Johann Karl Wezel
Lebensgeschichte Tobias Knauts
Johann Karl Wezel

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6.

– und so meint auch die Fr. Knaut; wenigstens befolgt sie diese Einrichtung der Natur so übertrieben getreulich, daß sie gewiß so meinen würde, wenn sie weniger Maschine wäre und mehr meinen könnte. Einen Beweis gibt sie mir auf der Stelle.

Als sie angekommen waren, ließ ihnen Selmann Erfrischungen reichen, wie sie sich für Leute schicken, die zween Tage gefastet haben – ein gutes derbes Frühstück. Die Fr. Knaut, die bei dem Anblicke der Speise die Wirkungen des Hungers stärker als im Walde empfand, genoß eine so große Menge mit der äußersten Gierigkeit davon und dachte dabei so sehr bloß an ihr teures Ich, daß dem armen Manne kaum genug blieb, um das Leere auszufüllen, das eine halbe Stunde Hunger in seinem Magen gemacht hatte, und so ging es jeden Morgen.

Aber, Fr. Knaut! Das wollte die Natur nicht, sie wollte das Gegenteil. Nach ihrer Absicht sollte die Rücksicht auf uns selbst unsre Empfindung gegen andre erleichtern, aufschließen, aber nicht, wie sie gegen ihren leibhaften Mann tut, so unbarmherzigerweise verschließen.

Allein die Frau ist nun einmal nicht, wie ihr Sohn, zum Muster eines exemplarischen Betragens angelegt, welches Selmann so sehr fühlte, daß er alle Beobachtungen, die er an ihr hätte machen können, herzlich gern dahingab und sie mit dem ehesten auf seine Kosten und reichlich beschenkt forttransportieren ließ. Auch war Tobias bei ihrem Abschiede nicht halb so betrübt, als man nach der Freude bei dem Wiederfinden hätte vermuten sollen; denn es waren verschiedene Äußerungen des ehmaligen Despotismus vorgefallen, die ihm nach Selmanns sanfter Regierung unmöglich behagen konnten.

»Bei Gelegenheit dieser Betrübnis, Herr Autor!« zischelt itzt ein langer hagrer Mann mir zu, indem er mich bei dem Ärmel leise zupft. – »Überhaupt scheint Tobias' Freude bei dem Wiederfinden seiner Eltern etwas unnatürlich nämlich für einen Menschen von seiner Art. Sie ist zu stark und gewiß von dem H. Verfasser übertrieben wie dieses –«

Was? nicht natürlich? – doch ich muß einen sanftem Ton annehmen. – Wissen Sie auch, daß Tobias ganz nicht mehr derselbe ist oder vielmehr, mit der äußersten Präzision zu reden, zwar derselbe, aber unter veränderter Gestalt ist? Und wissen Sie auch, woher und wodurch ihm diese Veränderung zuteil geworden ist? – Durch die Nachahmung! diese mächtige Meisterin, die an unserm Charakter die meisten Meißelstiche tut! Wenn die Natur den Marmor oder den Sandstein zur künftigen Bildsäule gewählt und sogar den ersten groben Umriß ihrer Teile ausgedrückt; wenn Erziehung, Schicksale und Begebenheiten der erstern Jahre nach diesem vorgezeichneten Plane weiter gearbeitet und sich bald mehr, bald weniger davon entfernt haben: dann legt die Nachahmung die letzte Hand daran; sie steht neben dem Werke, bessert hier, bessert dort, verschlimmert bisweilen; sie gibt der Statue das Leben, die Kraft, den Ausdruck oder meißelt so lange, bis sie wieder zum Blocke wird. – Dies ist der Weg, den Tobias' Vervollkommnung genommen hat.

Er hatte nunmehr sechs Jahre lang – ach! davon habe ich niemanden noch eine Silbe gesagt! – doch in meiner Erzählung ist nie etwas versäumt; folglich lasse man sich es nicht verdrießen, itzt erst zu erfahren, daß mein Held gegenwärtig sechs volle Jahre in Selmanns Hause zugebracht hat. Während dieses ganzen Zeitraums sahe er nichts als seinen Wohltäter empfinden und handeln, hörte täglich seine Grundsätze und die Resultate seines Nachdenkens, alles dieses von einem Manne, bei welchem Denken, Empfindung und Handlung nie in dem engen gewöhnlichen Zirkel stehenblieb, den andre Menschen nicht eine Minute überschreiten, dessen Empfindung insbesondere mit einer beständigen Tätigkeit fortwirkte und, wenn ein Gegenstand sie auf sich lenkte, mit einer eignen Stärke und Lebhaftigkeit hervorbrach. Hätten wir – das heißt, meine Leser und ich – ein solches Beispiel täglich um uns, so müßte der Kanal zu unserm Herzen geöffnet und alle Schleusen desselben allmählich geräumt werden, wenn sie auch durch Natur und Erziehung mit allem möglichen Unrate verstopft wären. So fing bei Tobias Knauten, der mit keinem hochgestimmten, aber doch so ziemlich leicht zu rührenden Herze an das Licht der Welt kam, das nur in den ersten Jahren verhindert wurde, an Empfindlichkeit zu wachsen, die Empfindung allmählich an, gestärkt, erhöht und zu dem Grade verfeinert zu werden, den seine Fibren zuließen; alle diese Verbesserungen waren ein Werk der Nachahmung, die sie an ihm so heimlich anbrachte, ohne daß er selbst ein Wörtchen davon erfuhr.

In seinem Kopfe hatte er ebenso wenige, so dürftige Ideen und Geschicklichkeiten, als Kleider auf dem Leibe, in Selmanns Haus gebracht; diesem Mangel half sein Patron ab. Er übernahm selbst die Mühe, ihn mit vieler Geduld und Leutseligkeit in den unentbehrlichen Wissenschaften zu unterrichten; er unterhielt einen Lehrer, der den beschwerlichen und unangenehmen Teil des Unterrichts besorgen mußte. Selmanns zuweilen hochfliegende Reden konnte er, wie natürlich, anfangs nicht erreichen, hörte ihnen unaufmerksam zu, faßte und behielt öfters, bloß dem Tone nach, einen und den andern Gedanken, und so flößte sich nach und nach seines Lehrers ganze Denkungsart in seine Seele, und wie die Leute, die lange bei stark riechenden Gewürzen sich aufgehalten haben, ward seine ganze hockrichte Person von der Denkart, den Sitten, Meinungen und Empfindungen seines Gönners parfümiert. – Unter solchen günstigen Umständen denke ich, noch meine Freude an seinem Kopfe und seinem Herze zu erleben. Es war mir schon für ihn bange; aber so muß, der ganzen Welt zum Trotze, etwas aus ihm werden, wenn nur nicht – – – die fatalen Wenn! – wer sie doch nur alle aus dieser Welt verbannen könnte!

Schon seit einiger Zeit ging Selmann mit einem Entwurfe schwanger, der, wenn er reif wird und zur Welt kömmt, die Vollkommenheiten, die sein Pflegesohn auf vorbesagte Weise gleichsam eingesogen hat, vollends zu ihrer höchsten Staffel erhoben wird: Er wollte in selbsteigner Person mit ihm auf eine Universität gehen.

Der Mann hat wunderliche Einfälle! Nicht wahr!

Wie er zu diesem kam? – Er kannte die Gelehrten aus den Klassen der Wissenschaften, die er selbst durch eignen Fleiß studieret hatte, bloß aus ihren Büchern. Wie ihn jedes Vortreffliche und Gute schnell und stark rührte, so brach er aus ihnen die hervorragenden Blumen ab und übersah das niedrige, in Menge herumkriechende Unkraut. Sogar die gefrornen, beeisten Pfade der Kompendien verachtete er nicht, wenn er nur hin und wieder ein Frühlingsblümchen pflücken konnte. Aus der Dankbarkeit und Freude, die ein wißbegieriger Mensch fühlt, wenn er aus einem Buche etwas Neues gelernt hat, setzte sich eine so hohe Idee von der Würde eines Gelehrten in seinem Kopfe zusammen, daß er endlich schloß: Also müssen alle Gelehrte lebendige Bücher, das heißt, lebendige Blumengärten sein, aus denen Nahrung und Labung für den Kopf und das Herz und omnis copia narium ausduftet.

Universitäten, schloß er weiter, sind der Aufenthalt von einer Auswahl der Gelehrten. Man muß also dort mit jedem Schritte auf Wissenschaft, Gelehrsamkeit und guten Geschmack stoßen. Ein Leben unter lauter Leuten, die ihre Seelenkräfte gebildet, sich mit einem Schatze der nützlichsten Kenntnisse bereichert haben, die, mit nichts als wahren Grundsätzen angefüllet, die Hüter der Wahrheit und Lehre jedes Schönen und Guten sind – ein Leben unter solchen muß einem Leben unter Geistern von einer höhern Ordnung gleich gelten.

Dies waren seine Begriffe von einer Universität; er stellte sich, weil er keine gesehn hatte, einen gelehrten Himmel darunter vor, dessen sämtliche Mitglieder Genies, in jeder Klasse vollkommen ausgebildete Genies, sind, in welchen sich Wissenschaft und guter Geschmack, Kenntnis und Urteilskraft durchgängig vereinigen. Da Wißbegierde seine herrschende Leidenschaft war, so erfolgte aus solchen Begriffen nichts natürlicher als der Entschluß, nebst seinem Tobias in einem akademischen Paradiese die süßen Gerüche der Wissenschaft und des Geschmacks einzuatmen.

Die Gelehrten, merke ich, täuschen oft, wie die blattergrübigen Gesichter, die nur in der Ferne und bei Lichte schön sind, kommt ihr ihnen zu nahe, so seht ihr mit Naserümpfen, was ihr fälschlich bewundert habt. – Von allen, die der Feind der Schönheit, die Blattern, gezeichnet haben, hüte ich mich nicht, dies zu behaupten; denn auch Frauenzimmer haben leider! keinen Sicherheitsbrief wider diesen Barbaren und – Frauenzimmer sind sich allemal schön! – Also will ich obige Vergleichung nur von dem männlichen Geschlechte verstanden wissen, und wer sich untersteht, an das weibliche dabei zu denken, soll meine Erzählung zur Strafe mit so saurem Gesichte als eine Leichenpredigt durchlesen.


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