Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Worin ich meinen Freund verliere und angesichts des zerstörten Djebels Zeuge einer heroischen Opfertat werde.
Der Zustand, in dem wir die Oberwelt vorfanden, überraschte mich nicht sehr, hatte ich doch in meiner eigenen viel schwerflüssigeren Lebenszeit erfahren, daß sich das historisch-politische Gesicht eines Reiches nicht etwa über Nacht, sondern bereits von einer Stunde zur andern so gründlich ändern kann, daß man es nicht mehr wiedererkennt. Ich denke da vorzüglich an das Ende des Ersten Weltkriegs, an die Novembertage des Jahres 1918, die ich inmitten des geschlagenen Zentraleuropa verbrachte. Auch jener Krieg war durch den Schuß eines fanatischen und ahnungslosen Knaben ausgelöst worden, der einen persönlich wenig bedeutsamen Fürsten hinwegräumte. Da aber damals die Menschen zahlreicher, die Gruppen vielfältiger, die Verhältnisse verzwickter, die Motive chaotischer, die Waffen primitiver waren als soviele Weltalter später, so war's nur selbstverständlich, daß jener Krieg vier Jahre in Anspruch nahm und nicht rund zwölf Stunden wie der gegenwärtige in fernster Zukunft. Es war übrigens, gemessen an dem sogenannten »Letzten Krieg« von drei, drei Zehntel Minuten, eine recht ausdauernde Kampagne. Man muß aber bedenken, daß er beiden Parteien aufgezwungen war, sowohl der Panopolis als auch dem Dschungel, und die Schuldigen, jene törichten Waffensammler, nur über die holprige Organisation von Verschwörern verfügten. Wenn ich, als ein flüchtiger Besucher der Zukunftswelt, auch nur imstande bin, den nackten Anlaß und nicht die tieferen Gründe klarzulegen, so waren diese tieferen Gründe nichtsdestoweniger vorhanden, mochten sie auch nur in der polaren Spannung des Gegensatzes zwischen Panopolis und Dschungel liegen. (Daß ich alles zukünftige Geschehen nur unter einer starken Farbenbrechung, das heißt Wesensverzerrung und -verzeichnung zu sehen vermochte, das habe ich vor dem Leser schon mehrfach bekannt.)
Ein alter Spruch sagt: Veritas vincit. »Die Wahrheit siegt.« In diesem Spruch steckt eine protestantisch idealistische Überschätzung der irdischen Verwirklichung. Gewiß, am Ende aller Menschheitstage wird die Wahrheit gesiegt haben. Bis dahin aber geschieht zumeist das Umgekehrte: Victoria verifacit. »Der Sieg macht wahr.« Jede historische Epoche spiegelt das Gesicht dessen wider, der zuletzt gesiegt hat. Das galt auch hier. Die Mitternacht mochte nicht fern sein, als wir irgendwo in der Nähe der »Ehemaligen Unterstadt« auftauchten. Der dichte astromentale Sternenhimmel wölbte sich über uns. Die Menschenwelt unter ihm aber begann bereits das Gesicht des Dschungels anzunehmen. Mein letzter Eindruck demnach, den ich von der astromentalen Kultur davontrug, war, daß sie aufgehört hatte zu bestehen, um etwas Neuem Platz zu machen, das sich noch äußerst undeutlich und verwischt ankündigte. Dabei schienen die astromentalen Errungenschaften ohne Pause weiter zu funktionieren. Die schwarze Tafel am Firmament, wo die Sternlein zu den »Abendsternen Heute« zusammenhüpften, brachte jede zwei Minuten neue Nachrichten. Zu meiner Verwunderung war aber der Ton dieser Notizen völlig verschieden von dem gestrigen und vorgestrigen. Die Abendsterne priesen die Dschungel und ihre markig naiven Völkerschaften, die noch nicht durch dekadente Sitten verdorben, im tätigen Erdenleben und nicht etwa im zwecklosen Spiel oder in der Lösung ewiger Fragen ihr höchstes Ideal sahen. Die Himmelszeitung berichtete ferner von den überlebenden Verschwörern, jenen Waffensammlern, deren idiotischem Haß (diese Formulierung war richtig) man die große Bereinigung zu danken habe. Ein Teil von ihnen sei schon gefangengesetzt, und die gerichtlichen Kommissionen prüften bereits gegenwärtig, trotz der vorgerückten Stunde, die historischen Archive der fernsten Vergangenheit, um die geeignete Art der Todesstrafe ausfindig zu machen, wie man sie früher an Hochverrätern zu vollziehen pflegte.
Todesstrafe? Ich traute meinen Augen nicht. Doch am Himmel strahlte dieses furchtbare Wort auf, in extens-demotischer Schrift. Vor wenigen Stunden noch, mitten im Hades, im Hohlraum des Todes, hatte der Animator mich streng gerügt, daß ich dieses schamlose Wort »Tod« offen verwende. Und jetzt stand es breit und klar am Himmel zu lesen, und die Leute, die emporzwinkerten, fielen gar nicht in Ohnmacht. Das ging selbst mir, einem ganz ausgekochten Dulder der Weltgeschichte viel zu schnell. Ich verstand aber plötzlich Io-Fagòr und alle seinesgleichen weit besser als bis jetzt und mehr als das, ich gab ihnen große Ehre in meinem Herzen, weil sie lieber unter Verlust einiger Jahre Margueriten geworden waren, als sich selbst untreu zu werden.
Dem Bericht über die gefangenen Verschwörer folgte ein längerer Artikel, der mit einer gewissen Ängstlichkeit darauf bestand, daß die nützlichen Künste, welche die Menschheit im Laufe ihres Erdenwallens erlernt hatte, nicht verachtet werden dürfen und daß die segensreichen Einrichtungen auch der erneuerten Gesellschaft erhalten bleiben müssen, die sich voll und ganz auf die so schimpflich mißgenannten Dschungel gründe.
Bei dieser Stelle, welche Io-Joels Worte zitierte, mußte ich leise lachen.
»Warum lachst du so dreckig?« fragte B.H. traurig.
»Ich lache, weil ich mir den Uranographen vorstelle, wie er diesen Artikel mit seinem Stummel auf einen Käszettel schreibt...«
»Morgen werden sie ihn bestimmt fortjagen, um einen der ihren anzustellen ...«
»Wie neu, B.H.«, höhnte ich, »wie gewaltig neu ...«
Er wies stumm mit dem Zeigefinger gen Himmel, wo soeben ein andrer Bericht zusammenhüpfte, und zwar unter dem Titel:
»Das Ende der Seleniazusie bevorstehend ... Soeben tritt das Komitee der Weltverfassung zusammen, um über einen Antrag schlüssig zu werden, der die Abschaffung der Seleniazusie vorsieht. Die Einrichtung des mondgeweihten Geoarchonten, des Machtlos-Mächtigen, des Verantwortlich-Namenlosen hat angesichts einer geringfügigen Gefahr so kläglich versagt, daß seine Stelle ein Geogeneral einnehmen wird, der ein Expert in der psychischen Artillerie ist. Auch das Schilderhaus des Welthausmeiers wird einem würdigeren Amtssitz weichen...«
»Schade«, sagte ich, »sehr schade«, und las nicht weiter, denn der Nacken tat mir schon weh vom zu vielen Himmelsgucken.
Mein Eindruck, daß die Panopolis schon jetzt das Gesicht des Dschungels anzunehmen begann, war vermutlich auch darauf zurückzuführen, daß wir hauptsächlich jene Orte aufsuchten, wo die Veränderung sich am stärksten bemerkbar machte. In den reinen Wohnbezirken, ja vielleicht sogar auf dem Geodrom mochte es sich anders verhalten; dort war vielleicht die Widerstandskraft der astromentalen Kultur nicht so schnell gebrochen worden. Hier aber, ich spreche vom Gebiet der »Ehemaligen Unterstadt«, in deren Zentrum jener Korso zwischen den beiden Toren lag, hier im Viertel der Kinderreichen und der »Mühseligen und Beladenen« ging es hoch her vor festlicher Erneuerung. So wenig mühselig und beladen diese Mühseligen und Beladenen auch waren, so gut gefüttert und wohlbekleidet durch die siderale Konfektion des Arbeiters, es half nichts, sie blieben, in einer transökonomischen und transsozialen Welt ohne Notstand, dieselben Mühseligen und Beladenen wie eh und je, denn der Mensch lebt bekanntlich nicht von Brot allein, sondern auch noch von der Befriedigung seines durchs Leben erniedrigten Hochmuts. Es muß nicht erst betont werden, daß die Mühseligen und Beladenen der Ehemaligen Unterstadt die revolutionären Schichten der astromentalen Zivilisation bildeten und daß heute im Bezirk der beiden Torruinen Freude und Jubel herrschte, nicht etwa, weil das Leben besser zu werden versprach, sondern weil die Herrschaft der Hochnäsigen gebrochen zu sein schien. Es hatten sich übrigens ganze Scharen von Dschungelleuten hier eingefunden, Männer und Frauen, zum Teil in ihren Bauernjankern mit schimmernden Silberknöpfen, roten Zipfelmützen und Glöcklein an den Schnauzbärten. Diese Bauern aber benahmen sich still, vorsichtig, ja ein wenig gedrückt, während die Stadtbevölkerung sich nicht genug tun konnte an Hochrufen und Fraternisieren. Es war sogar offensichtlich, daß diese astromentale Plebs in einem sonderbaren Snobismus vor den gehaltenen Dschungelleuten kroch. Es muß zum vollen Verständnis hinzugefügt werden, daß die Bergstädter nicht mit leeren Händen gekommen waren, sondern viele Fässer ihres braunen Bieres mitgebracht hatten, welches die Astromentalen, die dergleichen nie kennen gelernt hatten, in Rausch und Taumel versetzte. Eine reizende historische Umkehrung übrigens: Die Rothäute korrumpieren die Bleichgesichter durch Feuerwasser. Die Bergstädter hingegen hatten eine ziemliche Menge von Reisegeduldspielen erobert und vergnügten sich damit, wie die Wilden ihren Aufenthalt zu wechseln. Daß die Zusammenstimmer so tadellos ihre Pflicht erfüllten, gehört für mich zu den großen Geheimnissen dieses Kriegs und Umsturzes. Aber auch dies war nicht neu für mich, denn ich hatte in ähnlichen Fällen schon erlebt, daß gewisse Grunddiktate des Lebens trotz allem weiter im Gang bleiben.
Auffälliger als alles andere war, daß die Leute Kampfeuer angezündet hatten, um die sie herumsaßen. Ich wiederhole, sie saßen, was sie noch vor zwölf Stunden nicht gewagt hätten, in der Öffentlichkeit zumindest. Sitzen war nach Io-Joels eigenen Worten eine »reaktionäre Haltung«. Ich hatte B.H. unterm Arm gefaßt. Wir bummelten langsam dahin, nach der Bruthitze des Wintergartens die göttlich frische Nachtluft genießend.
»Erinnerst du dich, B.H.«, fragte ich, »an den bekannten Ausspruch Lenins: ›Revolutionen sind Lokomotiven der Weltgeschichte?‹ Lokomotiven fahren vorwärts und rückwärts. Diese hier scheint rückwärts zu fahren...«
»Was willst du«, erwiderte mein Freund weise, »sie fährt ...«
Warum soll im gekrümmten Raum nur der Mensch eine gerade Richtung haben? Diese Frage wollte ich noch stellen, unterließ es aber, da wir an der Mauerpforte vorübergingen, die zu König Sauls Haus führte. Auf einem metallenen Schild stand zu lesen: »Io-Saul Minjonman, offizieller Jude dieses Zeitalters.« Darunter war ein Papier mit zwei schön gemalten Worten befestigt: »Auf Wanderung.«
»Ich möchte wetten«, lachte ich, »daß Minjonman sich nicht auf Wanderung befindet, sondern in seiner hermetisch verschlossenen Antiquitätenkammer sitzt. Dort weiß er nicht, ob er seinen Goldsohn verfluchen oder segnen soll, weil wieder einmal diese schreckliche Neuerung über die Welt gekommen ist, wo man sich doch kaum an die vorletzte Neuerung gewöhnt hatte ...«
»Da magst du recht haben«, nickte B.H.
»Ich weiß, daß ich recht habe. König Saul ist gerade noch beschäftigt damit, sich abzusondern ...«
»Was aber geschieht mit uns, F.W.«, seufzte B.H. tief auf.
»Du bist der Reisemarschall«, sagte ich boshaft, während ich einen geheimen Wunsch unterdrückte, der nach dem Dschungel gerichtet war, Lalas wegen.
»Laß uns den Park des Arbeiters aufsuchen«, riet B.H. »Dort restauriert man am sichersten seine Kräfte.«
Auch der Park des Arbeiters war überflutet von riesigen Menschenmengen. Von ferne schon grüßte folgende Leuchtschrift, die in der Luft stand: »Der Arbeiter dieses Zeitalters wird in Streik treten, wenn bis zwölf h. p. m. die Geschütze auf beiden Seiten nicht schweigen.« Diese Drohung mochte von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Ohne Zweifel richtete sie sich viel schärfer gegen die Verschwörer und Waffensammler als gegen die Artilleriegeneräle des Dschungels, und das, wie man mir sicher zugeben wird, mit Recht. (Schließlich war der Arbeiter ein Arbeiter und stand daher gefühlsmäßig auf Seiten der Verachteten.) Dabei aber wußte er das Prinzip der Neutralität ausgezeichnet zu wahren, indem er beide Parteien mit Streik bedrohte. Freilich, die Dschungelleute lebten von den Früchten der Erde und waren daher unabhängig von der Sternnahrung der Täler der Quellen und Kräfte, während die Astromentalen, bar aller Landwirtschaft, ohne diese Nahrung vom Hungertode bedroht wurden. Die Streikdrohung des Arbeiters hatte im übrigen ihre Absicht voll erfüllt. Nachdem die Fernschattenzertrümmerer und Existenznegatoren der Verschwörer in den Dschungeln mehr oder weniger großen Schaden angerichtet und einige tausend Menschen in Nichts aufgelöst hatten, stellten sie ihr Feuer ein, schon deshalb, weil das Erhoffte nicht geschah, und sie für ihren Putsch unter den astromentalen Mitbürgern keine Begeisterung und Gefolgschaft fanden, sondern nur Entsetzen und Zorn. Niemals in der ganzen Weltgeschichte war eine Kultur dümmer und leichtsinniger in die Luft gesprengt worden; (das heißt, wird in die Luft gesprengt werden). Die verschiedenen Konstantine hatten hingegen schon lange vor Sonnenuntergang ihr Ziel erreicht, Heulen und Zähneklappern herrschte unter den Hausgästen in den Nachbarschaften der Panopolis, und es gab nicht Hilfsstellen genug, um die von den Depressionsgeschossen Verwundeten aufzunehmen. Die Kapitulation wurde zu Beginn der ersten Nachtwache unterzeichnet, und zwar von dem Unglücklichen, der provisorisch an die Stelle des letzten Seleniazusen getreten war; selbstverständlich ohne Namen unterzeichnet und nur mit einem Kennwort. Der Hauptartikel bestand aus einem kurzen Satz: »Die Grenzen zwischen der astromentalen Wohnwüste und den farbenfrohen Oasen sind aufgehoben.« Man sieht, mit einem Schlage hatte sich alles verkehrt. Die Dschungeln waren mit gutem Grund zu »farbenfrohen Oasen« avanciert. Und diese Oasen nannten, von ihrer Perspektive aus, aus ebensolch guten Gründen die Stätte einer beinahe übermenschlich verinnerlichten Kultur »astromentale Wohnwüste«.
All diese Ereignisse erfuhren wir von gleichsam fiebernden Menschen, die in ihrer Erregung kaum mehr bemerkten, daß ich ein Zeitfremder in einem unbekannten Gewande war. (Die Mönche hatten uns beim Abschied die Kutten abgenommen.)
Soweit der Verlauf dieses kurzen Krieges, wenn man ihn überhaupt Krieg nennen kann, obwohl er Opfer genug gekostet hatte. Aber wir erfuhren noch etwas, was mir unbegreiflich war und mich mit Abscheu erfüllte. Ein Teil der Putschisten war gefallen, der größere Teil hatte sich ergeben. Da waren aber noch einige Helden oder Durchhalter oder Tückebolde, die sich an schwer zugänglichen Stellen, die kein Ziel boten, mit ihren Fernsubstanzzertrümmerern verschanzt hatten. Sie richteten diese verderbenbringenden Röhrchen aber nicht, wie man meinen sollte, gegen die sogenannten Oasen, sondern – und hier bekommt die Vernunft einen Schwindelanfall – sie suchten das Größte und Beste zu vernichten, was ihre eigene Welt hervorgebracht hatte, zu deren Gunsten sie zu kämpfen vorgaben. Mit einem Wort, es war der Djebel, gegen den ihre letzte Zerstörungswut entbrannt war, und, wie wir vernahmen, mit Erfolg. Man könnte vielleicht meinen, daß diese Patrioten das Palladium nicht in die Hände des Feindes fallen lassen wollten. Nein, nein, das war's nicht. Ich weiß es besser, mein Wort darauf. Die Io-Dos haßten vielleicht den Djebel noch tiefer als die Dschungeln. Die schmähliche Niederlage entblößte ihren tiefen Haß. So versuche ich mir das Ungeheuerliche zu erklären, das mich schaudern machte und mit Schmerz erfüllte.
Ich rechne es mir zur hohen Ehre an, daß wir in dieser Stunde vor das Antlitz des Arbeiters geführt wurden, der nicht wußte, wo ihm der Kopf stand, da ja auf seinen Schultern die ganze Sorge für die wankende Kulturmenschheit lag. Wem wir diese Auszeichnung zu verdanken hatten, weiß ich nicht. Keinesfalls aber war es die violette Handgelenkschleife. Sie hatte ihren Wert verloren wie der Orden, der an meiner Brust steckte. Es schien mein Schicksal zu sein, daß nur untergehende Regierungen mir ihre Insignien schenkten. Dennoch tat ich weder diese noch jenen von mir.
Sämtliche Brüder, Söhne, Enkel, Urenkel des Arbeiterclans schienen heute ausgerückt zu sein, von den Hilfskräften ganz zu schweigen. Einer dieser Riesen von sieben Fuß Höhe bahnte uns den Weg durch die dichte Menge. Zehntausende von Frauen und Kindern drängten sich auf den Spielwiesen. Die Parkanlagen des Arbeiters hatten überall als Zufluchtsstätten gedient, da sie – zu Ehren der Dschungel sei es festgestellt – nur von wenigen Geschossen getroffen worden waren. Ich will aber Konstantin und Genossen keine Humanität zubilligen, die sie vermutlich gar nicht besaßen, und damit in den psychologischen Irrtum Rousseaus, der Enzyklopädisten, Saint-Simonisten, Idealsozialisten und Io-Joels verfallen, die behaupten, daß einer schon durch die bloße Tatsache, daß er nicht der herrschenden Klasse angehört, ein besserer Mensch ist. Konstantin und Genossen hatten jeden Grund, die siderale Maschinerie des Arbeiters zu schützen, um sie später selbst in Besitz zu nehmen. Denn jedesmal, wenn eine niedrigere Zivilisation über eine höhere siegt, annektiert der Sieger zuvörderst die Überlegenheiten des Besiegten. Zu dieser Mitternachtstunde bot auch die malachitgrüne Mulde mit ihren unzähligen Quellschalen und Kraftfontänen ein überwältigendes Bild. Der ganze Grund vibrierte von geheimnisvoller Tätigkeit und nicht nur der Grund, sondern der Luftraum über ihnen, bis hoch hinauf in die Intermundien. Die Sternstrahlen, die hinab in die Alabasterschalen schössen und aus ihnen zurück in den Himmel pfeilten, waren entschiedener gefärbt als am Tage, waren breiter, gewissermaßen sichtbarer, wenn auch nicht weniger geisterhaft. Es war geradezu ein Platzregen, ein Wolkenbruch von segenbeladenen Sternkräften, der auf die Menschen niederging, um entlastet wieder zu den Lichtgestirnen heimzukehren.
Tiefe Stille herrschte in der Mulde, obwohl Tausende von Dschungelleuten hier versammelt waren. Sie betrachteten mit tiefer Andacht, ja in leise bedrückter Versunkenheit das großartige Schauspiel, dessen Wesen und Zweck sie noch nicht ganz erfaßten. Wir aber hörten schon von ferne das goldene Löwengebrumm des Arbeiters um Mitternacht:
»Was, da staunt ihr, da seid ihr platt. Doch wer ganz stark schaut, der wird ohne zu essen satt ...«
Ich erkannte das elende Gereimsel des traulichen Riesen wieder. Es war nicht besser geworden nach einem solchen Tag der Anspannung und Hingabe. Doch das Gute war: der Arbeiter log nicht. Wenn man den Blick mit voller Kraft auf das Wunderspiel der Nährstrahlen richtete, fühlte man sich nicht nur besser, man fühlte Sättigung und Wärme. Auf optischem Wege wurden einem Kalorien zugeführt. Ich verschweige dieses Detail nicht, weil es vielleicht auf die vergeistigte Ernährungsweise einer noch zukünftigeren Zukunft hinweist. Meine Träumerei über eine dergestalt angelisierte Menschheit wurde durch das einzigartige Lachen des Arbeiters unterbrochen, vor dem wir nun in unserer Kleinheit standen:
»Ihr Herren, was für Faxen und Flausen? Ich wußte nicht, wo Ihr beliebtet zu hausen. Ich habe schon viermal am Tage erkundet, ob unseren Gast keine Depression verwundet ...« Er unterbrach sich, stampfte auf und knurrte: »Um Mitternacht wird mein Rhythmus schlecht ...«
»Und ich brauche etwas Morgenjubel für mein Sonnengeflecht ...«, bat ich.
Der Arbeiter lachte wieder wie eine Brummglocke:
»Da heißt es auf den Morgen warten, Seigneur ...«
Ich aber wandte mich begeistert an B.H.:
»Weißt du, was das Schönste an unserm Arbeiter ist? Er verfügt über das einzige Lachen auf der Welt, das kein Auslachen ist ...«
Während wir einen warmen Trank genossen, fragte der Arbeiter, wo wir den Tag verbracht hatten. »Wir sind aus dem Wintergarten entfahren«, bekannte ich wahrheitsgemäß.
»Donnerwetter noch einmal«, erschrak er ganz aufrichtig, »da gehört Ihr zur Erholung ins Hospital. Jeder von euch bekommt ein köstliches Bett in des Arbeiters weitem Notlazarett ...«
»Ja, wo ist denn des Arbeiters weites Notlazarett«, erkundigte ich mich neugierig.
»Da, da, gleich unter unsern Füßen«, erwiderte er, leicht den Boden scharrend. »Meine Töchter und Schwiegertöchter werden Sie grüßen. Meine Enkelinnen und Schwiegerenkelinnen werden Sie niederlegen ...«
»Ich verstehe«, sagte ich, »die Damen Ihres Hauses pflegen ...«
»Sie haben schon die meisten Verwundeten herausgepflegt«, nickte der Arbeiter stolz.
»Ein Universalrezept wahrscheinlich?«
»Ganz einfach«, lachte der Arbeiter, »unsere Frauen strahlen aus.«
»Was strahlen Ihre Frauen aus?«
»Schönheit, Ruhe und schlichte Vernunft ... Ich führe Sie selbst in die Unterkunft ...«
»Nein, Herr Arbeiter«, sagte ich. »Es ist sehr verlockend. Aber ich danke, ich danke tausendmal. Ich möchte etwas anderes...«
»Ich verstehe dich nicht, F.W.«, schüttelte B.H. den Kopf.
»Wir sind nicht krank, weder mein Freund B.H. noch ich, obwohl wir im Uterus terrae gar manche Schwierigkeiten bestanden haben. Dennoch sind wir nicht hospitalsbedürftig. Es gibt zwar für mich nichts Herrlicheres, als von ausstrahlenden jungen Frauen angestrahlt zu werden, und noch dazu mit Schönheit, Ruhe und schlichter Vernunft. Aber ich darf mir's nicht leisten, denn etwas anderes ruft mich unaufhörlich. Ich bitte den Herrn Arbeiter dieses Zeitalters um einen kleinen Dienst. Bitte drücken Sie uns beide an Ihre blaubeschürzte Brust, wie Sie mich schon einmal an sich gedrückt haben. Das hat mir so wohl getan ...«
»Kleiner, Kleiner, du bist schlau«, reimselte der Arbeiter lachend, »du verschmähst die Pflege durch die Frau und verlangst an ihrer Statt die Kraft, die ich, der Arbeitsmann zu bieten hat ... (O pfui Teufel, auch mit den Reimen hapert's um Mitternacht) ... Na, kommt her ...«
Er packte mich mit seinem linken und B.H. mit seinem rechten Arm und preßte uns beide mit gewaltigem Druck an sich. Dabei hörten wir in seinem Bergesinnern das goldne kollernde Brummen oder Lachen, das er nicht entließ, wie eine verborgene Quelle. Sofort strömte in mich jenes unsagbare Weltbehagen ein, das ich schon kannte. Ich begann ganz langsam und tief zu atmen. Mit einem innern Frieden sondergleichen blickte ich auf die riesige Menschenmenge vor mir, die aus den Siegern in Berglerjacken bestand und aus den Besiegten in zartgefärbten Schleierraffungen. Ich fühlte, wie die Müdigkeit an mir herunterfiel gleich etwas Abgetragenem. Noch zwei Minuten diesen Vitalstrom, dachte ich beglückt, dann wird es vorhalten. Zugleich aber war ich der Beglückung nicht ganz gewachsen mehr und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Ich erinnere mich genau, daß es meinem Freunde nicht anders ging.
Wir standen irgendwo auf dem eisengrauen Rasen, B.H. und ich, ganz allein, ähnlich wie bei unserer ersten Begegnung. Der Park des Arbeiters lag hinter uns. Beide waren wir erfrischt und gekräftigt, sowohl durch seine lebensteigernde Körperberührung, als auch durch Suppe und Ziegenkäse, die er uns hatte reichen lassen. Nun mußten wir uns schlüssig werden. Das heißt, ich mußte mir gar nicht schlüssig werden. Ich kannte genau mein nächstes Ziel.
»Warum hast du das Angebot des Arbeiters nicht angenommen?« sagte B.H., und ich fühlte, daß er etwas auf dem Herzen hatte, vermutlich einen Groll gegen mich.
»Die Worte Hospital und Lazarett haben mich gestört, lieber alter Freund«, versetzte ich, »trotz der ausstrahlenden Damen des Arbeitsmannes. Ich würde lieber hier im Freien schlafen, als im astromentalen Spitalsbett ...«
»Wir werden auch im Freien schlafen müssen, F.W., denn ich habe nicht das Herz, in Io-Fagòrs leeres Haus zurückzukehren. Und eine eigene Wohnung besitze ich nicht ...«
»Haben wir uns das Schlafen nicht schon abgewöhnt, B.H.? Ich bin alert und munter ...«
»Nicht ich habe vom Schlafen gesprochen, sondern du ...«
»Reden wir nicht herum, B.H. Etwas bedrückt dich. Was bedrückt dich?«.
»Ich habe ein schlechtes Vorgefühl ...«
»Ein schlechtes Vorgefühl? In Bezug auf was?«
B.H. gab keine Antwort. Ich mußte noch einmal fragen:
»Ein schlechtes Vorgefühl? In Bezug auf dich?«
»Dann würde ich den Mund nicht aufmachen ...«
»Also in Bezug auf mich?«
»Stimmt! In Bezug auf dich, F.W. ...«
»Na hör einmal, B.H.! Habe ich mich im Wintergarten nicht ziemlich gut gehalten? Bei aller Eigenliebe, ich breche unter Nichtachtung zusammen, aber Gefahren lassen mich kalt, ich bin stolz, phantasielos zu sein.«
B.H. setzte sich auf den eisengrauen Rasen und zog mich an seine Seite nieder. So saß ich das erste Mal auf dieser weltumspannenden Pflanzung und sah in den dicht-unbekannten Nachthimmel empor. Es war ein ganz eigenartiges Gefühl, auf diesem Nerven-Gras zu sitzen, das trocken war wie Papier und zähe-unzerreißbar wie Bast.
»Du hast dich nicht nur ziemlich gut gehalten, F.W.«, begann der Wiedergeborene, »sondern du hast dich durch Willenskraft ausgezeichnet und uns beide gerettet. Ich bin dir nicht nur Revanche schuldig, sondern fühle mich tief beschämt, daß ich als Einheimischer versagt habe ...«
»Gerade als Einheimischer mußtest du ja versagen, was übrigens ein falsches Wort ist, da du von Anfang an zur Retrogenese völlig bereit warst ...«
»Und ich frage mich, F.W., ob es nicht besser und würdiger gewesen wäre ... trotz aller Risken, wie Rübenmännchen, Kataboliten, Mnemodrom usw ...«
»Ich verstehe dich nicht, B.H. Hat nicht auch dich das Grauen geschüttelt ...?«
»Du kannst mich nicht verstehen, F.W. ... Du hast nicht das richtige Bild vom Wintergarten empfangen, schon durch deinen Widerstand nicht, und so ging's auch mir unter deinem Einfluß ...«
Ich stieß in B.H. auf eine ähnliche Gesinnung wie bei Io-Fagòr. Die Überwindung des Sterbens durch Retrogenese war das heilige Tabu aller astromental Erzogenen.
»Es mag sein, alter Freund«, sagte ich nach einer Weile, »daß ich dem Wintergarten nicht gewachsen war, daß der gekränkte Primitivismus in mir alles Schlechte angezogen und entlarvt hat. Du darfst nicht vergessen, für mich und für meinesgleichen war der Tod die heilige Ordnung Gottes, an welcher der Mensch nicht herumzustümpern hat ... Ich verkleinere nicht Idee und Praxis eures Sterbe-Umwegs oder Fortschritts, aber die Blasphemie darin läßt sich so wenig ableugnen wie das Abstruse und Gezwungene ...«
»Du berührst genau den Punkt, F.W., auf den es ankommt. Der Mensch hat immer dazu geneigt, schlechte Gewohnheiten für heilige Ordnungen zu erklären. Eine dieser schlechten Gewohnheiten ist die passive Hinnahme des Sterbens. Kannst du mir aber abstreiten, daß die ganze Menschheitsgeschichte ein hartnäckiger Versuch ist, die Machtbefugnisse Gottes zu verkleinern und immer mehr davon unter eigene Kontrolle zu bekommen?«
»So ist es«, entgegnete ich friedfertig, »doch darüber mußt du den Großbischof hören.«
»Ich wollte ja nur sagen –« begann B.H., vollendete aber seinen Satz nicht.
»Und dein schlechtes Vorgefühl«, lächelte ich, »hängt es mit meiner reaktionären Widerspenstigkeit zusammen?«
»Ganz im Gegenteil«, fiel er lebhaft ein. »Mein schlechtes Vorgefühl hängt mit deiner fabelhaften Anpassungsfähigkeit zusammen, mein Lieber.«
»Enttäuscht von mir, B.H.?«
»Enttäuscht? Beim Himmel, nein, F.W. Ich hab mir's nur anders vorgestellt, als ich dich aus unendlicher Ferne herzitierte. Ich habe geglaubt, du würdest als ein mildes Eidolon, als ein leuchtendes Schemen ein wenig unser Leben teilen und dich umtun und die Welt beobachten. Aber du kamst aus deiner Absenz, mit Leben geladen, mit Wirbeln von Willen und Wirklichkeiten. Deshalb habe ich Angst um dich. Bedenke nur, was du alles leisten mußtest. Du bist Umpire gewesen in der größten Streitfrage aller Zeiten. Du hast kometengeturnt wie nur einer, du warst mit dem Hochschwebenden auf du und du. Man hat dich im Dschungel zum Unterhändler gemacht. Im Wintergarten hast du als Widerspenstiger zehn Stunden lang um unser Leben gekämpft, während ich an dir hing wie eine tödliche Last. Und dann die große Wendeltreppe zu allem noch. Wohin soll das führen? Es muß ein böses Ende nehmen ...«
»Warum muß es ein böses Ende nehmen?«
»Weil du dich zu sehr ausdehnst, F.W., über alle menschlich erlaubten Grenzen. Das ist vielleicht das gefährlichste Laster, das es gibt. Die Tugend zieht sich keusch zusammen. Deshalb ist Konzentration, Tugend und Gesundheit ein und dasselbe. Das Laster aber greift nach allem und will alles ›verichen‹. Die Ausschweifung in dir schlägt jeden Rekord. Du willst in deiner kleinen Existenz die unverbindbarsten Gegensätze verbinden. Das wird am Schluß eine schöne Bescherung geben. Und ich Unglücksmensch trage die ganze Verantwortung ...«
»Was für Bescherung?«
»Und wenn du krank wirst ... Bei dieser unersättlichen Ausschweifung deines richtungslosen Willens mußt du krank werden ...«
»Soll ich mich deshalb schon vorher ins Spital legen und von den Arbeiterfrauen anstrahlen lassen? Wäre das nicht auch eine Ausschweifung?«
»Hör meinen Vorschlag, F.W. Ich bringe dich in die nächste Karawanserei. Du legst dich hin. Ich bleibe bei dir und wache, damit nichts passiert ...«
»Du bist ein guter Freund, B.H., ich weiß es. Der Vorschlag aber wird abgelehnt. Ich höre in mir einen Ruf, der unablässig ruft. Es ist zweifellos ein mentaler Anruf. So weit bin ich schon verdorben. Ich werde vom Djebel her angerufen ...«
B.H. erschrak bei dem Wort Djebel so sehr, daß er bleich wurde. Man konnte es selbst im bläulichen Sterntageslicht bemerken.
»Djebel«, stieß er hervor. »Aber das ist doch wirklich unmöglich ...«
»Warum unmöglich? Wegen der Fernschattenzertrümmerer?«
»Mit dem Djebel hat sich soeben mein böses Vorgefühl beschäftigt, F.W. Bei uns Astromentalen aber ist ein Vorgefühl ein Vorwissen ...«
»Und was sagt dir dein Vorwissen?«
»Daß dich beim Djebel dein Ende ereilen wird, dein relatives Ende selbstverständlich ...«
»Muß mein unerlaubt langer Aufenthalt hier nicht einmal sein Ende nehmen, B.H.? Und ich würde mir für dieses Ende eher den Djebel wählen als den Wintergarten ...«
»Das hast du ja bewiesen ...«
»Ich habe nur den ersten Teil dieser meiner Behauptung bewiesen ... Übrigens dein Vorwissen in Ehren, aber es mag ebenso unbegründet sein wie es oft unser Wissen ist.«
Ich hatte mich längst schon erhoben und drehte mein schimmerndes Reisespielzeug zärtlich in der Hand hin und her. B.H. stand neben mir, sein großes Haupt ein wenig gesenkt. Er lächelte versonnen vor sich hin, als er sagte:
»Ich sollte dir das Mentelobol aus der Hand schlagen und fortnehmen ...«
»Nun, B.H.«, lachte ich, »worauf wartest du?«
»Dieses ›worauf wartest du‹ ist eine Gemeinheit, F.W.«, sagte er sanft. »Du weißt ja, daß ich es dir nicht aus der Hand schlagen werde. Ich kann dich ebensowenig ändern wie du mich ...«
»Denken wir an die Worte von GR3: der Mensch beginnt damit, daß er sich keine Sorgen macht. Eine blödsinnige Maxime übrigens. Denn es ist ja gerade das Menschliche an dir, daß du dir Sorgen um mich machst ...«
»Wenn du fertig bist, los«, sagte B.H. trocken, indem er mich umfaßte, damit wir im nächsten Augenblick gemeinsam vor dem Djebel stünden.
Ich aber trat zwei Schritte hinter mich:
»Halt, B.H. Es ist ja wirklich möglich, daß mir etwas passiert, oder dir. Laß uns vorher anständig und altmodisch Abschied nehmen. Ich danke dir, daß du mich aus dem Alphabet gestochen hast. Mein Bewußtsein ist durch dich unermeßlich bereichert worden. Du hast mir ein königliches Geschenk gemacht. Zwei Dinge weiß ich für alle Ewigkeit: daß wir beide nicht aus der Welt verschwinden können und daß eine Wiederbegegnung immer möglich ist. Und es war auch sonst trotz aller Zwischenfälle furchtbar nett und riesig interessant ...«
Hinter diesem »furchtbar nett« und »riesig interessant« versteckte ich meine Bewegtheit, was ich dem Leser nicht erst erzählen müßte. B.H. aber, der feinere und empfindsamere von uns beiden, schüttelte mir stumm die Hand, sah mich an und schlug sofort die Augen nieder. Ich ließ mit routinierter Flinkheit bei der »scharfeingestellten Wunschvorstellung« die blaßfarbenen Kügelchen in die richtigen Löchlein springen.
Als das Ziel vor uns war, meinte ich einen Fehler begangen zu haben. Denn da war kein Djebel mehr, sondern ein weites Trümmerfeld hoch aufgehäufter Kristallquadern und ein Felsengewirre von Prismen, über denen zarte Regenbogenhauche gebrochener Sternstrahlen schwebten. Die Fernsubstanzzertrümmerer hatten das erhabenste Sinn- und Baugebilde, das die Menschheit jemals errichten wird, in Schutt und Asche gelegt. Ja, man kann wirklich von Asche reden, denn gewisse Teile des kristallinischen Materials durchglühten wie Lava feurig die Nacht, und wie überirdischer Pauken- und Beckenschlag klang's, wenn die Schlackenkolosse in die Tiefe sprangen. Dazu rauschten die Wasser durch den ungeheuren Ruin, und ein unsagbares Flirren und Sirren verriet die Teilnahme der Gestirne, die ihre irdische Heimat verloren hatten.
Die Chronosophen aller Lamaserien, Fremdfühler, Verwunderer, Sternwanderer und die Schuljugend der Planetenklassen waren in einem weiten Bogen, dessen Enden man nicht absehen konnte, um den tragischen Untergang versammelt. Sie duldeten nicht, daß man sich dem flaschengrünen, eisartigen Randgebiet näherte. Wir sahen, wie einige heftige Zeichen machten, die uns warnen sollten. Ich begriff nicht recht, was vorging. Standen wir in der Gefahrenzone? Irgendein giftiges Verstummen war in der Luft, das ich nie vergessen werde. B.H. schien plötzlich alles zu verstehn. Er faßte meine Hand, um mich wegzuziehen. Er begann zu laufen wie ein Wahnsinniger. Ich aber riß mich ärgerlich los von ihm. Da sah ich, daß er strauchelte und hinfiel. Dies gerade aber war das Furchtbare, daß er nicht ganz hinfiel. Er hatte ja gar keine Zeit zum Hinfallen. In der halben Sekunde zwischen Straucheln und Hinfallen hatte ihn der Fernsubstanzzerstörer, dieses lächerliche Blasrohr eines verdammten Altertums, völlig in Nichts aufgelöst. Er war nicht nur unsichtbar, wie ich's einst gewesen, sondern ganz und gar nicht mehr vorhanden, mit all seinen gesunden sechsundzwanzig Billionen Zellen ausgerottet bis zur letzten! Ich brauchte lange, um zu fassen, was da geschehn war. Sein Vorwissen hatte ihn nicht betrogen. Daß ich noch einen Körper besaß, war ein Rechenfehler. Ich hatte mich durch eine unvorhergesehene Ungebärdigkeit (das Losreißen) gegen alle Regeln gerettet. Ich bedauerte es tief in diesem Augenblick. Trostlos ließ ich mich auf die Erde fallen. Mit unentrinnbarer Wucht erdrückte mich dieses Wissen: Ich bin allein auf der Welt.
Ich hatte meinen Freund verloren, aber ich war nicht allein auf der Welt. Eine Schar junger Leute, die Zeuge des Schrecklichen gewesen, liefen auf mich zu und nahmen mich in die Mitte. Ich erkannte sie sofort an ihren sehnigen, astral durchgebildeten Gestalten. Sie gehörten der Lamaserie der Astropathetiker an, jenen Gymnasten, welche das Wesen der näheren Lichtgestirne und ihrer Konstellationsbilder in pantomimischen und akrobatischen Darstellungen widerspiegelten. Sie kondolierten mir nicht, sie entsetzten sich nicht, sie machten keine langen Sprüche, sondern begannen sofort einen Reigen.
»Schmerz«, sagte einer, »ist Stillstand von Bewegung.«
»Heilung«, respondierte ein anderer, »ist Wiederaufnahme von Bewegung.«
»Hoppla, Seigneur«, flüsterte ein dritter dicht bei mir, »Nachgeben, Entlasten, Anlehnen ...«
Ich berührte die Erde kaum, als ich von ihnen gestützt über die Fläche dahinlief. Es ist notwendig, hier einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen. Der Rundflug, oder besser, das Rundschweben, das ich nunmehr mit Hilfe der jungen Astropathetiker über das weite sternglänzende Trümmerfeld des Djebels unternahm, hatte nicht das geringste zu tun mit dem allbekannten »Traumfliegen« oder »Traumschweben«, das jedermann dann und wann nächtlicherweile erlebt. Ich muß wiederum mit allem Nachdruck darauf hinweisen, daß alle dergleichen Erfahrungen, so ungewöhnlich sie uns Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts anmuten, keine Traumbilder sind, sondern unbestreitbare Realitäten des Elften Weltengroßjahrs der Jungfrau. Ich spreche somit von keinem Traum, ja nicht einmal von einer Vision, sondern von einem faktischen Flug über die Ruinen des Djebels, für welchen, was man mir in Erinnerung an die entsprechenden Kapitel aufs Wort glauben wird, die Astrogymnastiker keine anderen Maschinen brauchten als ihre eigenen Körper. Ich selbst wurde von den Jünglingen so mühelos getragen, als sei ich eine Flaumfeder. Und ich war auch nicht viel schwerer. Die Erklärung lag darin, daß durch die Zerstörung die verschiedenen regulierten Gravitationen innerhalb des Djebels sich gegenseitig zu einer überaus geringen Gravitation aufgehoben hatten, die in dem Luftreich herrschte, das wir nun durchmaßen. Wir flogen in mäßiger Höhe dahin. Aber diese Höhe und das Sternlicht waren ausreichend genug, daß ich den ganzen Umkreis des zertrümmerten, gewaltigen künstlichen Berges überblicken konnte. Ich schrie beinahe auf vor Erstaunen:
»Aber der Djebel ist ja ein Auge.«
Meine jungen Flugbegleiter schienen zu lächeln:
»Haben Sie das nicht gewußt? Der Djebel ist Gäas Auge.« Und einer fügte traurig hinzu:
»Es war Gäas Auge ...«
Kein Zweifel! Gäas Auge, das zerstörte Auge des Erdplaneten, das ihm vor Zeiten der Mensch eingesetzt hatte, damit er bewußt hinausschaue in den Weltraum. Ich konnte von der Höhe, die wir in einem milden Luftzug durchschwebten, ganz genau die einzelnen Teile dieses Auges unterscheiden. Da war vor allem der riesige Augapfel, frei aufgehängt und beweglich in einer kreisrunden Erdenhöhle. Die vordere Grenzspalte dieser Erdenhöhle war bedeckt mit der flaschengrünen, eisartigen Decke, die es möglich machte, daß man sich dem eigentlichen Berge, dem Augapfel nähern und durch die zahlreichen Tore sein Inneres betreten konnte. Von oben angeschaut war dieser kristallene Globus des Auges nicht nur nicht ganz zerstört, sondern in seiner Form viel deutlicher erhalten, als man im Tal beurteilen konnte. Es ließen sich unterscheiden Hornhaut, Iris, Netzhaut und Pupille, soweit diese organischen Gebilde in der Architektur nachgestaltet oder angedeutet waren. Einzig die oberste Kuppel, das höchste Halbrund, die Pupille, war völlig eingeschlagen, so daß jene Räumlichkeiten, die ich bei der Besichtigung des Djebels »Mansarden der Sternwanderer« genannt habe, offen klafften. Ihr Grundriß bestand aus polygonen Facetten, die meines Wissens eher ein Motiv des Insekten- als des Menschenauges sind. Die Ursache, warum man unten den Augapfel, welcher der Djebel war, nicht erblicken konnte, bildeten die Felsmassen und Zacken, die ihn umrundeten und überhöhten und ihm das Aussehen einer charakteristischen Alpe gaben. Sie ersetzten die Lider und Wimpern, die das kostbare, leichtverletzliche Auge schützen. Jetzt waren sie zersprengt und herabgestürzt, und der Augapfel selbst schien tief in die Erdhöhle eingesunken zu sein.
Das großartige und tragische Bild unter unserm Flug bewies, wie der Mensch in der Natur diese humanisiert, und wie die Natur im Menschen diesen immer wieder naturalisiert im endlos grausamen Wechselspiel. Denn die Geschehnisse dieses Tages waren ja nichts anderes als eine Renaturalisierung des Menschen, sein Anheimfallen an die blinden Kräfte, die heute nicht weniger in ihm lebten als in seiner Frühzeit. Und es war sehr tief und sehr logisch, daß der Angriff gegen die zarte astromentale Kultur nicht aus den Dschungeln hervorgebrochen war, sondern aus dem Schoße dieser hochmütigen Kultur selbst. Der schwermütige Gedanke brachte mir das Ende B.H.s grell zum Bewußtsein, und ich stöhnte auf:
»Ich bin schuld an seinem Tod. Er wollte mich retten. Aber ich habe mich gerettet, indem ich ihn verhinderte, mich zu retten. So ließ ich ihn allein untergehen ...«
»Bewegung, Bewegung«, rieten die Stimmen um mich.
»Hier hilft keine Bewegung«, klagte ich. »Wozu sind wir dem Wintergarten entkommen? Er hat mich ja angefleht, wieder ein kleines Kindchen werden zu dürfen; es ist auch sehr angenehm, und man verschwindet nicht mit einem Schlag ...«
Als die Astropathetiker meine nutzlose Reue bemerkten, riefen sie einander ein paar Worte zu. Ich fühlte, wie wir uns auf die Pupille des Djebels niederließen und einige Atemzüge später auf einer kristallenen Plattform landeten. Es war eine ziemlich geräumige, kreisrunde Fläche, der höchste Punkt der nun eingesunkenen Djebelkuppel, das Dach der Chronosophie gewissermaßen. In der Mitte der Plattform klaffte ein weites, ausgezacktes Loch mit juwelenhaft schimmernden Rändern, das ich am ehesten mit einem Granattrichter vergleichen könnte, wenn ich nicht wüßte, daß die Volltreffer der Fernsubstanzzerstörer solche harmlosen Wirkungen hervorzubringen kaum gesonnen waren. Sei es wie es sei, aus dem Geschoßtrichter stieg leichter Rauch auf, der bewies, daß man durch die Öffnung tief ins Innere des Djebels gelangen konnte, wo in den verschiedenen Hallen, Denkräumen, Studios der Lamaserien, ja vielleicht sogar in den Lokalitäten des Arachnodroms Brände wüteten, und das Baumaterial des Berges durch die ungeheure Hitze und den Druck der Explosionen in Lavaströme verwandelt war. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, um sich vorzustellen, daß zu dieser Stunde die Lamaserien der Thaumazonten und Xenospasten zu Höllen geworden waren und daß wenig Hoffnung für die dort Eingeschlossenen bestand, sollten sie auch die Schrecken der fernsten Intermundien spielend überwunden haben. Es gab aber, wie ich noch erfahren sollte, im Djebel nur freiwillige Opfer.
Die Plattform, auf der mich die jungen Tröster abgesetzt hatten, war von einer Rampe umzäunt, und an dieser Rampe lehnte in kleinen Abständen und ziemlich bewegungslos ein Kreis von Männern in aschgrauen Kutten, die ich ohne Schwierigkeit als alte Männer diagnostizierte, als Fremdfühler, und wie mich die weitere Entwicklung belehrte, als das leitende Komitee der xenospastischen Lamaserie. Sie hatten etwas von großen, grauen Vögeln, wie sie mit gesenkten Köpfen nebeneinander gegen den sterntrunkenen Himmel sich abzeichneten. Ich weiß nicht, ob ich sagen darf, daß ihre Haltung gramverstört war. Vielleicht war sie nur gestört. Es muß ja auch schrecklich sein, in jener Seelentätigkeit, die man ungenau »Fremdfühlen« nennt, und die die höchste Steigerung der »metaphysischen Sternwanderung« ist, gestört zu werden. Diese alten Lamas, die zu Hause waren unter den Sternnebeln, hatten ihr irdisches Zuhause verloren, das Gehäuse für ihre erkenntnisträchtigen Anfälle, die Xenospasmen. Der tellurische Mittelpunkt, wo sie sich ihrem Heimweh nach dem Unendlichen hingeben konnten, war ihnen genommen. All diese Gestalten waren von dem astralen Podagra verkrümmt und verkrüppelt. Sie sahen mit ihren flügelhaft hochgezogenen Schultern nicht nur wie hockende Adler aus, sondern ihre Rümpfe waren so verknorrt, daß sie den kurzgestutzten oberitalischen Ulmbäumen glichen. Ich habe nicht gezählt, wie viele es waren, ob zwanzig oder mehr. Sie schwiegen jedenfalls zumeist bis auf einen. Dieser eine war zweifellos der Hervorragendste, der Obmann des Komitees, ein Mann mit knochigem Gesicht und schweren, nur halbgeöffneten Augendeckeln, der eine leise Stimme hatte und sich beim Sprechen nicht bewegte. Ich nenne ihn den Gleichgültigen, obwohl ich nicht weiß, ob er's wirklich war. Er verriet jedenfalls keine Spur von Teilnahme.
Die Gleichgültigkeit des Gleichgültigen trat deshalb beinahe als Energie hervor, weil sie sich von der Erregung des Hocherregten abhob, der wie ein Rasender auf ihn und die andern Xenospasten einredete, während er mit dem Geographiezeigestab in der Luft herumfuchtelte. Der Hocherregte war der einzige cholerische Typus, der mir unter den gebändigten und verhaltenen Astromentalen begegnet war. Er hatte sogar im Grauen Neutrum und im Kleinen Intermundium seinen Zorn nicht bemeistern können, wenn ihm eine Extravaganz gegen den Strich ging. Ich glaube nicht, daß ich es eigens aussprechen muß, um wen es sich handelt. Die Erregung unseres lieben Elementarlehrers und guten Pädagogen war jetzt freilich von ganz anderer Art als der übliche Lehrergrimm, den wir an ihm kennengelernt haben, jene rasche höhnische Empörung, hinter der stets nur gekränkte Güte steckte. Was jetzt dahinter steckte war etwas furchtbar Ernstes, das sich als fassungslose Verzweiflung offenbarte. Auf seinem Blankschädel perlten trotz der kühlen Nacht die Schweißtropfen, sein Gesicht war bläulich und eingesunken, seine Augen rot, und er lief wie ein Verrückter im Kreis herum, ohne den hohen Xenospasten jene Ehrerbietung zu erweisen, die ihnen gebührte.
»Habe ich nicht Schüler genug«, schrie er, »wendige, geschmeidige Jungens genug, die durch ein Nadelöhr schlüpfen können? Da sind Io-Rar und Io-Hol, meine besten, meine Renommier-Eleven, die Antworter und Eins-A-Kometenturner. Da ist Io-Schram und zehn andere Fortgeschrittene, sehr pfiffig zumindest im physischen Betragen und dazu grobe Naturen, die ich ohne weiteres durch den Sonnenglobus und durch jedes andere Lichtgestirn durchzujagen bereit bin! Da sind, was rede ich, bin ich der einzige Lehrer, gibt's neben der meinen nicht hunderteinundsiebzig Elementarklassen? Und unter so vielen Klassen ist man gerade auf meine verfallen und unter all meinen Schülern gerade auf ...«
»Man ist auf niemanden verfallen«, unterbrach der Gleichgültige den Hocherregten. »Der Knabe hat sich freiwillig zum Opfer gemeldet ...«
»Der Knabe kennt ja gar nicht die Bedeutung dieser Worte ›freiwillig‹ und ›Opfer‹. Der Knabe kennt nichts als den Übermut seines Talents, das ihn zu jeder Tollheit hinreißt ...«
Der Gleichgültige entgegnete unerschütterlich:
»Das freiwillige Opfer wird nicht geringer dadurch, daß es unbedacht oder halbbedacht ist ...«
»Man hätte es nicht annehmen dürfen«, schrie der Lehrer, »man hätte den dummen Jungen in den Winkel stellen sollen ...«
»Nun aber ist es angenommen«, murmelte die gelassene Stimme, »und der Preis des Opfers ist wahrhaftig hoch genug ...«
»Das Opfer wird vergeblich sein und der dumme Junge wird nicht wiederkommen ...«
Der Chor der grauen, hockenden Vögel brummte:
»Vielleicht wird er nicht wiederkommen. Vielleicht wird er wiederkommen ...«
Da erkannte mich der Lehrer, spät genug, und stürzte sich auf mich:
»Helfen Sie, Seigneur, helfen Sie um Gottes willen, Sie kennen ihn ja ...«
»Wie soll ich helfen«, sagte ich leise. »Ich konnte nicht einmal meinem Freunde helfen ...«
»Aber Sie kennen den Kleinen doch ...«
»Ich vermute, Sie sprechen von dem grazilen Sternentänzer, dem man den Spitznamen Io-Knirps gegeben hat ...«
Der Lehrer sah mich stumm an, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er zeigte mit einer langsam-trostlosen Handgebärde auf den Geschoßtrichter, aus dem immer stärkerer Qualm aufstieg. In die tragische Stille hinein, die diese Geste aussparte, ertönte die müde Stimme des Gleichgültigen:
»Wenn der Kleine nicht wiederkommt, wird ein anderer gehen und wiederkommen, und wenn der nicht wiederkommt, so ein nächster ... Aber eine von den kleinen Eidechsen muß wiederkommen und es heraufbringen ...«
Die grauen Adler im Kreis nickten schwach mit den Köpfen, die zwischen ihren Schultern steckten.
»Ich weiß, daß ich ein Nichts bin«, jammerte der Lehrer, »weniger als ein Nichts, denn ich habe es nicht einmal zur Sternwanderschaft gebracht und pendle seit einem Jahrhundert zwischen den faden Planeten herum. Aber eines bin ich mit Leib und Seele, ein Jugendbildner. Und als ein Jugendbildner wage ich die hohen Befahrer der Sternnebel zu befragen: Warum kommt der Hochschwebende nicht selbst herauf und bringt es mit? Warum muß ein kindliches Leben geopfert werden, und zwar ein Leben, das selbst zum Amte des Hochschwebenden bestimmt sein mag?«
Auf diese mit tremolierendem Tone hervorgebrachten Fragen erwiderte der Unerschütterliche:
»Der Hochschwebende kommt nicht herauf. Er hat es abgelehnt, sein Comptoir zu verlassen. Vielleicht ist er schon vom Gewölbe herabgefallen und atmet nicht mehr ...«
Ein anderer der greisen Xenospasten gab hier sein dichtes Schweigen auf und murmelte:
»Unser Hochschwebender hat wie alle großen Persönlichkeiten einen schlechten Charakter ...«
»Er möchte das Isochronion für sich behalten«, nickte der Nachbar dessen, der soeben gesprochen hatte.
Der Gleichgültige oder Unerschütterliche sagte jetzt mit ungewohntem Nachdruck:
»Wir aber brauchen das Isochronion und werden darauf eine neue Disziplin begründen ...«
Das Wort »Isochronion« ist gefallen. Es ist das letzte griechische Fremdwort meiner an derartigen Fremdworten leider so reichen Erzählung, die ich um seinetwillen hier noch einmal unterbrechen muß. Die Unterbrechung wäre unnötig, wäre ich mir über dieses »Isochronion«, das manche auch »Capsula« nannten, wirklich im klaren. Das bin ich aber keineswegs, und es ist eine große Frage, ob ein Mensch, der an den normalen Bewußtseinszustand des zwanzigsten Jahrhunderts gebunden ist, sich überhaupt über diese Sache völlige Klarheit verschaffen kann. Ich habe nichts mitgebracht als eine auf gewisse Erfahrungen gestützte starke Vermutung über jenes Isochronion, welches so wichtig für die Zukunft war (sein wird), daß die milden Fremdfühler nicht zögerten, jenen Knaben in die schmelzflüssige Hölle des zerstörten Djebels zu schicken, um es dem lebendigen oder toten Hochschwebenden abzunehmen. Meinem alten Prinzip getreu verschmähe ich es aber, meine zusammengesetzte Vermutung als ein sicheres Wissen in den Ablauf des Geschehens einzubauen. Andrerseits aber habe ich die Capsula eine Sekunde lang gesehen und verschiedene Andeutungen aus dem Munde der Xenospasten gehört, so daß ich nicht zweifle, auf dem richtigen Wege zu sein. Äußerlich war das Isochronion eine kleine sechseckige Metallkapsel mit je einem Riemen an jeder Seite. Sie erinnerte an die Phylakterien, an die Gebetriemen der Juden, wo ebenfalls eine Kapsel inmitten der Stirne des Beters befestigt wird. Was sich in der Kapsel des Isochronions befand, weiß ich nicht; Gebetsworte wie bei den Phylakterien dürften es nicht gewesen sein. Vielleicht eine unfaßlich komplizierte Formel, vielleicht der Tropfen einer sideralen Essenz, vielleicht das Körnchen einer aus Sternnebelwelten geschöpften Droge, ich weiß es nicht. Jedenfalls mußte das Anlegen des Isochronions eine mächtige Wirkung auf den menschlichen Geist ausüben, dessen Stirne es berührte. Welche Art von Wirkung konnte das sein? Wir hatten im Wintergarten, an der Stätte der Zellteilung und des Zerfalls erfahren, was das ist, autobiologische oder heterochrone Zeit. Es war die persönliche, vom allgemeinen Zeitablauf losgelöste Zeit des vereinzelten Organismus, die todumschlungene Zeit der Ich-Insel. Sprachlich bedeutete Isochronie das Gegenteil von Heterochronie. Genau übersetzt hieß Isochronie nichts anderes als »Gleichzeitigkeit«, meiner Vermutung gemäß freilich die Gleichzeitigkeit des Weltalls, oder genauer, die Gleichzeitigkeit aller Erscheinungen innerhalb des Weltalls. Was kann dieser Begriff bedeuten, kosmische Gleichzeitigkeit? Er bedeutet, wenn man mir folgen will, durchaus nichts Unvorstellbares, Philosophisch-Abstraktes. Gestern hatte der Hochschwebende des soeben abgelaufenen Zeitalters eines der Welträtsel meinen Ohren preisgegeben: »Der Kosmos hat die Gestalt des Menschen.« Wenn die Gestalt des Kosmos-Menschen, des Himmels-Menschen, der unsrigen auch nicht voll entsprechen mag, so bitte ich, halten wir uns zwei Minuten lang an letztere. Von den bewegten Systemen der Atome aus betrachtet, die ihn bilden, umfaßt auch unser kleiner Körper schier unendliche Zeiträume und Raumzeiten. Einen Erdumlauf um die Sonne nennt man ein Jahr. Nennen wir den entsprechenden Umlauf in einem Atom auch ein Jahr. Wieviel Jahrbillionen liegen zwischen einem Atom unserer Fußsohle und einem auf unserer Kopfhaut? Und doch, unser Körper ist in sich gleichzeitig. Er ist es aber nur, solange er lebt, solange er beseelt ist. Weicht die Seele von ihm, so verliert er sofort seine innere Gleichzeitigkeit. Er zerfällt in Milliarden Heterochronismen. Ja, der Tod ist recht eigentlich nichts anderes als die Verwandlung der Isochronie in Heterochronie, der Gleichzeitigkeit des Seins in Verschiedenzeitigkeit. Und hier nähere ich mich – wenn meine Hypothese richtig ist – dem Wesen des Isochronions. Auch das Weltall, der Kosmos-Mensch, der Himmels-Mensch war beseelt, d. h. seine durch Jahrmilliarden voneinander getrennten Teile waren kraft des Willens und Bewußtseins gleichzeitig. Das Isochronion schien ein unbekanntes Hilfsmittel zu sein, um das atomare Bewußtsein des Erdenmenschen in das Allbewußtsein des Himmelsmenschen einzuschalten, die irdisch-winzige Verschiedenzeitigkeit in die Gleichzeitigkeit des Ganzen verströmen zu lassen. Für den Eingeweihten, der das Isochronion anzuwenden verstand, gab es daher kein Nacheinander mehr, sondern nur ein unendliches Miteinander, eine Simultaneität über alle Fassungsgrenzen. Seine Seele enthielt in jedem Augenblick alle Assoziationen und alle Zusammenhänge in der Natur, das Fallen eines Lindenblattes vor Jahrtausenden, die Explosion eines Lichtgestirns in Jahrmillionen. Das Isochronion – was immer es enthielt, eine Formel, ein Tröpfchen, ein Korn, einen Geruch – es erweckte das enge Bewußtsein des Erdenmenschen zur Allgegenwärtigkeit, zum Allwissen, zum Allverstehn des Himmelsmenschen. Wahrlich, in diesen Begriffen liegt das letzte Ziel der wissenschaftlichen Bemühung, und ich verstand den grauen Gleichgültigen sehr gut, daß er den drei bestehenden Lamaserien der Chronosophie eine vierte hinzufügen wollte, vermutlich die zusammenfassend-prächtigste. Meine Spekulation über das Isochronion nähert sich der Wahrheit, ich zweifle nicht daran. Und doch, das ganz und gar Neue und Unbekannte jenseits der eigenen historischen Grenzen nur zu erdenken, ist niemand imstande. Auch uns, in den Anfängen der Menschheit, war dieses Einschalten des Individual-Bewußtseins ins Universalbewußtsein, dieses Verströmen der Heterochronie des Menschen in die Isochronie des Weltalls nicht ganz fremd. Wir nannten diese Erscheinung Inspiration. Sie trat freilich nur blitzhaft auf, als Entladung einer psychischen Spannung, als elektrischer Kurzschluß der Seele gewissermaßen, zufallsbefangen, eine jähe Ekstase, ein herzsprengender Rausch, ein greller Anfall von Einheitsgefühl. Ihre abgeschwächte Spur blieb zurück in Erkenntnissen, Gedichten und Melodien. Die Chronosophen aber gaben sich mit flüchtiger Inspiration nicht zufrieden. Diese mochte ausreichen für die Autoren des Sympaians, aber nicht für sie. Ihr Streben ging dahin, die Union zwischen Ich und All zu einem dauernden, dem Willen unterworfenen Zustand zu machen, der die Vergangenheit und die Zukunft, die Geschichte und die Utopie, die Erinnerung und die Ahnung aufhebt und den Menschen endlich in jene Dimension stellt, die er am genauesten zu kennen wähnt und am wenigsten kennt, in die Gegenwart, das heißt in die wirklichste Wirklichkeit. Während ich, an der Übertragungskraft der Sprache verzweifelnd, an meinem Schreibtisch diese wichtigen Sätze über die gewaltigen Ziele der chronosophischen Wissenschaft niederschreibe, höre ich mich selbst seufzen: »Oh, wie würde mir die Arbeit an meinem Reisebericht leicht fallen, besäße ich das Isochronion!«
Auf der kristallinischen Plattform des zerstörten Djebels aber war ich längere Zeit ziemlich geistesabwesend, da einige der obigen Gedanken mich gefangen nahmen. Ich bemerkte nur halb und halb, und das mit einer leichten inneren Mißbilligung, daß die greisen Fremdfühler an der Rampe sich nun umgekehrt hatten und zum Himmel starrten, wo der Uranograph eine neue Verlautbarung zusammenhüpfen ließ, die verkündete, daß vor wenigen Minuten die letzten Verschwörer unschädlich gemacht worden seien. Mich aber weckte erst der erschütternde Schrei des Lehrers: »Hier ist er ...«
Als ich hinsah, war der Knabe noch in dichten Qualm gehüllt. Ich glaubte sogar, kleine Flammen zu bemerken, die der Lehrer mit seinem eigenen Körper zu ersticken suchte. Es wird mir für immer ein Rätsel bleiben, warum das Raumtauchergewand, das der Sternentänzer trug und das kosmischen Gluten spielend standhielt, gegen einen irdischen Brand keinen vollen Schutz geboten hatte. Nur die Kopfkugel war unversehrt. Der raumdichte Stoff hingegen hing in Fetzen, die der Lehrer seinem Lieblingsschüler vom Leibe riß. Es gibt nur eine Erklärung: das leichtsinnige Kind, an Extravaganzen im Intermundium gewöhnt und daher die Gefahr verachtend, schien das Tauchergewand nicht hermetisch verschlossen zu haben. Der grazile Körper war über und über mit schweren Brandwunden bedeckt. Io-Knirps sah stolz zu den Fremdfühlern hin, machte eine Schuljungenverbeugung, wollte sprechen und brach ohnmächtig zusammen. Seiner rechten brandwunden Hand entfiel das Isochronion, diese Metallkapsel, in welcher die Zukunft des menschlichen Geists steckte, der Preis seines Opfers ...