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Jons saß hinter dem in Nickel und Glas glänzenden Bartisch der Phönix-Bar, von dem Vorhang verborgen, und sah zu, wie der ernste Mann in der weißen Jacke das Getränk in den Gläsern mischte. Es war derselbe Mann von damals, nur sein Gesicht war etwas grauer geworden von den unzähligen Nachtwachen. Aber seine gemessenen Bewegungen waren noch dieselben, die Verbeugung, mit der er Jons begrüßte, die Hochachtung, die er Gina erwies. Er war ein schweigsamer und zuverlässiger Mann, und sein schweres Gesicht hätte gut unter einem der Rohrdächer des Eulenwinkels geboren sein können.

»Fällt es Ihnen auf, Herr Doktor?« erwiderte er auf eine leise Frage, die Jons in einer Pause an ihn richtete. »Denen da fällt es nicht auf, weil sie nichts zum Vergleichen haben. Es ist immer dieselbe Herde, die sich zum Tränktrog drängt. Aber ich sehe es, und auch die Frau Gräfin sieht es. Die Gesichter sind anders geworden gegen damals. Das Leben hat noch ein bißchen mehr abgewischt.«

Jons hatte es gleich gesehen. Er war niemals in der Zwischenzeit in einer Bar gewesen, und in den Stunden, in denen diese Gesichter auftauchten, in allen Städten, hatte er über seinen Büchern gesessen. »Sie sehen wie Verfolgte oder wie Besessene aus«, sagte er. »Entkleidete Besessene, die sich selbst die Kleider herunterreißen.«

»Nur daß sie nicht schön sind ohne Kleider«, bemerkte der Mixer und nahm mit höflichem Neigen des Kopfes eine Bestellung entgegen.

Jons blickte auf seine Schwester, deren ringgeschmückte Hände über ihre Stickerei glitten. Unbeweglich und unnahbar wie ein Götterbild thronte sie auf ihrem erhöhten Sessel, neigte hier und da ihr schönes Haupt und beantwortete leise einen achtungsvollen Gruß. Sie hätte auch in einem Tempel sitzen können, auf einem silbergetriebenen Sockel, kniende Priester und Gläubige zu ihren Füßen, und den Rauch von Myrrhen und Weihrauch um die makellose, schweigende Stirn. Manchmal schickte sie einen schweigenden Blick zu Jons, und manchmal wandte sie den Kopf in das dämmerige Licht des Raumes, wie eine Frau hinter einem behüteten Fenster auf eine fremde Straße blickt.

Jons aber wurde nicht müde, die Gesichter vor dem Bartisch zu betrachten, Gesichter von verzweifelt und gleichsam rasend Lebenden und Gesichter, die gleich denen von Toten waren, emporgetrieben aus ihren dunklen Wohnungen zwischen Schilf und Schlinggewächsen. Gesichter, die mit verhülltem Haß auf ihr Glas und auf Gina blickten, und solche, die mit Leidenschaft tranken und mit Leidenschaft auf die unerreichbare Schönheit starrten. Aber nicht ein einziges stilles Gesicht, nicht ein einziges von Frieden erfüllt, und wenn die Drehtüren sich leise bewegten und ein leiser, kühler Lufthauch durch den dämmerigen Raum ging, war es Jons, als müßte dies alles schwanken, wie verwitterte Schleifen an verdorrten Kränzen schwanken, wenn der Nachtwind über einen Friedhof geht.

Einmal kam ein Mann in einem offenen Frackmantel herein. Er hatte eine Reihe schimmernder Orden auf der Brust und auf dem Aufschlag seines Fracks ein seltsames Zeichen. Er verlangte mit lauter und scharfer Stimme einen Cocktail. Gina hob unmerklich die Augenbrauen, der Mixer bereitete mit unbeweglichem Gesicht den Trank, mit einer betonten Lautlosigkeit, und in dem Raum breitete sich das Schweigen des Grabes aus. Der Mann sah sich um, als stände jemand hinter seinem Hocker und sah dann Gina an. »Das reine Totenhaus«, sagte er scherzend.

Gina hob kein Auge von ihrer Stickerei, der ernste Mixer schob das Glas geräuschlos über den Tisch, notierte den Preis auf einen Zettel und legte ihn ebenso geräuschlos dazu.

Der Mann zuckte die Achseln, stürzte das Getränk hinunter, legte das Geld klirrend auf die Platte und ging hinaus.

»Wer war das?« fragte Jons leise.

Der ernste Mann sah zuerst Gina an und trat dann an den Vorhang. »Einer von den Neuen, Herr Doktor«, erwiderte er höflich. »Aus der schlechten Gesellschaft ...«

Jons hörte ab und zu eine Vorlesung, keine medizinische, und manchmal sah er eine Operation, bei einem berühmten Chirurgen, zu der Gina ihm den Zutritt vermittelt hatte. Und einmal war er in einer Sitzung des Reichstages und einmal in einem Theater. Aus beiden Häusern kam er mit ernstem Gesicht heraus. Er war nicht glücklich in der großen, schäbigen, lauten Stadt, in der es Umzüge, Streiks und Prügeleien gab und in der die Arbeitslosen in unabsehbaren Reihen vor den Stempelstellen standen. Auch hier sah er böse Gesichter, und das Böse in ihnen war nackter und gefährlicher, als er es in seiner Heimat gesehen hatte.

Er sprach viel mit Gina, am Nachmittag oder am Abend, bevor sie in den »Tempel« ging, und er wollte vieles wissen. Aber sie kam ihm zurückhaltend vor, sah ihn nur liebevoll an und strich ihm beim Auf- und Abgehen das Haar aus der Stirne. »Sieh zu, daß du bald fertig wirst, Jons«, sagte sie, »und in den Eulenwinkel gehst. Die meisten denken, daß alles gut geht und das Leben eine fröhliche Sache ist und bleiben wird. Aber ich kenne ein paar, die sehr kluge Leute sind, in sehr hohen Stellungen, und sie denken nicht, daß alles gut geht. Sie denken, daß wir eine Revolution bekommen werden, eine sehr ernsthafte, so wie die französische oder die russische, und daß wir Dinge erleben werden, von denen man besser nicht spricht.«

»Revolutionen kommen auch in die Dörfer, Schwester«, sagte Jons nach einer Weile. »Ich kenne keine, die ein Dorf ausgelassen hätte. Aber vielleicht seht ihr hier nur Gespenster wie Kiewitt oder mein Doktor Lawrenz. Ich weiß es nicht, denn ich habe mich nicht darum gekümmert. Die Gesichter gefallen mir nicht, aber sie haben mir nie gefallen. Und in einem Jahr will ich in Sowirog sein, Gina, spätestens in einem Jahr. Und vielleicht gehst du doch nicht nach dem Stillen Ozean, sondern in den Eulenwinkel?«

Sie lächelte und legte den Arm um seine Schulter. Hinter ihm stehend blickte sie aus dem großen Fenster auf die grünen Wipfel der Straßenbäume. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber wahrscheinlich war es ein ernstes Gesicht, denn ihre Stimme war ernst, als sie sagte: »Es ist nicht weit genug, Jons ... für das, was vielleicht kommt, ist es nicht weit genug.«

Sie stand auf dem Bahnsteig wie damals vor Jahren. Sie küßte ihn auch wieder, aber als Jons sich aus dem Fenster des langsam anfahrenden Zuges beugte, dachte er, daß sie nicht mehr dieselbe sei. Sie stand da wie eine Heimatlose in dem Kreis, den die Menschen immer frei ließen um sie, und aus der Ferne, aus der man weder ihren Pelz noch ihre Schönheit erkennen konnte, sah sie aus wie ein Mädchen aus Sowirog, verlassen und verloren, auf eine fremde Erde gestellt, die ihr Brot und Obdach gab, aber was die Menschen um sie sprachen, war nicht ihre Muttersprache, und was sie taten, war nicht ihr Tagewerk, zu dem sie einst geboren worden war.

Jons kam am späten Nachmittag in der kleinen Universitätsstadt an. Alle Hügel und Hänge blühten, und als er auf der steinernen Brücke stehenblieb, die den stillen Fluß überquerte, und über die Schieferdächer hinwegblickte, eng und wirr aneinandergebaut, die Reihe der alten Platanen entlang, Mauern und Treppen, von Flieder und Goldregen überhangen, und dahinter Weinberge, Hügel und Wald, in sanften Linien sich überschneidend, stand ihm dahinter das schüchterne Bild seines Dorfes auf, das Unermessene und Unbegrenzte, das Armselige und fast Verlorene einer anderen Erde, die noch Wildnis und Öde gewesen war, als hier schon Stein auf Stein sich legte, zu Straßen, Brücken und Domen, und er erkannte, daß ein Vaterland Bezirke umspannen konnte, die wohl geeint waren durch Sprache, durch Königtum oder Gott, aber in denen die Tagewerke, die Feierabende, ja die Zeit fremd nebeneinander herliefen, und daß es ihm schwer werden würde, den Stabsarzt oder nur die geringste Schwester davon zu überzeugen, daß es für ihn geboten sei, in die Öde zurückzukehren und dort ein kleiner Arzt und Geburtshelfer zu sein für Lebenszeit.

Er stieg langsam viele Treppen hinauf, wo der Blick immer weiter in die Runde ging, bis zu einem fernen, sanften Gebirge, aus dessen blauen Konturen sich Trümmer von Burgen heraushoben, saß eine Weile auf einer der Bänke, von der das schimmernde Band des Stromes weit nach Quelle und Mündung zu übersehen war, und läutete dann mit etwas Herzklopfen an der Tür des schönen Hauses, das tief in einem blühenden Garten stand.

Der Professor sei noch in seiner Privatklinik, wurde ihm freundlich bedeutet und ihm der kurze Weg an den Gärten entlang beschrieben.

Das würde er nun wohl in seinem Leben nicht haben, dachte Jons lächelnd, als er weiterging. Wahrscheinlich würde das Jeromin-Haus seine Privatklinik sein, und er drehte sich noch einmal um, den schönen Besitz mit seinen Augen umfassend, der wie eingesponnen in das Flöten der Amseln lag, ein stilles Reich, von bewachsenen Mauern behütet, hinter dem das erste Abendrot friedvoll seinen Vorhang aushing.

Die abweisende Würde einer Privatklinik machte auch vor Jons und seiner bescheidenen Anfrage nicht halt, und die Oberin, die dazu kam, leise vor sich hinrauschend, wie ein Schiff unter Segeln, bedeutete ihm, daß der Herr Professor gleich zu operieren habe und nicht gestört werden dürfe. Auch wenn er nicht Arzt sei, werde er wohl verstehen, daß sich daran nichts ändern lasse.

Ein bißchen Arzt sei er nun zwar, erwiderte Jons lächelnd, und auch Oberschwestern habe er genug kennengelernt, um einzusehen, daß sich an ihnen niemals etwas ändern lassen werde.

Aber gerade als die so ungewöhnlich Angeredete mit einem schnellen Zorn in den Augen antworten wollte, öffnete sich eine der weißen Türen neben ihr, und der Professor kam mit seinem schnellen Schritt über die Schwelle. Es war, als trüge er immer noch Sporen, dachte Jons, und auch die scharfen, fast harten Augen waren noch dieselben, die über Menschen und Dinge wie über Feindesland flogen, die nie Zeit hatten, weil es damals keine Zeit gegeben hatte, als die Schlachten und die Sanitätswagen einander ohne Pause folgten.

»Was gibt's?« fragte er kurz und sah von dem Gesicht der Oberin schnell zu dem des Besuchers.

»Da ist ein gewisser ...«, begann die Oberin mit verletzter Würde.

»Es ist nur der Mann mit dem Knopf, Herr Stabsarzt«, sagte Jons bescheiden. »Aber er wird gerne warten.«

Der Professor zog die Augenbrauen zusammen, als erlaube sich hier jemand einen unpassenden Scherz mit ihm, und der kleine korrekte Assistenzarzt hinter ihm machte ein Gesicht wie der beleidigte Sohn eines großen Vaters.

»Der Schatten eines großen Felsen ... im trockenen Land ...«, sagte Jons leise.

Und zu der erstarrten Verblüffung der Umstehenden machte der Professor zwei schnelle Schritte, legte die Arme um die Schultern des Fremden und zog ihn an seinen weißen Mantel. »Jeromin«, sagte er leise, »Jons Ehrenreich ... sind Sie es wirklich?«

Seine harten Augen waren von Freude und Güte erfüllt, und eine Weile tat er nichts, als daß er mit seinen Blicken das stille, bewegte Gesicht umfing.

»Ich kann warten, Herr Professor«, sagte Jons noch einmal leise, und es war ihm schwer, seine Rührung zu verbergen. Das ganze vergangene Leben schien sich über ihn zu stürzen, die Jahre des Krieges, Mühsal und Schlachten, Regen und Feuer, diese weglose Wanderung über Räume und Zeiten, die Gesichter aller Toten und ihre graue Erstarrung, und dazwischen immer der große, weiße Saal des Friedens und dieser Mann, der an seinem Bett gesessen und die Fingerspitzen auf sein Herz gelegt hatte.

»Kommen Sie, Jeromin«, sagte der Professor und nahm seinen Arm. »Sie sind doch Arzt geworden? Armenarzt, ja? Ich habe nichts vergessen. Nichts, Jeromin! Ich muß operieren, und Sie können dabei sein. Resectio pylori. Wahrscheinlich mit Magendarmschnitt.«

Es kam so, daß Jons operierte. Er sollte den Anfang machen, einen ganz bescheidenen Anfang, wie der Professor lächelnd sagte. Er wolle nur sehen, was aus ihm geworden sei, und er stand dabei, die rechte Hand schon erhoben, wie bei einem Kinde, dem man die Zügel oder ein Steuer für einen Augenblick anvertraut. Aber er ließ die Hand langsam wieder sinken und sah zu. Er sagte kein Wort, außer daß er ab und zu den korrekten Assistenten leise berief, der aufgeregt und ungeschickt war. Die Operationsschwester verzog keine Miene, aber die Oberin atmete so laut, daß ihre gestärkte Schürze unter dem Mantel sich knisternd hob und senkte.

Der Professor sah sie mißbilligend an, aber er sagte nichts. Er beugte sich nur etwas vor, als Jons das untere Ende des Dünndarmes in die Magenwände einnähte. »Machen Sie zu, Kölble«, sagte er leise, als Jons sich aufgerichtet hatte.

Er nahm den Puls des Bewußtlosen, eines kleinen, abgezehrten Weinbauern aus einem der Dörfer am Fluß, und blickte auf den schmalen Körper nieder. »Ein Köhlerssohn ...«, sagte er, in Gedanken verloren. »Und mit dem Propheten Jesaja aufgewachsen ...«

Die anderen verstanden ihn nicht ganz, aber das verstanden sie doch, daß er nicht den Kranken meinte.

Der Stabsarzt ging schweigend mit Jons bis zu dem schönen Hause, das nun schon in der Dämmerung lag. Er rauchte hastig an seiner Zigarette, und erst als er sie am Gartentor auf den Kies warf, sah er Jons mit der schnellen Wendung des Kopfes an, die er schon im Lazarett gehabt hatte. »Der ist nun der Beste, den ich auftreiben konnte«, sagte er, und Jons verstand sofort, daß er den Assistenten meinte. »Ein korrekter Flickschneider, so wie einer einen Anzug flickt. Aber wie dieser berechnet er jeden Faden und jede Elle Tuch. Und ich denke, daß er sich freuen wird, wenn mir einmal etwas mißlingt ..., ach, Jons Ehrenreich, was haben Sie für einen tröstlichen Namen und was würde ich für eine Klinik haben mit Ihnen ...«

Er blieb stehen und sah zu dem Hause empor, an dem die Rosen hinaufrankten. Ein paar Fenster waren hell, und aus einem, das zur Hälfte geöffnet war, klang eine Frauenstimme in die Dämmerung hinaus. »Frühling, was bist du gewillt? Wann werd' ich gestillt?«

Sie lauschten beide, der Professor mit verschlossenem Gesicht. »Was diese Dichter alles für Sorgen haben!« sagte er dann spöttisch und zog den Schlüssel aus der Rocktasche. »Er ist gewillt, Sommer zu werden. Das ist das Geheimnis ... und das andere? Beneficium mortis, Jeromin. Das ist es.«

Die Frau war schön, und sie war kostbar gekleidet. Auch das Haus war schön und kostbar, und Jons trat vorsichtig auf, um nichts zu beschädigen. Sie sah ihm von der Seite ein bißchen spöttisch und ein bißchen gutmütig zu, aber schließlich sagte sie doch: »Sie können ruhig etwas herunterwerfen, Herr Jeromin. Mein Herz hängt nicht so schrecklich daran.« Ihre Oberlippe war ein wenig zu kurz, und wenn sie lächelte, zeigten sich ihre weißen, regelmäßigen Zähne. Aber ihre Bewegungen schienen Jons unruhig, und sie rauchte mehr Zigaretten als der Professor.

»Bei uns zu Hause war es schlimm, wenn wir etwas herunterwarfen«, sagte Jons. »Wir hatten sehr wenige Sachen, und deshalb war es schlimm.«

Sie saßen in der großen Bibliothek, und der Professor fragte nach dem Dorf mit dem seltsamen Namen und nach seinen Angehörigen.

»Ich dachte, Sie würden alles vergessen haben, Herr Professor«, begann Jons zögernd.

»Ich vergesse nichts, was aus der Tiefe kommt«, sagte der Professor. »Weder Menschen, noch Krankheiten, noch Worte. Ich bin kein Flickschneider. Schatten eines großen Felsen ... die kleinen Leute ... ich habe alles behalten.« Und er erzählte seiner Frau von Jons und seiner Verwundung und wie er ihn geheilt habe. Aber er erzählte es, wie er einem Studenten im ersten Semester den Namen »Chirurgie« erklärt haben würde, ein bißchen abwesend und ein bißchen gelangweilt.

Sie hörte aufmerksam zu, nicht gelangweilt, aber ihre Oberlippe ließ einen Teil der schönen Zähne frei, und Jons dachte, daß sie sich lustig mache über ihn, über ihren Mann und über alles, was so ernsthaft genommen wurde.

Aber er erzählte doch. Daß die Mutter tot sei, und von dem Vers, den sie geflüstert hatte. Von Christean, daß er gottbegnadet sei, und von Maria, die immer noch zum Moorrand gehe. Von Stilling und seiner goldenen Uhr mit der Inschrift von »Treu und Redlichkeit«, und dem Herrn von Balk und seinem Papagei, der nun »Allons enfants ...« rufe. Und von dem Krebsfang und wie sie auf der Insel gelegen hätten, unter dem Grabkreuz des Großvaters, der ihn gesegnet und zu ihm gesagt hatte: Gehe nun, Enkelkind!«

Die kleine Uhr auf dem Marmorkamin schlug still und eilig vor sich hin, die Vorhänge bewegten sich leise im Wind, und der Professor hatte den Kopf in die Hand gestützt, rauchte und hörte zu. Mit einem abwesenden, fast finsteren Gesicht, als werde die Geschichte eines bösen Lebens erzählt.

Auch seine Frau hörte zu, und sie lächelte nun nicht mehr. Ein tiefes, kindliches, fast hilfloses Erstaunen ergriff langsam Besitz von ihrem Gesicht und verwandelte es, Jahre zurück und lange Wegstrecken zurück, und ein anderes Gesicht kam zum Vorschein, ein lange vergangenes, so als ob die beiden nicht mehr zusammengehörten und nie mehr in eines zusammenfließen würden.

»Ja, die kleinen Leute, Jons Ehrenreich ...«, sagte der Professor nach einem langen Schweigen und blickte durch seine Frau hindurch auf die Reihen der Bücher, die Gemälde, die stillen versammelten Kostbarkeiten. »Solch einen Raum werden Sie nun wohl nie haben, Jeromin?« fragte er mit einem schwermütigen Lächeln.

Jons sah sich noch einmal um, bevor er antwortete. Nein, den würde er wohl nie haben, und das sei gut, denn kein Kranker aus Sowirog würde ihn jemals betreten wollen, auch wenn er die Schuhe vorher ausgezogen hätte.

»Sieben Kinder«, sagte der Professor. »Und drei davon wohlgeraten, die Toten nicht gerechnet ... Das ist viel, Jeromin, sehr viel.«

»Und dort wollen Sie nun bleiben? Ihr Leben lang?« fragte die Frau, immer noch mit ratlosen Augen.

»Ja, das will er wohl, Sabine«, erwiderte der Arzt statt seiner. »Und das ist ihm wohl zugemessen vom Schicksal ... wie uns dieses hier.«

Sie schüttelte den Kopf, sah nach ihrer Armbanduhr und stand auf. »Sie sind mir ein bißchen unheimlich, Herr Jeromin«, sagte sie mit etwas unsicherem Lächeln. »Grübler sind immer unheimlich. Grübler und Revolutionäre. Man weiß dann nie, ob die Sonne noch einmal aufgehen wird.«

»Sie geht schon auf, Sabine«, sagte der Professor. »Auch sie weiß, was sie euch schuldig ist.«

Frau Sabine hob ihre Hand Jons zum Kuß entgegen, aber er verstand es nicht. »Das Gästezimmer ist fertig für Sie«, sagte sie und lächelte nun wieder wie früher.

Aber Jons lehnte das dankend ab. Er sei schon in einem kleinen Gasthof untergekommen, dicht über dem Fluß. Dies sei alles viel zu schön für ihn, und nur am Abend würde er gern einmal wiederkommen.

»Ein sonderbarer Heiliger sind Sie«, sagte sie seufzend und nickte ihnen zu. »Ich denke mir, daß Ihr Eulenwinkel gar nicht mehr in Deutschland liegt ...«

»Doch!« beteuerte Jons ruhig. »Unter 22 Grad östlicher Länge und 53½ Grad nördlicher Breite.«

Der Professor seufzte nicht, wie Jons es sich angewöhnt hatte, aber er blickte eine ganze Weile auf die Tür, durch die seine Frau verschwunden war. Dann holte er aus einem Nebenraum eine Flasche und goß den roten, schweren Wein in zwei Gläser. Er hielt sein Glas lange in der Hand, ließ das Licht der Lampe sich darin spiegeln und stieß es dann leise an das andere. »Auf Ihr Dorf, Jons Ehrenreich!« sagte er feierlich. »Das unter dem Mondgebirge liegt.«

Dann lehnte er sich zurück und sah Jons an, bis das schöne, gütige Licht wieder in seinen Augen erschien, mit dem er damals auf den Fiebernden geblickt hatte.

»Es sind nun bald zehn Jahre, Jons«, sagte er. »Die Zeit läuft, und für die Chirurgen läuft sie doppelt schnell. Auch trinken sie meistens zuviel, ist Ihnen das schon aufgefallen?«

Nein, das war Jons nicht aufgefallen, weder hier noch anderswo. Ja, Dr. Lawrenz trinke ein bißchen viel, und es sei schwerer Portwein, aber er habe wohl auch mehr zu tragen als die Chirurgie.

»Wir alle tragen ein bißchen mehr, Jons«, sagte der Professor. »Der eine ein Kreuz, der andere einen Paradiesvogel.« Und nach dieser dunklen Bemerkung wollte er wissen, wer Lawrenz sei.

»Dort also haben Sie es gelernt, Jons« sagte er dann. »Nicht auf den Universitäten, und es hat keinen Zweck, wenn ich Sie bitte, zu mir zu kommen. Sie können hier nicht viel mehr lernen als eine Vervollkommnung des Handwerks. Technik, wie das schöne Wort heißt. Und Technik ist vom Teufel. Sie verführt zu dem Glauben, alles zu können, zum mindesten, alles zu versuchen. Kein Beruf ist gefährlicher als der des Chirurgen, Jons. Seine dunkle Liste ist die längste. Er würfelt mit dem Tode. Manchmal gewinnt er, meistens verliert er. Aber das gefährlichste für ihn ist, daß er auf jeden Fall zu verlieren meint, wenn er gar nicht würfelt. Der Mann heute, meinen Sie, daß Sie gewonnen haben, Jons?«

»Wir haben ihn vor schweren Schmerzen und vor dem Verhungern bewahrt, Herr Professor«, sagte Jons ruhig. »Und das ist doch kein Würfelspiel?«

Der Arzt sah ihn grübelnd an. »Doch, wir haben um ein paar Jahre gespielt, Jons. Wir haben etwas fortgenommen, was die Schöpfung anders eingerichtet hat, und wir wissen nicht, ob sie nicht ein Wunder vorhatte. Wir haben es vielleicht verhindert. Und die Schöpfung ist voll von Wundern ... glauben Sie, daß Ihr Großvater den Schnitt gemacht haben würde? Nicht einmal Ihr Vater würde ihn gemacht haben, wenn er gleichzeitig ein Köhler und ein Chirurg gewesen wäre. Der Köhler würde seine Hand festgehalten haben, der Teil in ihm, der zu Gottes Füßen gesessen hat. Der andere, der zu den Füßen der Hochschullehrer gesessen hat, der würde geschnitten haben. Der würde alles schneiden, was es nur gibt ...

Wir nennen das Fortschritt, Jons, was uns von den Vätern unterscheidet. Unsere Technik, unseren Wagemut, die Kühnheit, mit der wir binden und lösen. Aber manchmal denke ich, daß schon diese eine Tatsache eine furchtbare Mahnung für uns ist: daß wir das Opfer zuerst betäuben. Haben Sie einmal nachgedacht darüber, Jons? Wir wollen keinen Segen mindern, den die menschliche Hand erfunden hat. Aber alles Wehrlose ist eine schreckliche Mahnung, Jons. Können Sie an Gastroenterostomie auch nur denken, ohne daß Sie das Opfer zuerst betäuben? Ich denke viel darüber nach. Es ist das, was sie ›Grübeln‹ nennt. Das Unheimliche für sie ...«

Jons sah ihn voller Mitleid an. Es war nicht das Medizinische, was ihn bedrückte. Auch Lawrenz zweifelte, auch er selbst. Es war das, daß er ›sie‹ sagte.

»Ich denke nicht oft darüber nach, Herr Professor«, erwiderte er nach einer Weile. »Ich bin noch zu jung, und ich denke auch daran, daß ich nicht hier sitzen und Ihnen zuhören würde, wenn Sie mich damals nicht betäubt hätten. Auch ich war wehrlos, und ich glaube, daß man nicht so denken soll. Vielleicht ist es das Unaufhörliche, das Sie bedrückt. Ich werde alle vier Wochen eine Operation haben oder vielleicht nur alle drei Monate. Und ich denke, daß alles gut ist, was den Wehrlosen Schmerzen nimmt. Der Tod fragt nicht nach Schmerzen, aber es ist schön, daß der Mensch danach fragt. Eine Zeit, die nicht danach fragen würde, wird eine böse Zeit sein. Alle Revolutionen waren solche Zeiten.«

Der Professor nickte und holte die zweite Flasche. »Vielleicht ist es auch das, Jons, daß wir uns bezahlen lassen«, sagte er dann. »In einem bezahlten Heilen liegt ein Keim von Unsittlichkeit. Aber es ist alles verflochten und verstrickt. Der Mann, den Sie operiert haben, hat ein paar Weinberge, aber er wird mir seinen Wein nicht umsonst geben, obwohl auch er Heilung für mich ist. Ein paar Flaschen, aber nicht mehr, das wird er zur Not geben. Den Knopf, den ich damals herausholte, Jons, haben Sie nicht zu bezahlen brauchen. Das heißt, daß es auch anders geht ...«

Er bat Jons, ein paar Tage zu bleiben. Tagsüber könne er ihm zusehen, und auch er, der Professor, möchte ihm gerne zusehen. Und am Abend sollte er ein paar Stunden bei ihm sitzen. »Ich spreche gern, Jons, und ich habe niemanden, zu dem ich sprechen könnte. Das war schon damals so, als Sie vom Meiler erzählten. Sie kommen aus einer anderen Welt, wo die Dinge in einer anderen Ordnung stehen. Man braucht gar nicht zu sagen, daß es eine bessere Ordnung sei, aber es ist eine andere. Eine frühere, und das letzte ist nicht immer das beste. Auch mein Assistent hat eine Ordnung, eine sehr ordentliche Ordnung, aber es ist eine gekaufte Ordnung. Man kann sie auf Schulen und Universitäten kaufen, wenn man Geld hat. Und auch die Oberin hat eine Ordnung, eine strenge und würdevolle Ordnung. Aber für sie sind Sie nur »ein gewisser«, und dahinter folgt irgendein Name. Jeromin zum Beispiel. Ein Etikett, kein Begriff, kein Mensch. Und das war mir doch damals schon so merkwürdig, daß Sie ein Mensch waren, Jons. Damals gab es nur Soldaten, gleichviel, welchen Rang sie hatten. Sie aber waren ein Mensch. Sie legten Ihre Hand auf meine Hand, auf der Bettdecke. Auf die Hand des Stabsarztes. Das ist das ›Unheimliche‹, Jons ...«

Er brachte ihn bis zum Gartentor. Die Sterne standen ruhig über der blühenden Erde, und man hörte den Fluß leise talwärts rauschen.

Jons blieb drei Tage in der kleinen Stadt. Der Professor ließ ihn ungern gehen, und er wollte in zwei oder drei Jahren nach Sowirog kommen, sobald Jons sich ganz und gar eingerichtet haben würde. Jons lud auch die Frau ein, aber sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Es ist zu weit nach Osten, Herr Jeromin«, sagte sie. »Zweiundzwanzig Grad östlicher Länge ist zu weit für mich ...«

Er küßte auch jetzt nicht ihre Hand, und sie sah ihm lächelnd nach, wie er vorsichtig über den Teppich ging und allen Kostbarkeiten behutsam auswich.

Jons schickte seinen kleinen Koffer nach der Stadt, in der Tobias lebte. Er hatte beschlossen, den Weg zu Fuß zu machen, in ruhigen Tagesmärschen, um noch etwas von seinem Lande zu sehen, ehe er hinter den »östlichen Längengrad« ging. Er wanderte über die rauhe Alb und die Donau hinunter, wandte sich dann nach Norden und kam über den Böhmerwald und das einsame Fichtelgebirge in das flache und armselige Land, über dem die hohen Schornsteine rauchten und in dem Tobias nun zu Hause war. Er ging langsam wie ein Spaziergänger, ein bißchen Sorge im Herzen, aber die Augen voller Freiheit und Fröhlichkeit. Er war niemals in seinem Leben so gewandert. Er übernachtete in kleinen Wirtshäusern und am liebsten in einem kleinen Bauernhof. Dort saß er am Herd, sah und hörte zu und erzählte gern von seinem Dorf und dem Leben an der Ostgrenze. Hier war niemand, dem er »unheimlich« war. Die kleinen Leute waren einander nie unheimlich gewesen. Aber er erfuhr von den Sorgen des Landes, von den leisen Strömen, die unter der Oberfläche gingen und manchmal verschwanden, wie das Donauwasser am Anfang seiner Wanderung einmal unter einer Felswand verschwunden war. Er konnte auch hier und da einen ärztlichen Rat geben und ein bißchen »heilen«, und am Morgen brachten sie ihn alle bis zum Hoftor und sahen ihm eine Weile nach. Einem Wanderer aus einem fremden Land, der merkwürdige Dinge sagen konnte, aber der doch ihresgleichen war, trotz Studium und Doktortitel.

Durch das Flachland fuhr er mit der Bahn. Es war eine kümmerliche, kleine Stadt, die von der Braunkohle lebte. Die Schornsteine standen wie nackte Bäume über ihr, und der Rauch verdunkelte ihre Fenster. Eine kleine Menschenrasse schlich unfroh über die Straßen, von denen ein dunkler Staub aufstieg, und vor den Amtsgebäuden standen lange Reihen von Arbeitslosen. Ihre finsteren Gesichter waren wie an unsichtbaren Schnüren aufgehängt.

Jons hatte seine Ankunftszeit nicht mehr mitteilen können, aber er fand Tobias zu Hause. Die graue, schmucklose Kirche stand am Rande der Stadt, und das Pfarrhaus erschien viel zu groß unter den kleinen Arbeiterhäusern. Man konnte nicht glauben, daß Gott hier soviel Raum brauchte.

Tobias stand am Fenster und hob beide Hände zum Gruß. Es sah aus, als warte er schon seit Jahren auf einen Gast aus der anderen Welt. Als hätte Gott ihn nur ein bißchen vergessen und müßte ihm doch endlich einen Boten schicken, auch in den Schatten der Schornsteine hinein.

Er war auf eine merkwürdige Art unverändert. Er sah noch immer so aus wie auf den Grabenrändern am ›Toten Mann‹, und auch seine Hände waren beim Sprechen so zusammengelegt, als hielte er sie noch immer um einen Stahlhelm, der ihm viel zu groß war. Die Jahre hatten sich nur um seinen Mund gelegt, aber seine Augen waren noch immer Kinderaugen.

»Du darfst nicht denken, daß Gott mich vergessen hat«, sagte er, als sie in seinem großen und leeren Arbeitszimmer saßen. »Er hat wohl nur etwas anderes mit mir vor, und er wartet, bis ich reif dazu bin.«

»Gibt es denn hier Arbeit für dich?« fragte Jons voller Mitleid und sah aus den großen Fenstern auf den Wald von Schornsteinen hinaus.

»Zuerst habe ich es gedacht, Jons, und nun ist das Schreckliche, daß ich es nicht mehr denke. Hast du die Straßen gesehen, als du vom Bahnhof hergekommen bist? Den dunklen Staub auf ihnen? Siehst du, und so ist es hier auch mit den Seelen. Frau Pötzschler wäscht jede Woche die Fenster ab, aber das hilft nichts. Am Anfang hatte ich Blumen im Garten, Nelken, Goldlack und sogar Levkojen, aber es waren keine richtigen Blumen, weißt du. Sie waren künstlich, und ich mußte sie jeden Tag sprengen, um die Farben zu sehen. Sie wuchsen wie unter der Asche.

Zuerst hörten die Menschen zu. Es war ihnen neu, und es war eine Unterbrechung. Wie ein neues Kinoprogramm. Aber dann fiel auch darauf der dunkle Staub. Auf die Predigten, auf die Kanzel, wahrscheinlich auch auf mich. Und nun ist keiner mehr da, der uns am Abend besprengt. Ich selbst, ich halte noch Gottes Hand, ich fühle es. Aber ich kann es nicht weitergeben. Sie sehen mich nicht vor Staub, und ›Ihn‹ sehen sie schon gar nicht. Sie sind arbeitslos und stehen und sitzen herum. Wie Zaunpfähle, zwischen denen die Latten fehlen.«

»Und was soll werden, Tobias?«

»Ich muß warten, Jons. Sie wollten mir eine andere Pfarre geben, aber ich habe abgelehnt. Es ist nicht so, daß Gott einen nur ein paar Häuser weiterschickt. Seine Schritte sind größer.«

»Aber wie wirst du wissen, wann er das Richtige für dich meint?«

»Das werde ich fühlen, Jons. Ich sagte dir ja, daß ich noch seine Hand halte.«

Seine Kinderaugen waren mit einer tiefen Zärtlichkeit auf Jons gerichtet, ganz ohne Traurigkeit oder Verzagtheit. Ein Kind, das auf der Schwelle eines leeren Hauses saß, ganz und gar gewiß, daß die Eltern wiederkehren würden.

»Du bist nun der zweite aus diesen Jahren, Tobias«, sagte Jons, »den ich gefunden habe und der in Gott ruht. Der erste war Dr. Lawrenz, aber er hatte einen anderen Glauben.«

»Bei Gott gibt es keinen anderen Glauben, Jons. Den gibt es nur bei den Menschen. So wie es bei ihnen andere Städte oder andere Länder oder andere Sprachen gibt. Dort aber ist nur eine Stadt, und ein Land, und eine Sprache.«

»Du hast nie gezweifelt, Tobias?«

»Oft, Jons, oft! Aber nur an mir, nie an Ihm.«

Jons blieb eine Woche bei ihm. Sie gingen auch manchmal »über Land«, wie Tobias es lächelnd nannte, und wenn sie weit genug gegangen waren, fanden sie auch ein paar Felder und sogar ein Stückchen Wald. Beide waren mager, aber sie blieben doch lange in dem spärlichen Schatten und versuchten, die Schornsteine nicht zu sehen. Aber man sah sie überall, soweit der Horizont sich erstreckte.

Es kam niemand in das große, leere Haus, außer bei einem Todesfall oder bei einer Taufe. Und auch Tobias ging nicht aus. »Sie mögen mich nicht, Jons«, sagte er ohne Bitterkeit. »Das heißt, mich mögen sie schon, aber Gott mögen sie nicht. Und da ich immer in seiner Begleitung bin, so können sie nicht anders als die Tür verschließen.«

Am Sonntag ging Jons in die Kirche und hörte der Predigt zu. Ein Dutzend alter Frauen saßen in den nüchternen Bänken und ein paar Kinder, die einander anstießen und kicherten. Die Predigt war nicht mehr als ein Selbstgespräch, ein schönes, stilles, kindliches Selbstgespräch über die Stelle: »Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan ...«

Es war eine tröstliche Predigt, selbst für Jons, der Trost, der aus einem unerschütterlichen Kinderherzen leuchtete. Für das die Wirklichkeit nur ein Schein war, ein Nebelstreif, von den Menschen mit Namen benannt: Armut oder Hunger oder Tod. Aber dahinter stand die große, goldene Wahrheit, bereit, sich für jeden aufzutun, der den Schein beiseite legte.

War es ein törichtes Leben? Ein vertanes Leben? Jons glaubte es nicht. Es war nur ein Leben, das sich in ein falsches Haus verirrt hatte. Die Tür war zugefallen, aber einmal würde jemand kommen und öffnen und den still Wartenden in das richtige Haus führen.

Als sie auf dem Bahnsteig standen, legte Jons seine Hand um Tobias' Arm. »Damals«, sagte er, »dachtest du, daß du dorthin gehen müßtest, wo Gott am meisten gefährdet sei. Aber er ist nicht mehr in Gefahr hier. Er ist Staub geworden für diese Menschen hier, er hat sich aufgelöst ...«

»Er hat etwas vor, Jons«, sagte Tobias leise. »So wie dein Doktor es sagt. Ich weiß noch nicht, was es sein wird, aber er hat etwas vor.«

»Und wenn er mit dir vorhätte, dich nach Sowirog zu bringen, was würdest du dann tun, Tobias?«

»Ich würde kommen. Selbstverständlich würde ich kommen, Jons. Nicht deinetwegen ... verzeih, wenn ich das so sage ... aber seinetwegen.«

»Wir haben einen toten Pfarrer auf dem Kirchenhügel, Tobias. Schon lange Jahre. Aber wir haben noch keine Kirche.«

»Das tut nichts, Jons. Es steht nirgends geschrieben, daß Gott eine Kirche will. Er will nur sein Reich, das Reich Gottes. Die meisten Pfarrer denken, daß sie eine Kirche brauchen, aber das ist nicht so. Sie werden berufen oder bestellt, wie es heißt. Aber rufen, Jons, rufen tut sie nur Gott.«

Er sah dem Zuge nicht nach. Er ging gleich zurück, weil er zu einer Beerdigung mußte. Aber Jons sah ihn noch lange, wie er auf der dunkelbraunen Straße vorwärtsschritt, in das weite Rund der hohen Schornsteine hinein. Ein kleines, schmales Menschenwesen, das tapfer und ohne Furcht auf einen leeren, schweigenden, versteinten Wald zuging.

Jons kehrte sehr nachdenklich in seine Heimat zurück, und gleich darauf begann er mit seiner Arbeit, zu der Lawrenz ihm geraten hatte. Er war in der laryngologischen und dann in der Augenstation, und das zweite Halbjahr war er Assistent in einer Kinderklinik. Er hatte gute Lehrer, und da man wußte, daß er nun »in die Einöde« gehen würde, auf nichts als sein eigenes Wissen angewiesen, übertrug man ihm vieles, was sonst den Chefärzten vorbehalten blieb. Niemals enttäuschte er ein Vertrauen, und wo immer er erschien, vor einer bedenklichen Operation, oder in einem Streit der Schwestern, oder bei einem Zornausbruch des leitenden Arztes, immer verschwand alles Nervöse oder Erbitterte vor seinen ruhigen, tiefliegenden Augen. Manchmal sagte er ein Wort aus dem Alten Testament und manchmal eines seines Vaters oder auch des Herrn von Balk, und wer zu Anfang darüber gelächelt hatte, lächelte nun nicht mehr, sondern hörte ihm still zu, ein bißchen verwundert oder ein bißchen wehmütig, und wenn er seinen abgeschabten Mantel am Abend anzog und die alte Pelzmütze aufsetzte, sahen sie ihm mit leisem Kopfschütteln nach und gingen dann wieder seufzend an ihre Arbeit.

»Es ist doch ein Jammer um Sie, Jeromin«, sagte der Laryngologe beim Abschied.

»Viele sagen es, Herr Geheimrat«, erwiderte Jons, »aber ist es nicht besser, daß es ein Jammer um mich ist statt um mein Dorf und viele andere Dörfer? Und dabei ist es gar kein Jammer um mich. Ein Mann, der zur Arbeit geht, das ist es, Herr Geheimrat. Und um solch einen Mann war niemals ein Jammer bei uns.«

Nicht einmal bei Dr. Lawrenz war Jammer. Er rauchte und trank ein bißchen mehr als sonst, aber das war alles. »Zeit für den Eulenwinkel, Jons«, sagte er. »Sie warten, und die besten Kinder werden ungeduldig, wenn das Christkind nicht kommt. Es gibt Leute, die ihr Leben lang Assistenten bleiben, nicht nur unter den Medizinern. Wir wollen keinen Abschied nehmen, Jons. Ich habe jeden Abend Abschied von Ihnen genommen.«

Aber dieses hatte er sich doch für das letzte Wochenende vorbehalten, daß er mit Jons einen »Ausflug« machen wollte. Er brauchte das Wort mit einem leisen Spott, aber es war ihm anzumerken, daß er an das Ganze lange Zeit gedacht hatte als an ein schönes Ende dieses Jahres. Sie fuhren ans Meer und von dort nach der Bucht des Haffes, von wo der Dampfer an der Nehrung hinauffuhr. Jons hatte weder Zeit noch Geld gehabt, jemals eine solche Fahrt zu machen. Nur einmal als Schüler war er am Fuß der Sandberge gewesen, aber es hatte den ganzen Tag in Strömen geregnet, und da Charlemagne krank gewesen war, so hatte ein anderer Lehrer sie geführt. Er hatte einen Zylinder und einen Regenschirm gehabt, und für Jons war das Ganze wie ein Spuk gewesen.

»Es waren doch arme Jahre, Herr Doktor«, sagte er, als er Lawrenz davon erzählte.

»Und das war das Beste an ihnen, Jons«, erwiderte dieser. »Daß es so viele Dinge gibt, die dann zum ersten Mal da sind. Das Erstmalige, das sind die großen Geschenke des Lebens, Jons. Das erste Märchenbuch, der erste kleine Hund, die erste Operation, die erste Liebe. Und nun, in einer Woche, Ihre erste Sprechstunde.«

Sie saßen im Bug des Schiffes, jeder auf einer Ankertaurolle, und sahen zu, wie die Landschaft aus Wasser, Sumpf und Wald langsam zu ihnen heran und an ihnen vorüberglitt. »Alle große Landschaft, Jons«, sagte Lawrenz, »macht das Herz groß und ein bißchen bang. Deshalb lärmen sie hinter uns auch so. Diese Leute aus den großen Städten haben immer ein bißchen Angst, wenn sie aus ihnen herauskommen. Sie haben keine Polizei mehr, die sie bewacht, keine Straßenbahn, keine Hausnummern. Und dann retten sie sich in die Masse und in den Lärm. Sie können keine Einsamkeit mehr ertragen. Sehen Sie den Kapitän an, er hat sich in den Alkohol gerettet. Er ist zu oft hier gefahren, das große Schweigen entlang. Er hat die Sprache verlernt, mit der man ihm begegnen kann. Und deshalb werde ich gern zu Ihnen kommen, Jons, in Ihr Dorf, jeden Sommer wahrscheinlich. Ein Volk, das so lange gejagt worden ist, geht gern dorthin, wo die Menschen schweigsam sind.«

Unter den hellen Frühlingswolken zogen Vögel dahin, die Jons noch nie gesehen hatte. Große Möwen mit weitgespannten Flügeln, und einmal ein Adler, weißglänzend, der über den Sandbergen kreiste. Die Luft war tiefblau wie über der Wüste, und alle Konturen flimmerten wie über einem glühenden Ofen.

Sie saßen ganz still und blickten vor sich hin. Die wenigen Dörfer tauchten aus dem Glanz herauf und versanken wieder, und endlich blieb zu ihrer Linken nur ein sanft geformtes Gebirge weißgelblich schimmernden Sandes, das sich ohne Übergang in das Wasser stürzte. Eine Spur lief schräg die Hänge hinauf, und man konnte nicht erkennen, ob es eine Tier- oder eine Menschenspur war. Sie endete am Horizont.

Als sie das Schiff verlassen hatten, gingen sie langsam den schmalen Landstreifen nach Norden zu. Birken und Weiden standen auf den schmalen Wiesenflächen, und links von ihnen stieg das kniehohe Kieferngehölz die Dünenhänge hinauf. Es war so still, daß sie hinter den Sandbergen das Meer rauschen hörten.

»Auf alles dieses«, sagte Jons leise, »hat meine Mutter wohl zwanzig Jahre lang von drüben aus ihrem Kammerfenster gesehen.«

»Ja, und davon ist sie so geworden«, erwiderte Lawrenz nach einer Weile. »Wandte sein Roß und ritt davon ... ein großes Land, Jons ...«

Sie gingen bis zu dem kleinsten Dorf der Nehrung, von dem es hieß, daß es das ärmste des ganzen Reiches sei, fanden eine kümmerliche Unterkunft und saßen den ganzen Abend auf dem Kamm der Düne. Hinter ihnen lag das Meer wie ein ungeheurer Schild aus Stahl, unnahbar und unbewegt, und vor ihnen, am niedrigen Ostufer des Haffes, hoben die Leuchtfeuer sich immer glänzender aus der wachsenden Schwärze. Verschiedene Zeichen, mit geheimnisvollen Zwischenräumen, als gäben sie ihre Signale an die Sterne und nicht an die verlassene Erde. Zu ihrer Rechten aber begann nun die Mühle des großen Leuchtturms langsam zu mahlen, und die weißen Lichtbalken fegten in regelmäßigen Abständen wie geisterhafte Arme durch das Dunkel. Sandkorn auf Sandkorn rieselte kaum hörbar an ihren Händen vorbei und den steilen Hang hinunter.

Lawrenz trank seinen Portwein in kleinen Schlucken und rauchte. Es war, als ob er in seinem grünen Sessel säße und auf das Bild seiner Mutter blickte. Er war nicht kleiner geworden in dem großen Schweigen.

»Dieses sollten Sie einmal gesehen haben, Jons«, sagte er dann leise. »Sie werden nicht mehr viel sehen, wenn Sie erst in Sowirog sitzen. Und eine große Schöpfung gesehen zu haben, tut uns gut, wenn wir unser Leben an den Menschen wenden müssen, zumal an den kranken. Es heißt, daß hier alles einmal Wald war, Urwald wie am Amazonenstrom. Bis die Menschen ihn zerstörten, um Bauholz für Schiffe zu gewinnen. Die Preußen oder die Russen, ich weiß es nicht genau. Vor zweihundert Jahren haben hier noch Meiler gestanden, wie im Eulenwinkel.

Ich bin gern hier, Jons. Ich denke mir, daß Gott hier wieder in einer Feuersäule erscheinen könnte. Ein großes Land, das ihm gemäß ist. Wie die Wüste vor viertausend Jahren. Und auch die Menschen hier würden noch aufblicken zu ihm wie damals. Nicht die Sommergäste, aber die Fischer. Sie sprechen noch kurisch hier, wußten Sie das?«

Nein, Jons wußte das nicht. Er saß wie in einem Traum, und er verstand nun, daß Lawrenz einmal gesagt hatte, man könnte hier krank werden vor Heimweh. Vor dem letzten Heimweh. Hier könnte der Fuß der Leiter stehen, der aus dem Sande hinauf, an allen Kirchen vorbei, zu dem führte, was die Menschen Gott nannten. Er konnte sich gut denken, daß Lawrenz hier betete, wenn er allein hier saß. In der alten fremden Sprache, die am Hain Mamre gesprochen worden war. Daß er den Riemen um seine Stirn band und die Arme über die Leuchtfeuer hinaus zu den Sternen hob.

»Und noch eins ist hier, Jons«, fuhr Lawrenz leise fort. »Daß ich oft denke, ich könnte mich hier verbergen, wenn der Haß wieder auf unserer Fährte ist. Denn die Menschen werden Feuer und Blut sehen wollen. Soviel Raum ist hier, Jons, unter den kleinen Kiefern und im Sande. Soviel, daß man das Schlagen eines Menschenherzens nicht hören könnte. Und das meine würde schlagen, ich weiß es. Auch ich bin nur ein Mensch, Jons, ein armer, furchtsamer Mensch ... es hängt zuviel an uns. Geschichte, Wissen und Erfahrung. Und Ahnungen ... aber wahrscheinlich würden sie auch das hier ›durchkämmen‹, wie sie sagen. Ich will lieber zu Ihnen kommen, Jons. Ein Moor kann ein sicherer Boden sein in schwankenden Zeiten ...«

Noch unter dem matten Sternenlicht konnte Jons sein trauriges, wissendes Lächeln sehen.

»Das Gogunkind wird Sie führen, Herr Doktor«, sagte er halb im Scherz. »Es weiß, wo die Flügel der Morgenröte sind.«

Am nächsten Abend waren sie wieder in der Stadt, und dann packte Jons seine Bücher ein. Fräulein Holstein half ihm schweigend, und als die beiden großen Männer die Kisten hinaustrugen, faltete sie die Hände und sagte: »Wie lauter Särge, Herr Jons ... jede Kiste ein Jahr.«

Aber Jons lächelte ihr tröstend zu. »Ich will Ihnen etwas sagen, Fräulein Holstein«, erwiderte er. »Im Sommer kommen Sie in den Eulenwinkel. Zu den ersten Ferien in Ihrem Leben. Sie wohnen in unserm Haus, und alle Frauen bei uns sind still. Es ist nicht recht, daß Sie fast zwanzig Jahre für mich gesorgt haben, und wir haben nie für Sie gesorgt.«

Sie lächelte unter Tränen. »Schon als Sie das erste Mal auf der Schwelle standen, Herr Jons, habe ich gewußt, daß der liebe Gott Sie geschickt hat. Manchmal schickt er auch in solche Häuser einen. Und ich werde kommen, wenn ich nicht in einen falschen Zug steige.«

Jons schenkte ihr den Buchfink, der nun alt geworden war. »Damit er Sie ein bißchen an mich erinnert«, sagte er.

Und dann sah er noch einmal über die leere Wand hin und über den ganzen kleinen Raum, in dem er so still gewachsen war wie ein Baum, und als er hinausging, nickte er ihm zu, als stehe in der dunklen Ecke jemand und sehe ihm nach. Ein bißchen lächelnd und ein bißchen spöttisch, und ein bißchen nachdenklich, wie er es nun anfangen werde mit seinen »dreißig Morgen« oder mit der großen Gerechtigkeit.


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