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VI

Kranke Zeiten gehen wie ein Ausschlag über das Land. Sie lassen auch die Walddörfer nicht aus. Wenn sie die Städte zerfressen haben, meinen sie, daß auch hinter den Städten noch etwas zu holen sein könnte, dort wo die Menschen im Einfachen und Ahnungslosen leben. Überall wo Menschen sind, kann es Unfrieden geben, Neid, Begehrlichkeit, und wenn nicht dieses, so kann es Dummheit geben, und wo Dummheit ist, kann es Gewinn geben, Täuschung und Betrug. Die Städte hungern und frieren, und so kann man hinter den Städten Vieh kaufen oder Holz, oder wenigstens Butter, Eier und Kartoffeln, kann sie mit großen Scheinen bezahlen und braucht niemandem zu erzählen, daß diese Scheine morgen den Wert einer Briefmarke haben werden. Der einfache Mann steht noch unter dem Zauber der Zahl, und eine Million ist für ihn, was einem Kinde eine Million ist: ein Schatz aus dem Märchen, mit dem sich goldene Schlösser bauen lassen.

Und hinter den Städten ist noch mehr zu holen. Der Boden schwankt, auf dem die Wirtschaft ruht. Höfe und Güter schwanken mit ihm, und da es darauf ankommt, das Bleibende zu erwerben, für eine Zeit, in der es wieder Bleibendes geben wird, so muß man wie ein Arzt sein, der die Hand am Puls des Sterbenden hält. Wenn der Puls aussetzt, ist es Zeit zu den großen Versprechungen und Täuschungen, zu den Geschichten vom Paradiese. Vom Paradies des Geldes, wo die Millionen und Milliarden schimmern, und man braucht niemandem auseinanderzusetzen, daß es der Schimmer bunt bedruckten Papiers ist.

Auch Sowirog liegt nicht so weit hinter der Welt, daß nicht ab und zu ein Wanderer hinkäme. Einer zu Fuß, mit bestaubten Schuhen, ein anderer auf einem blitzenden Fahrrad und schließlich dieser und jener in einem schimmernden Auto, das eine lange weißliche Wolke des Staubes hinter sich herzieht, aus der es vor Czwallinnas Krugwirtschaft auftaucht, so wie in früheren Zeiten ein Gott aus einer Wolke auftauchte.

Dann steigt ein Mann in einem Staub- oder Ledermantel aus, allein oder mit einer Märchenprinzessin, deren Haare aus Gold gesponnen zu sein scheinen, mit Korallenlippen, die bezaubernd lächeln, und mit Ringen an den Händen, deren Steine einen Regenbogenglanz über die Dorfstraße werfen.

Für die Kinder und Hunde von Sowirog ist das ein großer Tag. Die Hunde begleiten den Wagen, bis sie heiser sind, und die Kinder drängen sich um das glänzende Ungetüm wie um einen Märchenvogel, der mit zusammengefalteten Schwingen sich für eine kurze Frist zu ihrer Einöde herabgelassen hat, um sich dann wieder aufzuheben in die fernen Bezirke der Sonne oder des Paradieses.

Das Mädchen mit dem goldgesponnenen Haar verteilt etwas Schokolade unter sie, wie der Mann im Ledermantel es sie gelehrt hat. Es dauert eine lange Weile, bis die erste schmutzige Kinderhand sich öffnet, denn in Sowirog sind auch die Kinder mißtrauisch gegen Mädchen aus der Fremde, aber dann öffnen sich mehr und mehr Hände, und wenn sie gefüllt sind, beginnen die Kinder nicht etwa zu essen, sondern sie laufen ohne Dank oder Abschied zu ihren Häusern oder Hütten zurück, um den Müttern ihre Schätze zu zeigen. So hat man es ihnen beigebracht, und so halten sie es weiter, gleichviel ob die Märchenprinzessin sie zum Bleiben zu verlocken sucht oder ihnen mit den roten Lippen nachlächelt. Ein verzeihendes oder ein spöttisches oder ein geringschätziges Lächeln.

Der Mann aber verhandelt laut oder leise mit Czwallinna, nachdem er ihm eine große, prachtvolle Zigarre mit einer schimmernden Binde angeboten hat. Er blickt die verlassene Dorfstraße entlang und über die niedrigen Dächer in der Ferne. Meistens zuckt er die Achseln oder schüttelt mißbilligend den Kopf, und ab und zu schreibt er etwas in ein kleines, rotgebundenes Buch, mit einem silbernen Bleistift, den er gleichmütig aus einer der tiefen Manteltaschen herausholt.

Dann beginnt er von Haus zu Haus zu gehen, allein, während das Mädchen gelangweilt mit der Fußspitze Zeichen in den Sand der Straße zu schreiben beginnt oder ein Stück zwischen den Häusern entlanggeht, wobei es in die kleinen Fenster zu blicken versucht, hinter denen eine Gardine sich unmerklich bewegt. Bis einer der kläffenden Hunde es wieder zu dem Wagen zurücktreibt, in dessen leuchtenden Polstern es nun still und gehorsam sitzen bleibt, mit einem Spiegel oder einem Lippenstift oder anderen schimmernden Instrumenten beschäftigt, die es aus einem silbergeflochtenen Täschchen herauszieht. Endlich kommt der Mann zurück. Verdrießlich meistens oder auch fluchend, selten mit einem Päckchen oder einer halbgefüllten Ledertasche in der Hand, wirft noch einen finsteren Abschiedsblick in die Runde, übersieht Czwallinnas gebeugten Rücken und braust mit einem wilden Aufheulen des Motors die Dorfstraße entlang, wobei er versucht, im letzten Augenblick noch eines der Hühner oder die Enten zu überfahren, die schreiend nach allen Seiten auseinanderfahren.

Es gibt Dörfer, die so weit hinter der Welt liegen, daß nicht nur ihre Fensterscheiben, sondern auch ihre Augen blind zu sein scheinen, und solch ein Dorf muß wohl auch der Eulenwinkel sein. Ein ganz und gar verlorenes Dorf, abgeneigt dem, was die Zeitungen Fortschritt und Kultur nennen, ein Dorf voller ›Pachulken‹, wie der junge Regierungsrat bei der Kirchenweihe seine Bewohner genannt hat. Ein Dorf, in dem sie zu Jehova beten oder zu »sonst einem dieser Scheiche«, wie die Autofahrer sich auszudrücken belieben.

Nur einmal in diesen schwankenden Jahren geschah es, daß einem dieser Märchenvögel ein jähes Ende bereitet wurde, und natürlich war es Herr von Balk, der »Habicht«, der mit seinen unerschrockenen Fängen auf ihn niederstieß. Der Wagen stand vor Czwallinnas Tür, ein ausnahmsweise bis an den Rand gefüllter Wagen, mit Speckseiten, Butter und Mehl gefüllt, und einer der vielen Leute in Ledermänteln und eine der vielen Märchenprinzessinnen mit Goldhaaren hatten sich gerade in den Polstern zurechtgesetzt, als Herr von Balk mit Korsanke die Straße entlang geritten kam. Sie ritten jetzt ab und zu zusammen, weil Balk das Ganze nicht gefiel. Weil die Dörfer ihm am Herzen lagen, anders als seinem Vater zwar, aber eben doch am Herzen, und weil er immer noch der Meinung war, daß ein Edelmann seinen Schild über die Armen zu halten habe.

Und Korsanke war es sehr recht. Er wußte nicht immer ganz Bescheid in den zahllosen Gesetzen und Verordnungen. Er war auch der Frechheit und Beredsamkeit dieser Autofahrer nicht immer gewachsen. Und mit dem Herrn von Balk an seiner Seite war es eben ganz anders. Vielleicht wußte auch er mit den Gesetzen der Republik nicht immer Bescheid, aber mit denen der Rechtlichkeit und des Menschenverstandes um so mehr. Für ihn gab es weder Zweifel noch Zögern. Er brauchte nur die »Visage« anzusehen, wie er sagte, und dann war das Verfahren klar für ihn. Skrupel gab es für ihn nicht, wenn es um Hyänen ging, und vor seinem eiskalten Auge hinter dem Einglas vergingen Frechheit wie Beredsamkeit wie das Zauberlächeln der Mädchen gleich einer späten Blüte unter dem ersten Nachtfrost.

Sie kamen also die Straße heraufgeritten, einträchtig nebeneinander, im losen Schritt, Korsanke auf seiner alten Fuchsstute und Balk auf einem jungen Rapphengst, dessen langer Schweif im Winde wehte und der den schmalen Kopf ebenso hochmütig hielt wie sein Herr. Während Korsanke sich die Papiere zeigen ließ, hob Balk vom Sattel aus neugierig die graue Hülle auf, die zum Schutz gegen den Staub über die hintere Hälfte des offenen Wagens gespannt war, und als der Mann im Ledermantel mit einem »Erlauben Sie!« die rechte Hand nach rückwärts streckte, um die Hülle festzuhalten, schlug Balk ihm mit dem silbernen Knopf seiner Reitpeitsche etwas auf diese Hand, ganz freundlich und auch nicht übermäßig stark, aber doch so, daß die Hand zurückgezogen wurde und Balk eine Reihe von Dingen im Wagen erblicken konnte, die seine höchste Teilnahme erweckten.

»Beschlagnahmen Sie den Wagen, Korsanke!« sagte er freundlich »und nehmen Sie den Mann vorläufig fest!«

Der Mann begann so zu fluchen, daß Czwallinna sich bis auf die Schwelle seines Hauses zurückzog, aber als er sah, daß Herr von Balk gar nicht aufhörte, sondern mit dem Knopf seiner Reitpeitsche in den verborgenen Schätzen herumzuwühlen begann, fiel ihm etwas anderes ein, und ehe die beiden sich seiner Absicht versahen, heulte der Motor wie ein wütendes Tier auf, der Wagen sprang so jäh an, daß Balk und Korsanke ihre Pferde gerade noch zurückreißen konnten, und schoß dann durch den stiebenden Sand in das Dorf Sowirog hinein.

Aber für Herrn von Balk war das nichts als ein glänzendes Feindmanöver, und ehe der Mann am Steuer den dritten Gang eingeschaltet hatte, war der Rapphengst schon in der Wolke von Staub und Benzindampf, und nach einem kurzen, aber lauten Befehl Balks knallte es zweimal hell und scharf, und fast im selben Augenblick zweimal wie ein Kanonenschuß, der Wagen schleuderte einmal von der rechten zur linken Straßenseite und mahlte dann noch ein bißchen durch den tiefen Sand, bis vor dem Kühler Korsanke auf seiner Fuchsstute auftauchte, den schweren Dienstrevolver auf die Vorderreifen gerichtet, und dann gab der Mann am Steuer die Sache auf, etwas blaß geworden bei dem unerwarteten Ereignis, während das Mädchen sich schreiend an seinen Arm klammerte und von allen Seiten Männer, Frauen, Kinder und Hunde herbeigestürzt kamen, die mit einer unpassenden Fröhlichkeit das schöne Wrack umstanden oder, soweit es die Hunde anging, sogar ein Bein hoben, weil an den Autoreifen der Duft vieler Artgenossen, nur ihnen vernehmbar, haftete.

Während Korsanke den »Tatbestand« aufnahm, erklärte Herr von Balk dem nun gänzlich geschlagenen Mann im Ledermantel, daß ihm zwei Wege übrigblieben: entweder, an Korsankes Steigbügel gebunden, den zwei Meilen langen Weg zur Stadt zu machen oder seinen schönen Mantel auszuziehen und die beiden Reifen »höchst eigenhändig« zu flicken, worauf er dann »unter angemessener Begleitung« denselben Weg im Wagen machen dürfe. Balk sprach sehr obenhin von der Höhe seines Sattels herab, und der Mann zog schweigend seinen Mantel aus, suchte das Werkzeug vor und begann mit der langwierigen Arbeit, wobei man sehen konnte, daß seine Hände früher in anderen Berufen tätig gewesen sein mußten als in dem eines »Herrenfahrers«.

Aber Herr von Balk konnte nicht den ganzen Tag von Dorf zu Dorf reiten, und so blieb dieser Eingriff für lange Zeit der einzige. Doch erhöhte er seinen Ruf in der Landschaft, und wenn die kleinen Weltreisenden auf den einsamen Landstraßen in der Ferne einen Reiter erblickten, pflegten sie, nachdem dieses Ereignis bekannt geworden war, ihren Wagen zu wenden, so schmal die Wege auch waren, und in einer Staubwolke dahin zu verschwinden, wo nur der Pflug langsam über die Felder zog und weit und breit kein Luxuspferd zu sehen war.

Doch blieben sie nicht die einzigen Fremden auf diesen einsamen Straßen. Es gab andere, die unauffällig von einem Dorf zum anderen zogen, wie Waldarbeiter gekleidet oder höchstens wie kümmerliche Warenreisende, die aus einem kleinen Koffer Stoff- oder Wäscheproben herauszogen und ihre »Qualität« anpriesen. Auch sie pflegten ein Weilchen bei Czwallinna zu stehen, Notizen in ein kleines Büchlein zu schreiben und wie ihre Vorgänger über die Rohrdächer hinaus in die Ferne zu blicken. Aber was sie suchten, waren nicht Butter oder Eier oder Mehl, sondern Stimmen, Menschenstimmen, und hinter den Menschenstimmen das Land. Äcker und Wälder, Moore und Seen, dieses einsame, verlassene und arme Land, das doch schöner und ordentlicher und reicher war als ihr eigenes und in dem die einfachen Leute ihre Sprache sprachen, eine etwas verderbte Sprache, aber doch ihre eigene.

Und was sie aus ihren kleinen Taschen oder Koffern hervorzogen, war Papier. Bedruckte Blätter mit Zahlen und Bildern, mit Hoffnungen und Versprechungen, mit Verlockungen und Prophezeiungen, wie sie überall in der Welt auf das stille, geduldige Papier gedruckt werden, wenn es darauf ankommt, dem kleinen Mann zu zeigen, daß er falsch gelebt habe und daß er fortan richtiger und besser leben solle.

Es wurde nämlich damals in der Weltgeschichte beschlossen, daß diese Landschaft durch die Stimmen ihrer Bewohner entscheiden sollte, ob sie bei dem geschlagenen Reiche verbleiben oder zu dem Nachbarreich gehören sollte. Die Zugehörigkeit hatte ein paarmal gewechselt, wenn auch in lange zurückliegender Zeit, und die Umgangssprache gab denen den Anschein eines Rechtes, die eine Nachprüfung des Besitzrechtes verlangten.

So klopfte die Weltgeschichte nun plötzlich auch an die niedrigen Türen von Sowirog, und die unauffälligen Wanderer waren eben die geheimen Boten des Nachbarreiches, die beauftragt waren, dieses kleine Kapitel der Weltgeschichte in die richtigen Bahnen zu lenken.

Die Männer und Frauen von Sowirog hörten ihnen schweigend zu, was sie vom Glanz der Zukunft sprachen und ihnen aus ihren bedruckten Papieren zu beweisen trachteten. Sie waren so schweigsam, daß die beredten Abgesandten langsam unruhig wurden, und wenn sie schließlich die Häuser und das Dorf verließen, schüttelten sie den Kopf und wußten nicht recht, was nun eigentlich geschehen war oder geschehen würde. Niemals in ihrem Leben hatten sie so schweigsame Leute gefunden.

Und dabei lag es doch nur an einem, das sie übersehen hatten: daß für diese kleinen, armseligen Dörfer die alte Weltordnung noch immer nicht umgestürzt war. Daß der Kaiser für sie immer noch auf einem heimlichen Throne saß. Und wenn nicht der Kaiser, so doch das alte, von Gott eingesetzte Bild des Königs, dem sie die Treue gelobt hatten. Eines Königs, der sie durch Jahrhunderte bedrückt und geschunden hatte, der Steuern und Söhne verlangt und genommen hatte, aber doch über ihnen wachte wie ein strenger Vater, und der nun ins Unglück gekommen war, wie sie selbst durch Brand oder Mißernte ins Unglück kommen konnten.

Und wenn sie an das Nachbarreich dachten, so wußten sie nicht viel von ihm. Aber sie sahen in jedem Jahre seine Söhne und Töchter zu den katholischen Wallfahrtsorten ziehen, die in ihrer Landschaft lagen, und sie sahen, daß es ein Zug ärmlicher, unordentlicher und geringer Leute war, vor denen man besser Tor und Tür verschloß wie vor Zigeunern, und zu denen für ganz und immer zu gehören ihrer armen und stillen Würde widersprach.

Daher also schwiegen sie zu den Lobpreisungen, äußerten weder Zustimmung noch Widerspruch, und nur im Gogunschen Hause geschah etwas Besonderes, indem nämlich Johannes bei dem ersten Besuch dieser Art still und finster aus der Stube ging und mit einer Axt in der Hand wiederkam, wobei er die Tür offen ließ und mit einer nicht mißverständlichen Bewegung auf sie deutete. Wahrscheinlich erinnerte er sich der Stelle im Moor, vor der er als Kind lange und grübelnd gestanden hatte, und in seinem einfachen Verstande war alles, was von Osten kam, böse und gefährlich.

Und noch eine dritte Art von Fremden kam ab und zu in den Eulenwinkel. Sie saßen gerade und hochmütig in ihren glänzenden Wagen, in braunen oder bläulichen Uniformen, mit schimmerndem Lederzeug und in weißen Handschuhen. Sie hielten nicht vor Czwallinnas Krugwirtschaft, sondern vor des Schulzen Grünheid Haus, und der Schulze gab mit seinem unbewegten Gesicht langsam Antwort auf ihre unverständlichen Fragen. Er wußte, daß es Engländer oder Franzosen waren, Offiziere der Kontrollkommission, die die Abstimmung zu überwachen hatten, und sie waren für ihn nur ein paar Bilder mehr in der langen Reihe, die er während seines langen Lebens gesehen hatte. Und wenn sie wieder abgefahren waren und der Staub hinter ihren Wagen langsam über die Felder trieb, stand er noch da und blickte ihnen nach und dachte vielleicht darüber nach, was diese nun wohl von diesem armen Lande wüßten und wie es seinen Bewohnern ums Herz sei.

Sein Haar war nun weiß geworden über den hellen, schwermütigen Augen, und jeden Abend saß er vor der Tür des Jeromin-Hauses, die beiden Kinder zwischen den Knien, und blickte durch den kleinen Micha hindurch in eine ferne Vergangenheit, in der der Vater dieses Kindes ihm den Acker gepflügt hatte, und er war der einzige Mensch gewesen vor diesem Kinde, den er in seinem Herzen gehalten hatte.

In diesem Sommer nun, während Jons Ehrenreich in der kleinen Klinik operierte und an den weißen Betten saß, begannen aus allen Teilen des Reiches die geschmückten Züge nach Osten zu rollen, mit jungen und alten Menschen gefüllt, die hier einmal zwischen Seen und Wäldern geboren worden waren, damit sie Zeugnis ablegten für ihre Heimaterde und jedermann »sich schätzen ließe«, wie es in der Bibel hieß, nur daß es eine Schätzung des Herzens und der Gesinnung war.

Es war nicht alles so schlicht und still, wie es hätte sein sollen. Aus der Sache des Herzens war wieder eine Sache der Politik geworden, mit Plakaten und Abzeichen, mit Musikkapellen und Reden. Aber in jedem Winkel der dicht gefüllten Eisenbahnabteile saß doch ein alter Mann oder eine alte Frau, die nichts von Politik und Kontrollkommissionen wußten, sondern die ihre arme Heimat seit Jahrzehnten nicht wiedergesehen hatten und vor deren müden Augen nun das kleine Dorf aufstand, der Waldsee oder die Birken an dem Moor, und die eingesunkenen Kreuze auf den kleinen Friedhöfen, wo die Fliederblüten über die Steinmauer fielen und die Nachtigallen zur Nacht sangen, indes der rote Mond groß und einsam über das dunkle Land stieg.

Und auch nach Sowirog kamen Männer und Frauen, die in diesen Zügen saßen. Auch Sowirog war nicht vergessen in den Listen der Weltgeschichte. Die meisten kamen aus den Bergwerksbetrieben des Westens, aus einer traurigen, rauchgeschwärzten Landschaft, und viele Augen blickten mit einer traurigen Ergriffenheit auf das weite und schweigende Land, das sich nun vor ihnen ausbreitete, auf die dunklen Wälder, auf den blühenden Ginster und die Lupinen, mit denen die Bahndämme bedeckt waren, auf die stillen Seen, aus deren Schilfrändern sich die Reiher oder Kraniche schwerfällig erhoben.

Auch ein schimmernder Wagen kam über die sandigen Straßen auf den Eulenwinkel zugefahren, und seine dreistimmige Hupe rief das Echo aus den Gründen der Wälder herauf. Und als er vor dem Jeromin-Hause hielt, stieg Gotthold aus ihm heraus, der verlorene Sohn, aber es war nun nichts Verlorenes an ihm, wie er die Handschuhe abstreifte und seine Geschwister laut und fröhlich begrüßte. »Dienst am Vaterland ist Ehrendienst«, sagte er und sah sich mit leise zusammengekniffenen Augen in seiner Heimat um.

Auch die Gräfin kam nach Sowirog, die Frau aus dem Märchen, die niemals wiedergekommen war, aber sie hatte ihren Wagen daheim gelassen und war den zwei Meilen langen Weg aus der Kreisstadt zu Fuß gekommen, den alten Weg, den die Frauen von Sowirog zum Markt zu gehen pflegten und den Jakob gefahren war, die Särge seiner Söhne hinter sich im Stroh des Leiterwagens. Sie war dem Meiler ausgewichen und hatte nur eine Weile zwischen den Wacholderbüschen gestanden, wie Frau Marthe damals, und von ferne auf die Lichtung gesehen, auf der sie vom Vater Abschied genommen hatte, ohne seinen Segen zu erbitten. Aber es war nichts zu sehen gewesen als ein verfallener Hügel, an dem eine Stange lehnte, und eine kleine Hütte, in der sich nichts regte. Nur ein Schwarzspecht hatte gerufen, lange und klagend, und der Widerhall war von Hochwald zu Hochwald gegangen.

Die Kinder im Jeromin-Hause waren scheu und die Frauen bedrückt, nur Maria stand wie früher am Herd, das stille Lächeln um ihren Mund, die Augen von einem warmen Glanz erfüllt, und es sah aus, als werde sie gleich mit einem Märchen beginnen, dem von Frau Ilsebill oder den sieben Schwänen.

Christean saß still in seiner Ecke, ein bißchen benommen von den lauten, großartigen Reden seines Bruders und der strengen Schönheit Ginas, und es war wie ein Traum, daß alles nun wiederzukehren schien, und war doch so anders, als es einmal gewesen war.

Aber dann kam Jons Ehrenreich, und mit ihm kam Lawrenz. »Ich möchte gern für ein paar Tage mitgehen, Jeromin«, hatte er gesagt. »Es ist ja unauffälliger, wo so viele Menschen da sein werden, und Sie wissen, daß mir das Auffällige nicht angenehm ist.«

Jons hatte es sehr gefreut, und auch sie waren den zwei Meilen langen Weg gekommen, zu Fuß, nur daß sie nicht an Kiewitt und am Meiler vorübergegangen waren. Kiewitt hatte sein spärliches Heu eingefahren und den Doktor eine Weile angesehen. »Lehre ihn gut«, hatte er gesagt. »Und renke ihm nicht sein Herz aus!«

Etwas betroffen war nun Lawrenz doch gewesen, aber nach einer Weile lächelte er und sagte: »Es war eine gute Einleitung, Jeromin.«

Jons war sehr erschrocken, als er die Mutter wiedersah. Sie saß auf der Bank vor der Hütte, einen Stock neben sich, und blickte ihnen entgegen. Aber ihr Gesicht war nun von einer wächsernen Blässe, von bläulichen Adern durchzogen, und es war zu sehen, daß sie an Atemnot litt. »Es ist nichts, Jons«, sagte sie ruhig. »Nur der Atem wird leiser ... er steht am anderen Ende.«

Lawrenz fröstelte es etwas unter ihrem Blick, aber er hielt ihm stand, und einmal sagte er, daß Jons ein großer Arzt werden würde.

Es war nicht zu erkennen, ob Frau Marthe es gehört hatte, aber als sie Abschied nahmen, sagte sie: »Hilf nun den anderen, Jons.«

Lawrenz schwieg, bis sie den Waldrand erreichten und auf das mit Fahnen und Birken geschmückte Dorf sehen konnten. »Hatte sie etwas mit dem Herzen?« fragte er dann.

Jons wußte es nicht. »Wir wußten nie viel von ihr«, erwiderte er.

Lawrenz nickte. »Es ist die Naht, Jeromin«, sagte er. »Nun weiß ich viel von Ihnen, seit wir aus der Bahn gestiegen sind.«

Als erstes sah der Doktor die Insel im See, mit den alten Eichen, dem hohen Kreuz des Großvaters und der neuen Hütte, die Balk hatte bauen lassen. Dort wollte er wohnen, und darum bat er sehr dringend. »Es wird alles voll sein bei Euch, Jeromin«, sagte er, »und es würde mir zuviel werden. Ich komme schon herüber, soviel Sie wollen, aber das da scheint mir ein Paradies für einen alten Mann zu sein. Gönnen Sie mir auch etwas Gutes, Jeromin.«

Jons gönnte es ihm von Herzen, aber bis zum Abend blieb Lawrenz doch im Hause und im Dorf. Es war zuviel, was er aufzunehmen hatte. Die Menschen machten ihm zu schaffen, Söhne und Töchter und Enkelkinder. Und eine war vielleicht eine Heilige und eine eine Gräfin, und einer ein großer Bildschnitzer, und einer allem Anschein nach ein großer Hochstapler. Und alles unter einem niedrigen Rohrdach und vor einem Torffeuer, und die kranke Frau dahinten am Meiler, und die Geister der Toten in jedem Winkel des Hauses. Er rauchte eine seiner schwarzen Zigarren nach der anderen, hörte mit einem Ohr den großen prachtvollen Sätzen Gottholds zu und folgte mit seinen stillen traurigen Augen jeder Bewegung der anderen.

»Was für ein Geschlecht, Jeromin ...«, sagte er, bevor er in das Boot stieg. »Und was für ein Land ...«

Die Dorfstraße war nun verlassen, indes aus allen Schornsteinen der Rauch aufstieg. Das gemähte Gras duftete von den Wiesen, die Mandelkrähen saßen blauschimmernd auf den Heuhaufen, und das große Abendrot stand leuchtend über den Wäldern. Unter dem hohen Himmel waren die Fahnen wie Kinderspielzeug, und nur die Erde war das Große und Gewisse, die Wälder, der See, die dunstige Ferne des Moores.

Lawrenz stand still da, auf sein Ruder gestützt, und blickte hinaus. »Von hier sind Sie ausgegangen, Jeromin«, sagte er langsam, »Eisen unter den Absätzen, und hierher werden Sie wieder zurückkehren. Ein schöner Kreis, und ich wünschte, er wäre auch mir beschieden gewesen ...«

Jons sah ihm lange nach, wie das Spiegelbild des Kahnes und der Ruder unter ihm mitging, auf die Insel zu, auf der der andere gelebt hatte, der mit Gott Zerfallene, der gelästert und doch so gern hatte glauben wollen. Aber dieser war nicht zerfallen, dieser »ruhte in Gott«, wie seine Mutter es getan hatte, und es war Jons, als liege eine stille Versöhnung darin, etwas, was die Vergangenheit mit der Gegenwart zusammenknüpfte. Von der Zukunft wußten sie alle nichts.

Den nächsten Tag war das Dorf von einem ungekannten Leben erfüllt. Es gab kein Haus, in dem nicht Verwandte eingekehrt wären, und viele hatten ihre Kinder mitgebracht. Die Männer gingen in ihren dunklen, städtischen Kleidern umher, über die Felder und am See entlang, und immer sah es so aus, als hätten sie etwas verloren und suchten es heimlich. Die Frauen saßen vor den Türen, ein bißchen unbehaglich und ein bißchen fremd, und winkten den Autos zu, die ab und zu die Dorfstraße entlang fuhren. Nur die Alten gingen langsam von Haus zu Haus, saßen an den Herdfeuern und brachten alle Geschichten aus der Dämmerung ihres Gedächtnisses herauf. Und später sah man sie auf der niedrigen Mauer des Friedhofs sitzen oder auf einem umgestürzten Boot am Ufer, von wo sie schweigend, mit unbewegtem Gesicht, über Land und Wasser blickten, wo Menschen und Dinge ihren Blick erwiderten, versunkene Menschen und versunkene Dinge, aber für sie waren sie lebendig und so nahe, daß sie sie mit den Händen greifen konnten.

Gotthold und Gina gingen zum Meiler, und für beide war es ein schwerer Gang. Sie fragten sich wohl nicht, ob es für die Mutter nicht noch schwerer war, sie aus dem Fichtenwald heraustreten zu sehen.

Aber man merkte es Frau Marthe nicht an, außer, daß ihre Hände, die sie über dem Stock gefaltet hatte, etwas mehr zitterten als sonst.

»Du bist es nun also, Gina«, sagte sie und empfing den Kuß auf ihr weißes Haar ohne Widerstreben.

Dann wandte sie die dunklen Augen auf Gotthold, der gegen seinen Willen mit einer tiefen Befangenheit den Blick erwiderte, und ließ sie langsam von seinem gewellten Haar bis zu den glänzenden Schuhen wandern. Dann richtete sie ihn wieder auf den Meiler, und erst nach einem langen und bedrückenden Schweigen sagte sie: »Du hast mein Blut ..., aber nicht meine Ehre ...«

Aber sie sagte es ohne Härte. Sie sagte es nur so vor sich hin, und sie hätte auch sagen können: »Er hat mein Blut ...«, so als ob er gar nicht da wäre und sie nur an ihn dächte.

Sie sprachen ein bißchen miteinander, mühsam, wie an zwei Enden einer langen, langen Drahtleitung, und schließlich fragte Gotthold, ob er nicht etwas für sie tun könnte, ihr ein kleines freundliches Haus bauen, mit Geranien an den Fenstern und einem schönen, hellen Badezimmer.

Zum erstenmal schien es den Geschwistern, als ob sie lächelte, ja, als wäre es das erste Lächeln überhaupt, das sie in ihrem Leben an ihr gesehen hätten. Aber es war wohl nur ein Zucken der Lippen, und vielleicht war es sogar ein Lächeln des Schmerzes. »Ein Badezimmer«, wiederholte sie verständnislos. »Sieh nur zu, daß sie weiß wird, Gotthold, weiß wie Schnee ...«

Und sie blieb die Erklärung schuldig, was nun weiß werden sollte.

Aber Gotthold hatte ein unbehagliches Gefühl, als wüßte er es, und bald darauf stand er auf und meinte, daß sie ja einander morgen bei der Abstimmung sehen würden.

Und dann gingen sie wieder, und Frau Marthe sah ihnen nach, bis der Wald ihre hohen Gestalten verbarg.

Es war noch früh am Morgen, als Jons Ehrenreich zum Meiler ging, um die Mutter zur Abstimmung zu führen. Aber die Sonne stach, und die Bremsen waren unruhig wie vor einem schwülen Tag. Johannes hätte mit dem Wagen kommen sollen, dachte Jons, aber sie würde nicht gefahren sein. Sie wollte keinen Aufwand.

Frau Marthe saß auf der Bank wie sonst, gerade und unbewegt. Aber sie trug ihr schwarzes Kirchenkleid mit der goldenen Kette, und zwischen ihren Händen hielt sie das Gesangbuch. Viele alte Frauen trugen an diesem Tage das Gesangbuch.

»So wollen wir beide denn zusammen gehen, Jons?« fragte sie, und wieder war es wie ein Schimmer des Lächelns um ihre blassen Lippen.

»Ich denke, daß es nun nicht das letzte Mal sein wird, Mutter«, erwiderte Jons, und während sie langsam durch den warmen Wald gingen, sehr langsam, erzählte er ihr von seiner Arbeit, und wie der Doktor ihn nun in der Lehre habe, einer unübertrefflichen Lehre, so daß er früher ins Dorf werde heimkehren können, als er gedacht habe.

Sie hörte schweigend zu, und ihr Atem ging so schwer, daß Jons sie voller Sorge von der Seite ansah. »Haben sie dir erzählt, was er für mich bauen will, Gotthold?« fragte sie nach einer Weile. »Ein Haus mit einem Badezimmer!« Und nun war wirklich ein Lächeln um ihren geschlossenen Mund. »Ein großer Herr ist er geworden«, fügte sie hinzu. »Er hat auch am frühesten von euch angefangen ...«

Am Waldrand blieben sie stehen und blickten auf das bunt gewordene Dorf. In dem Schweigen der Frühe konnte Jons den schweren Herzschlag der Mutter hören, und in einer plötzlichen Unruhe bat er sie, doch im Hause einzukehren und sich etwas Ruhe zu gönnen.

Aber sie schüttelte den Kopf. »Es ist nun euer Haus«, sagte sie ohne Bitterkeit. »Er war dort nie zu Hause ...«

Sie gaben als erste ihre Zettel ab, in Grünheids Amtsstube, wo der Wahlraum war, und ihre Kinder standen um sie herum, als sie wieder über die Schwelle trat, ganz hinten Christean auf seinen Krücken. Die Männer und Frauen von Sowirog und die aus der Ferne Gekommenen blickten voller Scheu auf sie, so fremdartig erschien sie ihnen, und als sie ihre dunklen Augen langsam über die Menge gehen ließ, von einem Gesicht zum andern, wendeten viele ihre Augen zur Seite, als könnten sie die schweigende Prüfung nicht bestehen.

Und dann geschah es ohne Vorbereitung: daß sie die linke Hand mit dem Gesangbuch auf das Herz drückte und mit einem leisen Seufzer in Jons' Arme fiel.

Sie legten sie auf den sauber geharkten Sand vor der Schwelle, und Lawrenz kniete an ihrer Seite, das Ohr auf ihre Brust geneigt. »Es wird nicht mehr, Jons«, sagte er leise. »Endocarditis ... sehen Sie zu, ob es etwas Champagner gibt ... Äther habe ich in meiner Tasche.«

Jons wußte, daß der Tod sie nicht auf einen Schlag fällen würde. Sie trugen sie auf einer Bahre zum Jeromin-Haus, und als sie sie vor der Schwelle niedersetzten, erwachte sie. Ihre Augen gingen langsam über Menschen und Dinge, bis sie bei Jons haften blieben. Sie versuchte die Hand zu heben, und Jons erkannte zuerst die Bedeutung ihrer mühsamen Gebärde. Sie wollte zum Meiler.

»Es ist zu weit, Mutter«, sagte er leise. »Willst du nicht hierbleiben?«

Aber sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war leise, aber ganz klar. »Er war nicht zu Hause hier«, sagte sie ganz ruhig.

Es ergriff die Geschwister mehr als irgend etwas, was sie hätte sagen können.

Lawrenz nickte Jons zu, und sie hoben die Bahre wieder auf. Es waren nun viele Menschen versammelt, die ihnen halfen. Am Ende des Dorfes stand schon die Staubwolke, in der Gotthold zur Kreisstadt fuhr mit einem Zettel, den Dr. Lawrenz ausgeschrieben hatte.

Langsam, wie ein großer kranker Vogel, folgte Christean auf seinen Krücken dem Zuge, und rechts und links von ihm gingen die beiden Kinder.

In der Hütte war die Luft dumpf und heiß, und so lag Frau Marthe vor der Schwelle, dort, wo Michael gelegen hatte, als er starb. Lawrenz schickte alle Fremden fort, nur Stilling blieb auf der Schwelle sitzen. Für niemanden, der aus dem Dorfe fortstarb, war Stilling ein Fremder.

Jons bat die Mutter, sich von ihm untersuchen zu lassen, aber sie schüttelte den Kopf. »Ein Kind hat nicht den Leib seiner Mutter zu sehen«, sagte sie, und jedes ihrer Worte war nun mühelos zu verstehen.

Sie saßen zu Füßen der Bahre auf dem Moos, und Frau Marthes Augen gingen langsam von einem zum andern, ehe sie sich auf den Meiler richteten. Dort blieben sie nun.

Nur Jons kniete an ihrer Seite, und sie hielt seine Hand.

Die Sonne verbarg sich langsam hinter einem weißlichen Schleier, und die Pirole riefen unaufhörlich und kündigten den Regen an. Sonst war es ganz still, wie es hier immer gewesen war. Jons schien es, als versinke die Zeit mit jedem schweren Herzschlag der Mutter und alles sei nun wieder wie vor langen, langen Jahren, als der Vater am Meiler gestanden hatte und der hohe Wald um ihre Einsamkeit gewachsen war. Er begriff, daß der Tod die Zeit auslöschte.

Als das erste dumpfe Grollen hinter dem Wald über die Erde ging, wurde Frau Marthe unruhig. Die Luft war unbeweglich und schwer, und unter den fahlen Wipfeln stand der hohe Ton der Insekten, der das Wetter ankündigte. Einmal rief der Schwarzspecht lang und klagend in der Tiefe des Waldes.

Jons sah den Doktor unruhig an, aber dieser schüttelte nur unmerklich den Kopf. Seine traurigen Augen waren still auf Frau Marthes Gesicht gerichtet, und die Ätherspritze lag wie ein zweckloses Spielzeug in seinen Händen.

Dann wollte Frau Marthe ihre Kinder haben. Sie knieten nacheinander bei ihr nieder, legten den Kopf an ihr schwarzes Kleid und fühlten die kühle Hand auf ihrem Scheitel. Auch Christean kniete, wobei die anderen ihm halfen, auch Micha und Barbara.

Dann sah sie unruhig zur Seite, und wieder war es Jons, der sie zuerst verstand. Er holte Erdmuthe und das Mädchen aus dem Paradies, die ihm zitternd folgten, und auch sie empfingen den Segen. Frau Marthe sprach kein Wort, nur ihre dunklen Augen sahen jeden einzelnen kommen und gehen. Niemand wußte, was sie dachte oder empfand. Nur als sie mit ihrer Hand Jons mühsam über die linke Wange strich, einmal nur und ganz leise, wußte er, was sie dachte, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen.

Gotthold war noch nicht zurückgekehrt, und sie fragte nicht nach ihm.

Als der junge Pfarrer kam, nach dem sie geschickt hatten, schüttelte sie nur den Kopf, und Jons war es, als glitte wieder ein Schimmer des Lächelns um ihren Mund. »Er ist da«, sagte sie, und alle verstanden, daß sie den Vater meinte.

Dann zog ihre Stirn sich in Falten zusammen, und ihre Lippen bewegten sich leise. Es war zu sehen, daß sie etwas suchte, und sie beugten sich zu ihr herunter. »Wandte ... sein ...« flüsterte sie. »Wandte ... sein ...«

Maria verstand sie. Maria war in Märchen und Liedern mehr zu Hause als die anderen. Es war ein litauisches Volkslied, und die Mutter hatte es früher mit den Kindern gesungen, als sie noch klein gewesen waren. »O käm' das Morgenrot herauf ...«, begann es. Und es berichtete, wie ein Mädchen auf den Liebsten wartete, der über das Feld zu ihr geritten kam. Aber es trieb seinen Scherz mit ihm, ließ ihn nicht ein, und er »wandte sein Roß und ritt davon«. Nun klagte es, daß er wiederkommen möchte, aber er kam nie wieder.

»Wandte sein Roß und ritt davon ...«, sagte Maria leise mit ihrer schönen, tiefen Stimme.

Frau Marthe nickte, die Stirn entspannte sich, und während ihre Augen auf den verfallenen Meiler gerichtet blieben, starb sie.

Als sie aufstanden und die Bahre in die Hütte trugen, stand der Wald im blauen Licht, und die ersten Tropfen fielen. Jetzt erst sahen sie, daß Kiewitt unter den Wacholderbüschen saß, in einem dunklen, langen Bauernrock aus alter Zeit, der ihm bis unter die Knie reichte. Sein Gesicht sah ganz klein und vertrocknet aus über dem schweren Gewand.

»Wir waren Nachbarsleute«, sagte er zur Erklärung und ging dann über die Lichtung zu seinem Moore zurück.

Der Tod dämpfte die Freude über den Abstimmungssieg, und alle Fremden, die noch da waren, schienen nur zu Frau Marthes Begräbnis gekommen zu sein. Es war ein großes Begräbnis, schon am nächsten Tage, denn die Gewitter standen Tag und Nacht über dem Walde. Stilling hielt die Grabrede, weil die Geschwister es so gewollt hatten. Er sprach über den Vers aus dem Buche Hiob: »Denn wir sind von gestern her und wissen nichts, weil unsere Tage nur ein Schatten auf Erden sind.«

Er wußte, was der Vers bedeutete und daß sie nichts wußten. Der schwüle Wind bewegte sein langes weißes Haar, und das Dorf hörte ihm zu, wie es ihm ein Leben lang zugehört hatte.

Als der Friedhof sich schon geleert hatte, standen nur noch Jons und der Herr von Balk an dem sandigen Hügel. Balk stützte sich mit beiden Händen auf den Korb seines Säbels und blickte mit seinen grauen Augen auf die Kränze nieder.

»Eine große Frau, Jons«, sagte er. »Die einzige, die sich nicht gebeugt hat ...«

In der Truhe am Meiler fanden sie alles, was von Jakobs Leben übriggeblieben war. Seine wenigen Briefe, seine Geschenke und was sie aus Rußland zurückgeschickt hatten. Es war alles auf das sorgfältigste geordnet. Ein paar getrocknete Blumen, die dazwischen lagen, zerfielen ihnen unter den Händen.

Jons nahm alles mit sich, als er mit Lawrenz wieder in die Stadt zurückfuhr.

Im Dorfe Sowirog war nur eine Stimme gegen das Vaterland abgegeben worden, und der Schulze Grünheid hielt den Zettel lange in seiner Hand und blickte auf das Kreuz nieder.

Dann legte er ihn zu den übrigen und trug mit seiner ungelenken Schrift die Zahlen in das amtliche Register ein.


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