Johann Carl Wezel
Belphegor
Johann Carl Wezel

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Die Freude, sich aus der augenscheinlichsten Todesgefahr so unvermuthet geholfen zu sehn, gab seiner Philosophie einen so geschmeidigen Fluß, daß sie bis zum Landen sich in diese Selbstbetrachtung ergoß.

Nachdem sie unter einem ununterbrochnen Jubel in das erste Dorf eingezogen waren, so glaubte Belphegor nichts gewisser, als daß man auf seine erste Bitte, sobald sie nur verstanden worden wäre, mit der größten Bereitwilligkeit seinen Hunger befriedigen werde. Er that zwar seine Bitte, aber niemand schien sie zu verstehen, sondern man sperrte ihn nebst Akanten nach einer langen Prozession in ein Gebäude ein; und eine kleine Weile darauf trug man ihnen Speisen im Ueberflusse auf, deren Ungewohntheit ihnen die Ueberladung ersparte. Die Einwohner, die sie genau beobachteten, frohlockten nicht wenig, als sie ihre Gefangnen mit so vielem Appetite essen sahen, welches Belphegorn, der es sich als eine Freude der Menschenliebe und des Mitleids ausgab, beinahe auf bessere Gesinnungen von der menschlichen Natur brachte und seine bisherigen Beschwerden über sie bereuen ließ. – »Hier«, sagte er zu Akanten, »hier ist unverdorbne Natur: in keiner sogenannten polizierten Gesellschaft würde man so naife Ausdrücke des Mitleids und vielleicht auch schwerlich eine so sorgsame Verpflegung, ohne alle Rücksicht auf eignes Interesse, angetroffen haben.«

Nur das einzige war ihm unbegreiflich, daß diese mitleidigen Versorger sie gleich anfangs aller Kleider beraubt hatten, beständig gefesselt hielten und auf das schärfste bewachten. Er sann tausend günstige Ursachen dafür aus, die insgesammt ganz wahrscheinlich, aber keine die wahre war.

Nach einer achttägigen Wartung und Beköstigung, die ihnen ihre Kräfte völlig wieder hergestellt hatte, wurden sie des Morgens unter dem Zusammenlaufe des ganzen Dorfs ausgeführt und jedes in der ganzen natürlichen Blöße an einen Pfahl gebunden. Beide zitterten nicht ohne Grund für ihr Leben; doch war ihnen alles noch Räthsel. Verschiedene von den Umstehenden waren mit bedenklichen Werkzeugen bewaffnet, die zu nichts als zum schneiden und sägen geschickt waren: ein großes Feuer loderte in hohe Flammen empor, und nichts war wahrscheinlicher, als daß sie beide gebraten werden sollten. Mitten unter dieser unseligen Vermuthung rennte eine Weibsperson, unsinnig wie eine Mänade, auf Belphegorn zu und zwickte ihm mit einem steinernen Instrumente ein Stück Fleisch aus dem Arme, daß er vor Schmerz vergehn mochte; das Blut quoll aus der Wunde, und schnell hielt einer der Dastehenden ein Gefäß unter, um es aufzufangen und zu verschlucken. Dem Beispiele des rasenden Weibes folgten einige andre, und in kurzer Zeit waren die beiden Leidenden vor Schmerz fast erschöpft und ganz mit Wunden bedeckt, ihr Blut von verschiedenen getrunken und Stücken von ihrem Fleische im Triumphe davon getragen worden. Aus diesem tragischen Ende, das ihre gütige Verpflegung nahm, konnte man schließen, daß man nur die menschenfreundliche Absicht dabey gehabt hatte, ihr Blut und ihr Fleisch fetter und wohlschmeckender zu machen und ihnen Kräfte zu geben, daß sie durch ihre Martern desto länger ihrer Grausamkeit zur Kurzweile dienen konnten.

Von dem schrecklichen Schauspiele war kaum der erste Akt vorüber, als plözlich ein Schwarm von der benachbarten Völkerschaft eindrang, nach einem kurzen Gefechte die Barbaren vom Schauplatze fortschlug, das Dorf anzündete und die blutenden Europäer mit sich hinwegnahm, die diese Sieger sogleich nach der Ankunft in ihrem Dorfe verbanden und sorgfältig verpflegten. Weder Belphegor noch Akante trauten itzt dem Glücke mehr, sondern argwohnten eine neue Grausamkeit hinter dieser Gütigkeit. Da sie aber so sehr lange bis zur völligen Heilung anhielt, so wußten sie wenigstens nicht, was sie denken sollten, wenn sie auch gleich nichts Gutes erwarteten.

Ihre gegenwärtigen Verpfleger waren sehr religiöse Leute. Sie hielten es für höchstsündlich, einen Menschen zu essen, ohne ihn vorher den Göttern geopfert zu haben; und um ihre Nachbarn, die gewissenlose Leute waren und sie fraßen, ohne ihren Göttern einen Bissen davon anzubieten, von dieser ärgerlichen Gottlosigkeit abzuhalten, unternahmen sie beständige Anfälle auf sie: so oft sie durch Kundschafter erforschten, daß man eine solche Mahlzeit halten wolle, so brachen sie auf, befreyten die für die Gefräßigkeit jener Barbaren bestimmten Opfer mit Gewalt, kurirten sie sorgfältig wieder aus, opferten sie ihren Göttern und aßen sie mit der größten Anständigkeit. Kein andres Schicksal ist also von der Frömmigkeit dieser Leute für unsre beiden Europäer zu hoffen: und kurzer Zeit nach ihrer völligen Genesung erfuhren sie es selbst, daß kein andres auf sie wartete. Belphegor raste vor Zorn und Verdruß; er wollte nicht essen, und man zwang ihm die Speisen ein: er wurde gemästet, um ein würdiges Gericht für die Tafel der Götter zu werden. Der Termin des Opfers, das Hauptfest des Jahres, näherte sich, und die Vorbereitungen nahmen ihren Anfang.

Unterdessen fühlten ihre Nachbarn ein gewaltiges Jucken der Tapferkeit in Armen und Füßen, sie hatten lange müßig zu Hause gelegen und wie das unvernünftige Vieh nichts gethan, als gegessen, getrunken und bey ihren Weibern geschlafen. Um sie dieser unrühmlichen Ruhe zu entreißen, fand sich bey einem unter ihnen gerade zu gelegner Zeit ein Traum ein, der kaum erzählt war, als alle bis zum kleinsten Nervengefäße sich begeistert fühlten, nach den Waffen griffen und auszogen, als brave Menschenkinder ihre Gliedmaßen gegen ihre Nachbarn zu brauchen, die izt mit ihrem Feste beschäftigt waren und also ihren Muth nicht in der gehörigen Bereitschaft hatten. Sie kamen; sie fielen das Dorf an, wo Belphegor und Akante zum Opfer aufbewahrt wurden, sie ermordeten und erwürgten, was ihnen in den Weg kam, und um so viel hitziger und unbarmherziger, weil die lange Ruhe ihre Kräfte und ihren Muth thätiger gemacht hatte. Die Uebereilten wurden in die Flucht getrieben, und die Sieger bemächtigten sich der zum Opfer bestimmten Gefangnen, unter welchen auch Belphegor und Akante mit fortgeschleppt wurden. Allein da sie von den Einwohnern des Dorfs eine hinreichende Anzahl bekommen hatten, um ihr blutbegieriges Vergnügen an ihnen zu befriedigen, so gaben sie auf die übrigen weniger sorgfältig Acht. Als sie nach Hause kamen, wurden sie wegen großen Ueberflusses ausgetheilt, und jedermann, der einen Anverwandten im Treffen eingebüßt hatte, bekam einen von den Gefangnen an dessen Stelle: unter welchen die beiden Europäer zu einer Wittwe kamen, die ihnen die Ehre anthat, erstlich den Verlust ihres Mannes auf das empfindlichste an ihren Leibern zu rächen und dann sie zu ihren Sklaven zu machen.

Der gegenwärtige Zustand war unangenehm, aber in Vergleichung der nächstvorhergehenden vortreflich; wenigstens war das Leben sicher. In kurzer Zeit bekam das ganze Dorf einen neuen Paroxismus von Tapferkeit, und alles zog aus, sogar die Weiber waren nicht davon ausgenommen. Auch Belphegor und Akante mußten, so wenig sie auch den Kützel der Tapferkeit empfanden, den Zug verstärken helfen. – Da sie aber voraussehen konnten, daß das Ende des Feldzugs ihren Zustand wohl verschlimmern, aber nicht verbessern könne, so beschlossen sie, bey der ersten Gelegenheit zu entwischen, in eine Einöde zu fliehen und da lieber kümmerlich zu verhungern, als in beständiger Gefahr zu seyn, daß man der Grausamkeit eines Barbaren mit langsamen Martern zur Belustigung und endlich gar mit seinem Fleische zur Sättigung dienen müsse. Die Gelegenheit zeigte sich, und sie entflohen, versteckten sich lange Zeit, um der Nachstellung zu entgehn, in einem Moraste, und rückten, so oft sie sich sicher genug glaubten, weiter fort. Aber ihre Noth hatte nur eine andre Mine angenommen: der Tod drohte ihnen immer noch, nur unter einer neuen Larve. Ihre Nahrung mußten sie mühsam suchen und fanden sie nicht einmal in zureichender Menge, und die Beschwerlichkeiten der Witterung machten ihre traurige Situation vollständig.

Wer hätte sich in solchen Umständen nicht den kummervollsten Reflexionen überlassen sollen, auch ohne so viele Misanthropie wie Belphegor im Leibe zu haben? – Um so viel mehr mußte er es thun: der Strom seiner ärgerlichen Klagen ergoß sich von neuem über den Menschen und die Natur. Als er eines Morgens sein Kummerlied unter einem Brodfruchtbaume sang, so hörte er plözlich einige Stimmen und erschrack, wie leicht zu vermuthen, weil er izt bey jeder unbekannten Stimme einen Menschen vermuthete, der ihn schlachten wollte: er verkroch sich und horchte. Der Ton hatte nichts barbarisches, und bey seiner Annäherung wurde er inne, daß es Akante war, die zween Fremde in europäischer Kleidung zu ihm führte. Er verließ also seinen Schlupfwinkel und erfuhr, daß es zween Spanier waren, die man mit einem Schiffe von Panama abgesendet hatte, um Untersuchungen in dieser Gegend anzustellen, Fahrten und Länder zu entdecken. Akante, die bey dem Don, dessen Mätresse sie ehemals gewesen war, ein wenig Spanisch gelernt hatte, wußte wenigstens noch genug davon, um zu erkennen, daß es Spanisch war, was diese beiden Leute miteinander sprachen, als sie ihrer bey einer Quelle ansichtig wurde, wo sie tranken: sie wagte sich zu ihnen, entdeckte ihnen die Verlegenheit, in welcher sie nebst Belphegorn hier schmachtete, nebst einigen andern Umständen so deutlich, als ihre kleine Fertigkeit in der Sprache es zuließ. Die Fremden ließen sich bewegen, zu Belphegorn mit ihr zu gehn, kamen zu ihm und erboten sich, sie beide auf das Schiff mit sich zu nehmen. Der Vorschlag wurde freudig angenommen und der Marsch zu dem Schiffe angetreten.

Sie kamen an den Ort, wo sie das Boot befestigt hatten, das sie über einen nicht allzu breiten Fluß wieder zurückführen sollte; aber sie suchten umsonst: das Boot war unsichtbar. Sie riefen, sie sahen, und siehe da! in einer weiten Entfernung sahen sie es mit Hülfe eines Fernglases den Fluß hinuntertreiben, und nur einen einzigen Menschen auf ihm, der, so viel sich unterscheiden ließ, durch unaufhörliche Bewegungen, die auch von einem Geschrey begleitet werden mochten, seine Rettung vermuthlich zu bewirken suchte. Man eilte, so schnell man konnte, an dem Rande des Wassers hin, es einzuholen, und bemühte sich durch beständiges Schreyen, theils die Leute herbeyzubringen, die es verlaßen hatten, theils dem armen Hülflosen, der darauf zurückgeblieben war, Hofnung zu machen, daß seine Errettung vielleicht nicht weit mehr sey. Das Boot stieß indessen an eine kleine Sandbank an, wo es aber der Strom bald wieder losarbeitete. Dieser Umstand ließ wenigstens die, welche ihm nacheilten, Zeit gewinnen, und sie waren ihm itzt schon so nahe, daß sie mit dem Verlaßnen darinne sprechen konnten. Man wollte ihm helfen und wußte nicht wie. Man hielt sich indessen mit Stangen in Bereitschaft, um sie bey der ersten günstigen Gelegenheit anzuwenden. Der Strom näherte zuweilen ihrem Ufer das Boot und einmal so sehr, daß einer von den Spaniern es mit seiner Stange erreichen konnte; er zog es ein gutes Stück näher, der darinne sitzende frohlockte schon, Belphegor warf sich ins Wasser, schwamm zu dem Taue, womit es am Ufer befestigt gewesen war und das itzt nicht weit vom Rande schwamm, ergriff es, nahm es zwischen die Zähne und schwamm zurück, der andre Spanier haschte es mit seiner Stange, man griff zu, und nach etlichen Drehungen und Wendungen war man so glücklich, es mit vereinten Kräften so nahe zu bringen, daß man es bis zu einem Aussteigeplatze von dem Strome forttreiben lassen und mit dem Taue zurückhalten konnte, daß es sich nicht zu weit vom Ufer wieder entfernte.

Mit einer unbeschreiblichen Freude sprang der Errettete aus dem Boote und dankte seinen Errettern so lebhaft, daß man beynahe das Fahrzeug, das ihnen zu ihrer eignen Zurückfahrt zu dem Schiffe unentbehrlich war, hätte entwischen lassen: besonders wurde Belphegor für seine muthige Handlung mit Liebkosungen überschüttet und in Umarmungen fast erdrückt. Man besichtigte das Tau und wurde mit Erstaunen überzeugt, daß es entzweygeschnitten war. Jedermann war deswegen um so viel mehr begierig, die besondern Umstände von der Losreissung des Bootes zu wissen: man stürmte von allen Seiten auf den Erretteten mit Fragen zu, und er versicherte sie, daß er weiter nichts von dem traurigen Vorfalle sagen könne, als daß die vier übrigen, die sie im Boote bey ihm zurückgelassen, unter dem Vorwande, daß sie Enten auf einem nahen Sumpfe schießen wollten, aller seiner Vorstellungen und Verweise ungeachtet, ausgestiegen wären und mit einem Jagdmesser hinterlistig den Tau entzweygehauen hätten, um ihn der Willkühr des Stroms zu übergeben. Die Ursachen ihrer Bosheit waren ihm unbekannt; wenn er aber eine vermuthen sollte, so mußte es nach seiner Meynung Unzufriedenheit seyn, daß man ihm die Aufsicht über das Boot anvertraut und ihn, einen Fremden, jenen Eingebornen vorgezogen habe. Die Spanier, die man itzt für ein Paar Offiziere erkannte, wüteten wider die Bösewichter und am meisten darüber, daß sie sich durch die Flucht ihrer Strafe entzogen hatten.


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