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XV

Für Jons, wenn er später an alles zurückdachte, war es nicht leicht zu sagen, wann es begonnen und wie es sich vollendet hatte, wenn von einer Vollendung überhaupt gesprochen werden konnte. Soviel wußte er von seinem Leben, daß das Schicksal, oder welchen Namen er einer geheimnisvollen Prüfung geben wollte, langsam und unmerklich am Werke war, ehe es den Menschen auf eine neue Stufe schob. Da waren viele Dinge, die ein bißchen merkwürdig und ein bißchen willkürlich erschienen. Ein leises Beben im ruhigen Pendelschlag. Eine vergessene Erinnerung, die plötzlich wieder aus dem Unbewußten heraufstieg, und man nicht wußte, wer oder was sie gerufen hatte. Ein Vers, den man einmal gelesen hatte, und eines Abends war er wieder da, am Kaminfeuer oder im Wagen, wenn man über Land fuhr. Eine Begegnung mit einem Menschen, und sie hätte auch unterbleiben können, wenn man ein paar Minuten länger vor einem Bücherladen stehengeblieben oder eine andere Straße gegangen wäre. Das, was die Menschen gern den Zufall nannten, aber später erkannten die Nachdenklichen, daß es ein Gesetz war, eine weise Führung, und sie waren erst da, wenn man reif dazu war. Mit Margreta war es so gewesen, mit Tobias, dem Stabsarzt, mit Lawrenz. Es war, als hätten sie hinter dem Vorhang gestanden und auf ihr Stichwort gewartet, und als das Wort gefallen war, hatten sie die Falten beiseite geschoben und waren in das Licht getreten. Sie waren immer dagewesen, für sich allein da, wie es schien, aber der Schein trog, denn sie waren für »das Ganze« dagewesen, auch für ihn, Jons Ehrenreich, und für ihn besonders.

Und es war auch nicht so, daß sie nur ein Mittel waren und nichts anderes. Daß das Schicksal sie gespart hatte, um einen neuen Faden in Jons' Gewebe zu schlagen, und nur in seines. Es war vielmehr so, daß auch für sie etwas gemeint war mit dieser Begegnung, eine Wendung, eine Erkenntnis, eine Art von Bereicherung oder Vollendung. Daß es gegenseitige Beziehungen waren, Anziehung und Abstoßung, und erst viel später erkannte man, daß das Leben anders gelaufen sein würde, wenn sie ihr Stichwort versäumt hätten, für jeden von ihnen anders. Und das Geheimnisvolle war nicht die Begegnung. Wenn zwei Menschen in einer dunklen Nacht, in vielen dunklen Nächten zu einem Kohlenlager gehen, um etwas Wärme für ihre kleine Kammer zu holen, so ist es kein besonderes Geheimnis, daß sie einmal einander treffen. Aber dies ist das Geheimnis, daß beider Leben um diese Stunde so weit gegangen ist, daß sie einsam und kummervoll und eines anderen Menschen, gerade dieses Menschen, bedürftig sind. Daß sie bereitet worden sind zu dieser Begegnung, ohne es zu wissen, und daß es dann gleichgültig ist, ob sie später das Bereitende Gott nennen, oder das Schicksal, oder die Sterne. Sie wachsen ihrer Stunde zu, unbewußt und unmerklich, und wenn sie die Haustür hinter sich schließen, heute oder morgen, wissen sie noch nicht, daß die Stunde nun da ist und gehorsam unter den Sternen hängt.

Mit Jons war es wohl so, daß die ›neue Zeit‹ ihn nicht aus seiner stillen Bahn geworfen hatte, aber daß sie die Sicherheit seines Lebens erschüttert hatte. Er sah die Sterne schwanken, nach denen er aufgeblickt hatte. Unveränderliche Gesetze wurden von Menschenhänden verändert, und vieles, was er auf einen ewigen Thron gestellt hatte, sah er in den Staub gezogen. Er erkannte, daß es Verbrechen waren, aber er erkannte auch, daß sie geschehen konnten, ohne daß der einzelne, das Volk, die Welt sie verhindert hatte oder verhindern konnte. Er erkannte die Macht des Bösen und daß sie sich des Wortes ebenso bediente wie die Macht des Guten. Ja, daß der Mensch ihr ebenso bereitwillig gehorchte und diente, wie er Gott oder der Menschlichkeit gehorcht und gedient hatte. Es kam nicht darauf an, daß den Menschen Gewalt angetan wurde, sondern daß der sittliche Mensch das Unveränderliche stürzen sah. Es war, als wenn ein Kind sieht, daß seine Eltern Mörder werden und daß sie seine Geschwister schlachten. Eltern, die nicht von jeher Mörder waren, sondern die wie andere Eltern waren, freundlich, zärtlich, fleißig und Gott gehorsam.

Für Jons war es viel mehr als eine Entartung der Zeit. Für ihn war es eine Entartung der Ewigkeit. Ein tödlicher Stoß mitten in das Herz der Macht, die ihn von der Meilerhütte an geleitet hatte. Für ihn war es, als werde sein Vater gekreuzigt, solange er auch in der russischen Erde schon schlafen mochte. Als werde Jumbo gekreuzigt. Als werde Lawrenz nackt und mit Striemen auf seinem Herzen durch eine brüllende Straße gejagt. Und als juble das Volk, daß dies nun das Wahre und Gute sei, das Erwachen aus einem Irrtum, die letzte Erfüllung des letzten Gesetzes. Und es war nicht die geringste Bitternis, daß Balk ihn nun nötigte, wenigstens zum Schein und ganz am Rande schweigend zuzusehen.

Und daraus kam ihm nun die tiefste Liebe zu seinem Dorf, die er jemals gefühlt hatte. Er rechnete ihm nicht an, daß er eben um des Dorfes und vieler Dörfer willen dieses auf sich nahm. Er sah, daß es beim Guten blieb und nicht zum Bösen ging. Ein kleines, armes, verlassenes Dorf, ohne Schutz und Macht, aber es bewahrte die Saat, die Stilling ausgestreut hatte, oder der tote Pfarrer, oder Jakob, oder die lange Reihe gebeugter und demütiger Kätner und Kätnersfrauen, die hinter dem Pflug hergegangen waren und den Spaten geführt hatten, die Steuern und Söhne hingegeben und doch in ihren armen Herzen das bewahrt hatten, was die Reichen und Großen nun von sich warfen wie einen Irrtum oder einen Betrug.

Er liebte das Dorf mit allen seinen Schwächen und Fehlern, ja, er liebte jeden einzelnen aus den armseligen, dumpfen Hütten, weil jeder einzelne den tödlichen Stoß abwehren half, der nach dem unbewehrten Herzen der Güte zielte.

Und so mochte es zu dem gekommen sein, was ihm auf der Heimfahrt von einem der Dörfer hinter dem Moor widerfuhr. Oder es mochte es nur vorbereitet haben, wie es seine Verlassenheit vorbereitet hatte, als er dann den Wagen mit den Gummirädern geholt und zum Kohlenlager über den Strom gegangen war.

In diesem Sommer, ein Jahr nach der Geschichte mit dem Fahnenmast, war Fräulein Holstein wieder dagewesen, ein wegloses und verstörtes Wesen, das von der Pension erzählte, wo die Bilder der Straße nun bis an ihren Tisch getragen wurden und wo unter dem verbissenen Jubel ihrer Schwestern die Söhne der Beamten und Gutsbesitzer die neue Zeit auf ihre eigene rohe und lärmende Weise verkündeten.

Und der Stabsarzt war dagewesen und hatte still am Seeufer gesessen, oder an den Torfhaufen am Moor, oder bei Jons am abendlichen Feuer. Er war ein schweigsamer Mann geworden, aber an einem Abend hatte er erzählt, was es für eine Bewandtnis mit dem berühmten Tage gehabt habe, an dem der angebliche Aufstand niedergeschlagen worden war. Er wußte es bis in die geringsten Kleinigkeiten, und Jons saß schweigend daneben, den Kopf in die Hände gestützt, und hörte zu. »Die Morgenröte, Jeromin«, sagte der Stabsarzt, »erinnern Sie sich noch, daß wir damals von dem Buch sprachen? So sieht sie aus, und sie ist doch noch lange nicht die Mittagshelle oder das Abendrot. Sie ist erst der kleine und bescheidene Anfang, eine Vorprobe auf das Kommende, und Gott sei uns gnädig, jedem, dem es bestimmt ist, es zu erleben!«

Und Jons hatte sie beide abfahren sehen wie in eine Schlacht, die schon drohend über den Wäldern hing, oder wie in ein Niemandsland, über das unbekannte Tiere krochen, vielgliedrig gepanzert, mit eiskalten Augen, und sich leise, unverständliche Signale gaben, wenn ein Menschenwesen am Rande erschien.

Und dann war er mit Hanna in einem Moordorf gewesen, und sie hatten in vielen schweren Stunden einem Kätnerkind zum Leben geholfen. Es war, als sträube sich das Kind mit Händen und Füßen, an das Licht dieser Welt zu kommen, und als die weise Frau es endlich vor sich hin gehalten hatte, war Jons mit seinen Augen nicht von dem winzigen Wesen losgekommen. ›Was will es auf dieser Erde?‹ dachte er. ›Weiß es nicht, daß es eine mörderische Erde geworden ist, oder hat es das gewußt und sich deshalb so geweigert?‹

Und als hätte die Kätnersfrau seine Gedanken erraten, hatte sie nach seiner Hand gegriffen, als er sich noch einmal über sie beugte, und leise gesagt: »Der Herr Jesus wird sich über ihn erbarmen wie über alle anderen.«

»Woher weiß sie es?« fragte er im Wagen das Mädchen.

Hanna verstand ihn sofort. »Die Armen wissen das immer«, erwiderte sie nur, und auch sie sagte es wie ein Evangelium.

›Wahrscheinlich‹, dachte er weiter, ›ist es, weil sie nicht durch den Geist gegangen sind. Sie ruhen noch immer im Ursprünglichen und darin sind sie mir überlegen ...‹

Der weite Himmel war bewölkt, aber nur so gleichsam, als ob hinter den Wolken noch das Blau zu sehen wäre. Ein gedämpftes, schwermütiges Licht lag über der Erde und beschien die Felder, auf denen noch die Garben standen. Die Luft war ganz still, und sie konnten weit über das Moor hin hören, den einsamen Gesang eines Hüterjungen oder den fernen Ruf der Spechte, die den Regen anzeigten. Zur Linken ging eine dunkle Wolke in schweren Streifen über den Horizont nieder, aber daneben war es hell von der verborgenen Sonne, und die Schwingen eines großen fremden Vogels schimmerten an ihren Rändern, als ob dort oben die Sonne ihn schon wieder treffe. Wahrscheinlich war es einer der großen Adler, die manchmal von der Küste bis ins Binnenland verschlagen wurden.

Und dann hatten sie in der Weißdorn- und Hainbuchenhecke am Wege die jungen Meisen gesehen. Eine verspätete zweite Brut, die eben das Nest verlassen hatte, und die Eltern flatterten aufgeregt und mit ängstlichen Warnrufen um sie herum.

»Da muß etwas sein«, sagte Jons und stieg ab. Er vertrieb das Wiesel mit Steinwürfen, und dann sah er, wie Hanna, die ihm gefolgt war, drei der jungen Vögel auf ihrer Hand trug, wohin sie sich in ihrer Angst geflüchtet hatten. Sie wußten noch nichts von Menschen, und das Mädchen mochte ihnen wie ein stiller Busch erschienen sein, mit einem hellen ausgestreckten Ast, der auf ihre jungen, unbeholfenen Füße wartete.

Jons trat leise näher, ganz nahe heran, und blickte auf das wirre, noch ungeglättete Federkleid herunter, aus dem die dunklen Augen arglos umherblickten. »Auch über sie wird sich der Herr erbarmen«, sagte Hanna leise.

Die Vögel flatterten auf, gleichzeitig, mit einem leisen Zwitschern, da die Eltern ganz aus der Nähe riefen, und verschwanden im nächsten Hainbuchenbusch. Aber Jons sah ihnen nicht nach. Er sah plötzlich in Hannas Gesicht, in dem die braunen Augen noch immer von der Zärtlichkeit der Begegnung erfüllt waren, und es war ihm ohne alle Gedanken so, als ob der stille, schwermütige Himmel nur über diesen Augen stünde, die er noch nie gesehen hatte, über ihnen beiden, die unter diesem Himmel geboren worden waren, durch ein dunkles Schicksal verbunden, und doch einander fremd geblieben, und als habe die dunkle Zeit, die langsam und rätselvoll fließende, bis zu dieser Stunde gewartet, um sich ihrer Verlassenheit zu bedienen und der hilflosen Vogelkinder, der dunklen, fernen Wolke, aus der der Regen fiel, ja sogar des fremden Vogels, der unter der unsichtbaren Sonne kreiste. Als habe sie sich dieses allen bedient, um einen letzten schweren Tropfen in ein Gefäß fallen zu lassen, und Jons hatte nichts von diesem Gefäß gewußt, nichts von dem leisen Gang der Zeit und dem Schicksal, das sie mit sich führte. Er hatte gearbeitet und gesorgt und gegrübelt und die nahen Menschen nur wie Schatten gesehen, während doch alle Kranken in den Dörfern hell und klar vor ihm standen, mit allen Gebrechen, die jeder trug, und jeder Handreichung, die er an sie zu wenden hatte.

Das Herz schlug ihm mit einem Male schwer in der Brust, und er sah sich noch einmal um, in der großen, schweigenden Runde, ob da etwas sei, was dies alles erklären könnte. Aber es war nichts da. Das Land lag wie sonst, etwas trauriger vielleicht als sonst. Das Pferd rupfte still an dem staubigen Gras neben den Geleisen, und das Mädchen stand wie sonst da, die Hände gefaltet und die leise zitternden Wimpern niedergeschlagen. Ein einfaches, gehorsames, demütiges Kind der Landschaft, durch eine dunkle Stunde gegangen, durch viele dunkle Stunden, mit einem dünnen Faden an sein Leben geknüpft, aber scheu und behutsam in jedem Schritt und Wort, damit er den Faden nicht merke, immer und bei jedem Herzschlag der Stunde bewußt, in der die harte Frau es aus der Gemeinschaft ausgewiesen hatte, und fortan nichts als eine demütige Magd, die nach einem Fehltritt wieder aufgenommen worden war, in einen dunklen Winkel des Hauses, aus dem sie zur Arbeit heraustrat und in dem sie zum Schlafen lautlos wieder verschwand.

Jons ließ den Stein fallen, den er immer noch gegen das Wiesel in der Hand hielt. Er konnte nichts sagen, er konnte es auch nicht unterlassen oder anders machen. Er legte die Arme um ihre schmalen Schultern, zog sie ganz behutsam an sich und küßte sie. Und er war ohne jeden Zweifel gewiß, daß er das Rechte tat und daß er unweigerlich und für immer den Befehl dieser Stunde versäumt haben würde, wenn er es unterließ und sich sträubte.

Er fühlte, daß ihre Lippen seine Zärtlichkeit erwiderten, aber er erschrak doch, als sie aus seinen Armen auf die Erde glitt und seine Knie umfing. »Was tust du?« fragte er verwirrt. Aber sie schüttelte nur schweigend den Kopf und fuhr fort, leise zu schluchzen und sich an ihm zu halten, als würde sie ohne ihn zur Erde stürzen.

Er sah auf ihren dunklen Scheitel nieder, und die Zärtlichkeit erfüllte sein Herz zum Zerbrechen. Aber er konnte nichts denken. Er sah auf und sah wieder die große, schweigende Landschaft um sich stehen, in der dieses vor sich gegangen war, das gedämpfte, traurige Licht, die Garben auf den Feldern, die Wolke, die sich ausgeregnet hatte, dieses Große, Unveränderte, das sich nun auch um ihn schloß, um das Mädchen, um das neue, traumhafte, erfüllte und selige Leben.

›Wie schön das alles ist ...‹, dachte er mühsam. ›Wie schön und wie groß ... und weshalb habe ich es denn niemals so gesehen?‹

Ein Eichelhäher rief aus den fernen Kartoffelfeldern, und wieder war es ihm, als hörte er ihn zum ersten Male. ›Kein Paradiesvogel‹, dachte er. ›Ein Kind aus dem Dorfe, das hinter dem Paradiese liegt, aber kein Paradiesvogel ...‹

Und dann hob er Hanna leise vom Boden auf und führte sie zum Wagen. Sie weinte nicht mehr, als sie weiterfuhren. Sie hielt nur seine Hand und sah still vor sich hin auf den einsamen Weg.

Sie hatten bis zum Abend Kranke in dem kleinen Wartezimmer, und erst als die Läden geschlossen waren und das Licht brannte, waren sie allein.

Sie stand an der Tür wie an jedem Abend, bevor sie leise »Gute Nacht« wünschte.

»Hast du es denn gewußt, Hanna?« fragte Jons und blieb bei ihr stehen.

Sie sah ihn an und nickte. »Ich habe es immer gewußt«, erwiderte sie. »Schon damals, als du die Hand aufhobst, um mir zu helfen. Von da ab warst du der Nächste an meinem Herzen.«

»Und du würdest es niemals gesagt haben?«

Sie schüttelte schweigend den Kopf, aber ihre Augen waren von Zärtlichkeit erfüllt. »Du warst zu groß für uns«, sagte sie nur.

Dann war sie wie ein Schatten verschwunden.

Er blieb noch eine Weile an derselben Stelle stehen. ›Zu groß?‹ dachte er. ›Ach, ich war wohl nie groß ... ich war wohl nur wie ein Blinder im Märchen ...‹

Er setzte sich vor den dunklen Kamin und nahm die schmale silberne Kette von seinem Hals. Er hielt sie still in seiner Hand und blickte auf sie nieder. Nein, die Toten gingen nicht fort. Sie löschten sich nicht aus. Aber sie konnten die Hand heben und in die Zukunft deuten. Sie wollten nicht mehr das Ihre. Sie hatten gehabt und wollten nicht mehr haben. Sie konnten entlassen. Sie klammerten sich nicht an ihr Recht. Sie banden nicht für die Ewigkeit, sie konnten auch lösen.

Die große Vergänglichkeit stand im Raum und sah ihn aus einer blind gewordenen Kette an. Er stand nicht außer ihr, er war eingeschlossen in ihren Kreis. Es gab nicht nur eine Kammer des Herzens. Wenn sie erfüllt war, legte der Riegel sich davor und bewahrte sie. Eine andere tat sich auf, eine unberührte, und auch sie erfüllte sich langsam. Das Leben brauchte viele Kammern, um seine Ernte aufzunehmen. Es fragte nicht nur nach Erinnerungen. Es sammelte, es dachte auch an Gegenwart und Zukunft. Vielleicht war es mitleidslos, vielleicht war es weise. Aber es war mehr als Menschenplanung. Niemand kannte seinen Haushalt. Niemand kannte Verlust und Gewinn. Sein Buch blieb verschlossen, und nur in heimlichen Stunden schrieb eine unsichtbare Hand die unsichtbaren Posten ein. Man wurde gewogen und kannte die Maße und Gewichte nicht.

Er stand auf und legte die Kette in einen der kleinen Wandschränke. Das Schloß sprang leise zu, wie der Deckel einer Uhr zuspringt. Die Zeit ging weiter, eine unaufhaltsame Zeit, die morgen nicht mehr war, wo sie heute gewesen war. Das Unwiederbringliche, das zurückblieb, nicht zu halten, außer an dem dünnen Faden der Erinnerung.

Dann ging er langsam die Stufen hinauf.

Als sie im Morgenlicht an seinem Herzen erwachte, preßte sie sich dicht an ihn.

»Fürchtest du dich, Hanna?« fragte er leise.

Sie schüttelte den Kopf an seiner Schulter. »Ich hatte Angst«, flüsterte sie, und er fühlte, wie ihr schmaler Körper noch einmal erbebte. »Ich hatte Angst ... daß er da sein würde ... aber er war nicht da ... nur du warst da.« Und sie drückte ihn so fest in ihre Arme, als wäre er ein Schatten und könnte an ihrer Brust vergehen.

Auch Jons fühlte einen leisen Schauer über sich hingehen. Wieder streifte ihn die Vergänglichkeit. Hatte er daran gedacht? Nein, das Gesicht war wohl aufgetaucht wie ein Schemen, wie eine wehende Pflanze unter Wasser auftaucht, aber dann war es wieder versunken. Soviel Zeit war verflossen seit damals, ein dunkler, unaufhörlicher Strom, und er hatte alles mitgenommen, was gewesen war. Der Tote mahnte nicht und forderte nicht. Er hob keine blasse Hand zwischen ihn und das Glück. Er sah nicht einmal hin. Ein anderer Raum umfing ihn, ein anderes Gesetz, eine andere Zeit. Eben die Ewigkeit. Und die Ewigkeit war nicht Liebe oder Neid oder Traurigkeit. Sie war nur Ewigkeit.

›Nur du warst da‹ ... Ja, nur er. Kein Dieb, kein Hehler, kein Räuber. Das sich leise Anknüpfende, die neue Form der Zeit. Das Weitertragende und Bewahrende. Namenlos, wie das andere namenlos gewesen war.

Ein früher Vogel sang vor dem Kammerfenster, und ein rötliches Licht fiel in den halbdunklen Raum. Sie lauschten auf die zarte, noch schüchterne Stimme, und sie sahen beide die alten Eichen und Kiefern vor dem Hause stehen, den Hochwald, alle dunklen Wälder, die zwischen ihnen und dem Tage standen.

»Ich will dich behüten mein Leben lang«, sagte Jons leise.

Sie nickte mit geschlossenen Augen. Ihr dunkles Haar lag auf seinem Herzen, und sie hörte den ruhigen, tröstlichen Schlag, der ihr Bewußtsein erfüllte, ihren ganzen Leib, die Kammer, das ganze Leben ...

So also war das Glück. Ein erfülltes Leben, von Arbeit, Sorge und Heilung erfüllt, und dazwischen ein Gedanke, der zurückglitt in das kleine Haus, wo sie am Herde stand oder die Instrumente säuberte. Die Sonne stieg und sank wie sonst, die Felder wurden kahl wie sonst, und der Pflug ging über sie hin. Aber es war nicht mehr dieselbe Sonne, es waren nicht dieselben Felder. Sie lagen nicht außen, sie hatten ihn zu sich genommen. Er war aus dem Reich des Geistes herausgetreten und wieder in den Ursprung zurückgekehrt. Er wuchs und blühte wie eine Pflanze. Das Brot, das er aß, die Milch, die er trank, waren verwandelt. Sie waren Speise geworden, sie waren nicht nur Nahrung. Die Schöpfung durchwärmte sie, wie sie ihn durchwärmte. Die schreckliche Einsamkeit war fort, das Abgelöstsein von der lebendigen Erde. Er konnte ruhen, in einem Menschen ruhen, und der andere Mensch ruhte in ihm. Er erkannte, was Hingabe war, eines der alten, schönen Worte, das sich nun erfüllte. Nicht an eine Wissenschaft, an eine Idee, einen Beruf, einen Glauben. Sondern an einen Menschen, an etwas Fremdes, Unerreichbares, das nun nahe wurde. So nahe, daß die Grenzen sich auflösten, daß Leben in Leben strömte, daß die Form schmolz und sich verwandelte. Das Ich verlieren, das war das große Geheimnis. Die Weisen des Ostens hatten es frühe erkannt, das Abendland hatte es nie besessen oder längst verloren. Vielleicht kannte man es in der Religion, aber dort gab es Schöpfer und Geschöpf, und auf dem Geschöpf lag die Sünde. Vielleicht kannte man es in der Kunst, aber das Kunstwerk ging fort, unmerklich, in eine kühle Fremde, und dort stand es, für sich allein, ein Kind, das sich gelöst hatte und in eine unbetretbare Ferne hineinging, immer weiter fort, bis die Hand erschrak, die es berührte.

Aber in der Liebe gab es nicht Schöpfer und Geschöpf, nicht Sünde, nicht Fremde. Sie löste nicht nur auf, sie war Erlösung.

Alles verwandelte sich für Jons, sein kleines Haus, das Jeromin-Haus, das ganze Dorf. Es war ihm wie eine neue Heimkehr. Die tiefste und letzte. Er war beschlossen darin, und nie würde er fortgehen. Es war wie ein großer Meiler, in dem er mitglühte, nicht mehr und nicht weniger als die anderen. Er war »außer sich« geraten, und auch dies war ein altes, schönes Wort.

Die Leute fühlten es, daß seine Hand noch heilender war als sonst. Es mißlang ihm nichts. Es war, als sei er mit Ewigkeit gefüllt.

Weit hinter dem Walde ging das Wetterleuchten über die Welt. Aber es war nicht ihre Welt. Man hatte sie ausgestoßen, weil sie versagten. Sie wollten Gott und das Alte Testament nicht absetzen. Sie wollten nicht einmal den alten Hirsch absetzen. Sie hatten zu lange »hinter dem Walde« gelebt, und sie verstanden keine neue Zeit mehr. Weder diese noch eine andere. Sie fühlten ganz gut, daß dies nicht immer so weitergehen würde. Sie waren keine Dummköpfe. Aber sie glaubten immer noch, daß es ein Recht auf der Welt gebe. Etwas Unveränderliches und Ewiges, und so wie keiner von ihnen die Hand gegen seine Mutter erhoben hätte, so wenig konnten sie glauben, daß irgend jemand in ihrem Lande die Hand gegen das Recht erheben würde. Sie taten, was das Gesetz befahl, und wenn sie nicht genau wußten, ob es ein Gesetz war oder etwas, was Maschlanka dazu machte, so gingen sie zu Stilling oder zu Jons oder zum Herrn von Balk.

Sie waren noch nicht gebeugt, sie waren nicht einmal ängstlich. Sie bestellten ihren armen Acker vielleicht noch fröhlicher als sonst, und wenn sie die Ernte eingebracht hatten, saßen sie noch fröhlicher als sonst an der langen Tafel vor dem Jeromin-Hause. Maschlanka war nun nicht mehr dabei, aber solange sie Jons und Stilling, den jungen Pfarrer und den Herrn von Balk hatten, brauchten sie niemanden.

Der Herr von Balk aber war der einzige, der sich Gedanken machte. Nicht nur, wie es hatte kommen können und war, sondern auch wie es werden würde. Wieder saß er bei der Ernte auf dem Ackerrain und sah ihnen zu, wie man Kindern zusieht, die Pferde an einen großen Leiterwagen spannen. Er allein wußte, daß es über ihre Kraft ging, sobald es den anderen einfallen würde, ihre Kraft einzusetzen. Noch hatten sie es nicht getan. Noch war ihnen dieses winzige Dorf nichts als ein paar Hütten voller Idioten, die nicht böse, sondern dumm waren. Und an der glänzenden Straße, auf der ein Volk zu den Sternen zog, durften ruhig ein paar Dummköpfe stehen. Aber es konnte anders werden, und wahrscheinlich würde es anders werden. Und man mußte sie vorsichtig führen, diese Armen, so vorsichtig, daß sie gerade um Haaresbreite an der Falle vorüberkamen. Später würde sie doch zuschlagen, über Gerechte und Ungerechte, wenn sie erst aufgestellt war. Aber noch bauten sie daran, leise und heimlich, und sie wollten gern, daß das Wild sich in Sicherheit wiege.

Als die Dienstpflicht wieder eingeführt wurde, kam Balk zu Jons. Sie saßen vor dem Feuer und rauchten, aber nach einer Weile warf Balk die Zigarre in den Kamin. Er sah sich um, beugte sich vor und sagte leise: »Höre zu, Jons. Du wirst vielleicht denken, das sei dasselbe, was es früher war. Es ist etwas ganz anderes. Es ist der Anfang vom Ende. Ich weiß nicht, wie viele Jahre sie brauchen werden, bis sie meinen, es könnte losgehen. Aber sie arbeiten schnell, und wahrscheinlich wird es früher sein, als wir denken. Ein paar aus dem Dorf werden gehen müssen, sonst werden sie das Dorf einfach an die Wand stellen. Aber es sollten nicht alle gehen. Nicht die, die wir brauchen werden. Der Gogunsohn soll nicht gehen, und Micha soll nicht gehen. Und in vier Wochen würden sie doch vor dem Kriegsgericht stehen. Kannst du das so machen, daß die Herren Oberstabsärzte es nicht merken?«

Zuerst starrte Jons ihn doch eine Weile an. »Herr von Balk«, sagte er leise. »Vielleicht sind meine Vokabeln zu alt, aber ›Vaterlandsverräter‹ ist ein häßliches Wort.«

Balk lächelte und schnitt die Spitze von einer neuen Zigarre. »Sehr alt, Jons«, erwiderte er nachsichtig. »Uralt! Weiß von keinem Vaterland mehr als von dem, das ich heimlich und verbotenerweise in mir trage. Noch nicht gemerkt, daß das Vaterland verboten ist? Werden es bald alle merken. Wo der liebe Gott gestürzt wird, stürzt bald alles andere nach. Weißt du, was wir zu retten haben? Ein Dorf haben wir zu retten, kein Vaterland! Aber in diesem Dorf liegt vielleicht das Samenkorn zu einem neuen Vaterland. Vielleicht liegt es noch woanders, wo wir es noch nicht sehen können, aber vorläufig weiß ich nur, daß es hier liegt. In den Furchen der Armen, wie es bei dem großen Weisen und Tempelbauer heißt. Und keiner von uns weiß, ob es nicht beim Gogunsohn und bei Micha liegt. Und mache es sorgfältig, Jons, denn in ein paar Jahren wirst auch du es brauchen.«

Dann sprach er von anderen Dingen, aber als er wieder gegangen war, blieb Jons lange am Fenster stehen und sah ihm nach. Dachte er zu wenig? Las er zu wenig? War er zu tief eingeschlossen in den engen Kreis seiner Arbeit, seiner Liebe, seines Dorfes? Aber wahrscheinlich fehlte ihm überhaupt der Sinn dafür. Seit dem Splitter am Dünaufer hatte er das abgetan, oder seit dem Tode des Korporals, oder vielleicht schon seit der Frage des Leutnants: »Wie ist es nun mit der Wahrheit, Jeromin?« Die großen Worte, die großen Berauschungen, die Hypnosen, die man über arm und reich hinfließen ließ. Seit er das heilige Leben erkannt hatte, das, bei dem man Hand anzulegen hatte, und es war gleich, ob es ein Kätnerleben oder ein Königsleben war.

Er rief das Mädchen zu sich und legte ihm den Arm um die Schulter. Das Abendrot stand über dem See, und aus dem Schatten der Insel löste sich das Boot, in dem Johannes herüberkam, um das Pferd zu versorgen. »Wir wollen hierbleiben, Hanna«, sagte er. »Wir wollen hier arbeiten und glücklich sein und sterben. Oder möchtest du mit mir fortgehen, auf eine Insel im Ozean, wo Palmen wachsen und es nichts Böses gibt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wo du bist, gibt es nichts Böses«, erwiderte sie.

Nach einer Weile ging Jons in den Stall. Johannes stand still an der Krippe und sah zu, wie das Pferd den Hafer fraß. Eine Laterne stand auf der Futterkiste, und es war warm und eng in dem dämmerigen Licht.

Jons setzte sich auf die Kiste und stopfte seine Pfeife. »Möchtest du gern zu den Soldaten, Johannes?« fragte er.

Der Sohn des Kranichräubers sah ihn mit seinen schwermütigen Augen an. »Ich gehe hier nicht fort«, sagte er.

»Sie werden dich nicht danach fragen, Johannes. Sie werden dich holen.«

»Das Moor ist groß und tief«, sagte Johannes.

Aber er versprach, zu Jons zu kommen, sobald er die Einberufung hätte.

Derjenige, an dem das Neue am unbemerktesten vorüberzufließen schien, war Christean. Wenn er zu Jons kam und die Krücken an den Sessel vor dem Kamin lehnte, war aus seinem Gesicht nichts abzulesen, als daß er vom Feierabend erfüllt war. »Erzähle, Jons«, bat er, und Jons mußte von seinen Kranken erzählen, von den Krankheiten, von den Heilungen und Operationen. Seine glänzenden Augen waren auf das Gesicht des Bruders gerichtet, als sei ein Weltfahrer heimgekehrt in die Enge des Vaterhauses und erzähle von den fernen blauen Küsten. Dann seufzte er leise auf, und nach einer Weile konnte er sagen: »Meinst du nicht, daß ich spiele, Jons? Ein Kinderspiel, indes du die Welt bewegst?«

Aber Jons lächelte. »Wenn alle Ärzte die Welt bewegten, Christean«, erwiderte er, »würde es der Welt vor Bewegung schwindeln. Was ist es denn, was wir können oder zu können meinen? Wir wissen etwas mehr von unserem Körper, als die anderen wissen, und etwas mehr von den Kräften der Natur, die diesem Körper freundlich oder feindlich sind. Schon von der Seele wissen wir so gut wie nichts. Was bewegen wir denn, Christean? Eine geheime Kraft bewegt uns, nicht wir. Wir sind wie einfache Leute in einer großen Maschinenhalle, die mit einer Ölkanne von Schwungrad zu Schwungrad gehen. Was wissen wir von der Macht, die die Räder treibt? Und ich will dir auch sagen, welche von uns die Schlimmsten sind: diejenigen, die glauben, das sei nun alles ein Haufen von Zellen und daraus bestehe das Universum. Der Hunger wie die Liebe, Wachen und Träumen, Gott und der kleinste Wurm. Die nach einer Sektion sich die Hände waschen und denken, das sei ein Haufen Dreck und nichts weiter. Die nichts vom Unerforschlichen wissen. Sie haben vielleicht das meiste dazu getan, daß die Erde leer geworden ist, leer von allem, wovon der Vater sie erfüllt sah, und daß sie nun erfüllt ist von dem kalten Grinsen, mit dem sie die Träume der Menschen betrachten. Sie sind die großen Entgötterer, Christean, die Gottesmörder, die ihre Messer kochen, bevor sie das Ewige in Stücke zerlegen. Die Wissenschaft hat das meiste dazu getan, daß es nun so gekommen ist. Der Lautsprecher von Maschlanka ist mehr als ein Stück Holz mit einer Membrane vor einer runden Öffnung.«

Aber Christean kümmerte sich nicht um den Lautsprecher. Er wollte wissen, ob er selbst nicht nur spiele. Ob dieses Nachschaffen oder Neuschaffen eines Menschengesichtes, eines kleinen Tieres nicht eine Torheit sei im Haushalt Gottes, eine Beharrung auf einer kindlichen Altersstufe, etwas ganz und gar Zweckloses.

Jons schüttelte den Kopf. »Es kommt darauf an«, erwiderte er, »was in deinen Augen ein Kind ist. Ob es eine primitive Stufe ist, die zu überwinden ist, damit etwas Größeres daraus werde, ein Mann der Wissenschaft etwa oder einer, der in den Lautsprecher hineinspricht, um seine sogenannte Welt zu bewegen. Oder ob es nicht der Bewahrer der großen und alten Geheimnisse ist, das, wovon Christus gesagt hat: ›So ihr nicht werdet wie die Kinder ...‹ Ich denke immer, das, was sie so unverletzlich, ja so ergreifend in unsren Augen macht, ist, daß wir fühlen, daß sie noch im Paradies sind. Sie sind noch nicht ausgestoßen, Christean. Sie haben noch nicht erkannt. Sie sind noch nicht vom Geist besessen, und aller Geist trachtet danach, zu sein wie Gott und zu wissen, was Gut und Böse ist. Wußtest du, daß dies das Geheimnis aller Sünde ist? Das Heraustreten aus dem Garten, das Essen des Apfels. Es gibt Völker, die das noch nicht kennen, und es gibt Völker, die es längst vergessen haben. Das Abendland zum Beispiel. Und es hat teuer bezahlt dafür. Für jeden Lautsprecher schon muß teuer bezahlt werden. Nicht an den Händler, sondern an den Garten Eden. Einmal, vor noch nicht so langer Zeit, gab es Kinderarbeit in den Fabriken, und das war einer der größten Schandflecke unserer Geschichte, der Geschichte des Abendlandes. Aber heute gibt es Schlimmeres als Kinderarbeit. Heute gibt es die Vergiftung der Welt durch die Vergiftung von Kinderseelen. Das ist schlimmer, als wenn du Kinder betrunken machst. Es ist schlimmer als Kinderprostitution. Ja, es ist schlimmer als die Schlange im Paradies. Denn Adam und Eva waren keine Kinder, sie waren nur wie Kinder.«

»Tun sie das denn heute?« fragte Christean erschreckt.

»Ja, das tun sie. Sie reichen ihnen Opium oder Haschisch und erfüllen ihre Seelen mit Rausch. Und nicht, um zuzusehen wie böse, abgelebte Greise, sondern um sich der Berauschten zu bedienen.«

Aber Christean schüttelte wieder den Kopf, als sei das alles fremd für ihn. Ein Zeitungsbericht aus einer asiatischen Hafenstadt oder so etwas Ähnliches. »Du meinst also nicht, daß ich spiele?« fragte er hartnäckig.

»Ach, Christean«, sagte Jons seufzend, »daß du dich doch immer kleiner machen willst, als du bist! Und wenn du nichts tätest als spielen, ja wenn du nur Wagen aus Garnrollen bautest oder Kreisel aus alten Uhrrädern auf der Tischplatte laufen ließest, dann würdest du immer noch ein Bewahrer Gottes sein, ein Spielender unter allen schrecklich Planenden, ein Daheimgebliebener in einem schrecklichen Kinderkreuzzug. Aber du tust ja viel mehr als das. Du bist ein sinnvoll Spielender, verstehst du? Wer nur spielt und das Spielzeug wieder wegtut, ist ein Kind. Aber wer spielt, um aus dem Spielzeug ein Leben zu machen, ja einen Gottesdienst, der ist ein Künstler. Es ist kein großer Unterschied dazwischen, ein nur fließender, und manche machen ein Handwerk daraus, ein Geschäft. Aber die wirklichen sind wie Gottes Kinder in meinen Augen. Erfüllte, aus denen die Gnade fließt.«

»Und solch einer bist du, lieber Bruder«, setzte er nach einer Weile leise hinzu.

Christean hatte die Augen geschlossen und den Kopf in die Hände gestützt. »Manchmal denke ich«, sagte er wie im Traum, »daß es hätte zu Ende sein können mit mir, damals, als der Scherenschleifer kam. Und daß Agricola für mich gestorben ist. Und wenn Gott das so gewollt hat, so muß er auch mit mir etwas gewollt haben. Und das ist mir wie ein Trost. Ein schwerer Trost, aber doch ein Trost ...«

»Du mußt immer denken, Christean, daß auch ein kleines Dorf ein Stück von Gottes Haushalt ist. Nichts ist umsonst da. Weder Tobias noch der alte Stilling, weder du noch ich. Nicht einmal die Witwe Kroll ist umsonst da. Sie stehen alle an ihrem Platz, Gutes und Böses. Ja, ich denke sogar, daß Maschlanka an seinem Platz steht. Wir sehen den Plan noch nicht, aber er wird schon dasein. Es würde nicht sein, wie es ist, wenn du nicht da wärest. Weder in unserem Geschlecht noch im ganzen Dorf. Der Friedhof würde anders sein ohne dein Werk, die Kirche, jede kleine Hütte, in der ein Spielzeug von dir steht. Und deshalb denke ich auch, daß keiner von uns fortgehen darf. Es würde leicht sein, jetzt fortzugehen, so wie Gina fortgehen will, auf eine Insel im Stillen Ozean, aber es würde ein Stein aus dem Gewölbe fallen, Christean, und das Dorf würde es vielleicht nicht ertragen. Selbst Johannes fühlt es, daß er nicht fortgehen darf, und er ist doch nur ein Fischer und ein Kind des Moores.«

Christean schüttelte den Kopf. »Wir können hier auch nicht fort«, sagte er. »Niemand würde uns aufnehmen. Sie könnten uns einen Platz am Herd oder im Stall geben, aber in ihr Herz könnten sie uns nicht aufnehmen. Wir sind fremd. Ich denke, daß wir aus einem verlorenen Dorf sind, und sie würden auf uns sehen wie damals auf dich und Stilling, als ihr zum ersten Male in die Stadt gingt. Sind wir, was sie altmodisch nennen, Jons?«

»Ja, sehr, Christean.« Und Jons dachte an die Frau des Stabsarztes, die ein Paradiesvogel war und der es vor dem östlichen Längengrad geschauert hatte. »Wir sind so altmodisch, daß sie uns schon zu den fremden Völkern rechnen. Zu den Primitivsten. Und wenn sie Piontek mit seinen Ohrringen sähen, würden sie denken, daß unsere Frauen sich Ringe durch die Nasen stecken.«

Christean lächelte, griff nach seinen Krücken und stellte sie neben seinen Knien auf. »Ich danke dir, Bruder«, sagte er. »Immer ist mein Herz gewiß, wenn ich von dir gehe ... und könntest du wohl so gut sein, ein paar Tage lang Hanna für eine halbe Stunde zu mir zu lassen? Ich möchte eine Heilige anfangen, und es gibt kein Gesicht im Dorf dafür als ihres.«

Jons sah ihn schnell und prüfend von der Seite an, aber sein Gesicht war ohne Arg, und er versprach es ihm. »Wenn sie will, Christean«, sagte er. »Manchmal weiß man bei ihr nicht, ob sie wollen wird.«

Hanna wurde blaß, als er es ihr erzählte. »O Jons«, sagte sie leise. »Ich? Hat er nicht gesagt: ›Eine Sünderin‹? Hat er ›eine Heilige‹ gesagt?«

»Du törichtes Kind«, erwiderte er und streichelte ihr Haar. »Es ist nur gut, daß du von keiner von beiden weißt, weder von der Sünderin noch von der Heiligen ...«

Die Herbststürme kamen, der Schnee fiel, und die Welt rückte noch weiter fort als zuvor. Sie hatte das Dorf vergessen, und nur ein paar seiner Söhne mußten zu den Soldaten gehen. Sie gingen still und ohne Lieder, und die Leute von Sowirog standen in den Türen und sah ihnen nach. Sie wußten, daß sie ihren Zoll zu zahlen hatten und zahlten ihn schweigend, aber sie dachten an den letzten Auszug, und wenn Martin durch das Dorf ging, blieben sie bei ihm stehen und streichelten seinen Rockärmel. Johannes und Micha waren für untauglich befunden worden.

Und als der Schnee geschmolzen war und die Kraniche wiederkamen, gingen sie wieder auf ihre Äcker wie sonst. Die Glieder schmerzten etwas nach den langen Winternächten, und sie blickten etwas länger auf das Korn nieder, das sie aus dem Sälaken nahmen, und machten das Zeichen des Kreuzes noch langsamer als sonst. An manchem Abend ging die Stimme des Lautsprechers nun wieder über die Dächer hin, diese gespenstische, wesenlose Stimme, und manchmal lauschten sie eine Weile und saßen dann still vor ihrem Torffeuer. Etwas ging um draußen, und wahrscheinlich war es nichts Gutes. Die großen Herren mischten ihr Kartenspiel, und es hörte sich an, als hätten sie die ganze Hand voller Solotrümpfe.

Jons und Hanna aber fuhren am Nachmittag vor Ostern in dem kleinen Boot den See hinunter, wo zwischen hohen Schilfwänden eine schmale, dunkle Straße in ein stilles Waldgewässer führte. Eichen und Kiefern standen über dem sandigen Ufer, und nur nach Westen öffnete der Wald sich und ließ den Blick auf Hügel und Wiesen frei, bis eine ferne, blaue Linie ihn wieder begrenzte, aus der Rauch aufstieg wie aus Dörfern, die in der Einöde lagen.

Sie tranken den heißen Kaffee aus kleinen Bechern, und Jons hatte ein Feuer angezündet, das still und ohne Rauch brannte. Die Gabelweihen waren schon da, und der Wiedehopf rief unermüdlich aus dem hohen Wald. Die Sonne schien heiß, und sie lagen nebeneinander im Sand und sahen zu den weißen Wolken auf, die wie eine stille Herde über den blauen Himmel zogen.

Jons wußte wenig von Ferien. Ein oder zweimal im Jahr fuhr er für eine Woche zu einem Chirurgenkongreß oder zu einer Versammlung der Naturforscher, aber es waren keine Ruhewochen für ihn. Vor drei Tagen hatte man ihm die Leitung eines Kreiskrankenhauses in der Landschaft angeboten, aber er hatte sie ohne Besinnen abgelehnt. Er hatte nicht einmal Balk um Rat gefragt. Und nun war es so schön, hier zu liegen und zu fühlen, wie die Erde warm wurde. Alles war ihm nah und vertraut, jede Stimme des Waldes, jeder Ruf des Geflügels auf dem See, das knisternde Feuer, das Mädchen, das still danebenlag, die geöffneten Hände im Sand und die nackten Füße von der Sonne beschienen. Ach, einmal würde es doch wieder gut werden auf dieser Erde, gut und still, wie es hier war, und man würde sein Leben erfüllen können, wie es ihm bestimmt war, ihm und allen, die zum Helfen und Heilen gerufen worden waren. Die Gespenster des Winters würden vergehen, die Moornebel, die wie eine Wand um die Menschen standen. Auch in den Städten würde nun die Sonne scheinen, auf die Verzagten oder Berauschten, auch auf die Regierungspaläste und auf die Schreibtische der Großen, und der Friede würde ihre Herzen erfüllen nach dem Lärm der Wintermonate, der große Friede, nach dem sie damals getrachtet hatten, als sie auf den verbrannten Straßen marschiert waren. Von dem Tobias damals und am Karfreitag gepredigt hatte. Der große Friede, der auch das Dorf Sowirog einschließen würde und alle armen Dörfer dieser armen Erde.

»Was denkst du, Hanna?« fragte er und legte seine Hand auf die ihre.

»Ich denke«, erwiderte sie leise, »daß Christus erstanden sein wird, morgen, und daß er auch für uns erstehen wird.«

›Wie gewiß ihr Leben ist‹, dachte er voller Ergriffenheit. ›Eine Heilige, hat Christean gesagt, und er hat sie nur abzubilden brauchen, wie sie ist ...‹

Sie blieben, bis das Abendrot in der Waldlücke erschien und der erste Nebelhauch sich über das Wasser hob. Die letzten Äste verglühten im Feuer, und Jons schüttete mit den Händen Sand darüber, bevor sie ins Boot stiegen. Die Erde war ganz still geworden, nur in den Schilfwäldern saßen die Stare leise schwatzend auf den schwankenden Halmen. Als sie aus der engen Durchfahrt herauskamen, sahen sie die ersten Lichter des Dorfes, und der knarrende Laut des Ziehbrunnens ging weit über das Wasser hin.

»So schön, Hanna«, sagte Jons leise. »So schön und so still ...«

Sie nickte ihm schweigend zu und tauchte die Hand über den Bootsrand in das Wasser. Eine schmale silberne Spur ging von ihr durch den dunklen Spiegel.

Als sie die Haustür öffneten, sah Jons ein schmales Papier im hölzernen Briefkasten liegen. Es war ein Telegramm von Gina. Es kam aus England und besagte, daß sie nun dort leben werde und daß Jons jederzeit zu ihr kommen könne.

Er hielt es eine Weile in der Hand und blickte auf die schmalen beschriebenen Streifen nieder. Die Welt war also noch da, die große weite Welt, und jemand aus ihr hatte nach ihm gerufen. Aber die Stimme reichte wohl nicht bis zum dreiundzwanzigsten Grad östlicher Länge. Das Papier war bis dahin gekommen, durch Drähte unter Wasser und über die Erde. Aber nicht die Stimme. Sie hatte nicht gewußt, daß er nicht fortgehen konnte aus dem kleinen, verlassenen Dorf. Er nicht und Hanna nicht und die übrigen auch nicht.

Aber er blieb den Abend über still und nachdenklich und für sich allein. Es beschäftigte ihn, daß sie fortgegangen war, der Vogel Phönix, und daß sie sicherlich gewußt haben würde, weshalb sie fortging.

Spät holte man ihn noch zu einem Kranken in einem Abbau, wie die abseits gelegenen Gehöfte hießen, und als er um Mitternacht heimging, blieb er ab und zu stehen und lauschte. Es war ihm, als hörte er ganz in der Ferne das Summen eines Motors, aber das Land war nun auch bei Nacht von diesen Fahrzeugen erfüllt, als hätten die Menschen keine Zeit mehr, zu Fuß zu gehen oder in einem kleinen Korbwagen die stillen Straßen entlangzufahren.

Aber er erschrak doch, als aus dem Schatten des Hauses eine Gestalt sich löste und leise sagte: »Ich bin es, Jons ... Lawrenz ... machen Sie kein Licht, bitte.«

Er führte ihn hinein, ohne ein Wort zu sagen, ließ ihn im Flur stehen und sah erst nach den Läden, ob sie fest geschlossen waren. Dann erst machte er Licht und holte ihn.

Er erschrak so, daß seine Hände zitterten. Lawrenz hatte seinen alten Mantel an und einen großen schwarzen Hut. Aber er hatte einen dunklen Vollbart und eine blaue Brille, und als er beides abnahm, waren blutunterlaufene Stellen in seinem Gesicht zu sehen, und um den Kopf trug er einen Verband, aus dem es hier und da rötlich schimmerte.

»Doktor«, sagte Jons leise, »lieber Doktor ... was ist mit Ihnen?«

Lawrenz lächelte, und wenigstens sein Lächeln war dasselbe geblieben, das traurige, wissende Lächeln eines alten Mannes, und nur der Spott war aus ihm ausgelöscht worden.

»Ich habe es nicht meinetwegen getan, Jons«, sagte er und hob den Bart und die Brille etwas in die Höhe. »Ich habe es Ihretwegen getan und Ihres Dorfes wegen, damit man meine Spur nicht gleich findet. Man hat mich auch im Wagen hergebracht und im Walde abgesetzt. Niemand hat mich gesehen, und ich bleibe nun auch nicht unter Ihrem Dach. Nein, bitten Sie nicht, Jons! Ich weiß schon, was ich Ihnen schuldig bin. Geben Sie mir eine Decke und den Schlüssel zur Meilerhütte. Mehr brauche ich nicht. Am Meiler war immer ein schöner Ort für mich ... Ihr Vater und der Prophet Jesaias waren dort zu Hause ...«


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