, ehe die Bewegung zu Ende war ...

Im Spätherbst ging Jons wieder in die Stadt. Die Frauen von Sowirog standen in den Türen und winkten ihm. »Geh mit Gott, Jons!« riefen sie. »Geh mit Gott!«

Die Mutter küßte ihn nicht, aber sie nickte ihm zu. Er hatte sie am Meiler gefunden, wie sie die Hand um Jakobs rußige Fichtenstange hielt. Sie stand wie eine Träumende. »Manchmal ist mir«, sagte sie abwesend, »als halte er das andere Ende ...«


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