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»Du liebst ihn? – Bist du unsinnig, Mädchen?« – rief Amaliens Mutter mit einer Wut, die alle Teile ihres Gesichts in gleich starke Bewegung setzte.
»Ja, ich liebe ihn«, antwortete die Tochter in einem so naiven aufrichtigen Tone, in welchem nur das Bewußtsein der Unschuld sprechen kann.
»Und du hast die Frechheit, mir das ins Gesicht zu sagen?«
»Ich glaubte, wider eine meiner ersten Pflichten zu fehlen, wenn ich dies nicht täte, wenn ich nicht aufrichtig Ihnen etwas gestünde, dessen ich mich nicht schämen darf.«
»Darfst du dich nicht schämen, wenn du einen so schlechten Menschen liebst? – Ich kann dich nicht ansehn; geh!«
»Ein schlechter Mensch? – O wie irren Sie sich, wenn Sie dies denken! Er ist der edelste, der beste Mann, bei dem Verstand und – gutes Herz im Gleichgewichte sind, voll von den erhabensten Gesinnungen, der dem Bilde am mehrsten gleicht, das ich mir von einem vollkommnen Manne gemacht habe –«
»So? sind das deine Gedanken? – Was darf ein so naseweises Mädchen sich dergleichen Gedanken in den Kopf kommen lassen? Was weiß das von vollkommnen Männern?«
»Warum sollte ich nicht –«
»Du darfst nichts davon wissen. – Ich verbiete dir hiermit den geringsten Umgang mit solchen schlechten Leuten. Nicht einen Fuß soll dieser Nichtswürdige mehr ins Haus setzen, und wenn du nur einen Blick mit ihm wechselst –«
»Gern gehorche ich Ihnen; nur urteilen Sie günstiger von einem Manne, der die Ehre seines Geschlechts ist und solche Namen im geringsten nicht verdient –«
»Ein Bettler, ohne Stand und Ehre« –
»Ehre ist seine einzige Führerin; und wenn ihm gleich das Schicksal keinen Stand gab, könnte er liebenswürdiger als itzt sein, wenn er ihn hätte?«
»Du tust unerträglich klug; davon verstehst du nichts.«
»Meine Vernunft, mein Gefühl –«
»Was kannst du von Vernunft und Gefühl sprechen? – Nicht ein Wort mehr! und wage es nicht, meinen Befehl mit einem Winke zu übertreten. Geh!«
Amalie ging und fand in ihrem Zimmer denjenigen, um dessentwillen sie eine so harte Begegnung hatte erdulden müssen. Mit ihrer gewöhnlichen Aufrichtigkeit erzählte sie ihm die ganze vorhergehende Szene, und da sie eben im Begriffe war, ihn von der angedroheten Verweisung aus dem Hause zu benachrichtigen, kam schon ihr Onkel, um sie ihm in eigner Person anzukündigen. Die Mutter war gleich nach dem Abtritte ihrer Tochter zu ihm auf sein Zimmer gelaufen und hatte ihm die Nachricht von dem unglücklichen Liebesverständnisse hinterbracht, worauf sie ihm die Vollmacht gab, den verhaßten Verführer ihrer Tochter mit Schmähungen, Verweisen, Stockschlägen, oder auf was für ähnliche Art es ihm beliebte, aus dem Hause zu vertreiben, sobald er sich darinne blicken ließe. Hierauf erbot er sich nach einer kurzen Verwundrung über diese Nachricht, stehendes Fußes zu Amalien zu gehen und sich mit ihr darüber zu besprechen und sie vernünftiger zu belehren, als von der Mutter wegen ihres Ungestüms und Unbesonnenheit geschehn sein konnte. Ohne zu vermuten, wen er antreffen würde, kam er an und stutzte ein wenig, daß er so bald eine Gelegenheit fand, seine Vollmacht auszuüben, worauf er sich nicht vorbereitet hatte. Demungeachtet tat er es nach einem kurzen Gepräche, und zwar auf eine so gute Art, als wenn er viele Stunden darauf gesonnen hätte, mit so vieler Schonung und Höflichkeit, daß seine Verweisung mehr eine Bitte, die verborgne Ursachen notwendig machten, als ein Befehl zu sein schien. Siegismund – so mag unterdessen in Ermanglung des wahren Namens Amaliens Geliebter heißen – nahm seinen Abschied, ohne sich im geringsten merken zu lassen, wie schmerzhaft ihm die Anfoderung sein mußte, nie wieder in das Haus zu kommen. Amalie war empfindlicher; sie ließ sogar einige Tränen fallen, worauf sie ihr Onkel bei der Hand ergriff und sie in sein Zimmer führte.
»Mein gutes Malchen«, sagte er, als sie hier anlangten, und streichelte ihr die rechte Hand, »du weinst gewiß aus gutem Herzen, weil du die Veranlassung bist, daß ich den armen Siegmund auf immer verabschieden mußte. – Sei ruhig! Er ist ein braver Mann, ein Mann von einer zu vortrefflichen Denkungsart, als daß er nur den mindesten Groll deswegen wider dich fassen sollte. Ich weiß, es würde dir leid tun, einen rechtschaffnen Menschen beleidigt zu haben. Nicht wahr, mein Kind?«
Sie schwieg.
»Besonders«, fuhr der Onkel fort, »da du ihn einer vorzüglichen Achtung gewürdigt hast! – Er verdient sie, und er hat auch die meinige besessen –«
»Und besitzt sie nicht mehr?« unterbrach sie ihn lebhaft.
»Warum sollte er sie verloren haben? – Er hat, soviel ich weiß, nichts getan, das ihn derselben unwürdig gemacht hätte. – Vielleicht war deine Achtung, ohne daß du es wußtest, mehr als Achtung, vielleicht war es –«
Sie sah zur Erde und seufzte.
»Habe ich's nicht erraten? – Du bist ein aufrichtiges offenherziges Mädchen; sage mir, wie kamst du zu dieser Neigung? – Du fühltest gewiß mehr für ihn, als man gewöhnlich für die bloßen guten Eigenschaften einer Mannsperson fühlt. Du liebtest ihn?«
»Ja, bester Onkel, und noch.«
»Dies aufrichtige Geständnis macht dich mir doppelt wert. – Ich mißbillige deine Liebe nicht; sie ist ein Beweis, daß du Empfindlichkeit und Siegmund Liebenswürdigkeit besitzt. Aber du hast vielleicht eine Rücksicht zu nehmen unterlassen, die ein junges Frauenzimmer von deiner Art nie aus den Augen lassen muß. Bei allen Liebenswürdigkeiten fehlt Siegmunden doch eins –«
»Der Stand, wollen Sie sagen!«
»Ja, das wollte ich.«
»Aber, liebster Onkel, wäre das eine Liebenswürdigkeit mehr!«
»Nein, im geringsten nicht.«
»Soll ich meine Neigung, mein Vergnügen, meine Liebe einer Schimäre aufopfern –«
»Die aber einmal Wurzel in der menschlichen Gesellschaft geschlagen hat. Der Grundsatz der Geburt ist nun einmal bei denen, die sie besitzen, zu einem herrschenden Grundsatze geworden, nach welchem sie äußerliche Ehre und Achtung austeilen –«
»Wie wenig liegt mir an der Achtung solcher Leute, die ihre Achtung nach keinem bessern Maßstabe abmessen!«
»Nein, sage das nicht! – Freilich ist mir Achtung, die man mir als einem braven Manne erweist, lieber, als die ich um meines Ranges willen erhalte; aber deswegen verschmähe ich diese nicht. – Ich habe schon oft gemerkt, daß du dir, aus deinem Überflusse von Philosophie, bei deinen Urteilen die Sachen denkst, wie sie sein sollen, aber nicht wie sie sind. – Die Menschen haben von Ewigkeit her nach Vorurteilen gehandelt und geurteilt, und ich denke, es wird beständig so bleiben. Wer nun einmal in der Welt ist, der muß sich darnach bequemen; er muß Vorurteilen, die in einer andern Rücksicht heilsam und nützlich sind, oft folgen, auch wenn er einsieht, daß er gerade das Gegenteil tun müßte, wenn er der Vernunft folgen wollte.«
»Allein wenn diese Folgsamkeit gegen ein Vorurteil eine Aufopfrung kostet –«
»Ja, so hättest du verhüten sollen, daß du dem Vorurteile keine Aufopfrung tun müßtest.«
»Wie das? – Eine Neigung unterdrücken, die Natur und Vernunft rechtfertigen?«
»Wenigstens sie nicht zur Flamme werden lassen, wozu sie schon bei dir geworden zu sein scheint. – Wenn die Liebe gleich nie ein Verbrechen ist, so ist sie doch oft eine Sünde wider die Klugheit. Das ist gerade dein Fall. Du hättest mir die Sache offenbaren sollen. Ich hätte dir geraten, Siegmunden als einen vortrefflichen Mann hochzuschätzen und diese Hochachtung so stark in dir zu machen, daß der Eindruck seiner Liebenswürdigkeiten dadurch geschwächt worden wäre.«
»So hätte ich meine Augen verschließen müssen.«
»Auch das! – Höre, mein Kind! Du hast wider die Klugheit gehandelt, wenn du auch gleich die Vernunft auf deiner Seite hast. Du hättest bedenken sollen, daß du deiner Mutter und deinen übrigen Anverwandten eine gewisse Rücksicht schuldig bist. Ich will dir sogar zugeben, daß die meisten darunter dir an Vernunft weichen müssen; daß bei ihnen das, was deiner Neigung im Wege steht, der einzige herrschende Grundsatz ist, der ihre Urteile, Empfindungen und Handlungen regiert; ich will dir sogar zugeben, daß du ein Recht hast, sie insgeheim bei dir darüber zu tadeln oder zu beklagen – preise dich glücklich, daß du so viel Vernunft besitzest, um die Sachen für das anzusehen, was sie sind! – Nur bedenke dabei, daß die Ehre deiner Anverwandten von einem Haufen Leute abhängt, die nicht anders urteilen als sie, und daß die ihrige und die deine unzertrennlich miteinander verknüpft sind! – Du kannst ein sehr vernünftiges Mädchen sein und das Vorurteil, nach welchem unter uns die Ehre ausgeteilt wird, mit Füßen treten; aber ein kluges bist du nicht, wenn du es tust.«
»Schade für den leidigen Ruhm einer solchen Klugheit!«
»Ja, dir wird er freilich viel kosten; aber ich will dir die Mühe erleichtern. Überlaß dich ganz meiner Führung! Wir reisen morgen zu deiner Tante; sie ist eine vernünftige Frau; wir bleiben da, bis deine Liebe ausgedampft ist, oder wenn das nicht hilft, so reisen wir weiter.«
»Ich gehorche Ihnen, aber –«
»Wozu aber? – Du willst mir gehorchen, hast du mir gesagt, mag dir's nun sauer werden oder nicht – genug, du gehorchst mir.«
Sie ging ans Fenster und schluchzte. Er tat, als wenn er es nicht bemerkte, und gab Befehl zur morgenden Abreise.
Die Reise ging vor sich, und Amalia wurde durch das gutherzige Gespräch ihres Onkels sehr beruhigt und durch die untergemischten Liebkosungen und feinen Lobsprüche beinahe aufgemuntert. Sie erzählte ihm ohne sein Verlangen – denn er vermied mit Fleiß von ihrer Liebesbegebenheit zu reden –, daß sie Siegmunden bei ihm, ihrem Onkel, etlichemal gesehen, daß er ihr gleich mehr als gleichgültig geworden wäre, daß er hernach bei den öftern Besuchen, die er ihrer Gouvernantin gemacht, mit ihr in eine nähere Bekanntschaft geraten, endlich mit Genehmigung ihrer Mutter ihr Lehrmeister geworden sei und bei dieser Gelegenheit den »Grandison« mit ihr gelesen habe, wobei sie nicht habe unterlassen können, geheime Anwendungen der Geschichte auf ihn und sich zu machen. So habe sich allmählich ihre gegenseitige Zuneigung entzündet bis – Hier hielt sie inne, und der Onkel, der die Unterhaltung ganz von dieser Materie ablenken wollte, nötigte sie nicht, weiter fortzufahren, sondern fing ein neues Gespräch an.