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Zweiter Teil

Zweiter Tag

Djebel und Dschungel

 

Motto:

Was habe ich zu versäumen?
Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?

Gotthold Ephraim Lessing in »Die Erziehung des Menschengeschlechts«, 1778.

 

Zehntes Kapitel

Worin ich den Park des Arbeiters besuche, von ihm im »Tal der Quellen und Kräfte« bewirtet werde und an dem Tanz der taubengrauen Bräute teilnehme, bis mich eine dunkle Gestalt abberuft.

 

Nur wer die Naturfarbe grün einige Zeit lang entbehrt hat, weiß, was sie für die menschliche Psyche bedeutet. Obwohl mein Aufenthalt im mentalen Zeitalter bisher kaum einen halben Tag und eine ganze Nacht betrug, so hatte mich doch die Vorstellung, mich würde überall nur der eisengraue Rasen der gegenwärtigen Zivilisation samt den schwärzlichen Lederbäumen, Tragantrosen und Wachsmagnolien umgeben, in eine depressive Stimmung versetzt. Über das fehlende natürliche Grasgrün halfen mir die Beleuchtungskünste der unterirdischen Appartements nicht hinweg, trotz all ihrem künstlichen Mondschein, Wiesenlicht und Waldesdunkel. War ich auch zu Lebzeiten eher eine Zimmerpflanze gewesen und nur ausnahmsweise ein Bergsteiger und Waldwanderer, und hatte ich auch die Landschaften meines Lebens mehr mit den Augen geliebt als mit den Füßen, so hatte doch das Bewußtsein einer noch nicht gebändigten Natur Tag und Nacht meinen Blutkreislauf erfüllt. Die fortgeschrittene, das heißt verödete Natur des astromentalen Menschen erzeugte in mir ein Gefühl des Verdorrens und Verkümmerns, und während meine lebendigen Zukunftszeitgenossen keine Entbehrungen spürten, litt ich, das Gespenst der tiefsten Vergangenheit, wie eine Pflanze am Entzuge des frischen Wassers.

Ich muß also mein Aufatmen, meine Beschwingtheit, meine Befriedigung, kurz mein seelisches und körperliches Entzücken nicht erst schildern, als ich durch eine enge Pforte im morschen Holzzaun in den Park des Arbeiters trat, der sich als eine gegliederte grüne Landschaft vor mir öffnete. Ich war diesmal allein. Es hatte mir sogar Spaß gemacht, mich das erste Mal frei in der mentalen Welt zu bewegen und B.H. mittels eines Reisegeduldspiels durchzugehen. Über dem morschen Gatter war eine Tafel angebracht, auf der zu lesen stand »Park des Arbeiters« und darunter in kleinen Buchstaben: »Wer seinen Rücken berührt, wird eine Kraft davontragen, die von ihm ausgeht.«

Mir schien dieses Zitat nicht völlig unbekannt, dennoch aber nahm ich an, es entstamme einem späteren Autor, von dem ich nichts mehr wußte. Als ich jedoch ein paar Tage nach meiner Heimkehr zu uns ins zwanzigste Jahrhundert durch Zufall wieder die Evangelien zur Hand nahm, schlug ich beim ersten Anblättern das achte Kapitel Lukas auf, und mein Auge fiel auf die Stelle, wo die Blutflüssige die Quaste von Jesu Mantel berührt und geheilt wird. Ich las: »Da fragte Jesus: ›Wer hat mich berührt?‹ – Als alle es verneinten, sagten Petrus und seine Gefährten: ›Meister, die Scharen umdrängen und stoßen dich.‹ – Jesus aber entgegnete: ›Es hat mich jemand berührt, denn ich spürte, daß eine Kraft von mir ausgegangen ist.‹« Ich erwähne die Inschrift über der vermorschten Pforte des Arbeiters und die entsprechenden Worte in Lukas Acht, ohne ihren Zusammenhang zu verstehen. Es mag sein, daß die Aufschrift einen Hinweis auf das Evangelium enthielt, aber ebensogut konnte ich mich irren.

Das erste, was ich tat, als ich etwa zweihundert Schritte tief in den Park eingedrungen war und auf einer beblümten Wiese stand – ich warf mich der Länge nach ins Gras und sog den unaussprechlich bekannten Duft mit weitgeöffneten Nasenflügeln ein. Auf dem Rücken liegend wie so oft im alten Leben, blickte ich zum Himmel auf. Er war leer, öde und brennend. Er verstrahlte jene merkwürdig kalte Hitze, die mich schon hatte frösteln lassen, als ich, ein noch Unsichtbarer, dem B.H. auf eisengrauem Rasen begegnet war. Ja, es war der mentale Himmel. Doch es schien hier nicht mehr ganz die mentale Erde zu sein. Wohltätige Kräfte hatten sie mit diesem Frühlingsgrün überhaucht, mit diesen ziemlich langen Grashalmen, zwischen welchen, vielleicht ein wenig variiert aber doch erkennbar, die bekanntesten Blumensorten wuchsen, Anemonen, blaue Glocken, Dotterblumen, Löwenzahn, Rittersporn und so weiter. Als ich eine Weile mit dem Kopf auf der nackten Erde gelegen, erschrak ich ein wenig, denn ich fühlte deutlicher als je ihren Magnetismus, der mich verschlingen, einverleiben, einarbeiten wollte wie ein ungeheurer Kuhmagen. Mich durchzuckte ein Gedanke: War der Erdplanet während meiner Abwesenheit dichter geworden, und hatte sich seine Schwerkraft erhöht, oder war ich selbst weniger dicht und widerstandsloser als einst? Ich wollte keineswegs riskieren, aufgelöst zu werden und verloren zu gehen in der großen Verlorenheit, obwohl ich mich auf dieser heimatlichen Wiese weniger davor fürchtete als nachts im Gastzimmer des fremden, unterirdischen Hauses. Im Augenblick aber fühlte ich mich mehr neugierig und forschungslustig als ruhebedürftig. So setzte ich mich mit einem Ruck auf und ließ meine Blicke in die Runde schweifen.

Der Park des Arbeiters war gottlob keine Ebene wie die bewohnte Erde ringsum, die, wie man mir gesagt hatte, eine einzige Stadtsiedlung bildete. Er war ein angenehmes Hügelland. Durch das Tälchen zwischen den niedrigen Anhöhen schlich ein kleiner Bach, wobei das Wort Bach schon zu viel Ehre für diesen mäßigen Wasserlauf ist, an dessen Ufern das sonst allzu helle Grün etwas satter getönt war. Dort wuchsen auch unter Farnkräutern und allerlei Staudenzeug einige Bäume, die sich von den niedrigen lederblättrigen Laubstämmen der Hausbaumgruppen aufs traulichste unterschieden. Es waren durchweg schlanke, recht hochgewachsene Bäume mit rauchigem, zittrigem oder silbrigem Blätterwerk. Sie schienen Abkömmlinge oder Nachbildungen unsrer Birken, Silberpappeln, Espen und Erlen zu sein, feminine oder geisterhafte Baumarten, wie man sieht, die dem mentalen Landschaftsbild am ehesten entsprachen, in welches Eichen, Linden, Platanen oder gar urwaldhafte Riesenlärchen schlecht hineingepaßt hätten. Ich erkannte in der Auswahl dieser überlebenden Bäume eine zwingende Logik der Natur. Sie erquickten mich sehr, diese schlanken Nachkommen der Silberpappeln, Espen und Birken, und ich konnte mir nicht helfen, es sangen mir alte Verse im Gemüt:

»Fühl ich nicht das Herz der Birke,
Das ihr bis zum Halse pocht?
Welche Lieb im Lichtbezirke
Hat sie plötzlich übermocht?«

Es dauerte eine ganze Weile, bis es mir bewußt wurde, daß auch diese natürliche Natur unnatürlich war, und zwar auf eine sanft herausfordernde Art. Ich frage mich aber, gibt es für den Menschen überhaupt eine natürliche Natur? Gesetzt den Fall, der geduldige Leser und ich säßen augenblicklich nicht im Park des Arbeiters, und zwar im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau, sondern wir säßen zwischen Dreizehnhundert und Vierzehnhundert etwa, in den euganeischen Hügeln bei Padua: würde uns dann die Natur, die Giotto und seine Nachfolger als Hintergrundlandschaft auf ihren Fresken gemalt haben, nicht ebenso unnatürlich oder, milde ausgedrückt, stilisiert erscheinen? Die Wahrheit ist, es gibt gar keine natürliche Natur, denn die Natur trägt jederzeit das historische Kostüm, das ihr das menschliche Auge gibt. Wer im Jahre 1943 die Landschaftsbilder Renoirs und Pissaros oder der späteren Impressionisten betrachtet, der mag sich wohl darob verwundern, daß dreißig, vierzig Jahre vorher schwache Nerven vor diesen hochstilisierten Kompositionen Ohnmachtsanfälle bekamen, und zwar wegen des brutalen Naturalismus der Darstellung. Am tiefsten aber entpuppt sich dieses Geheimnis in der Tatsache, daß selbst die photographische Linse nicht objektiv ist, sondern daß die Bilder, die sie festhält, ebenso an den historischen Stil ihrer Epoche gebunden sind wie die Bilder der Maler. Es ist nicht leicht, für die Stilisierung der Parklandschaft des Arbeiters einen richtigen Vergleich zu finden. Am ehesten erinnerte sie mich noch an den matten Klassizismus der Empirezeit oder an die frühe Romantik, wo man Äolsharfen in die Weidenbäume hing, wo man allenthalben künstlich umgestürzter Säulen gewärtig sein mußte, wo der Dichter, wie es unterm kolorierten Stich in Rundschrift geschrieben stand, »Im Carlsbad« spazieren ging, und zwar in einer »idealen Landschaft«. Ich sah hinaus in diese magere ideale Frühlingslandschaft, deren mattes, rauchiges, zittriges Baum- und Buschgrün ich mit jedem meiner Atemzüge einzusaugen glaubte. Allzulange hatte ich's entbehrt. Ich dachte nichts. Ich träumte nichts. Meine Hände rauften mit wundervollen, hunderttausendjährigen Kindheitsgefühlen das Gras. Dann und wann führte ich einen langen Halm zum Mund und sog an seiner leisen Süßigkeit, die mich unendliche Zeitstrecken zurückführte. Beinahe hatte ich den Arbeiter und meine Neugierde schon vergessen, als ich an meinen beiden Beinen plötzlich von allen Seiten scharfe Stöße fühlte. Ich schrak zusammen, ehe ich noch wagte hinzuschauen. Als ich aber hinsah, da bot sich mir ein höchst absonderliches und unerwartetes Bild. In der Nacht hatte B.H. von »Capricornetten« gesprochen, die der Arbeiter für sich und seine Bevorzugten zu melken pflegte. Was anderes hätte man sich unter diesem Worte trotz des Diminutivums vorstellen sollen als Ziegen oder ziegenartige Geschöpfe mit strotzenden Eutern, wie sie uns bekannt sind? Ziegenartige Geschöpfe waren's ohne Zweifel, welche soeben die Wiese, auf der ich lagerte, zu Tausenden überschwemmten, obwohl man bei näherer Betrachtung ebensogut von einem Mittelding zwischen Gemsen und Steinböcken sprechen konnte. Aber nicht die Spezies war das Staunenswerte. In den vergangenen Erdepochen meiner Pause war nämlich das Ziegengeschlecht etwa zur Größe unsrer Eichhörnchen oder kleineren Kaninchen zusammengeschrumpft. Meine Beine umsprangen und umspielten demnach schöngeformte, sandfarben lebendige Spielzeuge von Steinböcken und Geißen, und zwar eine ganz unermeßliche Flut von Capricornetten, die mich beschnupperten, neugierig betasteten, sich mutwillig an mir rieben und mich mit Stößen ihres Miniaturgehörns bearbeiteten. Ich war in arger Bedrängnis, wenn nicht Hilfe kam. Schon sprang ich auf die Füße und dachte daran, B.H. innerlich anzurufen, zumal die energischen Tierchen, durch meine heftige Bewegung erregt, an mir emporsprangen und meine so ehrwürdige schwarze Hose mit ihren Hörnern aufzureißen begannen. Ich mußte mit wilden Tritten einen freien Raum um mich schaffen. Da ertönte ein nicht sehr lauter Ruf, die Ziegenbrandung fiel von mir sofort zurück, und ich war befreit.

Langsam kam ein Mann auf mich zu, derselbe, der den Ruf ausgestoßen hatte. Er war viel größer und viel plumper, als die mentalen Menschen zu sein pflegten. Zuerst dachte ich, es sei der Arbeiter in Person. Bald aber sah ich, daß der Mann keinen Vollbart trug, daß ihm hingegen die nackte Brust über und über mit braunem Haar bewachsen war, welches er nicht verbarg, wodurch er sich, ich weiß nicht ob geflissentlich oder durch eine Vorschrift, vom allgemeinen Standard der Glatthäutigkeit weit entfernte. Auch bemerkte ich an ihm keinerlei Schleierstoff, sondern einen unten zerfransten, lederartigen Schurz, der bis zu den Knien reichte. Auf dem Kopfe saß dem Mann ein kegelartiger breitkrempiger Filz, halb Steirerhut, halb Kulisombrero. In der Hand hielt er einen Knotenstock, der in der Zeit des Mentelobols nur symbolisch gemeint sein konnte, während ihm über die Schulter etwas Faltiges hing, das ebensogut ein Wasserschlauch wie ein Dudelsack hätte sein können. Die Flut der Capricornetten beruhigte sich bei seinem Anblick sofort und brach in ein allgemein begrüßendes Gemecker aus, das bis weit hinter der Kammlinie der Anhöhen verebbte, obwohl die Lautstärke dieses Gemeckers genau im Verhältnis zur eingeschrumpften Körpergröße des astromentalen Ziegengeschlechts stand. Es war also eher ein meckerndes Gepiepe, dem von der anderen Hügelseite her ein bäendes Gepiepe antwortete, denn dort weideten die sogenannten Ovetten, das überlebende Geschlecht der Lämmer, Schafe und Widder, denen es ebenso diminuierlich ergangen war wie hüben unsern Geißen und Steinböcklein. So begegneten mir in dieser modernsten aller Welten hier die beiden Sorten biblischer Tiere, Schafe und Böcke, welche die legale Situation der menschlichen Seele rechts und links vom Gerichtsthron am Jüngsten Tag sinnbildlich zum Ausdruck bringen. Die Pferde hingegen waren längst ausgestorben. Den Rindern, die es noch gab, begegnete ich nicht und kann deshalb nicht verraten, ob auch sie nur in verkürzter Ausgabe vorhanden waren.

Der Mann stand nun vor mir in seiner relativ plumpen, halbnackten Gestalt. Er hielt die Augen gesenkt, denn er schien scheu von Profession zu sein. Vermutlich einer der Oberhirten des Arbeiters, dachte ich.

»Sind Sie nach mir gesandt?« erkundigte ich mich und suchte nach irgendeinem Ausdruck der Liebenswürdigkeit.

»Ich hab's gewußt«, nickte der supponierte Hirte, »ich hab's gewußt.«

Und ein breites Lächeln ging in seinen Zügen auf, das ein Grinsen zu nennen ich mich scheue, denn es war verhüllt schmerzlich.

»Sie wissen also, wer ich bin?«

»Seigneur, unser lieber Besuch«, sagte der Mann.

»Wenn ich nicht irre, so betreuen Sie die Capricornetten da, diese niedlichen aber ungezogenen Biester, die mir meine einzige Hose fast zerrissen haben. Sind Sie vielleicht Tierspezialist?«

Ich wollte nicht »Hirte« sagen, ein Wort, das allzusehr den Anfängen der Menschheit angehörte und ihn vielleicht beleidigt hätte. Der Plumpe schüttelte eine Weile lang den Kopf, dann ließ er ihn traurig auf die Brust sinken und antwortete leise: »Nein, ich bin kein Spezialist. Ich bin der Einfältige dieses Zeitalters.«

»Der Einfältige dieses Zeitalters?« wiederholte ich erstaunt, denn der Mann sah mich jetzt mit tiefen und wissenden Augen an, die keineswegs dümmer waren als etwa die Augen des Bräutigams Io-Do oder seines Vaters, des lieben Herrn Io-Solip.

»Hat Ihr Titel irgendeine amtliche Bedeutung?« fragte ich höflich.

»Ich bin einfältig«, erwiderte er offen und wehmütig, als zeige er eine Wunde. »Mein Kopf taugt nicht zum Lernen.«

Selbstverständlich hätte ich jetzt schweigen sollen und ihn zu keiner weiteren Entblößung zwingen. Da ich aber in diesem Mann gleichsam auf den berufenen Kretin der mentalen Welt gestoßen war, wollte ich seine Grenzen kennen lernen und riskierte zugunsten meiner Forscherpflicht eine Rücksichtslosigkeit.

»Wie weit haben Sie es denn im Lernen gebracht?« fragte ich daher.

»Nur zum binomischen Lehrsatz und zur Integral- und Differentialrechnung und gar nicht weiter«, entgegnete er mit erstickter Stimme und wies dabei auf seinen Blähhals.

»Für uns wäre das allerlei gewesen«, meinte ich, sehr betroffen, »und die meisten von uns hätten stolz sein können ...«

Er sah mich ungläubig an:

»Das ist doch alles Kindergartenstoff«, seufzte er und fügte hinzu: »Das wäre noch lange nicht das schlimmste: die Kommission aber hat entschieden, daß ich zu wenig hypothetische Konditionalsätze im Gebrauch habe.«

Es klang, wie wenn ein Patient sagt: »Zu wenig rote Blutkörperchen.«

»Was sind das: hypothetische Konditionalsätze?« fragte ich, nun selbst ganz und gar verstört.

Der Capricornettenhirte zog die Stirne kraus vor wilder Denkanstrengung. Dann, nach einer Weile, stieß er stotternd hervor: »Wenn der Einfältige dieses Zeitalters nicht so einfältig wäre, könnte auch er heute mit einer von den Bräuten tanzen!«

Ja, das war ein hypothetischer Konditionalsatz ganz und gar und ein lyrischer Ausbruch dazu, der Schweigen gebot. Ich winkte dem Einfältigen, voranzugehen, um mir den Weg zu weisen. Er setzte sich in Bewegung. Ich blieb ihm dicht auf den Fersen, denn die Capricornetten schienen mir noch immer nicht wohlgesinnt zu sein. Wo sie mir einen böckischen Schabernack spielen konnten, die Kleinen, taten sie's. Einmal wäre ich fast hingestürzt. Da setzte der Einfältige des Zeitalters seinen Lederschlauch an den Mund. Ich glaubte, er trinke, denn es kam kein Dudelsackton zustande. Alles blieb still. Die bösen Tiere aber fielen in Reih und Glied und nickten mit Hornköpfchen und Ziegenbärtchen rhythmisch ihres Weges dahin. Was nämlich mentale Musik war, das hatte ich noch nicht erfahren.

Der Arbeiter, vor dem ich nun im grünsten Grün stand, war ein wirklicher Riese und wie nicht von dieser Zeit. Er maß nicht viel weniger als sieben Fuß, hatte aber in seiner strahlenden Hochgewachsenheit nichts mit den armseligen Riesen zu tun, denen man in den Großstädten der fernsten Vergangenheit dann und wann als Portiers vor Kinos, Varietétheatern und Schaubuden begegnete. Diese übernormalen Staturen waren ja zumeist nur die Folgen einer krankhaften Zirbeldrüse, und sie sahen in ihrem tölpischen Riesenwuchs so traurig und unharmonisch aus, als hätte ihnen die Garderobenfrau der Natur auf die richtige Nummer einen falschen Körper herausgegeben, und sie hätten's zu spät bemerkt.

Nicht also der Arbeiter: Seine sieben Fuß waren echt und gesund und grundlustig. Die Ursache seiner strotzenden Wohlgediehenheit war sein überaus hygienisches Metier, der Umgang mit dem geheimnisvollen Besprengungssystem, auf welchem die Ökonomie des mentalen Zeitalters beruhte. Alles in der Nähe dieses Systems war grün, war Park, schoß ins Kraut, bekam Mark in die Knochen. Daß es den Capricornetten und Ovetten nicht so erging und sie zwergicht blieben, das war durchaus kein Widerspruch und hatte seine eigenen entwicklungsgeschichtlichen Gründe. Andere Tiere hingegen, vor allem die typischste Gattung des mentalen Tierreichs, die Insekten, hatten an Körpergröße erschreckend zugenommen. Ich spreche hier nicht von den Schmetterlingen, Nachtfaltern, riesigen Silbermotten und libellenähnlichen Doppeldeckern, welche die Singvögel in den uns wohlbekannten Hausgärten ersetzten, ich spreche hier von den Bienen im Park des Arbeiters. Sie hatten die Größe von Kolibris, und man erzählte mir, daß sie nicht nur die Wiesenblüten des Tälchens und der Hügel umschwärmten, sondern auch sonst aus den Wachszieher- und Zuckerbäckerblumen der Umgebung die darin vorhandene schale Süßigkeit sögen und zögen, um daraus ihren Honig zu bereiten. Der Mensch freilich verwendete diesen Honig nicht. Die Kinder im Park des Arbeiters hatten keine Furcht vor diesen stachellosen Riesenbienen, sondern wiesen mit begeisterten Fingern auf sie und nannten sie in einem althellenisch-, schwyzerdütsch- und zullerwelschen Sprachgemisch »Melisseli, dada, Melisseli«! Es ist heraus: der Arbeiter war demnach von Kindern umgeben. Es waren zumeist ganz kleine Kinder, doch wohl Hunderte an Zahl. Und man fuhr sie in regelrechten Kinderwagen, welche die einzigen Rädergefährte waren, die alles überdauert hatten, ähnlich, aber weit sinnvoller als das Billard. Ich kann gar nicht sagen, welch tiefe Dankbarkeit ich im Herzen fühlte, welch empfindsame Genugtuung, als ich die Auffahrt von so vielen Kinderwagen sah, die sich in Kreisen und Schlingen um den Arbeiter bewegten. Die jungen Mütter schoben sie über den kurzgetretenen hellgrünen Rasen, und ein liebliches Stimmengewirr aus Singsang, Geplärr, Trotzgebrüll, Zorngezeter, hartnäckigem Wunschflennen, Plappern, Lallen und weiblichen Straf- und Trostreden stieg zum Himmel. Der Arbeiter, der wirklich ganz genau so aussah, wie ich ihn mir bei seiner ersten Erwähnung vorgestellt hatte, schien die Rolle eines biologischen Helios zu spielen, eines Sonnengottes im Overall, von dem Gesundheit, Körperkraft, Wohlgeratenheit unabwendbar auf die Umgebung sich verbreitete. Alles umdrängte ihn, alles wollte ihn berühren, uneingedenk der feinen mentalen Sitte, die jede körperliche Betastung verpönte. Er trug wirklich einen kurzen, braunblonden Vollbart, in dem schon einige weiße Fäden schimmerten. Sein herzensgutes, etwas zu volles Gesicht war überaus sonnverbrannt und windgegerbt, als wäre er ein Schiffer oder Fischer, ein Meerarbeiter und kein Landarbeiter. In den Runzeln und Krähenfüßen um seine Augen – sie zeigten dasselbe Zyanenblau wie Lalas Augen – versteckte sich Scherz und Gelächter. Das Lachen im Arbeiter benützte auch jede Gelegenheit, um auszubrechen. Es war aber niemals ein Lachen, das eine witzige Spannung löste, sondern nichts als das schallende Insiegel körperlichen Überwohlbehagens und seelischen Gleichgewichts ohne Muster. War der Major Domus Mundi der Inbegriff zarter und schwermütiger Selenität, so der Arbeiter der Inbegriff macht- und gütevoller Solarität. Bei seinem Anblick erkannte ich, daß die astromentale Verfassung außerordentlich weise handelte, wenn sie dem sanften Nachtmenschen das Herrschen und Walten, dem strotzenden Tagmenschen aber das Wirken und Haushalten überließ, obwohl sie durch diese Verteilung die alte Natur der Dinge verkehrte. Beide aber, der Tag- und der Nachtmensch, der Arbeiter und der Welthausmeier, überragten weit das gegenwärtige Menschenmaß, der eine körperlich, der andere seelisch. Beide aber bildeten die Pole der Achse, die durch das Zeitalter lief. Dabei hatte der Arbeiter die Art und Weise nicht verloren, die sein Name ausdrückte. Er war zwar jovial und herablassend, wie es seinem Riesenwuchs entsprach, der ihn zwang, sich zu allem und jedem niederzubeugen. Er war aber nicht jovial im Sinne eines Fürsten oder Befehlshabers, sondern jovial wie ein älterer Werkmeister, Lokomotivführer und Obersteiger, kurz wie ein avancierter Proletarier der fernsten Vergangenheit, der am Sonntag nicht anders gekleidet ging als der Industrielle, sein Brotgeber, vor dem er aber dennoch tief den Hut ziehend zur Seite trat, wenn er ihm begegnete. Der Arbeiter war zweifellos ein Übermensch, und es gelang ihm doch, mit jeder Gebärde auszudrücken, daß er von unten kam und es wußte.

Der Einfältige mit seinen Capricornetten hatte mich allein gelassen. Ich stand nun mitten unter den Kinderwagen, Babies und jungen Müttern, die den Arbeiter umdrängten, und schämte mich. Wie sollte ich den Riesen auf meine Person aufmerksam machen? Ich hörte seine mächtige Stimme, die das zackige Auf und Ab des weiblichen Geklatsches in einem löwenhaft gelben C-Dur überlachte. Was ich vorhin seinen Overall genannt habe, war eher eine weite blaue Schürze, die er um den Leib gebunden trug, wie bei uns Schuster und Tischler. Ich rechnete damit, daß die auffallende Figur, die ich im schwarzen Abendanzug machte, den Schreck einer oder der andern Frau verursachen würde. Aber die Frauen waren so sehr in den heilsamen Anblick des Arbeiters versunken, daß er selbst früher von meiner Anwesenheit Wind bekam als sie.

Plötzlich machte er eine große Geste mit dem rechten Arm über die goldenen Köpfe der jungen Mütter hinweg und winkte mich heran: »Er kommt, er kommt!« rief er schallend. »Ich hab ihn schon erwartet. Behutsam! Er ist nicht wie ihr geartet.«

Das war zweifellos ein Verslein, mit welchem er mich der guten Behandlung der Weibchen und Kinder anempfahl, die nach ein paar betroffenen Ausrufen, ein wenig Babygeplärr und dem wortreichen Einspruch mehrerer ängstlicher Hunde, die mit dabei waren, still wurden und mich groß angafften. Daß der Arbeiter manchmal ins Reimereden verfiel, entsprach nur der gesteigerten Lebensfreude, welche ihn besonders in den Morgenstunden erfüllte, und die sich nicht nur in primitiven Poesien, sondern auch in komischen Sprichwörtern, Silbenverdrehungen und Lautspielen Luft machte. Ich aber, während ich nun auf Zehenspitzen neben ihn trat, fühlte mich neben seiner ragenden Höhe widerwärtig klein, neben seiner dröhnenden Gesundheit unaussprechlich hinfällig und schlapp. Nie während meiner Anwesenheit in der mentalen Welt bin ich mir heilloser als eine schlechte, halbgelungene, viertelgare Materialisation vorgekommen als in diesem Augenblick, da ich neben den Arbeiter trat. Er aber, dessen lachende Blauaugen für den Bruchteil einer Sekunde aufmerksam ernst wurden, schien mitzufühlen und mitzuwissen, was in mir vorging. Er umfaßte mich mit seinem gewaltigen linken Arm und drückte leicht meinen Kopf an seine Brust. Dabei sprach er leise zu mir, oder besser, er brummte was Goldenes, und es waren wiederum Verse:

»Ruhig sinnen, ruhig Atem holen! Du hast ja deinem Schöpfer nichts gestohlen. Rote Sonne ist dein Blut vom Scheitel zu den Sohlen. Das Herz soll siebzigmal in der Minute schlagen. Dein Ich sei Kind, dein Leib sei Kinderwagen. Das Zwerchfell einwärts pressen, das ist falsch und schlecht. Denn des Lebens Morgenjubel sitzt im Sonnengeflecht.«

Wie man hört, er duzte mich, nicht nur wenn er in Versen sprach. Sein goldenes Löwengebrumm war wundersam hypnotisch. Ich spürte sofort, wie der körperliche Krampf nachließ, in den ich durch meine Erregbarkeit so leicht verfiel. Nach wenigen Atemzügen schon fühlte ich mich brillant; wenn es in meinem Fall nicht absurd wäre, würde ich sagen, ich fühlte mich neugeboren, ich fühlte mich mit einer andern, unaussprechlich behaglicheren Konstitution neugeboren. Meine Nerven quälten mich nicht mehr dadurch, daß sie in wechselnden Emotionsschauern die Blutgefäße übermäßig ausdehnten und zusammenzogen. Meinen Kopf an die gewaltig und ruhig atmende Brust des Arbeiters gelehnt, seine bräunlich rote Riesenhand um meine Hüfte, genoß ich plötzlich eine Ausgeglichenheit meines Wesens, die mir nie vorher zuteil geworden war. In mich kehrten ein die längst vergessenen Wonnezustände der Kindheit, da man sich im Grase wälzte oder durch die Beine hindurch in den Himmel guckte. Das irdische Behagen in mir war so übermächtig, daß ich kaum bemerkte, daß wir schon seit einer ganzen Weile vorwärtsschritten und den Spielrasen mit all den Babies, Kinderwagen und jungen Müttern hinter uns gelassen hatten.

»Sie sind also der Arbeiter«, sagte ich, um etwas zu sagen, und schmiegte mich fest an seine kraftverstrahlende Persönlichkeit.

»Der Arbeiter arbeitet spät und früh«, reimte er zur Erwiderung, »doch nur schlechte Arbeit spannt an und macht Müh.«

»Ja, wenn man so groß und so stark ist«, schwärmte ich, »da macht nichts Mühe.«

»Ich bin gar nicht so groß und so stark«, verfiel der Arbeiter jetzt in Prosa, »da solltest du erst meine Söhne kennen. Die sind viel größer und stärker und stärker und größer.«

»Wie das«, fragte ich. »Sie, als ein mentaler Weltbeamter, haben Söhne?«

»Jawohl, zweiundzwanzig Söhne, volle und ganze und ganze und volle zweiundzwanzig«, sagte er, »die hab ich. Und die zweiundzwanzig haben zweihundertzweiundvierzig Söhne, volle und ganze und ganze und volle. Und die zweihundertzweiundvierzig, die haben, warte einmal, die haben ganze und volle eintausenddreihundertundzehn Söhne, die mir Urenkel sind ...«

»Und alle Ihre Söhne«, wagte ich ihn weiter auszuforschen, »und Ihre Enkel und Urenkel, alle sind sie Arbeiter, wie Sie es selbst sind?«

»Wir alle miteinander sind der Arbeiter«, erklärte der Arbeiter kurz.

Ich verstand. Der Arbeiter war genau die Umkehrung dessen, was die Grammatiker ein »Pluraletantum« nennen, sie waren eine Mehrzahl, die sprachlich nur in der Einzahl auftritt. Ähnlich mochte es um den Fremdenführer oder den Einfältigen des Zeitalters bestellt sein. Der Arbeiter hier, an dessen Brust ich friedlich lehnte, war das Haupt eines Stammes, in welchem sich körperliche und geistige Kräfte und Tugenden durch Zuchtwahl fortpflanzten, die diesen Stamm oder Clan zu gewissen allgemeinen Diensten befähigten, welche der mentale Durchschnittsmensch nicht mehr zu leisten imstande war. Ich hätte den Arbeiter gerne gefragt, wieviel von seinen Söhnen, Enkeln und Urenkeln betreute Parkanlagen es auf dem Planeten gebe, wie diese hier unter unsern Füßen. Da er aber im »Morgenjubel seines Sonnengeflechts« laut vor sich hin sang, wagte ich's nicht. Ich konnte aber immerhin als gesichertes Forschungsergebnis verzeichnen, daß die fernste Zukunft gewisse Berufungen und Berufe nicht nur an Kasten, sondern an eigene Clans und Stämme mit bestimmten hochgezüchteten organischen, ja fast magischen Merkmalen band. Auch schien den Frauen des Arbeiters trotz der Verseltenung und Verlängerung der Schwangerschaft eine beständige Fruchtbarkeit zuteilgeworden zu sein, die sie von der übrigen Menschheit ausnahm, ohne sie herabzusetzen. In dem Kinderreichtum hatte sich übrigens ebenfalls ein proletarisches und bäurisches Element der Frühzeit erhalten. Im Arbeiter stießen Elemente der Urtümlichkeit mit Elementen einer sonnenhaften Höherentwicklung aufs natürlichste zusammen.

So erstaunlich war das Weltbehagen, das durch die körperliche Berührung dieses Riesen meine Adern durchwallte, daß ich einen kleinen Schmerzensschrei ausstieß, als er sich von mir löste, um eine neue Gatterpforte zu öffnen, über welcher die wurmstichige Holztafel vermeldete: »Tal der Kräfte und der Quellen.« Wir betraten eine weite Mulde, deren hoher, blumendurchwirkter Graswuchs beinahe malachitgrün war. Diese Mulde ging freilich, ganz anders als die Waagschale des Geodroms, ziemlich in die Tiefe, und ich vermute, daß die Malachitfarbe des Grases nicht allein von der exaltierten Fruchtbarkeit herrührte, sondern dem merkwürdigen Tageslicht hier unten entsprach. Je tiefer wir nämlich in die Mulde gelangten, um so blasser und schattiger wurde der Himmel, bis sich trotz des hohen Sonnenstandes der weiße Hauch des Viertelmondes samt einigen Sternen entschleierte. Wenn man den ewig brennenden, trockenen Himmel des Zeitalters in Betracht zieht, war dieses Tal der Kräfte und Quellen der angenehmste Aufenthalt im Freien, welchen die mentale Natur zu bieten schien.

»Und hier haben wir schon die erste Quelle«, hörte ich mich mit einer mir selbst völlig unbekannten knabenhaften Stimme ausrufen, und es würde mich gar nicht gewundert haben, wenn ich anstatt meines alten Fracks einen meiner noch weit älteren Matrosenschulanzüge am Leibe getragen hätte und kurze Hosen und Socken dazu. Es war auch in meinen Beinen ein stetiger Wunsch zu hüpfen, dem ich dann und wann nachgab, ohne an meine Würde zu denken. Was nicht nur ich, sondern jeder meinesgleichen für eine Quelle, ja für einen Heilsprudel in einem Badeort gehalten hätte, war nichts als eine schöne, große Alabasterschale auf einer schmalen glasartigen Säule über einem steinernen Postament, die mir bis zur Brusthöhe reichte. Ich trat eiligst hinzu, um die Schale näher zu betrachten, wunderte mich aber sehr, daß sie innen ganz glatt war und weder einen Einfluß für das Wasser noch einen Ausfluß besaß.

»Bitte, können Sie die Quelle nicht springen lassen, Herr Arbeiter«, hörte ich meine erregte Knabenstimme fragen.

»Junge, du bist mir ganz verschroben«, reimte der Blaugeschürzte frischweg, »von unten kommt's hier nicht, es kommt von oben.«

Die Vorstellung einer Heilquelle, eines wohlgefaßten Sprudels, wie ich ihn so oft gesehen hatte, war dermaßen stark in mir, daß ich den Riesen gar nicht verstand, sondern mich über die leichte und platte Art des kecken Gereimsels zu ärgern begann. Es war doch die Nachtischpoesie eines dummen Kerls, wenn dieser dumme Kerl auch über die Wunderkräfte und tiefen Naturinstinkte eines heidnischen Halbgottes verfügte.

Inzwischen war der Arbeiter zur Quelle gegangen, hatte mit einer gewissen Feierlichkeit seine Arme entblößt und begann nun über der Schale seine nervichten Tatzen zu reiben, erst behutsam, dann immer kräftiger und schließlich wie ein Chirurg, der sich mit großer Ausführlichkeit die Hände wäscht. Und während er sich so in dem durch die Tiefe der Mulde gedämpften Tageslicht ohne Wasser wusch und wusch, begannen seine gewaltigen Hände plötzlich zu phosphoreszieren und darauf in einem stetigen Geisterlichte aufzuleuchten, und als er sie endlich hochhob, da wich das Geisterlicht nicht von ihnen, sondern verdämmerte als ein schwacher, grünlicher Strahl gen Himmel.

»Bitte, ich auch, ich auch«, jauchzte meine Knabenstimme, aber mein unverändert alter Geist verstand: dies ist keine planetare Quelle, sondern eine stellare, die nicht von unten geschöpft, sondern von oben herabgeleitet wird, um den Menschen zu dienen. Der Mensch hatte seine Industrie in den Weltraum verlegt und die Befriedigung seiner Notdurft den Sternkräften in Akkordarbeit gegeben. Und auch dies hatte er nur in Verwirklichung einer seiner primordialen Erkenntnisse getan, die schon in Keilschrift eingegraben steht in der berühmten sumerischen Stelle von Ba-bel-Nazdr: »Alles was unten ist, ist auch oben.« Dieser Satz verkündete bereits Assyrern und Babyloniern die Einheit der kosmischen Materie und forderte sie auf, in den Himmel zu greifen, um sich zu nähren. So war die herrliche und freche Idee der astralen Konfektion der Menschheit schon in die Wiege gelegt. Während all diese Gedanken meinen Sinn durchdrangen, hatte der Arbeiter meine Hände ergriffen und mir gezeigt, wie man sie kundig reibt und im sideralen Strahl wäscht. Es war gar nicht so leicht wie es aussah, denn das Geisterlicht wurde immer schwerer und schwerer, und es schien, als würden die reibenden Hände das Gewicht des Sternes zu tragen haben. Als ich vor dieser Schwere meine Hände schon sinken lassen wollte, befahl der Arbeiter plötzlich:

»Schließ deine Fäuste, rasch!«

Ich schloß die Fäuste krampfhaft, konnte sie aber nicht ganz zubringen, denn von innen her drängte eine Kraft und öffnete unwiderstehlich den geschlossenen Griff der Finger. Als ich endlich auf meine beiden offenen Handflächen blickte, da lag auf jeder ein Paar weißer winziger Babyschuhe. Diesen reizenden Massenartikel hatte ich dem Sternstrahl entwunden. Hochauf lachte der Arbeiter, und auch ich lachte und lachte. Ich fragte nicht weiter nach dem Wie und Was, ich fragte nicht, ob der »Scharf eingestellte Wunsch« oder etwas anderes genüge, um auf einem der dazu bestimmten Gestirne die richtigen Atome zusammenschießen zu lassen, die zur Fabrikation von Babyschuhen nötig sind. Ich fragte nicht, durch welche entscheidende Kraft diese Atome losgerissen werden, und wo sie sich im kalten Weltraum auf ihrem Strahlenweg zum gewünschten Artikel konstituieren. Seien wir aufrichtig miteinander: verstand ich denn etwas vom Eisenbetonbau und von Geheimnissen der chemischen Industrie? Verstand ich etwa mehr von der Konstruktion eines Radios, von den langen und kurzen Wellen, die es aus der Atmosphäre ins Kästchen fängt und als sonore Wahlreden, Reklamerufe, Jazzgeräusche und erhabene Symphoniesätze ins menschliche Gehör bohrt? Nein, ich verstand vom Radio ebensowenig wie von der Fabrikation reizender Babyschuhe durch stellare Strahlen. Da ich schon vor mehr als hunderttausend Jahren mich entschlossen hatte, die Existenz des Radios sowie des gesamten technischen Fortschritts mit arroganter Verständnislosigkeit als gegeben hinzunehmen, warum sollte ich mich jetzt bemühen, die mathematischen, astrophysikalischen, ondologischen und andern Voraussetzungen der mentalen Gütererzeugung mir wissenschaftlich deuten zu lassen und damit kostbare Zeit zu vertun. Vielleicht habe ich als Journalist und Reiseberichterstatter unverantwortlich gehandelt, da ich bei einiger Anstrengung imstande gewesen wäre, nach meiner Heimkehr einiges von den unbekannten Prinzipien der astralen Konfektion mitzuteilen und damit den steinigen Weg der Menschheit zur Überwindung der Materie etwas abzukürzen. Erstens aber bin ich kein utilitaristischer Weltbeglücker und glaube nicht an Abkürzung eines Weges, der nach menschlichem Erlebnismaß unendlich ist. Zweitens bin ich selbst ein Einfältiger meines Zeitalters gewesen und habe es, anders als der Capricornettenhirte, nicht einmal zum Differentialkalkül gebracht. Drittens aber glaube ich nicht, daß der Arbeiter mir die Entstehung der Babyschuhe hätte zureichend erklären können. Er war ja nur Arbeiter, der Wundermann des Handgriffs, doch kein Erfinder und nicht einmal Ingenieur. Noch immer lachte er über meine Verwunderung, daß es seine Riesengestalt schüttelte, und auch ich lachte ein grundgesundes Lachen.

Natürlich blieb's nicht bei den Babyschuhen. Wir gingen von Quellschale zu Quellschale, und deren war kein Ende. Im Prinzip aber blieb's immer wieder dasselbe, ob wir durch Händereiben größere oder kleinere Gebrauchsartikel aus mattgrünlichen, bläulichen, rosa oder lila Strahlen zogen, die sich plötzlich zwischen der Schale und dem matten Brunnenhimmel geisterhaft offenbarten. Die Kolorierung der Strahlen war natürlich Menschenwerk, da diese selbst weit jenseits der infraroten und ultravioletten Spektralskala lagen. Manchmal veranstaltete der Arbeiter dadurch, daß er verborgene Spiegel sich drehen ließ, Strahlenspiele einer ungeheuren Fontaine Lumineuse. Hoch sprangen die mattkolorierten Geisterlinien, vereinigten sich miteinander, bildeten Rundbögen und Spitzbögen, und wir sahen, wie sie weit über das Land zu versprühen schienen. (Ich nahm an, daß im selben Augenblick in die unzähligen Hausinseln der Panopolis durch die Dachgärten den Bewohnern alles Nötige in Schränke und Krüge sickerte.) Hie und da fuhr der Vollbärtige schnell mit der Hand durch einen Strahl und leckte daraufhin aufmerksam seine Finger ab. Vermutlich kostete er dann von einem der Süppchen, die für die Menschen zubereitet wurden, für die bessern sogar nach privaten Kochrezepten; oder er zog wie ein Prestidigitateur aus einem andern Strahl ein batistartiges Gewebe, und er prüfte es zwischen seinen Fingern wie ein guter Werkmeister die Rohware prüft, ehe er's zur Seite warf. Ja, sein Name war zutreffend. Er war der Arbeiter durch und durch. Zuletzt, als alle Quellschalen in Betrieb zu sein und zusammenzuwirken schienen, grunzte er vor Befriedigung, setzte sich ins Gras und zog mich zu sich nieder. Ich konnte meine Augen von dem unsagbar herrlichen Schauspiel der arbeitenden Sternstrahlen mitten im Tageslicht nicht abwenden. Er aber holte aus seiner Schürzentasche ein altmodisches Frühstückspaket hervor. Raschelnd öffnete er's, und ich sah zu meinem Erstaunen, daß es ein großes Stück Ziegenkäse enthielt. Der Arbeiter nährte sich demnach von den unteren und nicht von den oberen Kräften, wie seine Kundschaft. Das gab mir zu denken. Er, der mit den Sternenstrahlen intimer umging als jeder andere, war tiefer im Planeten verwurzelt als seine mentalen Mitmenschen. Jetzt brach er den Capricornettenkäse mitten durch und reichte mir eine tüchtige Hälfte. Ich biß mit Wonne hinein und begann leidenschaftlich zu schmausen, denn auch ich, der ich ja noch ein unterer Mensch war, hatte die feste Nahrung von unten schon allzulange entbehrt. Als wir eine Weile schweigend gekaut hatten, schlug der Arbeiter lässig aufs Gras. Alsogleich sprangen zwei dünne Wasserstrahlen hoch. Ich mußte nur den offenen Mund hinhalten, um das köstlichst eisige Bergwasser zu trinken, das ich seit den Bergwanderungen meiner Jugend genossen hatte. Ziegenkäse und Quellwasser, das war der erste von den drei bedeutsamen Imbissen, mit denen ich am heutigen Vormittage bewirtet werden sollte.

Es soll nicht der falsche Anschein erweckt werden, als würde der Mensch, dieser hochstaplerischste aller Mikroorganismen, sich zur Zeit einzig und allein von den himmlischen Strahlen nähren und bekleiden lassen. Den nach Raum- und Zeitmaß sinnlich unfaßbaren Weltraum als Kolonie des winzigen Sonnenvasallen Erde anzusehen, das hieße in die gegensätzliche Absurdität verfallen und die delikate geozentrische Doktrin vom »unendlich verschiebbaren Mittelpunkt aller erdenklichen Umläufe« lügnerisch zu simplifizieren. Die Erde war noch immer der hauptsächlichste Ursprung aller Rohstoffe, von denen der Mensch lebte. Die himmlischen Kräfte ersetzten nur, was die Werkzeuge und Maschinen der primitiven Erdalter geleistet hatten, indem sie den menschlichen Körper und die menschliche Zeit völlig vom Kraftverbrauch und Energieverlust durch Arbeit befreiten. Die tiefe malachitgrüne Mulde, in der ich jetzt neben dem Arbeiter lag, den schmackhaften Capricornettenkäse verzehrend, war gewiß nicht das einzige Tal der Quellen und Kräfte auf Erden. Es mußte deren eine große Anzahl geben, und zwar auch solche, die nicht nur die Quellen von oben herableiteten, sondern auch die Kräfte von unten einfingen, in weisen Vorrichtungen. Gleichviel, ich machte mir wenig Gedanken über all das. Das unbeschreiblich existentielle Behagen, das dieser Ort dem menschlichen Körper und dem menschlichen Bewußtsein mitteilte, war viel zu allumfassend, um die Mühe irgendeiner Denktätigkeit zu dulden. (Der Strom der Gedanken nämlich wird, wie alles Fließen, stets von einer Diskrepanz verursacht, einem gestörten Gleichgewicht, einem unebenen Gefälle des Seins. Denken ist der Krankheitsprozeß, der einen dekompensierten Zustand wieder in den kompensierten Zustand zurückführen will, welchen wir irrtümlich Gesundheit nennen, obwohl die letztere nichts anderes ist als die keuchende Bewegungslosigkeit zweier ineinander verschlungener Ringer, deren Kräfte sich in erstarrter Balance festhalten.) Ich dachte also nicht an Denken, ich überließ mich dem paradiesischen Wiegenlied der Quellen und Kräfte ringsumher, das mich einlullte.

Als ich aber so vor mich hin blinzelte, gewahrte ich plötzlich eine stets anwachsende Schar von jungen Männern, die sich rechts oben auf der Kammlinie der Einsenkung silhouettenhaft gegen den hellen Himmel versammelten. Diese jungen Männer schienen großen Staat gemacht zu haben. Ihre goldenen Kopfaufsätze waren festlich höher als die gewöhnlichen. Sonst waren sie nur mit jener verwischten Nacktheit bekleidet, die eine optische Spezialität der Zeit war, und die man wirklich trug wie ein Gewand. Ihre Oberkörper leuchteten bronzefarben und athletisch dort oben in der Sonne.

»Das sind die Stutzer, die Nichtsnutzer«, grollte der Arbeiter.

Er hatte sein Mahl beendet, faltete das Papier mit mißbilligendem Rascheln zusammen und steckte es in seine blaue Schürzentasche als ein übertriebenes Zeichen wirtschaftlichen Haushaltertums.

»Welche Stutzer?« fragte ich verwundert.

Er aber bleckte seine prachtvollen, etwas gelblichen Zähne: »Die Gigerl, die Gecken, ich kann sie nicht schmecken.«

Als ich ihn aufmerksam anschaute, begann der Arbeiter mit goldenem Löwengebrumm die Worte, Silben und Laute zu verdrehen:

»Die Stutzer, die Gecken. Die Stetzer, die gucken. Die Getzer, die stucken. Die Stucker, die getzen ...«

Das goldene Löwengebrumm wurde onomatopoetisch und immer sinnloser, das heißt, vielleicht redete der Arbeiter einen Argot der Monolingua, den ich nicht verstand. Man wird über die Neigung des Werkmannes zum Reimseln, Lautverdrehen und Silbenwenden ebenso verwundert sein, wie ich es war. Ich hatte solches zu alter Zeit eher an Musikern beobachtet als an Maschinisten und Installateuren. Man denke doch an die Briefe Mozarts, die voll von »blödelnden« Lautspielereien sind. Der Geist des Musikers kombiniert und variiert alles, er setzt es zusammen und nimmt's auseinander, als wären es Noten; das ist die Geistesform der Komposition. Mozarts alberne Wortverdrehungen sind weniger Ausbrüche des Humors als Musikstücke in anderem Material: Thema mit Variationen. Des Arbeiters Sprachwitze hingegen waren, wie wir schon wissen, der Ausdruck eines unermeßlichen Wohlbefindens, das selbst in Zorn und Ärger nicht geringer wurde. Wie sehr der flüchtige Umgang, ja nur die Nähe der Kräfte und Quellen dem Gesundheitsgefühl dienten, das erfuhr mein eigener Körper, der, wie ich ja stets argwöhnen mußte, die blasse Kopie meines eigenen Körpers war. Um wieviel mehr mußte dieser Riesenkerl aus erster Hand hier, dieser Arbeitsmann, in seinem ständig beruflichen Umgang von jenen Kräften und Quellen profitieren.

Er hatte noch nicht zu Ende gebrummt, als auf der andern Höhenlinie der Mulde, die den Stutzern, Nichtsnutzern, Gigerln und Gecken gegenüberlag, eine rhythmisch hold bewegte Mauer von taubengrauem Gewoge auftauchte. Es war so schön, daß ich auf meine Füße sprang:

»Dort«, rief ich aus, »ich sehe schlecht. Aber der Teufel soll mich holen, wenn das nicht junge Mädchen sind.«

»Setz dich, Junge«, befahl der Arbeiter, mühelos reimend wie immer, »heut ist doch heute. Und heut ist der Freitanz der hundert Bräute.«

Jede weitere Erklärung war überflüssig. Trotz meiner dubiosen Lebensform war ich keineswegs so vernagelt, um nicht sofort zu begreifen, daß die hundert Vorzugsbräute der Stadt, des Landes, der Grafschaft, oder wie immer die Verwaltungseinheit »California« heute betitelt war, sich im »Park des Arbeiters« und im »Tal der Kräfte und Quellen« feierlich einfanden, um am Vortage ihrer ehelichen Verbindung die heilsamen Segnungen und Triebkräfte auf sich herabzulenken, welche die sternblasse Himmelshöhe und der malachitgrüne Planetengrund dieser Mulde verströmten. Mochte es sich aber um eine wirkliche Segnung oder nur um eine sinnbildliche Zeremonie handeln, ich verstand sie genau. Ganz und gar nicht hingegen verstand ich die Anwesenheit der Stutzer, Gigerl und Gecken, die vielleicht nur die Mißgunst des Arbeiters so herabsetzend benannt hatte, und die vermutlich grundanständige Jünglinge waren, wer weiß? Sie strömten indessen die Anhöhen herab und stellten sich nahe vom Arbeiter und mir in einem Halbkreis erwartungsvoll auf. »Was wollen diese Herren«, fragte ich, »und wozu haben sie sich versammelt?«

»Freitanz und Damenwahl«, knurrte der Arbeiter, und ich fühlte, daß er trotz der sublimen Monogamie des mentalen Zeitalters auf jede Frau, auf jedes junge Mädchen und vorzüglich auf jede Braut eifersüchtig war. Bei seiner gewaltigen Konstitution, explosiven Gesundheit und dem aus diesen Voraussetzungen notwendig resultierenden Triebleben konnte es einen wahrhaftig nicht wundernehmen. Der Arbeiter, mit seinen zweiundzwanzig Söhnen (Zahl der Töchter unbekannt), zweihundertzweiundvierzig Enkeln (Zahl der Enkelinnen unbekannt) und eintausenddreihundertundzehn Urenkeln (Zahl der Urenkelinnen unbekannt), war, wie sein ganzer Clan, ein atemberaubender Ausnahmsfall auch in dieser Beziehung und schämte sich gar nicht, es zu sein. Ich brachte nach und nach folgendes heraus: Es war ein gesetzlich festgelegtes Vorrecht jeder Braut – ein Vorrecht, welches sich in den letzten Generationen zur zeremoniellen Pflicht entwickelt hatte –, daß sie am zweiten Tage, dem Rüsttag ihrer hohen Zeit, im Parke des Arbeiters einen jungen Mann zum Tanze wählen und zur Begleitung befehlen konnte. Dieser junge Mann (aus dem Chor der Stutzer und Gecken) hatte zwei Stunden lang ihr Ehrenkavalier zu sein, so lange nämlich, als der Tanz und das ihm folgende Picknick dauerte, welches unmittelbar an der Quelle aller guten Dinge eingenommen wurde. Der Ehrenkavalier vom Dienst durfte jedermann sein außer dem Bräutigam. Sämtliche Fiancés waren durch das Gesetz ausdrücklich von dieser Zeremonie ausgeschlossen, die auf archaische Zeiten zurückging und von manchen Historikern noch in die Zeiten vor der Sonnentransparenz zurückverlegt wurde. Der schöne, freimütige Brauch mußte am Ausgang einer polyandrischen Epoche entstanden sein, in der die Frauen, die einen Männerharem hielten, die Rückkehr zur strengen Einehe als schweres Lebensopfer empfanden. Noch einmal, nachdem die geregelte Entscheidung bereits getroffen ist, den Anschein der freien Wahl wahren, das ist's! Noch einmal so tun, als stünde der Weg frei dem Zufall, ihm, dem Gott der Liebe selbst, der sich nach dem ersten gelungenen Kuß als ewige Vorbestimmung der Seelen entpuppen will. Freitanz und Damenwahl, der letzte Schatten, den die unstillbare Sehnsucht nach Ungebundenheit wirft.

Die rhythmisch hold bewegte Mauer der Bräute hatte sich uns genähert. Die taubengrauen Gewandschleier wogten in einem kurzschrittig vorwärts- und zurückzögernden Tanz. Darunter leuchteten die hellen, jungfräulichen Leiber im keusch gedämpften Tag. Ich fragte mich, ob wohl meine Hausgenossin Lala sich unter diesen auserwählten Tänzerinnen befinde. Die Mädchen aber waren für mein ungeübtes Auge alle so ähnlich, daß ich keins von dem andern unterscheiden konnte. Ich fühlte die dichte Nervosität, die sich der jungen Männer mehr und mehr bemächtigte. Da es ihrer zweimal so viel als Bräute gab, so würden hundert Ehrenkavaliere ohne Verwendung entweder als blamierte Mauerblümchen zugucken oder mit erkünstelten Spötteleien abziehen müssen. Die eitle Angst, die ängstliche Eitelkeit der Stutzer lag wie ein Nebelschauer auf der durchsichtigen Luft der malachitgrünen Mulde. Nach welcher Musik, fragte ich mich, tanzen diese Bräute ihr Ballett, das so sonderbar an hochveredelte Eingeborenentänze erinnert? Bei so viel mentalem Fortschritt wieviel Urmenschentum, das immer und ewig übrigbleibt. Was war das? Ich hörte keine Musik. Ich entdeckte aber plötzlich, sehr weit von meinem Standort, eine Art von melancholischem Savoyardenknaben mit einer Drehorgel (siehe immer wieder das Billard in Io-Dos Vorzimmer), die ganz und gar echtes neunzehntes Jahrhundert zu sein schien, doch trotz angelegentlichen Geleiers keinen Laut von sich gab. Erst allmählich begann ich in der großen Stummheit, in der Absenz der Musik, die Musik zu spüren, welche den Gliedern der jungen Mädchen Rhythmus gab. Neben dem Leierkastenmann stand der Einfältige dieses Zeitalters, diesmal nur von einem kleinen Wirbel seiner Capricornetten umgeben, und blies mit rotaufgeplusterten Wangen in seinen tonlosen Dudelsack. Wenn er dann und wann mit tränenden Dunkelaugen den Lederschlauch absetzte und die tanzende Brautmauer bestarrte, streckte er unbeherrscht die Arme den Mädchen entgegen, und ich fühlte sein zügelloses, ewig ungestilltes Begehren.

Der Arbeiter hatte mich nach einigen mißgestimmten Lautverdrehungen und Reimen, die sich immer noch mit den Gecken und Stutzern befaßten, allein gelassen. Wurde doch heute, außer seiner Alltagspflicht, eine ganze Menge Mehrarbeit von ihm gefordert. Er mußte die irdischen Quellen und himmlischen Kräfte durch geschickte Handgriffe auf die höchste Tourenzahl bringen und daneben das Festpicknick für die hundert Bräute und hundert Ehrenkavaliere herstellen. Bald steigerte sich auch von allen Seiten das Strahlen-Netz der Fontaines Lumineuses, und ich stand im nachgedunkelten Tag unter einem komplizierten Gewölbe unsäglich zart gefärbter Reifen, die von oben kamen und von unten wieder aufstiegen, um sich im Unermeßlichen zu verlieren. Durch die Macht der Quellen und Kräfte, so schien es mir wenigstens, verlor mein Körper so viel an spezifischem Gewicht wie etwa im Wasser, meine Lungen konnten sich weiter ausdehnen als je, das Blut durchströmte leichter die Adern, und durch die verminderten Dämpfungen und Reibungen der Physis entfaltete sich in mir eine schwerelose geistige Fröhlichkeit, deren Erinnerung mir schon die Tränen in die Augen treibt.

Nun stand die Kurbel des stummen Leierkastens still, das Ballett der Bräute löste sich auf. Hingegen erstarrte die Reihe der Stutzer und Gecken zur Mauer. Es war zweifellos das Zeichen für die Damenwahl. Die Bräute begannen auch in der Tat die Front der Jünglinge abzuschreiten, hin und zurück. Sie entschieden sich sehr vorsichtig und erst nach reiflicher Prüfung. Ich trat näher, denn es war ein erfreuliches, ja ein prickelndes Schauspiel. So sehr versunken war ich in das reizende Bild, daß ich eine ganze Weile nicht bemerkte, daß eine der taubengrauen, leuchtenden Bräute zurückhaltend neben mir stand. Der vorauseilende Geist des Lesers muß nicht erst darüber aufgeklärt werden, wer diese Braut war:

»Um Himmels willen, Lala«, rief ich, während mich ein Nervenblitz durchzuckte, »es ist zu viel Ehre, daß Sie mich hier begrüßen ...«

Die Zyanenaugen sahen mich ernst und forschend an. Dann neigte Io-La leicht und zeremoniös ihr Haupt, so daß ich den ebenholzschwarzen Helm unterm hochgesteckten Brautschleier bewundern konnte. Ein kaum merklicher süßer Lebensduft, ich kann Lalas Parfüm nicht anders betiteln, näherte sich schüchtern meinen Sinnen.

»Ich komme nicht, Sie zu begrüßen, Seigneur«, sagte Io-La, »sondern ich bin hier, um Sie zum Tanz zu wählen.«

Ich glaubte nicht recht verstanden zu haben.

»Wen wählen Sie zum Tanz?«

»Sie, Seigneur«, sagte Lala. »Natürlich nur, wenn es Ihnen angenehm ist.«

»Das ist doch nur ein Scherz, Lala«, erschrak ich bis ins Sonnengeflecht, wo kein Morgenjubel mehr saß. »Sie wissen doch, woher und wer und was ich bin.«

»Warum soll es ein Scherz sein, Seigneur?« fragte sie, und ihre Augen waren echt verwundert bei dieser Frage.

Mir aber klopfte das Herz so stark, daß meine Worte abgerissen von den Lippen kamen:

»Dort, liebe Braut«, sagte ich, »dort stehen zweihundert junge Athleten. Zweihundert männliche Prachtexemplare Ihrer Generation, ob der Arbeiter sie nun Stutzer und Gigerl und Gecken nennt oder nicht. Und morgen, Io-La, beginnt Ihr trautes und treues Eheleben mit Io-Do, der dann nicht mehr Ihr Fiancé sein wird, sondern Ihr Gatte. Es ist Ihr letzter freier Tag, der Ihnen Gelegenheit bietet, zwei ungebundene Stunden bei Tanz und Mahl mit einem schmucken Ehrenkavalier zu genießen, den Sie selbst zum Dienste befohlen haben und der Ihnen nicht durch das Gebot der Sterne und durch lange Erforschung und Prüfung zum dauernden Gespielen beigesellt wird, sondern Sie dürfen ihn frei vergessen und sich frei seiner erinnern. Und Sie, Lala, was tun Sie mit Ihrer letzten Freiheit?«

»Ich wähle Seigneur zu meinem Chevalier d'Honneur«, fiel die Braut mir ins Wort, doch ohne jede Gespreiztheit. Dann sah sie mich an: »Die Musik hat begonnen ... Ziehen Sie ruhig Ihre Handschuhe an, ich warte ..«

Ohne dessen recht bewußt zu sein, hielt ich ein Paar weißer, ziemlich sauberer Glacéhandschuhe in der Hand. Ich hatte diese aus der Schwalbenschwanztasche meines Fracks gezogen, wo sie neben dem schon öfters erwähnten strapazierten Taschentuch friedlich die Weltalter überdauert hatten, mitsamt einigem Kleingeld und einer leeren Zündholzschachtel. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich diese Handschuhe schon bei meinem Wiedererwachen an den Händen gehabt und danach erst abgestreift hatte. Nein, ganz gewiß nicht. Sie waren, ebenso wie das Taschentuch, die Reliquien der Schlamperei, die vergessen hatte, die Taschen meines Fracks zu leeren, ehe man mich einkleidete. Wie ich aber so überlegte, fiel es mir ein, wann ich diese weißen Glacéhandschuhe zum letztenmal getragen hatte. Es war bei der kirchlichen Trauung eines befreundeten Paares, das mir die Ehre angetan hatte, mich zum Trauzeugen zu wählen. Meine Zeugenschaft aber hatte damals der jungen Ehe leider nicht zum Segen gedient, da die Scheidung noch vor Ablauf eines unerquicklichen Jahres erfolgte. Diese Erinnerung meines Versagens als Trauzeuge berührte mich sehr unangenehm im Hinblick auf die herrliche Braut neben mir. Jedenfalls aber besaß ich die vorschriftsmäßigen weißen Gants de peau des Ballbesuchers, um meine Tänzerin nicht mit der nackten Hand berühren zu müssen. Während ich jedoch die Glacés nervös anlegte, fuhr ich plötzlich zusammen bei dem Gedanken, daß ich gestern, durch die Ahnfrau verführt, meine Hand zwischen Lalas nackten Brüstlein liegen hatte, und zwar zum ausdrücklichen Zwecke, damit etwas von den urweltlichen Kräften des zwanzigsten Jahrhunderts auf das schöne Kind einer späten, linien- und schicksalslosen Zeit übergehe. Ich fühlte, daß ich für mein Alter beschämend rot wurde und an den Haarwurzeln zu schwitzen begann. Eine tiefe Verwirrung lähmte mich. Ich wußte plötzlich, daß ich nur deshalb nach den Handschuhen gegriffen hatte, um nicht wieder in die Lage zu kommen, des Mädchens nackten Leib zu berühren. Die Ahnfrau hatte recht. Die Berührung so ungleicher Elemente konnte nicht ohne Folgen bleiben. Wahrhaftigen Gottes, ich dachte nicht an mich, ich dachte nur an Lala, die ich schützen wollte vor meiner alten, schicksalsvollen, vieldurchkreuzten Hand. Zugleich aber wußte ich in meiner namenlosen Verwirrung, daß Lala alles erriet, was in mir vorging. Auch ohne das clairvoyante Vermögen des mentalen Menschen müßte sie alles erraten haben, denn weder die Bräute noch die Stutzer und Gecken trugen irgendwelche Handschuhe aus Schleierstoff oder Batist. Ich zerbiß meine Lippen vor Verlegenheit. Lala sah mir aufmerksam auf die Hände und gab durch keine Miene zu erkennen, daß sie alles wußte. Da platzten die Nähte meiner Handschuhe. Man kann es ihnen nicht verdenken, bei der enormen Lebensdauer, die sie überstanden hatten. Ich hoffte jetzt zu Gott, Lala werde lachen wie gestern, je höhnischer um so besser. Ihr Lachen hätte mich empört und befreit. Sie lachte aber nicht, sondern blieb ernst und gemessen.

»Welcher Tanz ist Ihnen der liebste, Seigneur«, fragte sie, die Distanz zwischen uns durch einen mädchenhaft verschlagenen Respekt betonend.

»Bitte, überlegen Sie noch einmal«, flehte ich, »was Sie tun.«

»Heißt das, daß Sie mich zurückweisen, Seigneur?«

»Das könnte kein Mann tun, und wäre er um noch einmal hunderttausend Jahre älter als ich.« Wie litt ich unter diesen Worten, die mich mit ihrem öden Kompliment viel schlimmer verletzten als meine lederne Lehrhaftigkeit gestern abend. Das war auch der Grund, warum ich jetzt gegen Lala ausfallend wurde:

»Ich hoffe nur«, erklärte ich mit outrierter Bitterkeit, »daß Sie sich nicht aus Snobismus oder Blaustrümpferei um zwei schöne Lebensstunden selbst betrügen. Wenn ich auch für Ihre Freunde und Freundinnen ein rares Ausstellungsstück bin, so wäre ich doch diesen Snobismus nicht wert ...«

»Welcher Tanz also beliebt Ihnen, Seigneur?« überhörte Lala meine geschmacklosen Worte und legte mit unbeschreiblicher Gewichtslosigkeit die Fingerspitzen ihrer Rechten auf meinen fast fühllosen linken Glacéhandschuh, während sie ihre Linke mit einer Spur von intimerem Druck auf meiner rechten Frackschulter ruhen ließ, zum Tanze bereit.

»Ich war niemals ein großer Tänzer, liebes Kind«, stammelte ich. »Als ich so jung war wie Sie, da hat man in einer Welt, die noch zu meinen Lebzeiten unterging, hauptsächlich einen Tanz getanzt, der Walzer hieß. Er war schon damals ein akzentuiert altmodischer Tanz, da die Paare sich im Wechselschritt rundum drehen mußten, was ihnen die Luft aus den Lungen pumpte und das Wasser aus den Poren trieb ...«

»Und welche Tänze hat man später bei Ihnen getanzt, Seigneur?« fragte Lala, ohne ihren Ernst zu verlieren.

»Später, ja später«, dachte ich laut, »da hat man überhaupt nicht mehr richtig getanzt. Es war eher ein paarweises Hin- und Hergehen, eine Art indolenter Spaziergang der Geschlechter auf überfülltem Tanzparkett. Ich will nichts dagegen sagen. Dieses Spazierengehen hat seinen Dienst getan. Dazu stöhnte, unterstützt von hartnäckigem Teppichklopfen, eine gepreßte Musik, welche die Erinnerung von zivilisierten Negern an den afrikanischen Busch mit der angloamerikanisch redenden Technik illegitim gezeugt hatte.«

»In diesem Fall, Seigneur«, lächelte Lala mich zum erstenmal voll an, »werden wir Walzer tanzen.«

»Aber wie?« zögerte ich, »und woher die Musik?«

»Die Musik ist schon unterwegs«, sagte Lala, »Sie müssen nur gut in sich hineinhorchen, Seigneur.«

Ich schloß gehorsam die Augen, um gut in mich hineinzuhorchen. Und wirklich, Lala hatte recht, die Musik war schon unterwegs, und zwar in mir selbst. Es war eine ganz dünne, unendlich alte, hüpfend spieldosenhafte Walzermusik, die sich ohne erkennbare Tonquelle – der stumme Leierkasten, der stumme Dudelsack waren gewiß nur Attrappen – in meinem Innern immer deutlicher entwickelte, um ihren Dreivierteltakt schließlich unwiderstehlich den Gliedern mitzuteilen. Und meiner Tänzerin ging's nicht anders als mir, denn ohne daß wir es recht merkten, drehten wir uns schon zum Walzer. Das Schönste aber war, daß mir dieses Drehen gar keine Anstrengung verursachte, gleichgültig ob nach links, ob nach rechts, hatten doch die Quellen und Kräfte der Malachitmulde das spezifische Gewicht des Körpers verringert. Es war weitaus der beglückendste Tanz meiner bewußten Existenz, einschließlich der vergangenen dreiundfünfzig Jahre meines Lebens. Das Wort Tanz ist zu schwach, es war der Inbegriff eines leichten Schwebens meiner selbst, in welches sich ein anderes noch leichteres Schweben einschmiegte, ein Doppelschweben also. Ich bemerkte kaum die andern Paare und Quadrillen, die sich um uns zu den verschiedensten Rhythmen umherbewegten. Wie seltsam, daß all diese verschiedenen Rhythmen in demselben Leierkasten ihren Ursprung zu haben schienen, und daß zugleich die Polyrhythmik nicht unorganisch wirkte. Aber was gingen mich die andern an? Im hingegebenen Schweben verstand ich, was mir bei Lebzeiten fast unbekannt geblieben war, welch ernsthaftes, ja feierliches Geschäft der echte Tanz ist. Nach einigen Minuten blieb Lala stehen, ohne sich von mir loszulösen. Mit der charakteristischen Empfindlichkeit älterer Herren argwöhnte ich sogleich, das Mädchen wolle meine schwachen Kräfte nicht überanstrengen. Sie aber schien etwas ganz andres im Sinn zu haben, da sie mir folgendes Geständnis machte:

»Ich habe gestern häßlich von Ihrer Hand gesprochen, Seigneur. Es war nicht bös gemeint. Ich habe mich nur so sehr über Ururgroßmama geärgert ...«

»Madame ist eine sehr bedeutende Persönlichkeit«, entgegnete ich anerkennenswert trocken, denn ich mußte mich zurückreißen, um nicht einen brennenden Kuß auf Lalas Hand zu drücken. Ihre Worte bewiesen mir, daß sie erkannte, warum ich vorhin die Handschuhe angelegt hatte, daß sie die Ahnfrau verantwortlich machte und nicht mich, und daß sie schließlich der Berührung gestern nicht feindselig gedachte. Wie glücklich war ich, als wir unsern Tanz wieder aufnahmen. Da bemerkte ich, daß uns der Einfältige des Zeitalters schon eine ganze Weile folgte. Er hielt den Dudelsack weit von sich, ohne zu blasen. Sein Gesicht war verzerrt und seine Augen blinzelten. Ich fühlte, wie er mich beneidete, mich, der ich doch noch rechtloser und ausgeschlossener von den Gütern des lebendigen Lebens war als er. Noch jetzt weiß ich nicht, warum ich, mir selbst zum Tort, folgende Worte zu meiner Tänzerin sprach:

»Hier ist einer, der sein Leben darum gäbe, an meiner Stelle zu sein.«

»Nur einer, nur dieser?« fragte sie, und ich wußte sofort, daß ich einen unmöglichen Faux-pas begangen hatte. Nach einer Weile sah mich Lala sonderbar an und fragte höflich:

»Wünschen Sie, daß ich mit dem Einfältigen des Zeitalters tanze?«

Ich war zuerst sprachlos über diese Idee.

»Wie kann ich wünschen«, knirschte ich, »daß Sie mit irgendwem tanzen, Lala, obschon oder gerade weil jeder andere mehr Recht dazu hat als ich?«

»Wenn Sie es wünschen, Seigneur«, insistierte Lala mit dem nachdrücklichen Eigensinn, den ich schon an ihr kannte, »wenn Sie es wünschen, werde ich auch mit dem Einfältigen des Zeitalters tanzen, denn...«

Plötzlich unterbrach sie sich mitten im Satz und im Wechselschritt, löste die Hände von mir und trat ein wenig zurück. Ich war überzeugt, daß ich sie ernstlich gekränkt hatte. Desperate Verständnislosigkeit erfaßte mich wie immer, wenn ich einer Frau etwas »angetan« hatte, ohne recht zu wissen, was. Genügte es nicht, wenn eine Frau wegtrat, den Kopf heftig zur Seite wandte, die Lippen zusammenpreßte und an Tränen würgte, ob ich da zehnmal im Recht war oder nicht? Mochte das Weib auch die urerste Verführerin gewesen sein, für mich war und blieb sie der Probierstein der männlichen Schuld, um des natürlichen Leidens willen, das der Mann ihr verursacht. Hatte ich Lala beleidigt, weil ich sie in Zusammenhang mit dem Einfältigen brachte, der wegen seines ungebildeten Mangels an hypothetischen Konditionalsätzen und seines Kröpfleins wegen ein Paria war? Oder war mein Vergehen noch verzwickter und noch tiefer?

»Verzeihen Sie mir, Lala«, flehte ich. »Verflucht soll ich sein, weil ich Ihre Nachsicht und Güte mit lauter Dummheiten beantworte ...«

Ich versuchte, meine Glacéhand wieder ehrfürchtig um ihre Taille zu legen und den Walzerschritt aufzunehmen.

»Es ist zu Ende mit dem Freitanz«, entzog sie sich mir mit sehr ernstem Ausdruck, »denn wir sind unterbrochen worden.«

Was konnte das anderes bedeuten, als daß sie meiner Gesellschaft überdrüssig war?

»Sie haben sich's also doch noch überlegt, Lala«, sagte ich mit unecht akzentuierter Bitterkeit. »Leider ist es etwas spät. Sie werden Ihre Wahl unter dem Rest von Stutzern treffen müssen, der übrig geblieben ist.«

Io-La schüttelte den Kopf und sah starr an mir vorbei, als richte sie den Blick auf irgendwen, der mir noch verborgen war:

»Nein, ich habe mir nichts überlegt, Seigneur ... Und ich werde auch keine Wahl treffen.«

»So, so«, mißverstand ich, »ich habe also der Prüfung nicht standgehalten, mein Kind.«

Sie hob ein wenig die Hand, als wolle sie mich am Reden hindern:

»Die Prüfung, Seigneur, liegt erst vor Ihnen, der Sie werden standhalten müssen: ob Sie auf der guten oder bösen Seite sind.«

Wenngleich ich nichts kapierte, fühlte ich doch das Grauen, mit dem diese Worte gesprochen waren:

»Und wenn ich auf der bösen Seite bin?« fragte ich Lala mit jäh erwachtem Trotz.

»Dann werden Sie nicht wiederkommen, Seigneur«, sagte sie, schien jedoch über sich selbst zu erschrecken und fügte schnell und leise hinzu: »Sie werden gewiß wiederkommen.«

»Ich will gar nicht fortgehen«, trotzte ich weiter, »ich will den Freitanz mit Ihnen weitertanzen, Lala. Sie haben mich schließlich zum Chevalier d'Honneur entboten ...«

»Jetzt entbietet Sie aber der Priester zu sich, der Großbischof«, entgegnete Lala mit leiser Stimme, die mir traurig erschien.

»Es ist mir völlig egal, wer mich zu sich entbietet, ob es der Großbischof ist, der Welthausmeier, der Fremdenführer oder die Polizei, falls es so etwas Ähnliches gibt. Sie scheinen nicht zu realisieren, schöne Braut, in welchem Maße ich frei, unabhängig und souverän bin auf dieser armseligen Welt. Noch niemals war mein Wille so sehr mein Gesetz. Darf ich bitten? ...«

Lala reagierte nicht auf diese Worte, sondern sah noch immer starr an mir vorbei. Da konnte ich nicht länger widerstehen und wandte mich um nach demjenigen, von welchem ich schon einige Zeit lang gespürt hatte, daß er hinter mir stehe. Es war ein kleiner schwarzer Kuttenmann, ein Mönch oder Laienbruder. So tief hielt er den Kopf gesenkt, daß ich sein Gesicht nicht sehen konnte, sondern nur den spiegelglatten Schädel, auf den mit schwarzer Farbe der Haarkranz um eine Tonsur gemalt war und mitten in dieser Tonsur das verschlungene griechische X und R des Christusnamens.

»Gedulden Sie sich, bitte«, sagte ich zu dem Kuttenmännchen, »denn dieses Leben ist kurz und ich bin zum Freitanz entboten.«

Der Bote des Großbischofs hob den Kopf nicht aus der demütigen Gesenktheit, womit er anzudeuten schien, daß er nicht die Erlaubnis erhalten habe, sich zu gedulden. Als ich mich unentschlossen nach Lala umsah, hatte die Braut mich schon verlassen ...


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