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Worin ich die Mission des Unterhändlers zu erfüllen versuche, eine tonlose Rede halte und die orangerote Flamme sehe, in welcher einst der Mond vergehen wird.
»Es ist keine Kälte und Gleichgültigkeit, da irrst du gewaltig«, sagte B.H., als wir zwei Minuten allein waren. »Die einzige Kälte und Gleichgültigkeit ist die, welche Trauer hervorkehrt, um die anderen zu quälen.«
»Meinst du GR3?« fragte ich. »War Lala nicht immer ihr Lieblingssprößling, und hat sie ihn nicht gehütet wie ihren Augapfel?«
»GR3 hat Lala beneidet bis zum Haß, denn eine Folge der ewigen Jugend ist es, daß starke weibliche Charaktere nicht abdanken können. Io-Fagòr aber und Io-Rasa sind tief gebeugt, wenn du ihnen selbstverständlich auch nichts ansiehst.«
Man sah dem Elternpaare Lalas nichts an, genau wie B.H. es gesagt hatte. Man hätte beinahe glauben können, sie dächten nicht daran, ihre Tochter zu kritisieren, und der Verlust sei schon überwunden. Es geschah nicht einmal, daß man darüber zu sprechen vermied. Man sprach darüber mit unpersönlicher Teilnahme. Wie bewundernswert war die Haltung, welche das Menschengeschlecht gewonnen hatte seit jenen Zeiten, wo man irrende Kinder verstieß und verfluchte und ihre Namen aus dem Herzen riß. Dabei war doch in diesen Tagen der Monopädie ein Kind soviel mehr wert als einst, wo viele Frauen beinahe Jahr um Jahr schwanger gingen. Da vorzeitiger und unfreiwilliger Tod (bis auf einige Ausnahmsfälle) überhaupt nicht vorkam, so konnten Eltern ihren Sohn oder ihre Tochter nur durch und an das Leben verlieren. Und auch das geschah selten genug, da alle Reibereien der ökonomischen und sozialen Urgeschichte entfielen, und keine Rang-, keine Erbstreitigkeiten, sondern höchstens Gefühlszwist und philosophische Andersmeinung Familien zu entzweien vermochten. Hier aber war's geschehen. Io-Fagòr hatte seine Tochter verloren wie Io-Solip seinen Sohn. Was übrigens unter den Verschworenen vorging, wo sich ihr Hauptquartier befand, wie und seit wann sich diese Mafia entwickelt hatte, das wurde aus irgendeinem allgemeinen Schamgefühl vor mir geflissentlich verdunkelt, was der Erfüllung meiner Mission gewiß nicht günstig war.
Man kann sich vorstellen, mit welch peinlichen Empfindungen ich vor Io-Fagòr, Io-Rasa und die ganze Hausgemeinschaft hintrat, um Rechenschaft über meinen gescheiterten Versuch abzulegen, Lala heimzulocken. Selbst mein Vergil war ganz bestürzt darüber, in welche schwierige Situation ich dadurch geraten war, daß er mich aus dem Alphabet gestochen hatte. Da hatte der wirkliche Vergil seinen Schutzbefohlenen in weit geringere Schwierigkeiten gestürzt, blieb derselbe doch bis auf ein wenig Mitleid völlig ungeschoren von den Kalamitäten der Hölle, die er bereiste. Dante beobachtete die grausamst berühmten Episoden immer schön von außen und wurde in keinerlei Konflikt persönlich hineingezogen, was vielleicht damit zu tun hat, daß er sich als einziger Lebendiger unter lauter Toten bewegte, während bei mir die Sache gerade umgekehrt war. Freilich, es gehörte das gewaltige Dichtergenie einer gewaltigen Epoche dazu, aus einer puren »Besichtigung« ohne persönliche Einverwobenheit, ohne Intrige, Verwicklung, Erotik und andere Rücksichten auf das mehr oder weniger lesende Publikum den millennaren Bestseller der »Göttlichen Komödie« zu schaffen und noch dazu in demantenen Terzinen. Versuche das heute einer.
Das Merkwürdigste war: Die Ahnfrau hatte nicht geschwatzt. Lalas Eltern schienen nichts von dem nächtlichen Besuch ihrer Tochter in meinem Zimmer zu wissen, oder sie gaben vor, nichts zu wissen. Die Diskretion von GR3 erfüllte mich mit unangenehmen Empfindungen. Es war mir nicht wohl zumute bei dem Gedanken, mit ihr ein Geheimnis zu teilen. Ich gab daher, soviel Überwindung es mich auch kostete, Lalas nächtlichen Besuch in meinem Zimmer preis, ohne freilich meine Aufrichtigkeit zu weit zu treiben. Ich verschwieg selbstverständlich Lalas Antrag und meine eigene Verliebtheit, was mir niemand verdenken kann, und sprach nur von des Mädchens Wunsch, ihr als Begleiter in den Dschungel zu dienen. Von der Schuld allerdings, nächtens nicht sogleich Lärm geschlagen zu haben, konnte ich mich nicht reinwaschen. Niemand aber beschuldigte mich, denn schon im unüberwindlichen Begehren Lalas nach dem Dschungel lag das entscheidende Faktum. Für die Astromentalen war ja inneres Streben und äußere Verwirklichung so gut wie ein und dasselbe. Wie vortrefflich erging es uns dahingegen im zwanzigsten Jahrhundert, wo zwischen Wunsch und Erfüllung nur die spärlichsten Verkehrsmittel unterwegs waren, wo einem Meer von innerem Streben nur einige Tropfen von Verwirklichung entsprachen, und wo man sich selbst und alle andern himalajahoch beschwindeln konnte, ohne von der eigenen und der allgemeinen Hellsichtigkeit durchschaut zu werden.
Ich hatte keinen Gradmesser dafür, wieviel nach meiner Darstellung die Hausgenossen von der ganzen Wahrheit wußten. In den wenigen Minuten aber, die wir allein waren, eröffnete ich diese ganze Wahrheit meinem Freunde B.H. Er sah mich zuerst entsetzt an, dann aber dankte er mir und meinte, ich hätte den Anfängen der Menschheit noch viel mehr Schande bereiten können. Der familiäre Teil des Rechenschaftsberichtes nahm nur wenige Minuten in Anspruch. Es handelte sich um Größeres und Schrecklicheres. Man brach unverzüglich auf. Ich hatte kaum Zeit, irgendeinen Saft aus einem Kristallbecher herunterzustürzen.
Leider wurde ich in dieser entscheidenden Stunde das Opfer einer sonderbaren Unpäßlichkeit, die den Beweis dafür erbrachte, daß meinesgleichen für keinerlei politische Mission taugt, und daß es schon schlimm um die Welt bestellt sein muß, wenn solch eine Mission Pianisten, Chirurgen, Moraltheologen, Lyrikern und andern Virtuosen aufgehalst wird. Der mit psychologischem Instinkt gesegnete Leser, der nicht nur die astromentale Epoche kennengelernt hat, sondern unvermeidlicherweise auch mich, der sie ihm beschreibt, dieser Leser wird sich wahrscheinlich schon im Büro des Generals darüber gewundert haben, warum man in dieser Sache auf Tod und Leben gerade mich zum Unterhändler gewählt hatte, mich, einen fremden Privatmann aus den Anfängen der Menschheit.
Das Wort Unpäßlichkeit, das ich gebraucht habe, ist ganz und gar unzutreffend, obwohl ich kein besseres finden konnte. Mir wurde nämlich nicht übel, ich erlitt keinen Schwindelanfall oder sonst eine Peinlichkeit, die mit dem rasch geleerten Braunbier in Zusammenhang stehen mochte; nein, ich verlor meine Stimme. Einige werden sich vielleicht noch daran erinnern, daß mir während der ersten Stunde im Haus Io-Fagòrs plötzlich die Fähigkeit abhanden gekommen war, die Monolingua zu verstehen und zu sprechen. Dies wiederholte sich jetzt nicht. Ich verstand alles. Ich hielt eine formvollendete Rede. Während ich sie aber hielt, wurde zu meinem Entsetzen kein einziger Ton laut.
Warum mir das geschah, weiß ich nicht zu sagen. Mag sein, die pathetische Situation war schuld daran. Wir befanden uns in der Sitzungshalle des Senats. An dieser Bezeichnung ist alles falsch, aber wirklich auch alles. Das Wort »Senat« ist völlig aus der Luft gegriffen, da es ebensogut Staatsrat oder Weltrat heißen könnte, ohne darum auch nur um einen Schatten richtiger zu sein. Ich bin, wie man sieht, immer wieder gezwungen, wie im Falle »Professor« und »Exzellenz«, die erlebte Realität durch ebenso altgewohnte wie ungenaue Analogien zu umschreiben. Wie diese Assemblee unterm Präsidium des Geoarchonten sich wirklich nannte, das habe ich vielleicht gewußt, weiß es aber jetzt nicht mehr. Es tut mir leid, denn ich gehöre durchaus nicht zu denen, die behaupten, der Name sei Schall und Rauch und gehöre nicht zur Sache. Ich weiß ganz im Gegenteil, daß gar oft der Name die Sache selbst ist. Der Name Sitzungshalle ist jedoch so falsch, daß er der Sache durchaus widerspricht. Jedermann, der in diesem Buche nur geblättert hat, weiß bereits, daß es nicht Sitzungshalle, sondern Stehungshalle oder Standhalle heißen müßte. Hätte ich nicht Furcht, abstrus zu wirken, würde ich sogar am liebsten von einer Distanz-Halle sprechen. Das Wesentliche an dieser Versammlung war nämlich der weite Abstand, den die einzelnen Mitglieder voneinander halten mußten. Da die Ereignisse in rasche Fahrt gekommen waren, konnte ich über solche Details zweiten Ranges keine strikte Auskunft mehr erhalten, es ist aber so gut wie sicher, daß die weiten Distanzen dazu dienten, die Einflußnahme der astromentalen Mandatare aufeinander zu verringern. Demselben Zwecke diente ohne Zweifel das »Isolierparkett« unter unsern Füßen. Ich spürte es unverzüglich an einer gewissen innern Stumpfheit und Nerventaubheit, der ich verfiel, dem gegenteiligen Zustand, wie ihn der eisengraue Rasen erweckte. Warum aber der Boden der kolossalen Lokalität eine schiefe Ebene war, die in einem beträchtlichen Winkel nach oben, das heißt zum Standort des Seleniazusen anstieg, darüber kann ich nur die Mutmaßung äußern, daß der »Weg nach oben« symbolisch und praktisch durch Mühsamkeit und durch die Gefahr des Ausgleitens erschwert sein sollte. Letztere Gefahr habe ich selbst erlebt, denn obwohl mich Io-Fagòr rechts und Io-Solip links stützten, konnte ich den Weg nach oben beinahe nicht leisten und rutschte immer wieder zurück.
Als ich endlich ziemlich atemlos Posto gefaßt hatte, verschwanden Io-Fagòr und Io-Solip von meiner Seite, da sie nicht zum Staatsrat gehörten. Ich stand allein und fühlte mich verlassen. Mochte ich aber sein, wer immer ich war, die violette Handgelenkschleife gab mir nicht nur das Recht, im Hause der Lords (eine neue falsche Bezeichnung) persönlich aufzutreten, sondern sogar auch in die erste Reihe geschoben zu werden. Ich stand allein und in der ersten Reihe dieser schachspielartig aufgestellten Versammlung, deren einzelne Figuren in regungslos versunkener Haltung, in weiten Abständen voneinander, den mächtigen Raum füllten. Keiner wandte den Blick zur Seite, um seine Nachbarn anzusehn; auch ich hielt mich nun an diese wichtige Regel. Nur auf meinem so mühsamen Wege nach oben hatte ich bemerkt, daß die Senatoren nicht etwa in Kutten gekleidet waren wie die astromentalen Weltbeamten, sondern hellviolette (heliotrope) Schleiergewänder mit reicher Raffung trugen, im Gegensatz zur tiefvioletten Gewandfarbe des Major Domus Mundi. Dieser stand inmitten des letzten leeren Fünftels der Halle. Dort wo die schiefe Ebene sich am steilsten erhob und in einen sonderbaren Nebenraum mündete, der durch einen mäßig hohen Rundbogen abgetrennt war. Man hätte diesen ganz in Dunkel getauchten Raum für einen überdimensionierten Feuerplatz oder für einen riesigen Backofen halten können, wäre er für beiderlei Zwecke nicht zu sinnlos groß gewesen. So aber konnte ich, von dieser finstern Höhle gebannt, den Verdacht nicht abweisen, ich habe eine verdunkelte Bühne vor mir, die für den Vollzug gewisser Staatsakte, für Krönungszeremonien, vor allem aber für heiliges Trauergepränge bestimmt sei. In der ungeheuren Halle selbst herrschte das, was ich schon öfters als Regenlicht bezeichnet habe, jene Beleuchtungsart, welche die astromentale Zivilisation für nüchterne und rationalistische Zwecke zu bevorzugen schien.
Der regierende Seleniazuse lehnte, behäbig und zierlich zugleich, an einer metallenen Säule, der einzigen in dieser Halle, die weiß und schlank aus der schiefen Ebene in die Höhe wuchs. Daß er nicht frei stand wie die andern, nahm ich für ein Zeichen seines höheren Alters und seiner mondentstammenden Müdigkeit. Vom ersten Augenblick an gemahnte mich das Antlitz des Identitätslosen an den Gesichtsausdruck des Mutarianers Io-Fra, als dieser gestern in der Loge mit vollgeöffnetem Bewußtsein dem blutigen Tode entgegengeharrt hatte. Der Seleniazuse freilich leuchtete nicht ein bißchen, er schimmerte nicht einmal. Er war kein Heiliger. Er war nur ein Wissender und Duldender. Er lächelte vor sich hin. In dieses Lächeln mit halbgeschlossenen Augen aber waren so widerspruchsvolle Ingredienzen gemischt wie Trotz, Spott und Ironie.
Rechts von der Säule des Geoarchonten war ein Lesepult in die schiefe Ebene festgeschraubt. Auf diesem Lesepult lag ein Foliant, der mich als plumper Anachronismus beunruhigte, ehe ich sein wahres Wesen erkennen durfte. Dies aber geschah schnell genug. Der Mann an diesem Pult, den man am besten als »Berichterstatter« bezeichnen kann, wendete die Seiten des Folianten um, aus denen er wie ein Parlamentssekretär mit eintöniger Geschwindigkeit vorzulesen schien. Die Seiten waren aber keine Buchseiten, sondern matte Spiegel oder präparierte Platten, von denen ein schwaches Licht ausging, das den Kahlkopf des vortragenden Staatsbeamten schwach anschimmerte. Es dauerte vielleicht eine Minute, bis ich erkannte, daß der Berichterstatter aus den reflektierenden Spiegelseiten nicht vorlas, sondern daß er auf ihnen gleichzeitig stattfindende Vorgänge beobachtete, von denen er in rascher, fließend monotoner Rede der hochmögenden Versammlung und ihrem Oberhaupte Kunde brachte. Etwas an dem routinierten Wortgalopp dieses Berichterstatters gemahnte mich an jene Radioredner meiner eigenen Lebenszeit, die sich als Beschreiber von Staatsempfängen, Olympischen Spielen, Fußballmatches oder Pferderennen spezialisiert hatten und mit farbiger Eloquenz diese Ereignisse, während sie gerade abliefen, dem bequemen Publikum daheim ins Gehör servierten. Ja, auch er vermittelte ferne Ereignisse, während sie abliefen, nur tat er es ohne Eloquenz mit unbeteiligter Trockenheit, obwohl diese Ereignisse nichts Geringeres betrafen als das Schicksal der Welt. Ich werde gleich verraten, warum ich meine Aufmerksamkeit nicht voll auf den Berichterstatter konzentrieren konnte; dennoch blieben mir einige Sätze wie die folgenden im Gedächtnis, hauptsächlich wegen der Worte »Diabolische Fachlehrer« und »Eurasische Halbinseln«:
»Die Waffensammler haben an vielen Orten ihre Fernsubstanzzertrümmerer in Stellung gebracht. Es ist zum Verwundern, woher die Jungen alle diese tausend Rohre und Röhrchen zusammengekratzt haben. Ohne Zweifel sind diabolische Fachlehrer seit undenklichen Zeiten um die Welt gewandert und haben die positiv ansprechenden Typen im Gebrauch der alten Waffen unterwiesen. In den drei Verwaltungsquadraten der eurasischen Halbinsel erscheint das Treiben am dichtesten. Die Dschungel liegen gefährlich still, obwohl kinderreiche Familien, Bewohner der ehemaligen Unterstädte, vazierende Junggesellen und gestrandete Existenzen überall die Glacis überschreiten ...«
Diese Rede habe ich aus mehreren Berichtsteilen zusammengefügt. Der Grund, warum ich sie nicht im ganzen verfolgen konnte, war der Mann am andern Vorlesepult, links vom Seleniazusen. Dieser Staatsbeamte könnte im Hinblick auf seine Tätigkeit mit keinem zutreffenderem Titel benannt werden als der »Annalenleser«. Auch der Annalenleser hatte einen mächtigen Folianten vor sich auf dem Pulte liegen. Die Spiegelseiten dieses Folianten jedoch wurden von hinten nach vorn umgedreht. Während der Berichterstatter mit der Zeit vorwärts ging, verfolgte sie der Annalenleser vom Augenblickspunkte rückwärts. Er las als Historiker die unbekannten Zusammenhänge, wie sie sich durch das Fortschreiten der Ereignisse rückwirkend entschleierten. Leider war ich in der Kunst des polyphonen Innewerdens von Worten noch so unbewandert, daß der Annalenleser mich nur störte, den Berichterstatter zu verstehen, ohne daß er sich selbst mir verständlich machte. Ich verstand nur soviel, daß er verschiedene Kausalitätsfäden bloßlegte, die einerseits zum Schuß beim Sympaian und andererseits zur weltaufwühlenden Wirkung dieses Schusses geführt hatten.
Es wäre hier leicht für mich, der Versuchung zu erliegen und dem Annalenleser ein paar Sätze in den Mund zu legen, um die Ereignisse, dort wo sie selbst in mir grau und verwischt sind, durch ein logisches Band zu verknüpfen. Keine andere Handlungsweise aber würde ich mehr verabscheuen als diese. In der Katastrophe, deren Zeuge ich wurde, steckte manch ein ungelöstes Rätsel. Da ich als flüchtiger Besucher einer sehr fernen, vielfach schwankenden und mir unbegreiflichen Zukunft nicht verpflichtet bin, diese Rätsel zu lösen, so kann auch der feinhörige Leser nicht wünschen, durch plumpe Lösungen, wie in Detektivgeschichten, verletzt zu werden. Die Wahrheit über alles! Und gar auf einem Gebiete, wo Wahrheit von Lüge überhaupt nicht zu unterscheiden ist. Ich setze meine ganze Ehre in diese Devise. Darum habe ich gegen mein Interesse als Autor von allem Anfang an den Leser gestört, ihn ins Gespräch gezogen und ihn beschworen, er möge »geistiges Schauen« nicht mit Traumgewühl oder gar mit keckem Spiel der Phantasie verwechseln, so schwer diese Elemente auch auseinander zu halten sein mögen. Ich habe in meinem Leben gar viele realistische Geschichten erzählt, aber in keiner habe ich unter ähnlichen Qualen der Wahrheit gedient wie in diesem völlig unkontrollierbaren Bericht. Wir haben am ersten Tage die Waffensammlung Io-Dos gesehen, ohne zu ahnen, daß sie mehr bedeutete als einen Spleen des reinen Spiels. Wir hörten das Tagesorakel des Geoarchonten, wir waren Zeugen von Io-Fagòrs düstern Ahnungen und von einigen Begebenheiten, die auf einen ernsten Wandel der Dinge hinwiesen: Der Besuch des Seleniazusen beim Hochschwebenden, der Exodus der Katzen, der Hühnermord und so weiter. Wir haben den Schuß beim Sympaian erlebt und allerlei dumpfes Geflüster drang uns in die Ohren. Schließlich standen wir in Dschungel-Bergstadt Aug in Aug einem General gegenüber und vernahmen seine Drohung, und es fiel das unaufgeklärte Wort »psychische Artillerie«. Das ist alles, und es gleicht einem Mosaikspiel, bei dem die Hälfte der Steine fehlt. Nun aber, da ich in der Halle der schiefen Ebene die Gelegenheit gehabt hätte, aus den schnellen und akzentlosen Reden der beiden Spiegeldeuter, rechts und links vom Weltregenten, mein Verständnis für die tieferen Ursachen des Geschehens zu erweitern, da flossen diese beiden duettierenden Stimmen zusammen wie schlecht aufgetragene Wasserfarben.
Dazu kam noch der dritte Kahlkopf in der schwarzen Kutte des Staatsbeamten, der wie ein Schatten hinter dem Mondgeweihten stand, weshalb ich ihn jetzt, da ich seinen Titel nicht kennen lernte, »Mondschatten« taufe. Mondschatten trat dann und wann hervor und klopfte mit einem kleinen Hammer auf die weiße, dünne Säule, die einen hohlen und schaurigen Klang von sich gab, den ich nie vergessen werde. Dabei richtete er jedesmal mahnende Worte an den Geoarchonten, wie zum Beispiel:
»Der Strom der Zeit verdoppelt sein Gefälle. Erdminuten sind nicht mehr Erdminuten.«
Oder die folgenden Sätze, die ich in meinen Notizen finde: »Ist der Bestand der Welt gefährdet, dann hüte der Mondgeweihte die Verfassung.« – »In einer orangeroten Flamme wird zu seiner Zeit der Mond verschwinden.« – »Die Verfassung gibt dem Mondgeweihten das Recht, entweder die Friedensstörer in der orangeroten Flamme verschwinden zu lassen oder sich selbst.« –
Dies waren einige der Mahnungen Mondschattens, begleitet vom hohlen Gongton der einsamen Säule, die sich mir ins Gedächtnis gegraben haben. Die astromentale Gepflogenheit, einen Tatbestand zu offenbaren, indem man ihn durch bedeutungsschwere Worte verschleierte, erinnerte mehr an die eleusinischen oder an orientalische Mysterien als an das zwanzigste Jahrhundert mit seiner löblich bescheidenen Vorliebe für Präzision. Dennoch glaubte ich die Mahnungen voll zu verstehen. Daß sich das Tempo der Zeit in hochdramatischen Stunden des Weltgeschehens zu verdoppeln und zu verdreifachen scheint, das haben wir alle (meine Leser und ich) in unserer Epoche der Weltkriege nur gar zu oft erlebt. Da die Zeit mehr eine menschliche Hilfskategorie ist als der Raum, der viel eher unabhängig vom Bewußtsein besteht, so hatten die Chronosophen schon seit Urzeiten herausgefunden, daß die Zeit durchgehen kann wie ein scheuendes Pferd. Dieselben Chronosophen und wahrscheinlich besonders der große Ursler vor ihnen, hatten ebenso längst schon das Weltenjahr und die Erdenstunde vorausberechnet, in welcher der Mond in orangeroter Flamme sein Dasein beenden wird. Den Hinweis auf diese Flamme, worin der Weltregent die Friedensstörer oder sich selbst verschwinden lassen möge, hielt ich nur für eine der bedeutungsschweren astromentalen Metaphern. Die Verfassung gab vermutlich dem Weltoberhaupt das Recht, gefährliche Rechtsbrecher verschwinden zu lassen, das heißt, sie festzunehmen, zu betäuben, zu lähmen oder auf irgendeine weiche und hochkultivierte Art unschädlich zu machen. Wie sehr irrte ich mich da.
Andere Gedanken aber bedrängten mich. Ich sah es deutlich, daß der Mondgeweihte nicht imstande war, eine Entscheidung zu treffen. Jetzt, im Augenblick der Bedrohung rächte sich jenes raffinierte Wahlrecht, welches die Macht dem Zarten, Weisen, Träumerischen anvertraute, der unter ihr litt und sie weder auszuüben noch zu genießen verstand. Ich weiß nicht, ob B.H. es war oder ich selbst, der das »Gesetz von der Erhaltung des Übels in der Welt« aufgestellt hatte. Das will sagen, wie sehr man die Dinge auch durcheinanderschüttelt und eines an die Stelle des andern setzt, ein bestimmtes Maß des Mißlingens läßt sich nicht vermindern. Die astromentale Verfassung, einer kühlen, unsinnlichen, spielerischen Menschheit und einer hochgestimmten, kosmisch orientierten Lebensordnung wohl angemessen, sie war ganz und gar untauglich, den blutigroten Leidenschaften einen Damm entgegenzusetzen, die plötzlich aus der Tiefe hervorgebrochen waren. Wer hatte geahnt, daß diese Leidenschaften überhaupt noch vorhanden waren? Da fiel ein archaischer Schuß mit Pulverdampf, die vornehmsten Bräute brannten nachts in den Dschungel durch, und die leere Zerstörungswut der Verschwörer bekam einen zulänglichen und beinahe würdigen Anlaß, loszuschlagen. Der Mondgeweihte, lässig an seiner weißen Säule lehnend, lächelte erwartungsvoll ironisch. Mondschatten, hinter ihm, schlug mit dem Hämmerchen an die Säule:
»Der Strom der Zeit verdreifacht sein Gefälle.«
Trotz des Isolierparketts fühlte ich, daß die Senatoren, diese hellvioletten regungslosen Schachfiguren (ich weiß nicht wieviele Türme und Pferdchen) immer erregter wurden. Dumpfes Raunen hörte ich hinter mir. Das Duett des Berichterstatters und des Annalenlesers ging in ein gehetztes Presto über. Mondschatten ließ die Säule stärker tönen:
»Der Bestand der Welt ist gefährdet. Der Mondgeweihte hüte die Verfassung.«
Der Angerufene lächelte mild und unaussprechlich wissend.
»Die Verfassung gibt dem Mondgeweihten das Recht, entweder die Friedensstörer in der orangeroten Flamme verschwinden zu lassen oder sich selbst.«
Die Unentschlossenheit des obersten Weltcunctators legte sich wie Meltau auf die Versammlung. (Ist Unentschlossenheit das richtige Wort? War's nicht ein geheimer Wille, Schluß zu machen?) Ich selbst fühlte mich hin und her geworfen. Ein Einfall nach dem andern, wie die astromentale Welt zu retten sei, durchzuckte meinen Sinn: Den Reiseverkehr still legen, indem man die Zusammenstimmer abberuft. Den Verschwörern allen Proviant aus dem Park des Arbeiters entziehen. All das aber verwarf ich sofort als ungenügend. Immer klarer wurde es mir, der Mondgeweihte mußte die Verbrecher, ohne eine Sekunde zu zögern, körperlich vernichten. Tod ohne Gnade. Einen andern Ausweg gab es nicht. Inzwischen hatte eine Gruppe der hellvioletten Schachfiguren die Höhe der schiefen Ebene erklommen und umgab nun den Mondgeweihten. Ich verstand nicht, was sie ihm zumurmelten, nahm aber an, daß sie seine Tatkraft aufstachelten. Der Geoarchont schenkte der Einflüsterung seiner Räte keine Beachtung, obwohl zweifellos die Frist nur mehr nach Atemzügen zählte. Da spürte ich einen Stich im Herzen. Ich war erkannt. Der Mondgeweihte hob schwach seine Rechte. Er hatte mich aufgerufen. Nun mußte ich vortreten. Mit zusammengebissenen Zähnen überwand ich das steilste Stück der schiefen Ebene, ohne auszugleiten und hinzustürzen. Balancierend blieb ich stehn, vielleicht fünf Schritte von der weißen Säule und dem Weltpräsidenten entfernt. Nun hatte ich das Wort als Unterhändler. Meine Pflicht war es, im letzten Augenblick einen friedlichen Ausgleich zu schaffen zwischen Dschungel und Kulturwelt. Wie immer, wenn ich durch meinen Beruf gezwungen war, vor die Öffentlichkeit zu treten, schwand meine Erregung, und ich fühlte mich positiv und gesammelt:
»Vor allem, Exzellenz und Notabilitäten«, begann ich mit Festigkeit und Überzeugung, »vor allem und als erstes scheint es mir notwendig, das Wort Dschungel amtlich abzuschaffen. Es entspricht nicht nur nicht der Wahrheit, sondern enthält eine schwere Beleidigung für die Berg- und Stadtbewohner drüben. Ich schlage vor, daß unverzüglich eine Gesandtschaft abgefertigt werde, welche die Abschaffung des Wortes Dschungel feierlich mitteilt, wodurch die Weltregierung auf würdige Art ihre Gerechtigkeit und Freundlichkeit beweist und sich von jedem Angriff distanziert. Das Wichtigste aber: Hüten Sie sich vor jeder Politik der Halbheit, des Beschwichtigens, des Appeasements, wie wir's zu unserer Zeit genannt haben. Machen Sie allen Waffensammlern, Verschwörern, Aggressoren unverzüglich klar, daß Ihre Antwort auf den ersten verbrecherischen Akt erbarmungslos die physische Vernichtung der Verbrecher sein wird, ungeachtet aller astromentalen Vorbehalte und Errungenschaften ...«
Bei diesen Worten ungefähr bemerkte ich, daß ich zwar eine kluge und wohlbedachte Rede hielt, daß aber diese Rede nur in meinem Innern erklang und äußerlich überhaupt kein Ton zu hören war. Weder eine physische noch eine nervöse Hemmung hinderte mich am Sprechen, auch kein Stimmritzenkrampf oder eine andere Unfähigkeit, Laute zu produzieren. Ich sprach völlig normal, doch was ich sprach, ertönte nicht. Die hellvioletten Schachfiguren machten verlegene Zeichen, ein paar kamen näher an mich heran, andere hielten verzweifelt die hohle Hand an ihr Ohr. Der Mondgeweihte lächelte wissend, als habe er nichts anderes erwartet. Ich versuchte zu schreien und ich schrie auch aus vollem Halse. Dieses Schreien aber, obwohl es mir beinahe wehe tat, ertönte ebensowenig wie mein Flüstern. Man wird sich wundern, daß all diese astromentalen Würdenträger ringsum (viele Habitues des Sympaians vermutlich) nicht imstande waren, eine innere Rede aufzufassen, die noch dazu mit so vielem Nachdruck, ja krampfhafter Anstrengung gehalten wurde wie die meine. Ich selbst hatte es ja schon so weit gebracht, um eine gute Portion dessen, was die Menschen dachten oder schweigend beabsichtigten, vorher zu wissen oder mindestens vorauszufühlen. Noch heute, nach meiner Rückkehr, zehre ich von den Fähigkeiten, die ich heimgebracht habe und vergnüge mich zum Beispiel im Menschenstrom der Boulevards damit, an den Schultern der Passanten voraus zu spüren, ob sie fünfzehn Schritte weiter in eine Nebenstraße einbiegen werden oder nicht. Und hier, in dieser Versammlung, wo sich auch einige Mutarianer befanden, war man nicht imstande, eine tonlose Rede zu vernehmen? Man war's nicht. Vielleicht genügte das Isolierparkett, um jede Kommunikation der Seelen zu verhindern. Und dann noch eines: es sollte nicht sein, daß ich durch meine Argumente und Vorschläge das Unheil abwende. Oft argwöhne ich jetzt, daß der Autor der Weltgeschichte durchaus kein Improvisator sei, wie es die Autoren eines Sympaians sein sollen. Er bereitet sein Manuskript wohl vor mit Änderungen, Strichen, Korrekturen, und der Freiheit des Handelns ist darin kein weiterer Raum gegönnt als dem Druckfehlerteufel in einem Buch. Zu meinen Lebzeiten gab es ein paar Despoten, die einer erstaunlich hohen Anzahl minutiös vorbereiteter Attentate durch die unglaubwürdigsten Fügungen entgingen. Es grenzte ans Wunder. Nein, es war ein Wunder. Die Herren blieben aufgespart für die Endszene, wie sie im Buche stand.
Ich versuchte noch einmal meine Rede aufzunehmen. Es war vergeblich. Nicht nur meine Stimme erklang jetzt nicht mehr, sondern auch meine Gedanken waren tot. Ich durfte meine kleinen Leukangeloi nicht aussenden. Da senkte ich meinen Kopf und schluchzte auf, wenn ich nicht sehr irre ...
Mich tröstet, daß es auf jeden Fall zu spät gewesen wäre. Noch herrschte tiefes Schweigen in der Ratsversammlung, als das Geschehnis eintrat, das nicht wieder gut zu machen war. Es offenbarte sich in einem scharfen Klirren und Splittern. Die Spiegelseiten in dem Folianten des Berichterstatters rechter Hand zersprangen in hundert Stücke. Das Buch explodierte gewissermaßen wie ein Geschoß. Doch auch der Foliant des Annalenlesers linker Hand, der die Zeit nach rückwärts verfolgte, hatte seine Schäden abbekommen, wenn er auch ganz blieb wie die Vergangenheit selbst, die einen Sprung davontragen, aber nicht zerstört werden kann. Der Seleniazuse lächelte voll nachdenklicher Sanftmut. Trotz und Ironie waren aus seinen Zügen verschwunden. Ich wußte, was geschehen war. Keiner Belehrung bedurfte es. Der sinnloseste und übermütigste aller Kriege war ausgebrochen. Er hatte begonnen über den Köpfen der ahnungslosen astromentalen Menschheit hinweg, die eher eine neue Sonnenkatastrophe erwartet hätte als diesen Anachronismus, der in der Versenkung des Denkmals des Letzten Krieges für ewig begraben schien. Nun hatten die Heißsporne der Panopolis, die Waffensammler, die Verschwörer, wer immer sie waren, ihren Spaß und ihre Rache. Es gab keine Vielfalt der Völker mehr, keine Landesgrenzen, keine sozialen Nöte, keine ökonomischen Zwänge, keine imperialistischen Begehrlichkeiten, es gab nichts als den sanften Gegensatz zwischen Dschungel und Kulturwelt. Und doch ein einziger Mord hatte genügt, aus den Tiefen der fortgeschrittenen, sternverbundenen Menschheit die alte Furie zu entfesseln. Krieg war nicht die Folge, sondern die Ursache aller Konflikte. Krieg war die unbewußte Sehnsucht nach Blutvergießen, welche Gründe er immer vorschützte. Krieg war Adams Sohn, der Kain im Menschen. Die Hähne zerrissen in scheußlicher Leidenschaft die verwundeten Hühner, deren Blut sie gesehn hatten.
Nun spielten seit undenklichen Jahrtausenden wieder die Fernsubstanzzerstörer. Der Rückstoß dieser mir unbekannten Geschütze, die aus dünnen Rohren und Röhrchen bestanden, war so furchtbar, daß er den Spiegelfolianten des Berichterstatters, in dem sich die fernen Vorgänge selbst reflektierten, in Splitterstaub verwandelt hatte. Vielleicht standen schon in Flammen die Berge und Hügel, die weißen Häuserkuben, die Dorfkirchlein mit den Ringelspielen davor und die Hauptstädte jener Vegetationsinseln, die man Dschungel nannte. Vielleicht aber, und ich hoffte es, hatten die diversen Konstantins mit ihren Offizieren, Ingenieuren und Pionieren nicht nur neue Angriffs-, sondern auch Verteidigungsmittel ersonnen, die die Zerstörung abwandten. Nach der Explosion des Aktualitätsfolianten wurde die Stille in der Halle noch tiefer. Der Lärm des Krieges – wenn es einen solchen Lärm gab, was ich stark bezweifle – konnte hier in diese Halle nicht eindringen. Nur das Regenlicht wurde um einige Schatten dunkler und dämmervoller. Und es geschah dasselbe, was gestern abends im Theater geschehn war, als Io-Dos Schuß den Schädel des dienenden Bruders zerschmettert hatte: Die Versammelten verhüllten langsam ihre Häupter mit den dehnbaren Gewandschleiern von hellem Violett. Nur eine einzige Persönlichkeit, außer mir selbst, verhüllte sich nicht. Es war der Mondgeweihte. (Ich mußte daran denken, daß er gestern das Comptoir des Hochschwebenden verhüllten Haupts verlassen und somit diesen Akt der Trauer und des Nichtsehnwollens vorweg genommen hatte.) Jetzt beschrieb er mit sehr kleinen Schritten einen Kreis um die weiße Säule, wobei er je eine verabschiedende Verbeugung in die vier Weltrichtungen vollführte. Es schien, er wolle ein paar Worte sprechen; entscheidungsscheu bis zur letzten Sekunde aber unterließ er es. Sein lächelnder Blick traf mich und hielt mich fest. Der Blick sagte ausdrücklich: Gedenken Sie meines Tagesorakels, »die Fremde, die in die Heimat kommt, macht sich selbst nicht heimisch, die Heimat aber fremd.« Ich mußte Augen und Kopf senken vor diesem Blick und vor dem Tagesorakel, das meine Seele durchtönte. Noch einmal, ganz leise, schlug der Hammer Mondschattens an die hohe Säule. Schwere Flüsterworte fielen:
»... oder den Mondgeweihten selbst ...«
Ich hob meine Augen, obwohl ich wußte, daß es verboten war und daß ich es nicht tun durfte. Die Schachfiguren im riesigen Raum der schiefen Ebene standen mit ihren verhüllten Köpfen bis zum Gürtel gebeugt. Die weiße Metallsäule war nicht mehr weiß, sondern mit einem orangeroten kochenden Qualm erfüllt. Es war nicht erlaubt, das Große, was sich jetzt begab, mit Augen zu sehn. Ich neigte nur ein wenig meinen Kopf, wie es etwa der Beiwohner eines religiösen Rituals macht, das nicht das seine ist. Ich besaß freilich nichts, um mein Gesicht zu verhüllen. Und ich war entschlossen, das Große zu sehn trotz allem Verbote.
Mit kurzen leichten Schritten, als bedeute für ihn weder die Glätte des Bodens noch der scharfe Anstieg der schiefen Ebene ein Hindernis, hatte der Seleniazuse den Weg bis zum Rundbogen zurückgelegt, der in jenen dunklen Nebenraum führte, welchen ich vorhin mit einem überdimensionierten Backofen oder mit einer Bühne für Staatsaktionen und Trauergepränge verglichen habe. Vor dem Ausschnitt machte der Mondgeweihte halt, als überdenke er noch eine Obliegenheit, die er vergessen hatte. Ich fühlte seinem Rücken ein kurzes Zögern und Sichducken an. Warum sollte aber der Seleniazuse nicht auch der Natur den Zoll der Angst entrichten dürfen? Nun aber trat auch er langsam, mit unvergleichlicher Gelassenheit über die Schwelle der Finsternis und verschwand nach einigen Schritten in ihr. Das ist alles, dachte ich, und die Welt wird ihn nie mehr wiedersehn. Kaum aber hatte ich's gedacht, schlug in der Tiefe des abgedeckten Raums eine orangerote Flamme hoch, die für den Bruchteil des Bruchteils einer Sekunde Menschengestalt annahm und schon wieder erloschen war. Der Major Domus Mundi hatte die Verfassung erfüllt, die ihm gebot, sich selbst in der orangeroten Flamme des sterbenden Mondes verschwinden zu lassen, wenn er nicht die Kraft und den Willen besaß, andere derselben Flamme zu weihen, um die Weltgesittung zu retten. Er hatte diese Kraft und diesen Willen nicht besessen, sei es, weil er zu klein, sei es, weil er zu groß war. Die Regierung dieses Namenlosen, dieses nie mehr Identifizierbaren, der nun vernichtet und vergessen blieb für immer, hatte mit einem der schwersten Mißerfolge der Weltgeschichte geendet. Trotz des Unheils, das im Gange war, oder gerade wegen dieses Unheils, bereiteten die geheimen Kommissionen mit größter Eile die neue Wahl vor. Ich fühlte es hinter meinem Rücken. Als ich mich umdrehte, sah ich den Uranographen von Schachfigur zu Schachfigur eilen. Vermutlich hatte man schon die elf wahlfähigen Seleniazusen festgenommen und sie klagten und jammerten bereits in ihren Kerkern, was ich gut verstehen konnte, denn dem neuen Welthausmeier war nicht zu gratulieren.
Der alte aber hatte sich geopfert wie ... ich hätte jetzt beinah die Unvorsichtigkeit begangen, die Worte »wie ein Phönix« niederzuschreiben. Nein, der Opfertod des Namenlosen und Unidentifizierbaren war das Gegenteil der Selbstverbrennung des Sonnenvogels Phönix, welche nach Urslers erstem grundlegendem Paradoxon dann eintritt, wenn die strahlende Energie eines Lichtgestirns größer ist als sie selbst. Nicht in der Jubelflamme der Sonne hatte der Namenlose sich selbst verbrannt, weil er andere nicht verbrennen konnte. Ihn hatte die dunkelgefärbte Flamme verzehrt, in der einst der Mond vergehen wird, eine Flamme der müden Erkenntnis, der Vergeblichkeit und der Schwermut.
Das Haus war voll bis unters Dach, auf dem der bleiche Garten wuchs. Die ganze Familie Io-Fagòrs, auch entferntere Glieder schienen bei ihm Schutz zu suchen. Der Brautvater hatte dabei auch seinem Gegenschwieger, dem lieben Herrn Io-Solip und den Seinigen Obdach geboten, um ihnen dadurch zu verstehen zu geben, daß er Io-Dos schändliches Treiben für nichts Schlimmeres halte als die Flucht Lalas, und daß er im Bräutigamsvater nichts anderes sähe als einen Bruder im Unglück. All das Reden, Raten, Rauschen, Rascheln, Tuscheln und Flüstern im Hause machte mir den Kopf schwindlig, denn ich verstand nur wenig von allem.
Endlich war ich zu meinem Glück allein mit B.H. in dem kleinen Salon neben dem Speisesaal, wo es anachronistische Sitzgelegenheiten gab, und wo wir beide schon einmal zusammengesessen hatten, wie fossile Insekten im Bernstein. Ich spürte sofort, daß der Wiedergeborene von Io-Fagòr und dem ganzen Clan ausgesandt worden war, um mit mir zu sprechen.
»Nun B.H., was steht noch von der Welt?« seufzte ich.
Meines Freundes Gestalt zitterte, ja wackelte geradezu von besorgniserregender Verlegenheit. So hatte ich ihn nie gesehn. Nicht einmal in seinen nervösesten Augenblicken. Unsere Hausfreunde schienen ihm eine saubere Last aufgebürdet zu haben.
»Das wäre es nicht«, erwiderte er, seine Lippen beißend, »man hat die Dschungelleute sträflich unterschätzt. Sie kämpfen nicht mit so albernen Waffen wie die mentalen Lausejungen. Vor Fernschattenzertrümmerern, ja selbst vor den Existenznegatoren der letzten Kriege, die klein sind wie Glaserdiamanten, könnte man das nackte Leben retten, wenn man in gewissen Räumen der Lithosphäre Unterstand sucht. Man sollte es aber nicht für möglich halten, deine Konstantins und ihre Kriegsschulen in den Dschungelstädten haben eine supermentale Artillerie entwickelt. Sie schießen mit psychischen Geschossen, und weder ich noch du können wissen, ob wir nicht schon getroffen sind ...«
»Das mit der psychischen Artillerie weiß ich längst«, brummte ich und war voll Ärger, weil ich das Wesen dieser Artillerie in Bergstadt nicht erforscht hatte. Ich fragte: »Was für Geschosse unterscheidet man?«
»Sie schießen mit Depressionen und Melancholien«, betonte B.H. bitter jedes Wort. »Ich möchte dich aber ersuchen, ruhig zu bleiben, F.W. Es ist gerade in dieser Gefahr von entscheidender Wichtigkeit, ruhig zu bleiben.«
»Ich aber möchte um genauere Aufklärung gebeten haben«, brach ich los. »Das ist wohl das geringste, was ich fordern darf.«
»Nur die Ruhe hilft uns, alter Junge, nur die Ruhe«, versetzte B.H. gequält. »Soll ich dich mit psychochemischen Technizismen langweilen? Es ist kein Wunder dabei. Sie haben dem Djebel dies und dem Wintergarten das abgeguckt und in jener aggressiven Richtung ausgebaut, die wir völlig vernachlässigt haben. Das Schlimme ist, daß der Streukegel der Depressionen und Melancholien keine Grenzen kennt, das heißt überall wirksam ist, wo er Menschen begegnet, in den Intermundien oder im Innern der Erde.«
Und er fügte ganz leise hinzu: »Die ersten Verwundeten wurden schon eingeliefert, und ihre Zahl wächst von Minute zu Minute ...«
»Ich fürchte mich nicht«, erklärte ich barsch.
»Sag das nicht, mein Lieber«, warnte B.H. mit aufgehobenen Händen. »Solch ein wohlgezielter Volltreffer von konzentrierter Depression ist schlimmer als zehn Bauchschüsse, Gasverätzungen und Brandwunden dritten Grades. Dagegen sind Cholera, Darmverschlingung, Hundswut, langsames Ersticken und Gebratenwerden die reinsten Champagnergelage.«
»Du sprichst doch von Depressionen«, rief ich, »von geistigen Verwundungen? Schießt Konstantin Wahnsinn zu uns herüber?«
»Das ist es ja gerade«, pfiff B.H. »Konstantins Depressionsgranaten sind kein Wahnsinn. Gegen Wahnsinn gibt es Mittel genug und wären's nur Betäubungsmittel. Jene Geschosse aber enthalten Wahrsinn. Wirst du von einer solchen sechsundzwanzigkalibrigen Selbstanalyse getroffen, dann hilft dir kein Opiat mehr. Sie schießen mit entsetzlichen Ernüchterungen. Sie machen bewußt, was nie bewußt werden darf. Sie imprägnieren den Verwundeten mit dem radikalst negativen Aspekt des Lebens, so daß er sich nicht einmal mehr wünscht, dahinzuscheiden ... Da, sieh nur!«
B.H. wies erbleichend in den großen hellerleuchteten Speiseraum, zu dem die Tür offen stand. Dort begab sich folgendes. Ein Mann, der vor Verfolgern zu fliehen schien, stürzte mit einem summenden Klagelaut vom Eingang zum Ausgang, in dem er verschwand. Die lähmende Medusenfratze des Schreckens, die nicht mehr menschliche Maske dieses Gesichtes werde ich nicht vergessen. Ich werde sie aber nicht beschreiben, denn sie steht mir jetzt so lebhaft vor Augen, daß ich das Grauensbild lieber verjage. Hätte der silberne barocke Kopfaufsatz, der dem Mann vom nackten Schädel fiel, ihn nicht verraten, ich hätte nie und nimmer den Hausweisen erkannt, jenen von den drei Junggesellen, der vom Wortführer stets tyrannisiert wurde. Letzterer, sowie der Beständige Gast, Io-Fagòr und andere mehr kamen gelaufen, um den Unglücklichen festzuhalten und ihm beizustehen. Das Entsetzen aber gab ihm Flügel. Ich hörte, wie die Jagd in dem sonst so stillen Hause verhallte. Mir waren Zunge und Gaumen trocken.
»Verwundet«, fragte ich, »von einer Depression verwundet?« und meine Stimme klang ganz rauh.
»Vielleicht nur gestreift, von einem panischen Trauma gestreift«, flüsterte B.H., »oder von einem Sprengstück der sogenannten Erfüllungsenttäuschung. Er hatte sich oben verspätet und ist in eine Verkehrsstockung geraten, denn die Zusammenstimmer sind den Anforderungen nicht mehr gewachsen. Doch was tut's? Auch hier in den Häusern sind wir schutzlos ...«
Ich fuhr hoch und streckte mich starr.
»Und was hat man beschlossen, B.H.? Was gedenkt man zu tun?«
»Nur Ruhe, mein Lieber, Guter«, bat der Freund, beinahe flehentlich. »Starke Nerven sind die einzige Abwehrkraft, über die unser Organismus verfügt. Und nun, bitte, setz dich wieder schön nieder und erlaub mir, ein paar offene Worte zu sagen ...«
Er nahm meine beiden Hände und zog mich auf den Sitz zurück. Da ich sah, daß Tränen in seinen guten dunklen Augen standen, wurde ich für einen Augenblick etwas weicher und gefügiger.
»Ich bin der Schuldige, F.W., und ich leugne es nicht«, begann er. »Es ist natürlich kein Zufall, daß ich gerade dich aus dem Alphabet gestochen habe und zitieren ließ.«
»Wozu diese alten Geschichten«, unterbrach ich ihn, wieder grob werdend, »das ist doch augenblicklich alles Zimt ...«
»Was ist es?« fragte er verständnislos. »Meinst du etwa, es sei gleichgültig? Mir ist es nicht gleichgültig. Gewiß, ich bin schuld daran, daß du hier bist. Aber ohne Zweifel hast du an dem Ort, wo du warst, an mich gedacht und dich dadurch in Evidenz gebracht.«
»Meines Wissens, B.H., hab ich zuletzt im April 1943 an dich gedacht, und zwar mit ziemlich schlechtem Gewissen. Etwas lange her, nicht wahr? Ob ich im Fegfeuer – das scheint meine ständige Adresse zu sein – an dich gedacht habe, das weiß nur Gott allein. Die Lokalität ist eine einzige Depression und Melancholie, aber soweit ich's im Gefühl habe, läßt es sich ertragen, und man hat ein paar Chancen und ein Ziel. Unter den gegenwärtigen Umständen ist es jedenfalls eine weit bessere Adresse als diese hier ...«
»Aber das ist ja ganz die Meinung des Hauses Io-Fagòr«, rief B.H. und lächelte mit gespielter Überraschung.
»Von was für einer Meinung sprichst du?« brummte ich.
»Ich spreche nicht von den diversen Vorstellungen, die sich die Familienmitglieder vom jenseitigen Leben machen. Ich spreche davon, daß sie allgemein beschlossen haben, das diesseitige Leben zu verlassen; etwas vorzeitig die meisten von ihnen, aber auf völlig legitime Weise, freiwillig nämlich und zu Fuß. Die letzte Wegstrecke zum Wintergarten legt man zu Fuß zurück. Trotz deiner Theorien vom Gefahrenwerden, F.W. Angesichts des unabsehbaren Schreckens, welcher vor uns liegt, halte ich diesen Beschluß für nicht unvernünftig. Was die tiefgebeugten Eltern der Hochzeiter anbetrifft, so ist dieser Beschluß sogar verständlich, auch wenn man nicht an den Schrecken denkt, der vor uns liegt. Keinesfalls aber könnte ein Aristokrat wie Io-Fagòr den Untergang der astromentalen Gesittung überleben ...«
»Ist das nicht eine Art Selbstmord?« fragte ich mißtrauisch.
»Selbstmord heißt, Hand an sich selbst legen«, entgegnete B.H. schnell. »Im Wintergarten legt niemand Hand an sich selbst. Der Wintergarten birgt das einzig mögliche kultivierte, komfortable, ja luxuriöse Ende aller menschlichen Dinge. Das »Übel«, das »Böse«, die notwendige Mißlungenheit der Natur, worüber wir sooft philosophiert haben, F.W., ist dort im Wintergarten durch die Kraft des forschenden Geistes ausgeschaltet. Nicht mehr feiern die Würmer ihre Feste. Nicht mehr füttern wir die Erde mit der Jauche unsrer ehemals hochbeseelten Gestalt. Nicht mehr weihen wir den Leib einer kremierenden Flamme, die uns mitsamt von Brettern, Sägspänen und anderm Mist im Glutofen hochsetzt, zermalmt, verkohlt und zu schmutziger Asche macht. Doch wichtiger als das, wir sterben nicht. Ich gebrauche das Wort offen. Wir werden nicht mehr, mit Angst und Todesschweiß auf der Stirn, gefällt von Apoplexien, Thrombosen und Krebsgeschwüren. Die Menschheit hat an Stelle all dieser Schrecken einen reinen und heiligen Prozeß eingeführt, der so schön ist, daß die Toten untröstlich sein sollen, ihn nicht wiederholen zu dürfen.«
»Das war ein prächtiger Lobgesang, B.H.«, sagte ich, ohne meinen spöttischen Ton unterdrücken zu können.
»Ich bin nichts als aufrichtig zu dir«, versetzte er kurz.
»Und was hast du beschlossen, B.H.?«
»Es fragt sich, was du beschlossen hast, F.W. Du bist hier das Hauptproblem, nicht ich. Darin sind alle Hausgenossen einig. Doch welche Entscheidung du auch triffst, ich werde bei dir bleiben. Den Wintergarten allerdings solltest du ebenso sehen wie du den Djebel gesehen hast.«
»Du brauchst mir deinen Wintergarten nicht länger zu offerieren, B.H., ich habe ihn schon gekauft. Ich akzeptiere den allgemeinen Beschluß. Was soll ich auch anderes tun.«
Mein Freund wandte sich mit einem Ruck zu mir und sah mich scharf an.
»Dieses dein ›was soll ich auch anderes tun‹«, sagte er, »bringt einen falschen Ton in die Sache. Zur Freiwilligkeit des letzten Weges gehört auch eine gewisse Freudigkeit, ein rechtes Einverstandensein. Diese Empfindungen unterscheiden den Kulturmenschen, der weiß, wann es genug ist, vom Barbaren, der nicht aufhören kann, zu schlecken und zu schlingen ...«
»Höre, B.H.«, unterbrach ich ihn, »mach dir nichts vor und laß uns realistisch bleiben. Ich will weder von Depressionen und Melancholien, noch von panischen Traumata und Erfüllungsenttäuschungen verwundet werden. Und was hab ich sonst für Aussichten in dieser öden Welt, die sich wieder einmal selbst zerstört? Freiwilligkeit und Freudigkeit hin und her. Der Wintergarten ist immerhin ein Ausweg.«
Der Wiedergeborene stützte den Kopf traurig in seine Hände. »Es ist mir schrecklich, unsagbar schrecklich«, bekannte er, »daß es mit uns so blamabel ausgefallen ist. Ich habe mich ganz diebisch gefreut, als ich dich wiedersah. Ich habe mir vorgestellt, wir werden Fest auf Fest feiern, und du wirst viel Freuden haben und ganz hingerissen sein ...«
»Das bin ich auch, lieber Freund«, tröstete ich ihn. »Ich bin von vielen Dingen hingerissen, noch immer und trotz allem ... und an den andern bist du nicht schuldig.«
»Zu schade«, seufzte B.H. noch einmal auf.
Dann führte er mich in das Zimmer, wo ich der Sippe der Hochzeiter zum erstenmal erschienen war. Alle hatten sich versammelt. B.H. brauchte kein Wort zu sprechen. Man sah mir am Gesicht an, daß ich willens war, mich der Familie anzuschließen auf dem letzten freiwilligen Wege. Eine brüderliche Wärme schlug mir entgegen. Ich gehörte zu ihnen. All diese jugendschönen Männer und Frauen, die meisten im gesetzten Alter, traten auf mich zu und umarmten mich mit leiser Berührung, soweit sie die astromentale Erziehung gestattete. Io-Fagòr zog mich sogar an seine Brust. Nur GR3 verhielt sich merkwürdig. Sie drückte sich abseits, und ihre tiefliegenden Augen wanderten unruhig von einem zum andern. Io-Fagòr hatte inzwischen einen kleinen blitzenden Schlüssel hervorgezogen, mit dem er eine verborgene Tür aufschloß, die in einen langen Korridor führte.