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XIV

Die Jahre gehen über das Dorf Sowirog. Sommer und Winter, Regen und Wind. Die Giebel werden grau, die Rohrdächer dunkeln nach, und es sieht aus, als ständen sie schon hundert Jahre so. Die Kinder sammeln die Steine von den Äckern, aber sie werden nicht fertig damit. »Die Steine wachsen«, sagt Piontek, und er mag recht haben. Wahrscheinlich spülen die schweren Gewitterregen die Erde von den Hügeln, aber Piontek weiß das nicht. Er weiß von seinen Vorfahren, daß die Steine wachsen, und das ist ihm genug.

Auch die Kinder wachsen. Micha geht hinter dem Pfluge her, und Grünheid sitzt nun manchmal auf dem Ackerrain und sieht ihm zu. Er ist alt geworden, und mitunter verwischen sich die Geschlechter vor seinen Augen. Es könnte auch Michael sein, der dort geht, aber Michael ist tot und hat Erde auf seinen Lidern. Dies aber ist sein Blut, ein unverdorbenes und unvermischtes Blut, das schwer und langsam durch die Adern geht und an Brot denkt. Nicht an den Staat oder an die Städte oder an die Mädchen, sondern nur an Brot. Und der am Abend vor der Haustür sitzt, nachdenklich und schweigend, bis die Sterne über dem Scheunendach aufziehen.

Barbara wird nun keine barmherzige Schwester werden, weil sie es schon ist. Der Vater würde sich nicht zurechtfinden auf dieser verdunkelten Erde, wenn sie nicht wäre. Er ist gut zu allen Menschen, und alle Menschen sind gut zu ihm, aber er weiß, daß er ein »Toter« ist. Er wird nicht mehr vor den Kindern stehen und den Geigenbogen heben oder die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern erzählen. Er hat die Gedanken verloren in den unabsehbaren Jahren und Räumen der Vergangenheit, er hat nur Bilder zurückbehalten, und sie setzt er still und geduldig zusammen, wie Kinder ein Spiel zusammensetzen. Gedanken haben harte Klammern, mit denen man sie binden muß, wie man Balken bindet. Aber er hat keine Klammern mehr. Er hat nur lose, weiche Fäden, die man um Bilder legen kann, und die schönste Zeit ist die Abenddämmerung, wenn die harten Konturen der Erde verfließen und das sanfte Zwielicht sich mit den wachsenden Schatten mischt. Die Gesichter der Menschen werden dann gütiger, ihre Strenge löst sich, und auch die harten, lauten Worte gehen besänftigt ein in die stille Melodie des Abends. Die Stimmen der Tiere erwachen, wie sie auch über Steppen und Wäldern erwachten, damals, als keine Hand ihn noch führte, und das Licht des Mondes legt sich sanft über Strauch und Halm, über die schmerzende Augen und das in die Nacht sinkende Herz. Dann ist nur noch das Feuer in der Küche, ein langsam zur Ruhe gehendes Feuer, nachdem es Menschen und Tiere satt gemacht hat während der Tageszeit. Und dann ist nur noch der Schein der kleinen Lampe in der Kammer, die schrägen Wände, die Fliege, die müde um die grünliche Glocke kreist. Und nebenan ist der Schritt seines Kindes, der von der Tür zum Fenster geht und wieder zurück, ein fester, tröstender, ganz gewisser Schritt. Und dann ein Vers aus der Bibel, am besten aus den Psalmen, und dann der tiefe, wundersame, traumlose Schlaf.

Manchmal fragt Jons das Kind, wie es mit seiner Jugend sei, aber es schüttelt den Kopf und lächelt. »Zehn Jahre ist die Mutter zum Moore gegangen«, sagt es. »Soll ich weniger sein als sie?«

Trotz allem ist Maria wohl glücklich. Sie hat ein Kind geheiratet, das ein Mann werden sollte und in den Krieg zog, und statt eines Mannes oder Helden kam wieder nur ein Kind zurück. Sie steht am Herd um die Abendzeit, rückt die Töpfe zurecht und blickt in die Flammen, und es ist ihr, als brauche sie nur fortzufahren in ihren Märchen, in dem von Frau Ilsebill oder einem anderen. Sie sitzen still im hellen Licht, Christean, der die Finger leise bewegt, Martin, der in die Flammen lächelt, Erdmuthe mit den Händen im Schoß und Barbara, die an des Vaters Sachen näht. Sie haben alle ihr Tagewerk hinter sich, ein leichtes oder ein schweres, und über die Dämmerung gehen sie nun ein in die große Nacht.

Manchmal weiß sie nicht, ob sie alt ist und die anderen nur Kinder sind, aber wenn sie die Suppe auf den Tisch setzt und Barbara das Gebet spricht, fühlt sie doch das Blut der Vergangenen durch sich fließen. Sie bricht das Brot in die Suppe und mit ihm das stille Glück der Sorgenden und Entsagenden, der still Leidenden und Bewahrenden. Sie hat einen Mann gehabt und ein Kind, und nun hat sie zwei Kinder, und auch die beiden anderen brauchen ihre Hand, die mütterliche Hand, die nie straft, die geduldig und langmütig ist und voller Zärtlichkeit für alles, was vom Schicksal angerührt worden ist.

Manchmal denkt sie an ihre Schwester, die eine Gräfin ist, aber ohne Neid und auch ohne Kummer. Sie ist ihren Weg gegangen, der in ihr verborgen gelegen ist wie das Keimblatt einer Pflanze. Er führt von ihnen fort, weiter und weiter, vielleicht bis in den Großen oder Stillen Ozean. Aber die Spuren auf diesem Wege führen doch alle zurück bis an diesen Herd und diesen Tisch. Spuren, die immer kleiner werden, bis sie in die Kinderschuhe passen, die zerrissen und verloren sind.

Aber häufiger denkt sie an Jons, dessen Leben sie alle getragen haben, durch Entbehrungen, durch Hoffnung, durch eine nie ermattende Liebe. Und der nun da ist, nicht stolz geworden, nicht hochmütig, nicht fremd. Der immer noch so ist wie auf dem Kirchenhügel, als sie aus dem Dienst bei den Küstersleuten kam, barfuß, und neben ihm saß, eine zweite Mutter, die seine Schmerzen tragen half. Aber der nun groß und stark geworden ist, ein Meister und ein großer Heilender, ein wiedererstandener Vater, aber ohne die Traurigkeit des Vaters.

Ja, die Jahre gehen über das Dorf, aber sie finden nicht viel Neues. Niemand hat die Äcker fortgenommen von ihrem Platz, niemand die Menschenwege. Sie kommen aus dem alten Grund, dem Urgrund der Dörfer und Geschlechter, und was an ihnen anders ist, ist nur ein schmaler Saum am Rande. Das Bild Gottes ist noch da, das Bild des Kaisers ist noch da, und der Lärm der Zeit ist ein ferner Lärm, weit hinter dem Moor, wo sie den Torf für den Winter stechen und auf den Ruf der Rohrdommel lauschen.

Korsanke hat seinen bunten Rock ausgezogen und sitzt vor seinen Bienenstöcken. Der Schmerz ist nicht verschwunden mit dem abgelegten Koppel, aber er ist sanfter geworden, und der Doktor Jons Ehrenreich wird wachen über ihn, daß er nicht Herr werde.

Der neue Landjäger ist jung und ein bißchen zu scharf, einer aus den Städten, wo die Menschen Spreu sind und wo man sie als Spreu behandelt. Aber er fühlt sich nicht ganz wohl unter diesen schweigsamen Wald- und Moorleuten, die die Türen vor ihm zumachen und mit den Armen über dem Zaun lehnen, wenn er vorüberreitet. »Jawohl, Herr Wachtmeister«, sagen sie, aber er weiß nicht recht, was sie in ihrem Inneren sagen, und manchmal bindet er das Pferd an Korsankes Gartenzaun und sitzt ein bißchen bei ihm und fragt ihn, wie er es gemacht habe, um nicht ein Fremder geblieben zu sein. »Ich will es Ihnen sagen«, erwidert Korsanke und sieht die saubere Uniform und die Revolvertasche an. »Ich habe immer ein bißchen mehr auf das Herz als auf die Paragraphen gesehen. Das ist es. Der Untertan mag etwas Schönes sein, wenn ich es auch nicht mehr genau weiß. Aber Daida oder ein anderer ist etwas mehr als ein Untertan. Er hat eine Frau und sechs Kinder und ein schweres Leben, und was er am meisten braucht, ist ein bißchen Freundlichkeit. Keine Revolver und keinen Gummiknüppel, sondern nur ein bißchen Freundlichkeit. So wie Sie zu Ihrem kleinen Hund sind, und Daida ist doch ein bißchen mehr als ein kleiner Hund.«

Der andere schreibt mit seinem Säbel Figuren in den Sand und löscht sie dann wieder aus. »Es war einfacher in der Stadt«, sagte er. »Sie wollten keine Freundlichkeit, sondern eine harte Hand, und dazu wurden wir ausgebildet.«

»Aber hier ist keine Stadt«, erwiderte Korsanke. »Hier ist der Eulenwinkel, und hier gehen die Kinder barfuß. Hier wird nicht gestreikt und demonstriert. Hier ist es noch so, als ob Rebekka zum Brunnen kommt. Hier ist ein altes Land und eine alte Zeit, und hier müssen auch Landjäger ein bißchen still werden.«

Dann steht der andere auf, schüttelt ein bißchen den Kopf, bedankt sich aber und führt sein Pferd langsam am Zügel nach seiner Dienstwohnung.

Von allen Alten und Jungen ist Stilling der am wenigsten sich Verändernde. Sein Haar ist schneeweiß, und seine Hände zittern ein wenig. Aber weißer kann es nicht werden, und eine bestimmte Festigkeit der Hände will die Natur ihm lassen. Sie will ihn so behalten, wie er ist, und so bleibt er. Als habe sie ihn an die Ewigkeit angeschlossen und werde ihn nun nicht mehr fallen lassen. Er sieht aus wie die kleine Unsterblichkeit eines kleinen Dorfes, und niemand aus Sowirog kann sich vorstellen, daß er jemals sterben werde. Für ihn ist die Welt nicht mehr als das runde Abbild, das vor seinen Büchern steht, eine farbige Kugel, die sich gehorsam dreht, wenn jemand die Hand an sie legt. Er hat fünfzig Jahre seines Lebens an den winzigen Punkt gewendet, der das Dorf Sowirog bedeutet, lange, eintönige, aber erfüllte Jahre. Er hat weder Helden noch Propheten erzogen, er hat nur aus dem kleinen und dem großen Buche gelehrt, aus der Fibel und dem Buch der Bücher. Und was er gelehrt hat, hat er mit seinem einfachen Leben dargestellt und wie eine Tafel des Beweises über seine kleine Welt aufgehoben. Er ist an vielem irre geworden im Lauf der Jahre, aber er hat Gottes Wort bewahrt durch alle Anfechtung, und es ist ihm etwas Großes gelungen: er ist ein Wind unter zwei Flügeln gewesen, und er hat den Vogel sich aufheben sehen und still über dem Dorfe kreisen. Er ist nicht umsonst gewesen, er hat an keinem entscheidenden Irrtum zu tragen, er hat sein Leben nicht an ein Phantom vertan. Die goldene Uhr schlägt noch immer ihre zarten, zitternden Töne, und er kann sie nun ohne Scham und Schmerzen hören: »Üb' immer Treu und Redlichkeit ...« Ja, er kann ein bißchen lächeln, wenn er daran denkt, wie er die große Macht der Inflation besiegen wollte und sich mühsam hinter seinen Schild in das Dorf zurückgerettet hat.

Nur an Maschlanka ist vielleicht eine Änderung zu spüren. Aber Maschlanka gehört nicht zum Dorf. Er ist ein Zugezogener, einer aus dem Reich des halben Geistes, wo man Messing für Gold verkauft, kein Soldat, sondern ein Mietling, der nach der Beute schielt und der nach dem lautesten Trommelschlag lauscht, dem man folgen könnte. Der mit mitleidigem Lächeln auf das Buch der Bücher blickt und für den die Zeit eine Göttin ist, vor der man im Staube knien muß, bis sie einen aufhebt und erhöht.

Niemand merkt, daß er sich ändert, außer Herrn von Balk. Die anderen haben keine Zeit dafür und auch nicht die Schärfe der Augen, die dazu nötig ist. Aber Balk hat immer soviel Zeit, um darauf zu achten, wenn die Welt sich langsam wandelt. Er heißt nicht umsonst der »Habicht«, und seine Augen haben längst aufgehört, nach den Küchlein zu spähen.

»Achte ein bißchen auf den Mann, Jons«, sagt er. »Er fährt zu Versammlungen, und es heißt, daß die Kinder nun andere Lieder singen. Nichts mehr vom ›Humpelbein‹. Man muß immer wissen, wer im Dunkeln vor der Tür steht.«

»Aber wir können ihn doch nicht lebendig begraben, Herr von Balk?«

»Natürlich nicht. Wäre auch schade um die Spaten. Aber ein Landwirt hat ab und zu nach dem Barometer zu sehen oder seinen alten Hirten nach dem Wetter zu fragen.«

»Ändert sich das Wetter, Herr von Balk?«

»Ich denke, sehr. Wo Sündenböcke auftreten, ändert sich immer das Wetter. Früher waren es die Juden allein, heute sind es die Juden und die Radfahrer. Das macht der Fortschritt, Jons. Früher gab es noch keine Radfahrer. Aber wo Sündenböcke sind, ist auch Sünde. Viel Sünde sogar. Nur ist sie nicht immer bei den Böcken, sondern oft bei den Schafen ... Zeitungen liest du wohl nicht viel, Jons?«

Nein, das konnte Jons nicht sagen. Er las seine Zeitschriften, und schon dabei fielen ihm manchmal die Augen zu. Er hatte kein leichtes Tagewerk. Und seine Welt war nicht die der Zeitungen. Seine Welt war die seiner Kranken, und es war eine ernste Welt, in der nicht viel gesprochen wurde. Man hatte zu erkennen in ihr und zu heilen und um jedes Leben zu ringen, das noch an diese Erde mit losen Fäden gebunden war. Das Leben eines Kätnerkindes hinter dem Moor war ihm nicht weniger als das eines Ministers. Es war ein einmaliges Leben, und in keinen Zeiten und Räumen kam es noch einmal ebenso wieder. Gott wiederholte nichts, und die Natur wiederholte nichts. Es war nicht nötig, daß aus diesem Kätnerkind etwas Besonderes wurde, wie etwa der Staatssekretär, der als eines Gastwirts Sohn in einer benachbarten Landschaft geboren worden war. Er hatte die Welt nicht verändert, er hatte nicht einmal den Staat verändert, sondern mit dem umstürzenden Staat war auch er gestürzt. Er war ein kleines Holzpferd auf einem großen Karussell gewesen, mit unechter Farbe und unechten Augen. Ein unsichtbares Räderwerk hatte ihn getrieben, eine lärmende Drehorgel ihn begleitet, wie sie alle anderen Holzpferde begleitete, und als die bunten Lampen erloschen, war auch er wieder in die Dunkelheit zurückgesunken.

Nein, es war nicht nötig, daß etwas Großes aus dem Kätnerkind wurde. Es war genug, daß es dreißig Morgen mageren Ackers bestellte, von der Jugend bis zum Alter. Denn wenn es dies nicht tat, verfiel der Acker, und aus seinem Brot wurden Steine. Und seine Kinder wurden nicht geboren, und es brach etwas in dem Ring des Geschlechtes. Das Dorf ging des Lächelns verlustig, das er vielleicht für die Beladenen gehabt haben würde, einer freundlichen Handreichung, eines gütigen Wortes in einem unguten Jahr. Es war nicht richtig, daß es eine Stellvertretung für alles gab. Der Haushalt der Menschheit arbeitete nicht mit Stellvertretungen. Nicht einmal der eines Landes oder eines Dorfes. Es war nicht so, daß Jons ersetzt werden konnte, durch einen Dr. Lustig oder durch einen Dr. Traurig oder eben durch Dr. Jedermann. Daß Stilling ersetzt werden konnte oder Korsanke. Ja, nicht einmal Piontek. Es konnte jemand an ihre Stelle treten, und die Stelle wurde besetzt. Aber der Mensch war unersetzlich, der sie gehabt hatte. Er war nur einmal aus Gottes Hand gefallen, und Gott hatte an ihm allein geformt, nicht an einer Serie wie die am laufenden Band einer Maschinenfabrik.

Und so hatte er wenig Zeit, auf den Mann Maschlanka zu achten. In den Kätnerhütten, in denen er an den Betten saß, hörte er nichts von den neuen Liedern, und wenn er nach einigem Widerstand die kleinen Fenster der Kammern geöffnet hatte, hörte er nur die alten Lieder aus seiner eigenen Kinderzeit. »In einem kühlen Schatten, da steht ein wilder Birnbaum ...« das sangen sie immer noch, und während Jons die Hand am Puls der Kranken hielt, sah er einen Augenblick hinaus, über die kleinen Goldlack- oder Geranientöpfe auf dem Fensterbrett, in eine weite Ferne hinaus, und dann kehrte er mit freundlichem Lächeln wieder zurück.

Die Jahre gehen, und die meisten Dörfer denken, daß sie nichts mit sich nehmen als die übliche Last der Tage und Nächte. Neu war für sie der Wels, den sie gefangen hatten, oder daß Jons Pionteks Leib aufgeschnitten hatte, oder daß ein neuer Pfarrer gekommen war. Aber draußen, weit hinter dem Moor, war nichts Neues für sie. Daß sie sich in den Sälen der Abgeordneten prügelten, oder auf der Straße, und daß sie einander als ›Verräter‹ beschimpften, war nichts Neues. Daß es einen ›Krach an der Börse‹ gab, ging sie nichts an. Keiner von ihnen konnte sich unter einer Börse etwas anderes vorstellen als ein Ledersäckchen, das mit einer Schnur zusammengebunden wurde. Die Steuern trug der Acker zur Not, und wenn er sie nicht trug, half der Herr von Balk. Nicht den Trägen und Trunkenbolden, aber den Rechtlichen und Fleißigen.

Einmal aber greift die Zeit auch an die kleinsten Dörfer. Sie läßt nichts aus, wo Menschen leben. Sie arbeitet mit Menschen und Geld und Worten, und auch das Geringste davon kann einmal wichtig für sie sein. Dem Kaiserreich ging es um Steuern und Soldaten, königstreue Soldaten. Der Republik geht es fast nur um Steuern und Korn. Aber der neuen Zeit geht es anscheinend um alles zusammen. Die Sprache schwillt auf wie ein krankes Organ, ihr Wortschatz, ihre Attribute. Ihre Lautstärke schwillt, ihre Plakate glühen, ihre Verheißungen und Verdammungen.

Und einmal gibt es nun auch eine Versammlung in Sowirog. Sie findet bei Czwallinna statt, an dem einzigen Ort, der dafür möglich ist. Plakate laden zu ihr ein, und Motorräder knattern durch das Dorf. Neue Uniformen sind zu sehen, neue Gebärden, neue Gebräuche, und die Leute von Sowirog schieben sich langsam, ein bißchen widerwillig und ein bißchen neugierig, in die große Gaststube. Sie trinken nichts, und sie verzehren nichts, und der »Tater« schielt mit wütenden Augen nach ihren Bänken.

Auch der Herr von Balk ist gekommen und Jons und Stilling. Und der neue Landjäger steht unbehaglich neben dem kleinen Rednerpult und putzt an seinem Tschako herum.

Die jungen Fremden stellen sich ein bißchen zu den Kätnern und plaudern ein bißchen. Aber die Kätner schweigen. Sie kennen keine Plauderstunden, und jede Uniform ist ihnen verdächtig. Auch eine Fastnachtsuniform würde ihnen verdächtig sein. Auch sind diese jungen Burschen ihnen etwas zu sicher und zu laut, und die Leute von Sowirog sind beides nicht. Sie sind gewohnt, ihr Tagewerk still zu tun, und wenn sie einmal in die Kreisstadt müssen oder nur zum Landjäger und zum Lehrer, sind sie gewohnt, die Mütze abzunehmen und geduldig zu warten, bis man sie aufruft. Meistens geschieht das nicht sehr höflich, auch in der Republik nicht, aber sie wissen, daß es niemals anders war und daß der liebe Gott es so eingerichtet hat.

So sitzen sie also still da und warten, und inzwischen flüstern sie einander ein paar Bemerkungen zu. Sie haben immer einen natürlichen Sinn für das Komische gehabt, und für sie ist manches von dem komisch, was sie sehen. Die abgezirkelten Bewegungen, die sich wie an Holzfiguren abspielen, das »Forsche« der Gesichter, der Landjäger, der nicht weiß, was für ein Gesicht er machen soll, und vor allem Maschlanka mit der roten Perücke, der Diener macht, aber auch gern »forsch« sein möchte und der zwischen diesen beiden Haltungen hin- und herschwankt.

Am lustigsten aber ist für sie, als der Anführer zum Herrn von Balk geht, die Absätze zusammenschlägt und den Arm in die Luft wirft. Der Herr von Balk setzt sein Glas ins Auge und betrachtet sich den Mann wie einen jungen Zuchtstier, den er kaufen soll. Er betrachtet ihn vom Kopf bis zu den Füßen, mit unbewegtem Gesicht, und er hat eine ganze Menge daran zu betrachten. Er sagt nichts, und erst als der Mann zum zweiten Male sagt, daß er sich freue, eine so bekannte Persönlichkeit des Kreises hier zu sehen, und daß er überzeugt sei, ihn bald in ihren Reihen marschieren zu sehen, erwidert der Herr von Balk, daß er ein alter Kavallerist sei und daß es bei diesen mit dem Marschieren immer etwas gehapert habe. Und ob sie denn hier in Sowirog Marschierunterricht geben wollten.

Das sei natürlich symbolisch zu verstehen, erwidert der Mann etwas unbehaglich, und Balk nickt ihm freundlich zu. »Sie sind schlechte Marschierer hier«, sagt er. »Zu lange hinter dem Pfluge hergegangen, um Brot für andere Marschierer zu bauen. Und auch mit den Symbolen hapert es hier etwas. Ein etwas zurückgebliebenes Dorf am Fuße des Mondgebirges ...«

Und er nimmt das Einglas ab und putzt es sorgfältig mit einem weißseidenen Tuch.

Der Mann weiß nicht recht, ob das ein Witz ist, und dann macht er eine scharfe Kehrtwendung und besteigt sein kleines Podium.

Er spricht etwa eine Stunde, und die Leute von Sowirog hören zu. Sie sehen ein bißchen bestürzt aus, so etwa wie eine Viehherde, die man auf den alten Weideplatz treibt, aber der Platz ist über Nacht von einem hohen Zaun umstellt worden. Sie starren durch die Lücken auf die grüne Welt, aber es ist alles anders geworden, und sie wundern sich.

Das meiste verstehen sie auch nicht. Was Juden sind, wissen sie schon, aber daß der alte Hirsch mit seinen Bändern und Schnallen und Halsketten sie aussauge, hören sie zum erstenmal. Und Freimaurer und Marxisten sind ihnen nun ganz und gar böhmische Dörfer. Kutzek mauert nicht frei, sondern läßt sich ganz ordentlich bezahlen, und vor allen Dingen will er viel Schnaps haben. »Es bindet sonst nicht«, pflegt er zu sagen.

Sie ducken sich also etwas in den müden Schultern und lassen das Ganze gehorsam über sich ergehen. Der »Schandfrieden« rührt sie nicht sehr an, ihnen ist nur wichtig, daß Friede und nicht Krieg ist. Und dieser Mann auf dem Pult, der die Fäuste ballt, sieht ihnen ganz so aus, als sei er dabei, wieder ein bißchen Krieg zu machen. »Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen, sterben als ein He ... e ... ld.« Aber sie wollen weder Frankreich schlagen, das haben sie noch zu gut in der Erinnerung, noch als Helden sterben. Sie wollen etwas mehr Acker und die Waldweide, und ab und zu ein Häschen und ein bißchen mehr Geld für Schnaps. Bescheidene Wünsche, aber davon sagt der Mann nicht viel.

Und schließlich denken sie, daß der Mann sich überhaupt geirrt hat. Daß er sich mit seinem Motorrad verfahren hat und ganz woanders hingewollt hat. Nach der Kreisstadt wahrscheinlich, wo die Leute Zeit haben, abends in einen Zirkus zu gehen. Was weiß so ein Mann vom Dorfe Sowirog? Gebt ihm einen Pflug in die Hand und eine Axt, und dann wollen wir sehen, was er damit anfangen wird. Zum Reden ist der Pfarrer da und manchmal auch der Lehrer, aber junge Burschen sind zum Arbeiten da. So steht es in der Bibel, und so ist die Ordnung der Welt.

Der Landjäger räuspert sich ab und zu, und als von der Juden- und Bonzenrepublik die Rede ist, unterbricht er und bittet, Angriffe gegen den Staat zu unterlassen.

Der Redner blickt ihn nachsichtig an wie einen alten Mann, der nicht ganz mitkommt, aber dann kommt er doch zum Ende, fordert zum Eintritt in die Partei auf und schließt mit einem Ruf, den die Leute von Sowirog zum erstenmal hören und bei dem sie sich noch weniger denken können als bei dem Vorhergegangenen.

Als der Herr von Balk aufsteht und ihnen lächelnd zunickt, stehen auch sie auf und schieben sich langsam aus der Tür. Draußen scheinen die Sterne, und die Luft kommt warm und rein vom See über die Felder. »Der hat eine Kehle, Bruder ...«, sagt der alte Daida und nimmt mit dem Daumennagel eine Prise. »Und das Leder, das die umgeschnallt haben ...«, erwidert Gonschor nach einer Weile. »Ein ganzes Sielenzeug könnte man daraus machen ...«

Und damit ist die Sache für sie beendet.

Es war kein Erfolg, und der Redner schiebt fluchend die Blätter seines Manuskripts wieder in die schöne Aktentasche. »Drecksvolk!« sagt er wütend. »Ostische Rasse!«

Der Landjäger geht gedankenvoll nach Hause, und Herr von Balk und Stilling sitzen noch eine Weile bei Jons. Für Stilling ist es nicht viel mehr als einer der Späße, an denen das deutsche Volk so reich ist, und der vorübergehen wird, wie Wahrsager und Propheten vorübergehen. Aber Balk starrt finster in den dunklen Kamin und raucht eine Zigarette nach der anderen. »Dämmert es dir nun, Jons?« fragt er nach einer Weile. »Wenn die Ideale aufgerufen werden, gibt es im allgemeinen schon Klamauk genug in der Weltgeschichte. Aber wenn sie die Instinkte aufrufen, fängt die Weltenuhr an zu rasen.«

»Sie werden immun bleiben«, erwidert Jons langsam. »Es war zu sehen heute, daß sie immun bleiben.«

»Der Puls eines Kranken ist nicht der Puls eines Volkes, Jons. Die Masse hat einen schnellen Pulsschlag, und hundert Injektionen sind mehr als eine.«

»Was ist zu tun, Herr von Balk?«

»Geben Sie uns einen Kognak, Jons. Heute fahren sie ab wie von einem falschen Rendezvous. Sie wollten nur eine Vorstellung geben, und es mißlang ein bißchen. Morgen befehlen sie den Eintritt. Hast du die schönen Schnallen an ihren Riemen gesehen? Mit Schnallen fängt es immer an, bei Pferden, bei Menschen und bei Völkern. Und mit Galgen und Scheiterhaufen hört es auf. Zur Gesundheit, Jons! Zur Gesundheit, Stilling! Ich wünschte, ich wäre so alt wie Sie.«

»Wir wollen warten, was Gott dazu meint, Herr von Balk«, sagt Stilling leise.

»Zuerst meinen die Menschen, Stilling, und nach einer langen Weile meint vielleicht Gott, oder die Menschen bilden es sich wenigstens ein. Wenn die Ernte verhagelt ist, muß doch einer schuld haben. Sie werden auch dies schon zu einer Prüfung frisieren. Ein paar Millionen werden draufgegangen sein, wenn die Prüfung zu Ende ist, und die Übriggebliebenen werden bestanden haben. Aber ihre Note wird wohl auch nicht ›summa cum laude‹ sein. Vielleicht wird sie ›rite‹ sein, vielleicht nicht einmal das. ›Schließt eure Herzen und eure Tore!‹ heißt es ja wohl bei eurem Altmeister. Oder so ähnlich ... Ja, und nun wollen wir nach Hause marschieren. So hat doch der Bursche gesagt, nicht wahr? ›In unseren Reihen marschieren.‹ Merkwürdig, manche Völker wandern, und manche schweifen, und manche sind seßhaft. Aber die Deutschen marschieren, von der Wiege an bis ins Grab. Dachte, sie würden genug marschiert haben mit dem letzten Orlog. Keine Rede davon. Sind schon wieder lustig dabei. Gibt einen ewigen Juden und einen ewigen Marschierer. Neugierig, ob sie sich einmal treffen. Haben doch schließlich dasselbe Ziel. ›O Ewigkeit, du Donnerwort!‹«

Und er nahm Handschuhe und Reitstock, nickte ihnen zu und ging auf seinen hageren, gekrümmten Beinen langsam aus dem Zimmer.

Nein, es ist ein Irrtum, zu meinen, daß die Zeit nichts Neues bringe. Sie geht trächtig mit neuen Dingen, neuen Menschen, neuen Weltanschauungen. Sie ist der Urschoß der Fruchtbarkeit, und es ist ihr gleich, was sie gebiert. Ihr Lärm bleibt nicht immer ein ferner Lärm weit hinter dem Moor. Es gibt Zeitungen, es gibt Radioapparate, und wo ihre Stimme zu schwach oder zu vereinzelt ist, gibt es Lautsprecher, die sie über Städte und Dörfer schreien, durch die geschlossenen Fenster hindurch, in die verschlossenen Herzen hinein. Früher lag ein Dorf »hinter dem Walde«, und damit war es fern von der Zeit. Monate vergingen, ehe die Zeit in die leeren Räume tropfte und sie erfüllte, wie ein leeres Gefäß sich erfüllt, zuerst mit einem dumpfen, fallenden Ton, der von den Wänden widerklang, und dann langsam heller und heller, bis es erfüllt war und überfloß.

Aber nun liegt nichts mehr »hinter dem Walde«. Drähte laufen durch jeden Wald, blitzende Wagen durcheilen ihn, und wo auch Drähte und Wagen zu langsam sind, fährt es unsichtbar durch den Äther. Man weiß nicht, ob der Äther da ist oder ob er nur ein Phantom der klugen Leute ist, aber das, was man so benennt, ist gehorsam und willig, fortzuleiten, was man ihm aufträgt. Botschaften oder Zahlen, Namen oder Verheißungen, Segnungen oder Flüche.

Man kann sagen, daß der Acker da sei, Gott oder der Kaiser. Aber die Botschaften fragen nicht danach. Sie lassen sie aus dem Spiel wie eine zerbrochene und zerrissene Puppe, die auf dem Düngerhaufen liegt. Die Zeit baut ihre eigenen Götterbilder. Einmal war es bunt oder das goldene Kalb, und nun ist es das Reich oder ein Mann oder nur ein Name. Es flattert von den Fahnenstangen, es glänzt über den Versammlungen und Umzügen, es schreit von den Lippen, den Musikkapellen, den Lautsprechern. Es bemächtigt sich. Das ist es. Es bemächtigt sich der Willigen, der Lauen, der Widerstrebenden. Es hebt die Masse hervor aus der Zwiespältigkeit und Vereinzelung, es reißt die Dämme mit, die Ufer, die Böschungen, und endlich braust es wie ein Wildwasser zu Tale, in Donner und Schaum, über die Mühlen hinweg, die das Korn mahlen, über die Sägewerke, die Holz zu Wiegen und Särgen schneiden, weiter und weiter, bis in den Ozean, der so vieles aufgenommen hat und der nun auch die Zeit aufnimmt, die große neue Zeit, die sich für die Ewigkeit hält und nichts ist als ein kurzer Tag »von gestern her«, ein »Schatten über der Erde«.

Der Winter liegt über Sowirog, ein harter Winter, und die Leute von Sowirog merken noch immer nicht viel von den großen Dingen der Zeit. Sie lesen keine Zeitung, sie haben kein Radio. Sie gehen in der roten, kalten Morgensonne in die Holzschläge, Lappen um die Füße gewickelt, Säge und Axt über der Schulter. Sie bleiben ein bißchen bei den Wildfährten stehen, Hasen und Rehe und ab und zu eine Rotte Sauen. Sie betrachten sie mit fachmännischem Blick, und wenn die Wildschweinfährten frisch sind, bereden sie die kommende Jagd. Jagden sind immer herrlich. Der Schnee in den Dickungen stäubt ihnen in den Hals, und die Hände in den Fausthandschuhen werden kalt. Aber es ist nicht mehr zu tun, als Richtung zu halten und mitunter mit dem Stock an die alten Fichten zu klopfen. Dann bricht ein Schuß durch den zusammenfahrenden Winterwald, noch einer und noch einer, und dann ist es zu Ende oder gibt noch ein paar Treiben. Aber in jedem Falle gibt es Schnaps und Geld und manchmal eine heiße Erbsensuppe und manchmal eine Zigarre.

War es aber mit alledem nichts, so kehren sie im Abendrot heim, müde und hungrig, aber ohne schlechte Laune. Vielleicht gibt es einen kleinen Hasenbraten, vielleicht einen Wacholderschnaps. Das Feuer im Herde brennt, und einmal ist auch wieder Sonntag für das Dorf, mit der neuen Kirche und dem neuen Pfarrer. Sie sind nicht ganz so arm und verlassen, die Leute von Sowirog. Der liebe Gott ist immer noch da, und wahrscheinlich ist auch der Kaiser noch da. Es heißt, daß sie ihn verbannt haben, aber vielleicht schläft er in dem Märchenberg und wird einmal wiederkommen, um diese Burschen mit dem Lederriemen ein bißchen zu exerzieren, damit sie stiller und bescheidener werden.

Aber vorläufig sind diese Burschen da. Es scheint, daß auch die Republik aufgehört hat, wie so vieles einmal aufhört, aber es geht sie nichts an. Hirsch ist dagewesen, der sie aussaugen soll, aber er verkauft Kämme und Bänder und sitzt ein bißchen vor dem Herdfeuer, alt, gebeugt, und sehr müde. »Gott der Gerechte«, seufzt er, »was werden sie machen für eine Zeit aus unserer Zeit ...« Und er erzählt, daß es Dörfer gebe, in denen sie die Hunde auf ihn hetzen, aber die Hunde gehorchen nicht. Sie kennen den alten Mann. Und daß sie »Hepp! Hepp!« hinter ihm herschreien. Und wenn der Mensch hinter einem Menschen schreie, sagt er, dann fange es an. Immer habe es so angefangen.

Die Frauen trösten ihn, aber er geht gebeugt aus der Tür, und den Kindern schenkt er kleine Pfeifen aus Zuckerguß, eine ganze Hand voll.

Und noch vor den Tauwinden sehen sie eines Abends, daß Maschlanka eine Uniform trägt. Sie wissen nicht, ob er Soldat gewesen ist. »Wahrscheinlich nicht«, sagt Daida, »sonst wäre seine Perücke im Drahtverhau hängengeblieben.« Aber nun sieht er aus wie ein Soldat, mit Lederriemen wie die andern, sogar unter der Mütze und sogar, wenn kein Wind geht. Er nimmt es ernst mit seiner Uniform.

Die Lieder werden nun wirklich neu in der Schule, und die Kinder wiederholen sie zu Hause, bis der Vater den Leibriemen abschnallt. Und unter dem Giebeldach der Schule bringt ein Mann in einem blauen Anzug eine große viereckige Holzplatte mit einem runden Loch an, und am Abend klirren Märsche und Reden über das erstaunte Dorf. Und eines Morgens erscheinen andere Leute mit einem langgemachten Wagen, graben ein tiefes Loch in den Schulhof und richten einen Fahnenmast auf, so hoch, wie ihn sonst wohl nur der Kaiser hat, und um die Mittagszeit weht eine riesige Flagge von dem Mast, und die Kinder stehen mit offenem Munde davor und sehen zu, wie der Wind sie bewegt.

Aber in einer der nächsten Nächte, als Maschlanka zu einer Versammlung gefahren ist, einer Frühlingsnacht mit Regen, Sturm und tiefen Wolken, gibt es eine schweigende Bewegung um das Lehrerhaus, als ob Schatten oder Tiere des Waldes sich dort heimlich träfen, und am Morgen, als der Lehrer Maschlanka sein Radio in Gang setzt, schweigt es unter dem Giebel, und als er aus dem Fenster blickt, sieht er, daß der Mast verschwunden ist mitsamt der Fahne. Dicht über der Erde abgesägt, und daß statt des Lautsprechers ein paar Holzstücke unter dem Giebel hängen, von einem verbogenen Draht zusammengehalten.

Maschlanka stürzt zu Korsankes Nachfolger, und dann stehen sie beide an der Stelle der Untat. Der Lehrer fährt mit dem Finger über die Schnittfläche, aber davon wächst der Mast nicht nach. Er flucht und tobt, und auch der Landjäger hat ein ernstes Gesicht. »Es sind Symbole!« schreit Maschlanka. »Und auch die Wilden achten Symbole!«

Der Landjäger weiß nicht recht, was Symbole sind, aber wahrscheinlich ist es etwas Ernsthaftes, und jedenfalls ist dies hier eine Schweinerei, die ihn den Kragen kosten kann.

Sie suchen nach Spuren, aber der Regen hat alles ausgelöscht, und der Landjäger wird es also weitermelden. Etwas anderes fällt ihm nicht ein, und Maschlanka ist nicht sehr glücklich darüber. Ein besonderes Lob wird er wahrscheinlich nicht ernten.

Die Leute stehen ein bißchen vor den Häusern herum, als der Landjäger durch die Dorfstraße reitet. Er sieht böse aus und grüßt nicht, und die Leute wundern sich nicht sehr darüber. Nicht jeder kann Korsanke sein, und nicht jeder kann Stilling sein. Auch im Walde kann nicht jeder Vogel ein Wanderfalke sein. Mancher ist eine Elster, und mancher ist nur ein Wiedehopf, und auch sie hat der liebe Gott geschaffen.

Es gibt Vernehmungen und unzählige Alibis. In Alibis ist Sowirog groß. Wer Schlingen stellt und in der Nacht mitunter auf den See fährt, braucht solche Einrichtungen sehr nötig.

Es kommt nichts heraus aus den Vernehmungen, und nur die Alibis bleiben. Unantastbar wie eherne Tafeln. Motorräder halten im Dorf, und der Anführer blickt finster über die Neugierigen hinweg die Straße entlang. »Pachulken!« sagt er. »Mit euch werden wir schon Schlitten fahren ...«

»Nicht vor dreiviertel Jährchen, Herr General«, erwidert der alte Daida treuherzig. »Vor Martini gibt es keinen Schnee bei uns.«

Es wird viel gelacht rings um den See, aber Balk schüttelt bekümmert den Kopf. »Haltet euch still, Leute«, sagt er. »Sie werden euch zerknacken wie eine Laus.«

Und auch Jons sagt dasselbe, wenn er an den Krankenbetten sitzt. Sein Gesicht ist wieder ernst geworden, und manchmal hält er auf einem der Hügel sein Pferd an und blickt eine Weile über die stille Landschaft hin, auf der die Saaten grünen und über der die Bussarde kreisen.

Eine neue Fahnenstange kam, ein neuer Lautsprecher, und sie blieben unbeschädigt. Die Leute machten die Fenster zu, und mitunter war einer der Drähte der Lichtleitung gerissen, die durch Felder und Wälder führte. Es geschah immer im Walde, wo die Fichtenäste bis dicht an den Draht reichten, und vielleicht war es der Wind gewesen, der ihn beschädigt hatte.

Aber trotz allem blieb das Dorf Sowirog ein sogenanntes Unikum im ganzen Kreise. Denn es besaß einen Ortsgruppenführer in der Person Maschlankas und einen Stellvertreter in der Person Czwallinnas. Und weiter besaß es nichts, außer seinen bisherigen Äckern und Weiden und Torfstichen. Es war ein altes Dorf, und es liegt immer noch »hinter dem Walde«. Der geheimnisvolle Äther liegt auch über diesem Walde und leitet die Botschaften der Zeit gehorsam bis in Maschlankas Lautsprecher. Aber dort ist es zu Ende mit ihnen. Der leere Raum empfängt und verschlingt sie. Es ist wirklich, als hätten die Leute hier vor zehn Jahren noch gebellt. Sie verstehen nichts, sie hängen am Alten, und es heißt sogar, daß der Herr von Balk den Meiler wieder anzünden lassen wolle. Sie lachen in der Stadt, und sie schimpfen auch, aber schließlich zucken sie die Achseln. »Was wollen wir mit den paar Kuhköpfen?« sagen sie zueinander. »Wollen mal sehen, wie es mit den Kindern wird. Wenn wir die in die neue Kluft stecken, geht das ganze Dorf hoch.«

Aber das Dorf geht nicht hoch. Sie haben wieder einmal vergessen, daß man dort noch »Herr Vater« und »Frau Mutter« sagt. Sie bekommen die neue »Kluft«, und sie tun, was befohlen wird, aber auch nicht ein Jota darüber. Und sie tun es darüber hinaus so ungeschickt und tölpelhaft, daß die jungen Führer am Verzweifeln sind. Und als der jüngste Daida, der Enkel, beim Treffen in der Kreisstadt, als die Fanfaren geblasen werden sollen, um einen halben Takt zu früh beginnt und mit einem greulichen Mißton beginnt, verzichtet man darauf, die Jugend von Sowirog zu »repräsentativen« Gelegenheiten zu benützen. »Nicht Sowirog, sondern Maupirog müßte es heißen«, sagt man, und »maupa« heißt der »Affe«.

Grünheid ist nicht mehr im Amt, und Maschlanka übernimmt seinen Posten. Aber als er den alten Schulzenstab haben will, zuckt Grünheid die Achseln. »Er ist nicht mehr da.« Wo er sei? »Der liebe Gott hat ihn geholt, über Nacht. Manchmal holt er etwas über Nacht, der liebe Gott ...«

Jons muß in die Ärztekammer eintreten. Der Herr von Balk besteht darauf. »Möchtest du, daß irgendein Schwein hierherkommt«, sagt er, »und aus unseren Trögen frißt? Wir werden schon wissen hier, weshalb du es tust.«

Jons gehorcht, aber er ist finster und in sich gekehrt, und auch Tobias kann ihn nicht aufheitern. »Erinnerst du dich an den schwarzen Staub, Jons?« fragt er. »Dort, wo die Schornsteine standen? Siehst du, manchmal bläst Gott in solchen Staub und läßt ihn über ein ganzes Land treiben. Aber es ist nur Staub. Glaub mir, Jons. Erst wenn er in die Erde bläst oder in das Meer, wird es schlimm. Aber das tut er nicht.«

Der Roggen wächst, der Pirol kommt wieder, und die neuen Glocken läuten in ihrem hölzernen Turm. Aber der neue Landjäger ist plötzlich unter die Frommen gegangen und sitzt bei jedem Gottesdienst in der hintersten Bank. Jedesmal steht einer der Jungen hinter ihm und sieht ihm über die Schulter, damit er nicht plötzlich Lust bekommt, Verse in sein kleines Buch zu schreiben. Aber es ist doch nicht mehr so, wie es früher war. Das Dorf ist nicht mehr ein stilles Haus, wo sie unter sich sind, hoch und gering. Etwas steht vor der Tür, in der Dämmerung, aber man erkennt es nicht. Man hört nur seinen Atem, einen verstohlenen Atem, und man weiß nicht, ob er der eines Wolfes oder eines Lammes ist.

Ja, die Jahre gehen über das Dorf wie Ringe durch einen Baum. Die Rinde bleibt dieselbe, aber unter ihr läuft eine neue, vielfach gezackte Linie durch das Holz. Niemand sieht sie, und erst unter der Säge wird man sie sehen. Die Leute singen wieder in Sowirog, sie leben und trinken wie früher. Sie sehen zur Seite, wenn etwas Neues kommt. Auch das Neue wird vorübergehen, wie Hagel vorübergeht. Aber manchmal richten sie sich auf von ihrer Arbeit, im Torfmoor oder auf dem Acker, und lauschen. Sie legen die Hand über die Augen und suchen den Horizont ab, aber dort ist keine dunkle Wand mit fahlen Rändern zu sehen. Sie schütteln den Kopf und graben weiter. Es war ihnen, als hätte es leise gegrollt in der Ferne.

Und manchmal sehen sie nun Kiewitt um die Abendzeit, wie er am Rande des Hochwaldes auf einem Baumstumpf sitzt und über das Dorf blickt. Niemals hat er früher um diese Stunde seine Hütte verlassen, und die Leute von Sowirog wenden den Kopf, wenn sie auf ihren Bänken vor der Tür sitzen, und sehen nach ihm hinüber. Seine kleine Gestalt wird immer grauer und verfließt allmählich mit der Rinde der Bäume und den Wacholderbüschen. Wie die Gestalt eines großen einsamen Vogels, der kein Heim hat und auf die Häuser der Menschen blickt.

Es bedeutet etwas, aber sie wissen nicht, was es bedeutet.


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