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Dritter Tag
Die Flucht aus dem Wintergarten
Es gibt zwei Grundarten von Engeln. Die einen halfen dem Menschen von Anfang an, die Erde wohnlich einzurichten. Die andern verhinderten ihn daran. Die Menschheit ist noch lange nicht reif genug, damit man vor ihr enthülle, welche von diesen Engeln die guten sind und welche die bösen.
Valentinus, der Gnostiker. Zitiert aus dem »Syntagma« des Hippolytus um 170 nach Christi Geburt.
Worin ich die Vorbereitungen in Dschungel-Bergstadt aus nächster Nähe beobachte, von einer verwandelten Lala Abschied nehme und gänzlich unvermutet zum Unterhändler bestimmt werde.
Und da saß ich nun wieder einmal an einem richtigen eichenen Ratskellertisch, in einem großen, rauschenden, raucherfüllten Lokal, von dem ich den bestimmten Eindruck davongetragen habe, daß es »Brauhaus zum Mittelpunkt« hieß. – Dürfte ich mit diesem lebhaften Satz das untenstehende Kapitel beginnen, wäre uns beiden geholfen, dem Leser und mir. Doch gerade darin liegt ja die Schwierigkeit. Ich darf mit solchen vitalen und wangenroten Sätzen den Sprung in medias res nicht wagen. Das widerspricht dem inneren Gesetz dieser Reiseerzählung, das mir befiehlt, die epische Illusion zu vermeiden und um der heiklen Wahrheit willen den Leser immer wieder hinter die Kulissen meiner Arbeit zu führen.
Auf meinem Schreibtisch liegen viele, viele Zettel, vollgekritzelt mit raschen Notizen. Ich treibe keinen plumpen Schwindel und behaupte nicht, daß ich diese Notizen mitgebracht habe. Immerhin aber gehören sie zu den ältesten Dokumenten meiner Reise, man möge dieselbe definieren als was immer man will. Diese Notizen, meinen Aufenthalt im innern Dschungel betreffend, gehören nämlich zu den Aufzeichnungen, die ich bereits in den ersten Tagen nach meiner Rückkehr in das Jahr 1943 aufs Papier geworfen habe, und zwar meist in einer Schrift, die ich selbst nur mit Mühe entziffern kann. Ich greife wahllos folgendes heraus:
»Vergiß nicht, daß Dschungel-Bergstadt wirklich eine Bergstadt mitten im Dschungel war, vielleicht hieß sie Montin, ich weiß es nicht mehr. Das Wesentliche was ich weiß und was mich noch immer wundert, Bergstadt war nicht antik, nicht italienisch, nicht spanisch, nicht mexikanisch, obwohl sie hätte erwartungsgemäß am ehesten mexikanisch sein müssen mit Indios und Mestizen, da wir uns in Californien befinden. So logisch aber ging es nicht zu. Bergstadt war eher slawisch oder vielleicht schottisch, nüchtern, während die Bauern der Umgebung aus unbekannten Gründen Albanern glichen.« – »Man hatte mir die Augen verbunden. Ich konnte ja ein Spion der Mentalen sein.« – »Wie soll ich die Quintessenz der Vision klar machen? Das, was mich noch jetzt am stärksten beunruhigt, ist folgende Frage: Wie konnten astromentale Panopolis (öde, graue Nervensubstanz) und Dschungel (altfränkisch, biertrinkend, bäuerlich, magisch) nebeneinander auf derselben Erde existieren? Diese Coexistenz war mir selbst so unsagbar evident. Jeder Versuch, den Widerspruch zu überbrücken, wie zum Beispiel die Behandlung der Frage, warum Bergstadt unter dem ewig blauen Himmel grau ist, wird die Evidenz des Erlebten herabsetzen.« – »Die mentale Tageszeit schien auch von der Tageszeit im Dschungel verschieden zu sein trotz derselben Sonne. So auch schienen zwischen der Lala der kurzverwichenen Nacht und der Lala dieses Morgens ganze Wochen und Monate zu liegen.« – »Ich weiß nicht mehr, ob's eine Schwebe-, eine Seilbahn war wie zum Beispiel in Bozen, die mich nach Bergstadt oder Montin brachte. Obgleich ich sofort einnickte, hatte ich eher das Gefühl in der Scenic Railway eines Lunaparks zu sitzen. Jedenfalls ging alles im Hui ...«
Die obigen Zitate bilden nur eine schmächtige und ganz zufällige Auswahl jener Erinnerungen wie ich sie zu Hunderten hingefetzt habe, als sie noch frisch waren. Inzwischen haben sich diese Erinnerungen kaum wesentlich verdunkelt. Ich schiebe jetzt vor dem Auge des Lesers deutlich den Zettelhaufen zur Seite, weil viel zu viele Details durch ihn in mir wachgerufen werden, welche einer knappen Darstellung meiner Mission im Dschungel im Wege stehn würden. Das Wort Mission rutscht soeben in die Zeile. Daß sich meine moralische Absicht, Lala zurückzuholen, oder meine unmoralische Absicht, mit ihr im Dschungel zu leben, so plötzlich zu einer Mission und gar zu einer politischen Mission entwickelte, das hätte ich selbst am wenigsten gedacht. Mein Auge fällt noch einmal auf den obersten der fortgeschobenen Zettel. Dort lese ich zwei Fragen: »Warum waren die Wachen mit den Alpenstöcken abgezogen?« – »Wer war's, der mir die Augen verband wie einem Parlamentär?«
Die erste Frage kann ich nicht beantworten. Sie beweist mir aber, daß ich die Wachen entlang der Brustwehr vermißte, als ich in den Festungsgraben hinabkletterte. Wahrscheinlich war Verrat im Spiel.
Die zweite Frage ist leicht beantwortet. Eine Gruppe von sonntäglich gekleideten Dschungelbauern schien mich erwartet zu haben. Sie entschuldigten sich in einem rauhen Berglerdialekt der Monolingua (den ich aber ausgezeichnet verstand), daß sie den Auftrag hätten, mich mit verbundenen Augen nach Bergstadt zu bringen. »Bitte, bitte«, lachte ich, »ich lasse mir gerne die Augen verbinden, wenn man mich nur rasch genug zur Vorzugsbraut Io-La transportiert.« Es sei eine ganze Anzahl der ehedem taubengrauen Bräute im großen Brauhaus versammelt, und der Transport werde nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, da es ja keinen Sinn habe, den langsamen Aussichtswagen zu benutzen, sondern der Expreßcaisson schon bereit stehe. »Um so besser.« Einer der braunhäutigen Skipetaren oder Edelzigeuner entfaltete ein rotes Seidentuch und verband mir respektvoll die Augen.
Als man mir in Bergstadt vor dem Brauhaus des Mittelpunkts das Tuch wieder abnahm, konnte ich in aller Ruhe einen Blick um mich werfen. Ich befand mich, das war mein Eindruck, in einer ziemlich trostlosen Provinzstadt, die auf unebenem Terrain erbaut, aus nicht breiten, aber stark ansteigenden Straßen bestand. Die grauen Häuser, drei- und vierstöckig, mit ganz glatten Fassaden, entbehrten jeglicher Charakteristik und zeichneten sich einzig dadurch aus, daß ihre Fensterfronten keine durchsichtigen, sondern grünliche Mattscheiben besaßen, welche die Bewohner vor dem starren und grellen Sonnenlicht dieser Erdepoche zu schützen hatten. Hätte ich einen gewiegten Kulturhistoriker zur Seite gehabt, er hätte wahrscheinlich festgestellt, daß die Entwicklung jenes Rückfalls, den die astromentalen Menschen ohne jede Berechtigung »Dschungel« nannten, ungefähr beim Jahre 1860 angelangt sein müsse, in der Frühepoche Victorias und Franz Josephs, Darwins und der Hochindustrialisierung der Welt. Und dennoch, trotz gewisser äußerlich auffälliger Analogien, zeigte Bergstadt eine ganz und gar verschiedene Stimmung als jenes Zeitalter meiner Großväter, das ich noch als Echo in meiner Kindheit zu fühlen bekommen hatte. Die verhaltene, abweisende, ja drohende Stimmung von Dschungel-Bergstadt, nicht minder fremd für mich als die der astromentalen Welt, erstickte in mir den Argwohn, daß ich etwa auf meiner unfreiwilligen Forschungsreise in zwei verschiedene Geschichtsperioden hineinmaterialisiert worden sei. Nein, es konnte kein Zweifel darüber herrschen, daß die Dschungel nicht nur auf derselben Erde lagen, sondern auf den Gleisen derselben Geschichtszeit liefen wie Panopolis, Geodrom und Djebel.
Die biderben Dschungelleute mit ihren Jankern und roten Zipfelmützen empfahlen sich altmodisch mit Handschlag von mir, worauf mich zwei städtisch Gekleidete übernahmen. Ich sage »städtisch gekleidet«, bin aber nicht imstande, diese städtische Kleidung aus meiner Erinnerung näher zu beschreiben. Sie war gewiß für meine Augen so gewöhnlich, daß ich sie weiter nicht beachtete und annehme, daß sie der normalen Kleidung meines eigenen Vorlebens ähnlich gewesen sein muß. Vice versa erweckte auch mein schwarzes Fest- und Begräbniskleid weder Aufsehen noch Spott. Wir schritten durch einen breiten, dunklen Torgang, der voll war von Fortgehenden und Ankommenden, und gelangten über eine ausgetretene Treppe in die große Halle des Brauhauses. Trotz des frühen Morgens waren die meisten Tische schon besetzt. Vielleicht ist es Markttag, dachte ich. Denn ich konnte nicht einen Augenblick daran zweifeln, daß wir uns hier wiederum in einer »ökonomischen Welt« befanden, in einer Welt des munter-jämmerlichen Kaufens und Verkaufens. So, und jetzt ist es Zeit für den ersten Satz dieses Kapitels, den ich vorhin so schnöde allein gelassen habe:
Und da saß ich nun wieder einmal an einem richtigen eichenen Ratskellertisch, in einem großen, rauschenden, raucherfüllten Lokal, von dem ich den bestimmten Eindruck davongetragen habe, daß es »Brauhaus zum Mittelpunkt« hieß. Ich sah, daß die Gäste ringsum braunes Bier aus steinernen Krügen tranken, und ich freute mich leidenschaftlich auf diesen ebenso unvergessenen wie langentbehrten Genuß. Meine Begleiter lasen mir den Wunsch von den Augen und lächelten einander zu.
»Die Zuträgerin wird bald da sein mit ihrem Trunk«, sagte der eine, worauf sich beide empfahlen. Der andere drehte sich aber noch einmal um und rief mir mit unterdrückter Stimme zu:
»Der General wünscht Sie selbstverständlich zu sehen.«
Der General, dachte ich, das kann gut werden. Doch mir blieb nicht viel Zeit, über diesen General, der mich sprechen wollte, zu erstaunen, denn ein lauter Chorgesang lenkte mich ab. Mag sein, es war nur ein Vokalquartett oder vielleicht Sextett und kein Chor, das von einem fernen Podium herabschallte, jedenfalls aber war es tönende und keineswegs nur innere Musik, die den Dschungel von der Welt des Sympaians unterschied. Es mußte zweifellos der übliche Gasthauschor sein, wie er zum Frühschoppen in Dschungel-Bergstadt gesungen zu werden pflegte. Ich bemerkte in meiner Umgebung, daß mancher unter den Zechern an den Tischen mitsummte oder mit Hand und Fuß den Takt schlug. Doch gerade diese Weisen der Sänger bewiesen mir, daß mein Eindruck, der Dschungel sei ein Rückfall bis 1860, eine bloße Illusion war. All diese Chorweisen (und auch ihr Tonsystem), langsam, knautschend, indolent traurig, gehörten einem gänzlich fremden Zeitalter an.
Es dauerte nicht lange, und das schaumgekrönte dunkle Bier im Steinkrug stand vor mir auf dem Tisch. Ich tat einen langen leidenschaftlichen Zug. Die wilde Befriedigung, die der Trunk in mir auslöste, war nicht zu vergleichen mit derjenigen, welche ich gestern nach dem Genuß der heidnischen Mahlzeit von Wasser und Käse, der christlichen von Wein und Brot und der jüdischen von Milch und Honig empfunden hatte. Ich wollte gerade zum zweiten Male den Krug ergreifen, als ich spürte, daß die Zuträgerin noch immer am Tische verharrte. Ich nahm an, es sei hier Gepflogenheit, die Zeche sofort zu begleichen, eine mißtrauische und abweisende Zumutung populärer Gaststätten. (Wir befinden uns im Urwald des Elften Weltengroßjahrs der Jungfrau, inmitten der altertümlichsten Ökonomie, an solchen Kleinigkeiten merkt man's.) Ich erinnerte mich, daß man glücklicher, aber schlampiger Weise in den Hosentaschen meines Fracks einige Vierteldollar und kleinere Münzen zurückgelassen hatte, die mit derselben peniblen Sorgfalt wieder hergestellt waren wie der Leberfleck auf meinem rechten Arm und der Goldzahn links oben. Ich griff in die Tasche und zog drei Vierteldollar heraus, um nicht nur mein Bier zu bezahlen, sondern auch ein gutes Trinkgeld der Zuträgerin zu geben. Die Überlegenheit des amerikanischen Zahlungsmittels über jede andere Geldsorte war solch eine dogmatische Erfahrung meiner verflossenen Lebenszeit, daß ich auch in Dschungel-Bergstadts Brauhaus zum Mittelpunkt nicht zweifelte, ich werde für meine drei Vierteldollar die unterwürfige Danksage der Zuträgerin ernten. Der Zufall oder meine Ungeschicklichkeit aber wollte es, daß eine der Münzen meiner Hand entfiel und unter den Tisch rollte. Ich bückte mich nach ihr, wobei der Männerchor besonders laut in mein Ohr dröhnte. Da sah ich zwei elfenbeinblasse Frauenfüße mit edelgeformten Nägeln auf goldenen Kothurnen. Ich erhob mich langsam. Ich wußte, wen ich vor mir hatte, wenn auch Lala nicht mehr in ihr taubengraues Brautschleierkleid gehüllt war, sondern eine Art Bauerngewand trug, mit viel Goldstickerei und sichtlich damenhaft modifiziert. Heut macht's ihr noch Spaß. Aber wie wird es morgen sein? Das war mein erster Nebengedanke, während ich laut ausrief:
»Lala! Was haben Sie getan? Jetzt sind Sie ja plötzlich in die Ökonomie verstrickt. Sie Ärmste ...«
»Warum ich Ärmste?« fragte Lala erstaunt.
»Sie verstehen noch nicht, was Ökonomie heißt, Lala. Sie heißt: Keine Leistung ohne Gegenleistung. Sie bedeutet, daß Sie sich selbst verkaufen müssen auf welche Art auch immer, um essen und trinken zu dürfen.«
»Es gefällt mir sehr gut hier trotz Ihrer Ökonomie. Ich hab auch immer sehr gern Kaufen und Verkaufen gespielt.« So sprach Lala, und in diesen ihren Worten klang ein forcierter trotziger Ton.
Ich legte die drei Fünfundzwanzigcentstücke auf den Tisch:
»Fast hätte ich Ihnen jetzt ein Trinkgeld gegeben«, murmelte ich. »Ist das nicht furchtbar, ist das nicht entsetzlich?«
»Warum entsetzlich?« fragte sie, und ihre tiefblauen Augen waren unschuldig und schimmerten zugleich vor Gier. »Schenken Sie mir doch das Silber, Seigneur.«
Sie wartete gar nicht meine Antwort ab, sondern ihre feenhaft mentale Hand griff nach dem Gelde, liebkoste es und ließ es im Busenausschnitt ihres goldgestickten Mieders verschwinden.
»Wissen Sie nicht, daß Sie jetzt bezahlt worden sind, Lala, nicht nur das Bier, sondern auch Sie selbst?«
»Was ist das ›bezahlt‹«, lachte sie, »ich finde es besonders hübsch, bezahlt zu werden.«
Sie ließ sich auf einem der leeren Stühle nieder, die um den Tisch standen. Auch in diesem Entschlusse, sich zu setzen, eine »gebrochene Linie« zu bilden, fühlte ich etwas Absichtsvolles und Forciertes. Der Kopf wurde mir so schwer von einer unnennbaren Trauer, daß ich ihn in die Hand stützen mußte. Viel Bitterkeit kam mir über die Lippen. Vielleicht aber glaubte ich nur zu reden und in Wirklichkeit schwieg ich:
»Es ist gut, daß es außer meinem Freund B.H. nur wenige Wiedergeborene gibt, die sich erinnern. Sonst müßte man ja verrückt werden über die Geschichte der Menschheit. Endlich habt ihr die Ökonomie überwunden und braucht euch nicht mehr an Stärkere oder an den Staat zu verkaufen, und ihr habt den zentralen Arbeiter, den goldbrummenden, der euch die Suppen und Kleider und Zahnbürsten und Babyschuhe und das ganze Mobiliar aus den Quellen und Kräften herausholt, und schon wieder ist ein Dschungel da, voll säuischen Getümmels und mit gepflasterten Straßen, und die Hände der herrlichsten Bräute greifen nach Kleingeld. Drei Schritte vor und zwei zurück, das wäre noch ein Gottesbeweis. Aber zwei Schritte vor und drei zurück, das ist sinnlos, das läßt sich nicht ertragen ...«
Lala sah mich verständnislos an, da ich vermutlich nur die Lippen bewegt hatte. Ich aber schlug mit der Faust auf den Tisch: »Ich nehme völlig die Partei Ihres Vaters, Lala«, rief ich lauter als gut war. »Machen Sie sich sofort fertig. Ich bringe Sie nach Hause. Noch können wir zurück sein, ehe Ihre Eltern erwachen.«
Der Männerchor der Gasthausmusik machte gerade eine Pause, so daß in dem Lokal Stille eintrat und das trübe Auge gar manchen Zechers sich mir zuwandte, da ich meiner erregten Stimme freien Lauf gegeben hatte. Lala aber beugte ein wenig das schöne Haupt, welches sie mit einem bunten Kopftuch verhüllt hatte, und sagte nur: »Nein. Nie.« Und dieses »Nie« hatte dieselbe Unwiderruflichkeit, wie bei ihrem nächtlichen Besuch in meinem Zimmer vor einigen Stunden. Und jetzt fühlte ich das, was ich in meinen ersten Notizen nach meiner Rückkehr aufgezeichnet hatte: Die wenigen Stunden zwischen Lalas Besuch in meinem Zimmer und diesen Minuten hier im Brauhaus von Dschungel-Bergstadt wogen Wochen und Monate schwer. So sehr, so bis auf den Grund war Lala verwandelt. Der Dschungel hatte sie verschluckt. Eingedenk meiner eigenen Erlebnisse auf Johannes Evangelist und Apostel Petrus hätte ich weniger verwundert sein sollen. Jener hatte mich noch weit geschwinder merkurisiert und dieser jovisiert, als das rückfällige Leben im Bierhaus das Mädchen Lala sich angepaßt hatte. Ich muß gestehen, mich ergriff ein heftiger Schmerz darüber, obwohl ich eigentlich hätte befriedigt sein müssen, daß Lalas unglaubliche Anpassungsfähigkeit an den Dschungel sie mir historisch immer näher brachte. Aber das war es ja gerade. Die Annäherung entfernte sie zugleich, wie fühlte ich das. Und ich wußte den Grund. Wenn ich nun die folgenden Fragen stellte, so tat ich es schon mit der perversen Lust des Verwundeten, der seine Wunde mit Alkohol betupft, damit sie noch mehr brenne:
»Habe ich Sie richtig verstanden, Lala«, begann ich heuchlerisch, »Sie wollen nie mehr in Ihre Welt zurückkehren, nie mehr ins Haus Ihrer Eltern, nie mehr Ihre Lieben sehen, nie mehr Ihre Welt, und verschwinden für immer in solchen Höhlen wie diese hier? ...«
Ich machte eine bewußte Pause, um ihr Zeit zu lassen, heftig den Kopf zu schütteln, um ihrem »Nie« Nachdruck zu verleihen. Ihr Gesicht war ganz blaß geworden. Jetzt erst stieß ich zu mit meiner Frage:
»Sie wollen nicht zurückkehren, das heißt Sie wollen, daß ich hier im Dschungel bei Ihnen bleibe und mit Ihnen lebe?«
Lalas Schreck bei diesen Worten war so entwaffnend offen, daß ich mit Bedacht meine schmerzliche Wollust weiter auf die Folter streckte.
»Ich habe über Ihren Besuch und all das, was Sie mir in meinem Zimmer gesagt haben, scharf nachgedacht, Liebste. Mehr als das: Ich bin hierher gekommen, dem Rat Ihrer weisen Ahnfrau gehorchend, von der Sie so manche Eigenschaft geerbt zu haben scheinen. Alle meine moralischen Argumente daheim waren verlogen und feige. Ich nehme sie hiermit offiziell zurück. Der Altersunterschied zwischen Ihnen, Lala, und mir ist eine Lappalie. Und wäre ich selbst, wie Sie ausgerechnet haben, dreiundneunzig Jahre alt, was ist das schon? Ich könnte gut noch zwanzig Jahre älter sein, ohne auf Sie verzichten zu müssen. Mein Leben ist vollkommen regulär, wenn ich auch nicht genau weiß, wie ich wiederum zustande gekommen bin. Hauptsache, ich bin ein Aikmetant und Eumelieur. Sehen Sie hier, ich spanne meinen Bizeps, daß Sie ihn durch den dicken Stoff meines Fracks hindurch spüren können. Hat ein Gespenst solche Muskeln? Dasselbe gilt von meiner Moral. Ich bin weder Ihrem Vater, Ihrer Mutter, Ihrer Ahnfrau noch B.H. noch sonst wem die leiseste Anständigkeit schuldig. Im Gegenteil, nicht ich habe wen zitiert, sondern man hat mich zitiert. Auch wissen Sie selbst genau, daß ich durch keinen Blick und noch weniger durch schwüle Verführungskünste um Sie geworben habe. Als ich Ihre Brust berührte, Lala, waren meine Gedanken furchtsam und keusch. Es ist wahr, die Hand Ihrer Ahnfrau hat meine Hand auf Ihre nackten Brüstlein gelegt, damit die primitiven Kräfte des Altertums in mir auf Sie übergehen. Ob das nun geschehen ist oder nicht, es war eine gefährliche Spekulation. Sie haben Ihren Entschluß gefaßt und ausgeführt. Ich tue jetzt dasselbe, Lala, denn ich kann ohne Sie nicht leben. Darum bin ich hier. Ich nehme Ihren Antrag von heute nacht an.«
Lala ließ langsam ihren Kopf sinken. Ich rückte ihr näher und faßte sie bei der Hand:
»Sie haben doch nicht vergessen«, sagte ich, »daß Sie mich geküßt haben?«
Lala zuckte mehrmals mit dem Mund, ehe sie leise hervorbrachte:
»Man hat mir hier eine Arbeit anvertraut ... Und ich bin so stolz darauf ...«
»Arbeit, Liebste, Arbeit«, nickte ich, hoch befriedigt aber mit zusammengebissenen Zähnen. »Da sieh einer nur an, wie schnell das geht. Im Handumdrehen ist man merkurisiert oder ökonomisiert. Vor fünf Stunden war Ihnen das Wort Arbeit noch so fremd wie das Wort Tod. Ihre astromentalen Vorfahren, Lala, haben Sie von der Arbeit befreit. In den Anfängen der Menschheit aber, aus denen ich komme, mußten Mann und Weib arbeiten. Und das war gut so, sonst hätten sie sich noch öfter gegenseitig totgebissen, als es schon geschah. Ich ehre Sie, Lala, wenn Sie als Kellnerin arbeiten. Und auch ich werde mir eine Arbeit suchen, denn nun sind wir wieder in die Ökonomie verstrickt, in diese primäre Folge des Sündenfalls ... Zuerst aber werde ich eine Wohnung für uns suchen. Vielleicht kann mir der General dabei helfen.«
Ich wußte genau, was ich tat, als ich das Wort General an diesem Punkte ins Gespräch mischte. Die Bezeichnung ist übrigens kein sprachlicher Notbehelf und bloßer Ersatz für einen Begriff der Monolingua. Der General hieß hier wirklich General. Ich wußte alles. Nicht ohne Wirkung waren auf mich in diesen Tagen die clairvoyanten Fähigkeiten der fortgeschrittenen Menschheit geblieben. Mein Vorwissen und mein Ahnungsvermögen hatten sich unglaublich erhöht. Als Lala das Wort General aus meinem Munde hörte, hob sie die Augen und sah mich lange an. Ganz plötzlich begann sie zu weinen.
»Tränen«, fragte ich mit tückischer Verwunderung, »warum Tränen? Geht nicht alles am Schnürchen? Früher haben Sie nur aus reiner Ungezogenheit geweint, Lala. Ein paar Stunden Dschungel genügen, und schon müssen Sie aus echtem Leid plärren ...«
»Das ist nicht wahr«, sagte sie und funkelte mich kalt an. »Ich habe weder geplärrt noch geweint. Ich bin nur nicht an diesen beißenden Rauch gewöhnt.«
»Gewöhnen Sie sich beizeiten an diesen beißenden Rauch, Lala. Denn nicht nur ich war ein starker Raucher mein Lebtag, sondern der General ist es noch immer.«
»Das ist nicht wahr«, entfuhr es ihr, »der General hat mir vorhin versprochen, das Rauchen aufzugeben ...«
»Danke sehr«, sagte ich, »mehr brauche ich nicht zu wissen.«
Bei diesen Worten erhob ich mich vom Tisch. Meine Hände zitterten vor Kränkung. Mein Hals war geschwollen, und ich konnte kaum sprechen:
»Ich leugne nicht, daß ich in Sie verliebt bin, Lala. Ich leugne nicht, daß Sie mich tief verletzt haben durch Ihr Benehmen. Ich habe so manchen Verrat, so manche Untreue an Frauen erlebt. Ihre Flatterhaftigkeit aber schlägt jeden Rekord. Hat die Natur deshalb hunderttausend Jahre an der Verfeinerung des weiblichen Geschlechts gearbeitet, bis zur Monopädie, damit drei Stunden im Dschungel genügen, um aus Ihnen das zu machen, was Sie jetzt sind?«
Ich unterbrach mich, denn jetzt mußte ich meine eigenen Augen zudecken, um mich nicht zu verraten. Wie tief fühlte ich, daß ich so nicht sprechen durfte, wie ich sprach. Ich selbst war mir unsympathisch ohne Grenzen. Welch ein Zwang war's, der mich von allem Anfang an dazu vermochte, dieses Mädchen immer wieder zu schulmeistern? Hatte ich ein Recht an sie? Ein Recht zur Eifersucht? Wegen des stattlichen und lebfrischen Kerls, der dieser General sicher war? Gern möchte ich annehmen, daß ich mich aus moralischen Gründen selbst widerwärtig machte, um Lala gänzlich von mir abzubringen. Das wenigstens schien mir restlos gelungen zu sein, denn ich spürte in allen Nerven, wie lästig ich ihr war, und wie sie mich los sein wollte. Zugleich aber litt ich unsagbar darunter, daß sich ihre Assimilierung an den Dschungel so rasch vollzogen hatte. In diesem Augenblick betete ich die astromentale Zivilisation an und verfluchte dieses Dschungel-Bergstadt, wo man Bier trank, Quartett sang, wo es Generale gab und Geld wieder Wert hatte. Ohne mich vor den neugierigen Zechern rings an den Tischen zu schämen, legte ich meine Hände auf Lalas Schultern und erhob erregt meine Stimme:
»Ich beschwöre Sie, Lala, kommen Sie zurück. Ich flehe nicht für mich, ich flehe für Sie. Ich weiß, daß Ihr nächtlicher Besuch gestern mir nicht den geringsten Anspruch gibt. Ich will aber nicht, daß Sie verkommen, daß Sie verdschungeln, daß Sie um hunderttausend Jahre zurückgehen. Ich will, daß Sie ewig, ewig viel zu hoch sind für mich. Kommen Sie, gehen wir, laufen wir schnell davon. Vielleicht hat Ihnen der General Ihr Geduldspiel fortgenommen. Ich aber habe das meine noch ...«
So sprach ich, während die Gäste an den Tischen uns neugierig mit ihren schwimmenden Augen beguckten. Lala hielt ihr Gesicht abgewandt. Ich glaubte fest, es sei die Wirkung meiner Worte, sie aber blickte auf zwei Männer, die auf mich zuschritten. Der Chorgesang brach mitten in einem Stück ab. Die Männer ersuchten mich mit Höflichkeit, ihnen zu folgen.
Das Zimmer sah genau so aus, wie man sich das improvisierte Büro eines Kommandanten zu allen Zeiten vorzustellen hat. Ein kahler Raum mit zwei Fenstern. Ein nackter Tisch, auf dem zwei Aktenstücke lagen, drei Buntstifte, eine plumpe Taschenuhr neben einer halbgeleerten Kaffeetasse. Ich will's nicht mit voller Sicherheit behaupten, da ich keine Notiz darüber besitze, aber während ich dieses schreibe, dünkt es mich jetzt, daß ich dort auch eine große Reliefkarte an der Wand gesehen habe, auf der geschrieben stand, und zwar mit griechischen oder zumindest cyrillischen Buchstaben: »Unterirdisches Wohnnetz, Sektor California-Süd«. Mag das Ding nun eine Landkarte sein oder etwas anderes, eines kann ich mit Bestimmtheit behaupten, ich habe an der Wand des Büros die Worte »California-Süd« gelesen. Diese Tatsache machte starken Eindruck auf mich, weil sie bewies, daß der Dschungel, in dem ich mich befand, tatsächlich im ehemaligen California lag, was vermuten ließ, daß die verschiedenen Sektoren der bewohnten Erde jede ihren eigenen Dschungel und somit auch ihre eigene Gefahr besaßen.
Andererseits aber beunruhigten mich die Widersprüche, von denen diese zukünftige Erde bei meinem kurzen Besuche so voll war. Hätte man nicht vermutet, in einem Dschungel, der dem ehemaligen Mexiko so nahe lag, anstatt dieser hochgewachsenen, balkanartigen Bevölkerung, viel bräunlichere, jedoch kleine, träge, sanftäugige, plattnäsige Indianer oder Mestizen vorzufinden? Nein, so einfach war es nicht auf meiner Reise. Überall lauerte unerwartete Verwirrung. Auch die Gestaltgesetze, gemäß denen der Erdplanet seine Träume kreiert und wieder auslöscht, schienen mit den wechselnden Klimaten und den veränderten Bedingungen zu wandern. Vielleicht lebten jetzt im Dschungel des Sektors Balkan anstatt adlernasiger Skipetaren jene plattnasigen Zapoteken, die man eher hier zu finden erwartet hätte. Da war gleich dieser General, der an dem Tisch saß, in eines der beiden Aktenstücke vertieft, und mich gleichsam mit Aplomb nicht beachtete. Ich kenne nicht seinen Namen. Für mich aber konnte er nur Konstantin heißen und nicht anders. Während meiner Militärzeit hatte ich dann und wann höheren Offizieren Meldungen zu überbringen gehabt, freilich nur in meinem niedrigen Range als Sergeant. Es war aber stets mit erstaunlicher Monotonie die gleiche Situation gewesen. Der jeweilige General oder Oberst oder Oberstleutnant saß stets am Tisch in ein Aktenstück vertieft und beachtete mich nicht, der ich vor ihm stand, von meinem verkrampften Strammstehn mich hin und her geschüttelt fühlend, wie ein Mann, der in der ratternden Straßenbahn keinen Sitz gefunden hat. In gewissen Wiederholungen gleicht das Leben, ungeachtet der wechselnden Zeitläufte, den typologischen Inszenierungen zweitklassiger Filme. Der verdammte Regisseur kennt nichts als die Routine: General sitzt am Tisch und liest ein Aktenstück, während alles andere für ihn Luft ist. Selbst der chronosophische Lehrer, vor seinen Schuljungen mit dem Geographiezeigestock hin und her fuchtelnd, war solch eine ewige Routine, wie es mir gestern gleich zu Bewußtsein kam.
General Konstantin mußte eine primitive Erscheinung genannt werden. Auf seinem quadratischen, ungegliederten und glänzenden Schädel gingen Zweimillimeter-Haarschnitt und Glatze unmerklich ineinander über. Die roten, etwas verkrüppelten Ohren standen ziemlich weit vom Kopf ab. Der violette, linierte Stiernacken steckte eingezwängt in einer Art von Blusenhemd. Hellblaue Augen unter sehr blonden Brauen, eine kurze Nase und der brutale Mund, der zu einem willensstarken Beruf gehört, enttäuschten das romanisch dürre, graumelierte Bild, das ich mir gemacht hatte, als ich das Wort General zum erstenmal hörte. Und um dich zu sehen, Konstantin, mußte ich nach hunderttausend Jahren aus dem Fegfeuer abberufen werden? Ich verstehe, daß die Geschichte der aus sumpfartigem Gebrodel entstandenen Dschungel und ihrer von Primitiven mit entsprungenen Astromentalen gezeugten Bevölkerung viel zu kurz war, um höher geartete Generale zu zeitigen. War es nicht schon genug, daß es überhaupt Generale gab? Diese Tatsache mag übrigens meine Leser mehr in Erstaunen setzen, als sie mich in diesem Extrazimmer des Brauhauses zum Mittelpunkt wunder nahm. Daß man für die historische Stufe, die der Dschungel repräsentierte, Truppen und Offiziere halten mußte, war nur eine Selbstverständlichkeit für mich, weshalb ich das Wort General von Beginn an ohne Achselzucken hingenommen habe. Da es wiederum Hähne gab, warum sollte es keine Uniformierten geben, die vielleicht auf ihren Tschakos Hahnenfedern trugen? Ich fand es auch weiter nicht erstaunlich, daß die obersten Chargen unter diesen Uniformierten sich alsogleich der taubengrauen Bräute versichert hatten, die im Laufe der letzten Nacht zu Dutzenden in den Dschungel durchgebrannt waren. Was ich aber ganz und gar nicht verwinden konnte, war Lalas schlechter Geschmack. Dieser rüde Bursche Konstantin, nichts als ein Wirbel von Mannsmuskel und Mannsmacht alten Stils, kommandierte die herrlichste der astromentalen Bräute, und sie gehorchte. Welche Feinheit des Gefühls und des Verstehens hatte Lala mir gestern beim Freitanz im Park des Arbeiters gezeigt, als ich sie nicht ohne Handschuhe berühren wollte. Vor einigen Stunden noch war sie in meinen Armen gelegen, keusch wie ein Hauch und ich, unwürdig ihrer Schwerlosigkeit, habe ihren Kuß nicht zu ertragen geglaubt. Konstantin aber wird sie küssen wie man eine Kellnerin küßt oder sonst eines der Dschungelweiber beim Manöver. Und das Schlimmste, er wird recht haben.
Jetzt schob der General die Papiere fort und drehte sich um: »Wie nennt man ihn?« fragte er seine Adjutanten, die meinen astigmatischen Augen erst allmählich deutlich zu werden begannen. Seinem Stuhl zunächst stand niemand anderer als Io-Joel Hainz, der Sohn Minjonmans, der aber seine astromentale Tracht nicht abgelegt hatte. Er war der einzige in diesem Zimmer, der den goldenen Kopfaufsatz trug und ein dunkles Schleiergewand.
»Sie nennen ihn drüben Seigneur«, sagte König Sauls Sohn, indem er sich ein wenig zu den abstehenden Ohren Konstantins beugte. »Dann werde ich ihn Gospodar rufen«, knurrte der General. Er sprach zweifellos die Monolingua, wenn auch in fremdartig harter Weise.
Ich verstand ihn, wie ich während meines Aufenthaltes alle und jeden verstanden habe, weniger zufolge äußerer Sprachkenntnisse als innerer Verstehensbereitschaft. Konstantin wandte sich wieder an Io-Joel, der hier in Dschungel-Bergstadt überaus mental wirkte, so wie er in California-Unterstadt betont antimental gewirkt hatte. Es wurde mir niemals klarer als in diesem Augenblick, daß er weder dorthin noch hierher gehörte. Und ich spürte, daß er unter diesem Gedanken, den ich faßte, unsicher wurde und litt.
»Erkläre ihm kurz, worum es sich handelt«, befahl der Kommandant.
»Seigneur und Doktus«, begann Minjonmans Sohn, und sein Mißbehagen und seine Geniertheit wurden mir immer deutlicher: »Sie kennen die Tatsache. Sie kennen aber nicht die Bedeutung der Tatsache. Die Tatsache ist vergossenes Blut. Die Bedeutung ist zu vergießendes Blut.«
»Warum soll ich diese Bedeutung der Tatsache nicht kennen«, erwiderte ich, nicht Io-Joel, sondern Konstantin scharf ins Auge fassend, »vergossenes Blut schreit zum Himmel und fordert zu vergießendes Blut, insbesondere nach einer so unnatürlich langen Friedenszeit ...«
Ich blinzelte unmerklich aus meinem Augeneck zu Io-Joel hin. Sein ein wenig albinöses Gesicht war bleich. Flecken von Sommersprossen traten hervor. Der junge Mann hatte seine selbstsichere Suffisance und den kalten Sarkasmus verloren, mit dem er mir in der Ehemaligen Unterstadt drüben begegnet war. Hier in Dschungel-Bergstadt, im Büro dieses famosen urtümlichen Generals, schien er an dem Gefühl seiner eigenen Unzulänglichkeit zu leiden. Ich kannte seinesgleichen ziemlich genau aus meiner eigenen Lebenszeit. Er glich jenen fanatischen Idealisten, die, weil sie den moralischen Zustand ihrer eigenen Schicht haßten, die Schichten darunter für höher erachteten. Io-Joel, mit Sternnahrung und mit Milch und Honig überfüttert, bewunderte in den Biertrinkern des Brauhauses zweifellos die Frische, die Kraft, das ihm fremde bäuerische Urbehagen in solch kleinlautem Maße, daß ihm der ganze Hochmut, mit dem er die astromentale Kultur verachtete, hier in der Wildnis verging. Ich hatte in Minjonmans Sohn schon längst jene mir wohlbekannte Neigung der Intellektuellen durchschaut, die sich einst zwischen Rousseau und den Deutero-Marxisten als sentimentaler Haß gegen das eigene Herkommen offenbart hatte.
»Mißverstehen Sie meine Rolle nicht, Doktus und Seigneur«, sagte er. »Ich bin kein Anwalt des zu vergießenden Blutes, wie Sie vielleicht nach unserm Gespräch in meines Vaters Hause denken könnten. Ich bin es nicht. Und der General ist es auch nicht. Wir stellen uns die Erneuerung der Welt ganz anders vor.«
Aha, dachte ich, das kennen wir auch. Man möchte im letzten Augenblick vor der Aktion auskneifen. Bürgerliche Bedenklichkeiten, mit denen die echten Revolutionäre freilich schnell fertig werden.
»Sie erlauben«, sagte ich, setzte mich keck auf den Generalstisch und ließ meine Beine herunterbaumeln. Diese Kühnheit machte Konstantin wütend, schien ihm aber gleichzeitig zu imponieren, denn anstatt mir die Unart zu verweisen, knurrte er Io-Joel an:
»Wo der Jude des Zeitalters auftaucht, lösen sich die Fakten in Gespräche auf ...«
Tiefgekränkt straffte sich der junge Mann und verkündete mit viel zu übertriebenem Stolz:
»Nicht ich habe die Ehre, der Jude dieses Zeitalters zu sein, sondern mein Vater ...«
Der General, uneingedenk des Versprechens, das er Lala gegeben, zündete sich eine dünne, lange, hornartig gebogene Zigarre an und begann zu paffen, daß mich der Neid packte.
»Information dem Gospodar«, befahl er und lehnte sich zurück. Ich sah, wie Io-Joel sich zusammennahm und zur kalten Sachlichkeit zwang:
»Was hier vorgeht in diesem Dschungel, Doktus, das begibt sich gleichzeitig in allen andern Dschungeln der Erde. Der Schuß, der, wie Sie selbst wissen, mir als dem Repräsentanten der Erneuerung zugedacht war, ist nur ein Signal. Die Verschworenen haben überall gehorcht. Aber fassen Sie sich, Doktus. Die Verschworenen sind nicht, wie Sie meinen, auf dieser Seite, sondern drüben. Ja, die Fiancés, die Stutzer und Gecken haben seit Unzeiten und unter den verrücktesten Vorwänden Waffen gesammelt, fernwirkende Waffen, mit denen sie ohne weiteres die Dschungel zerstören können ...«
General Konstantin schlug mit seiner roten Faust so gewaltig auf den Tisch, daß ich herunterglitt.
»Junge«, rief er wutbebend, »wer gibt dir das Recht, unsere zivilisierte Gesellschaft einen Urwald zu schimpfen? Der Gospodar da hält Bergstadt für eine Stadt und für keinen Urwald und unser gutes Bier für kein Sumpfwasser. Du bist geprüfter Dolmetscher und kein Sophistes. Halte dich an dein Amt!«
»Das kommt davon, wenn man über den Unterschieden geboren ist«, murmelte Io-Joel mit weißen Lippen.
»Sie hätten bescheidener sagen können, ›zwischen‹ den Unterschieden«, rügte ich ihn meinerseits, obwohl er mir leid tat. Eine bis zum Überdruß alte Geschichte übrigens, diese fast geometrisch bedingte Taktlosigkeit. Io-Joel aber, eine moralisch feinfühlige Natur, entschuldigte sich jetzt wegen der falschen Anwendung des Wortes Dschungel, das drüben in der Kulturwelt im Schwange war.
»Ich verstehe«, nahm ich das Wort, »es handelt sich darum, wer zuerst angreifen wird, jene Verschworenen oder der General ...«
»Sehr richtig, Gospodar«, lachte Konstantin, indem er mich zum erstenmal direkt ansprach.
»Ich verstehe ferner«, fuhr ich fort, »daß es für einen General entscheidend ist, die Initiative zu halten ...«
Konstantin freute sich breit.
»Ich verstehe nur eines nicht«, schloß ich. »Der Gebrauch von Waffen ist für astromentale Menschen, wie ich gehört habe, eine Unmöglichkeit und verfassungsmäßig gar nicht vorgesehn ...«
»In dieser Unmöglichkeit liegt ja gerade die Möglichkeit«, erklärte König Sauls Sohn, wie es schien, ziemlich spitzfindig. Ich aber verstand sein juristisches Denken: Was so unmöglich ist, daß es im Gesetze gar nicht vorkommt, wird gerade dadurch möglich.
»Und zu welchem Zwecke zieht man gerade mich ins hochpolitische Vertrauen?« fragte ich den General.
»Sie sind der geborene Unparteiische, Doktus und Seigneur«, nahm Io-Joel als Dolmetscher wieder das Wort. Und er konnte sich nicht enthalten, einen schlechten Witz zu machen: »Man kann ja nicht einmal sagen, daß Sie geboren sind ...«
»Haha, er lebt nur auf Widerruf, haha«, nahm der General den Spaß auf, dem sein eigenes Lachen Freude machte. Ich selbst stimmte charakterlos in sein Lachen ein und fand keine bessere Antwort als wie folgt:
»Das hat manchmal seine Vorteile ...«
Ich hätte natürlich sagen können: »Ich lebe nur auf Widerruf, meine Herren, Sie aber leben überhaupt noch nicht und bringen es doch fertig, sich wichtig zu machen.« Derartige Bonmots aber, die mir jetzt zu Dutzenden einfallen, sind kläglichster Esprit d'escalier. Während jener Auseinandersetzungen aber fühlte ich mich beleidigt und bitter, denn mein Bewußtsein der Wirklichkeit war in Dschungel-Bergstadt, in Lalas Nähe, um keinen Schatten schwächer als es jetzt an meinem Schreibtisch ist, wo ich einen kleinen Teil des Erlebten festhalte.
»Und deshalb betraue ich den Gospodar mit dieser Mission«, hörte ich General Konstantin einen Satz vollenden, dessen Anfang ich meines Ärgers wegen versäumt hatte.
»Eine Mission als Unterhändler vermutlich«, sagte ich.
Konstantin räusperte sich zusammenfassend:
»Sie werden ihnen zu erwägen geben dort drüben: Der General von Bergstadt hat vorläufig noch nicht das geringste Interesse, euere Welt umzupflügen. Aber er hat die Mittelchen dazu, euere Welt umzupflügen, Mittelchen, die ihr nicht kennt, weil ihr das Studium vernachlässigt habt. Und bei der ersten Dummheit, die euere jungen Leute begehn, wird es am Abend dieses Tages ... Welchen Tag haben wir heute? ...«
»Den fünften Tag des vierten Monats«, riefen mehrere Adjutanten gefällig.
»... wird es am fünften Tage des vierten Monats kein Geodrom mehr geben und keinen Djebel. Oder vielleicht wird es Geodrom und Djebel geben, und ihr werdet doch winseln ...«
Tiefes Schweigen herrschte nach diesen schrecklichen Worten.
»Das ist kein kleiner Auftrag am frühen Morgen«, sagte ich und wischte mir den Schweiß von der Stirn.
Io-Joel hatte sich mir genähert und flüsterte scharf in mein Ohr:
»Glauben Sie ja nicht, Doktus, daß die Menschen hüben mehr zu fürchten haben als die Leute drüben. Sie kennen ja die Stutzer und Gecken, Io-Do und Konsorten. Es sind Dilettanten. Sie haben die altertümlichsten Fernschattenzerstörer gesammelt, mit denen sie ein paar Berge einebnen und ein paar Wälder leicht vernichten können. Hier aber ist der Wille zum Leben und die Zukunft, und dem General steht psychische Artillerie zur Verfügung, von der ich Ihnen freilich nichts verraten darf. Ich würde mich an Ihrer Stelle beeilen ...«
Diese Mahnung bewies, daß Minjonmans Sohn um seinen Vater zitterte, obwohl er ewig im Kampf mit ihm lag. Wie leicht hatte sich dagegen Lala von ihrer Familie gelöst.
»Ich übernehme hiermit den Auftrag«, sagte ich so laut, daß mir die Ohren hallten. »Ich tue das nicht, weil mich etwa der Wille zum Leben oder die Zukunft interessiert. Mit weiterer Zukunft als bis dato könnte ich gar nicht fertig werden. Ich tue es für den Djebel, für Sternwanderer, Verwunderer, Fremdfühler, für den Hochschwebenden und für Io-Knirps, den Sternentänzer, der das Wissen um die Gestalt des Weltalls und die wichtigsten Augenblicke der Menschheit dereinst vermehren wird ...«
»Gospodar kann abtreten«, nickte Konstantin und nahm, die Audienz abschließend, ein Papier zur Hand.
Mich erbitterte es, daß er mich wie alle Offiziere meiner verflossenen militärischen Laufbahn als eine Ordonnanz behandelte.
»Halt«, rief ich, »ich fordere, daß man mir meine Mission erleichtere.«
»Was für Erleichterungen«, brummte der General, ohne aufzublicken.
»Ich fordere umgehend die Repatriierung der taubengrauen Bräute«, sagte ich, nicht ohne Mühe der Monolingua diese bürokratische Ausdrucksweise abgewinnend.
Io-Joel sah mich aus seinen blassen wimperlosen Augen spöttisch an:
»Ich weiß nicht, ob Sie Ihren taubengrauen Bräuten damit einen Dienst erweisen. Mag sein, daß schon während der nächsten Stunden das Leben hier im Dschung... Verzeihung, in Bergstadt sicherer sein wird als drüben. Denken Sie an die Katzen ...«
»Es geht nicht um Sicherheit«, beharrte ich, »sondern um Recht, Gesetz und Verfassung.«
Bei diesen meinen unüberlegten Worten sprang Konstantin wütend auf. »Verfassung«, fuhr er mich an, und sein plumper Schädel und die verkrüppelten abstehenden Ohren wurden rot wie die Revolution. »Die Verfassung war immer gegen uns, der General ist aber da, um die Freiheit des Willens zu verteidigen ...«
»Wozu ist der General da?« fragte ich mit der größten Ruhe. »Ich traue meinen Ohren nicht. Unsere Generale waren zumeist da, um die Unfreiheit des Willens zu verteidigen. Und das war oft äußerst notwendig, Konstantin.«
»Holt die Mädels her«, polterte der Kommandant. »Sie sollen ihm selbst antworten, ob sie nach Hause wollen ...«
Der Zorn des Generals half mir, meine Ruhe zu bewahren:
»Sie sprechen von Willensfreiheit, Konstantin«, sagte ich, »von dem Wunder also, mit dem der Mensch das Naturgesetz durchbrechen darf, Sie, der Sie nicht einmal soviel Wunder in sich haben, um für Ihre neue Geliebte Ihr Cigarrohorn fortzuwerfen?«
Meine Verwegenheit kam leider nicht mehr zur Geltung, weil im selben Augenblick eine Gruppe der Bräute ins Zimmer drängte. Manche noch immer im taubengrauen Brautgewand, manche in gestickten Miedern, ähnlich wie Lala. Nur einem kleinen Teil gelang es, durch die Tür zu kommen, die andern hörte man draußen auf dem Gang. Wahrscheinlich war Lala unter letzteren, denn ich fand sie nicht. Ich möchte wetten, daß ich auch einige graue, dickfellige Kätzchen gesehen habe, die sich an die jungen Mädchen schmiegten. Konstantin herrschte mit grober Stimme diesen Flor der ihm unendlich überlegenen astromentalen Kulturwelt an, vielleicht eigens um mir zu imponieren:
»Der Gospodar hier ist gekommen, weibliche Ios, um euch nach Hause zu holen. Er hat einen wichtigen Auftrag von mir. Ihr werdet seinen Auftrag erleichtern und euern Leuten daheim helfen, wenn ihr ihm folgt. Welche von euch nicht hier bleiben will, kann sich zusammenpacken und gehen.«
Auf diese unglaublich pöbelhaften Worte Konstantins blieb es zuerst lange still. Dann wurde die Stille durch einen seltsam miauenden Klagelaut der Bräute abgelöst. Der General hatte wieder einmal bewiesen, daß er sein Handwerk verstand.
»Das genügt«, verbeugte ich mich vor den Damen, worauf ich sofort nichts mehr sehen konnte. Man hatte mir nämlich wieder das rote Seidentuch des Unterhändlers vor die Augen gebunden. Als man mich ins Freie brachte, rauschte es mir in den Ohren wie von marschierenden Kolonnen und rasselndem Geschütz. Dies aber war pure Einbildung.
Der Jemand, der mich an der Hand führte, nahm mir auch das Tuch ab. Ich wußte mit einem Blick, daß ich mich auf dem Kirchplatz des Grenzdörfleins von gestern befand, wo das Ringelspiel und die primitiven Schaukeln verlassen dastanden. Und dort entfernten sich auch die skipetarischen Dschungelbauern in ihrer Sonntagstracht, die mich zuerst im Hui nach Bergstadt und nun wieder zurückgebracht hatten. (Es war ganz natürlich, daß man hier über manche Errungenschaften der Vergangenheiten verfügte, die jenseits der Brustwehr schon längst vergessen waren.) Noch einmal leuchteten die roten Quastenmützen auf, dann verschwanden sie um die Ecke.
Der Jemand aber hielt noch immer meine Hand. Es war Lala in ihrem goldgestickten Mieder und mit dem Kopftuch, zu welchem die goldenen Kothurne so wenig passen wollten. Hatte sie mich begleitet? Oder war sie mir nachgekommen? Mich durchzuckte es jäh: Sie will mit dir gehen. Sie folgt dir nach Hause. Kaum aber hatte ich diesen Gedanken gefaßt, fühlte ich zu meinem Erstaunen, ja zu meinem leichten Schrecken, daß ich seine Erfüllung gar nicht wünschte. Mein Entzücken an Lala war ebensowenig verschwunden wie meine Verliebtheit. Nicht die Intensität ihrer Figur war in mir verblaßt, sondern der Hintergrund des Bildes und der Rahmen traten stärker hervor.
In diesen Minuten auf dem dörflichen Kirchplatz fühlte ich mich besonnener, fast hätte ich gesagt »doppelter« als jemals. Ich wußte, was der Welt unabwendbar bevorstand. Ich wußte, daß Lala und alle Taubengrauen hier sicherer waren als in ihrem Elternhaus. Ich wußte, daß Lala den General nicht verlassen werde, Konstantin, in dem ihr das erste Mal die männliche Naturgewalt begegnet war, etwas, was es drüben im Astromentalen seit Äonen wohl nicht mehr gegeben hatte. Neben all diesem vernünftigen Wissen aber lief in meinem Geiste eine Strähne von Verlegenheit, die in dem männlichen Schuldgefühl wurzelte, das sich immer dann einstellt, wenn das konzentrierte Interesse an einer Frau abzuklingen beginnt. Trotz meiner Verliebtheit und Verzauberung, ich begann mich abzuwenden von Lala. Ich hätte es diesmal leicht gehabt, mein Schuldgefühl nicht weiter zur Kenntnis zu nehmen, da nicht ich das Mädchen verlassen hatte, sondern sie mich. Meine Verlegenheit aber war aufrichtiger als ich selbst, und so verhedderte ich mich in einen letzten schwächlichen Überredungsversuch, der Lala zur Heimkehr bewegen sollte. Ich hatte dabei nicht mit der Verfeinerung einer astromentalen Mädchenseele gerechnet, die gar nicht »betrogen« werden konnte wie ihre Schwestern im früheren oder späteren Altertum. (Und hier berühre ich einen wahrhaft respektablen Fortschritt im Verhältnis zwischen Mann und Frau, der andererseits wieder eine merkwürdige Verödung bedeutet, da er eine Menge von farbigen Roman- und Komödienthemen ausschließt.) Noch hatte ich nämlich kaum die ersten Worte meines Überredungsversuchs gesprochen, da legte Lala mit deutlicher Nervosität den Finger auf den Mund und schüttelte ein bißchen den Kopf, als habe sie Angst, ich werde im letzten Augenblick einen plumpen Fehler begehen, der alles verdürbe und mich herabsetzte für immer. Mit ihrer rechten Hand aber zeigte sie auf das Dorfkirchlein. Dorthin ging sie voraus, mit dem schwingenden, ewig ausgeruhten Schritt, den die Frau in der Welt des reinen Spiels gewonnen hatte.
Im Portal flüsterte sie mir zu:
»Ich habe Io-Efwe etwas zu zeigen ...«
Sie hatte mich zum erstenmal nicht mit dem kalt konventionellen »Seigneur« angeredet, wobei ich mich immer leicht verspottet fühlte, sondern mit den Lauten, die sie für meinen persönlichen Namen hielt, da mein Freund mich so nannte. Mir war bei dieser Anrede ganz merkwürdig zumute. Hatte Lala mich doch sogar noch unter der Flagge jenes »Seigneur« geküßt. Ich verstand, daß ich jetzt erst ein Mensch für sie geworden war, ein ehrlich Lebendiger und kein interessantes Phantom, mit dem man Staat in der Öffentlichkeit macht. Sie ließ mich fühlen, daß es jetzt erst echt und wahr zwischen uns zuging.
Wir standen nun, was nicht nur ich, sondern auch die Weitgereisten unter meinen Lesern erwartet haben dürften, im Innern einer barocken Bauernkirche. Es war freilich ein Bauernbarock, das weder meine Leser noch ich kennen gelernt haben, gekeltert aus fernsten Kreszenzen der menschlichen Darstellungsgabe, eine Stilmischung, die erst in Jahrtausenden aufdämmern und vergehen und wieder aufdämmern wird. Immerhin aber war's erkennbar ländliches Barock im angenehmen Gegensatz zur abstrakten Kälte der astromentalen Kirche. Ich sah Heiligenfiguren mit inbrünstig zum Himmel gekehrten Augen und einen golden volutenreichen Baldachin überm Hauptaltar und die Sonne als Monstranz, und alles war so still und einfach und bäuerlich wie sich's gebührt.
Lala hielt meine drei Vierteldollar in der Hand:
»Wo darf man hier ein Opfer bringen, bitte?« fragte sie.
Ich wies auf die Sammelbüchse.
Sie trat heran und legte ungeschickt die drei Münzen neben den Schlitz. Woher sollte sie auch wissen, wie man mit Geld umgeht und was man mit Almosen tut? Schweigend gingen wir weiter und blieben im Seitenschiff vor einer ziemlich großen Statue der Madonna mit dem Kinde stehen. Der Künstler hatte, in der überlieferten Verehrung des Dschungelbauern für die ihm unerreichbare astromentale Schönheit, der allerseligsten Jungfrau die Gestalt einer taubengrauen Braut gegeben. Man unterschied genau den ebenholzschwarzen Helm und den charakteristischen Faltenwurf der Schleiergewänder, die der Arbeiter des Zeitalters produziert.
»Ist das die heilige Mutter Gottes?« fragte Lala.
»Ja, die Mutter Gottes mit dem Kinde, Io-La, dieselbe, die als Kunstwerk im Hause Ihres Vaters verehrt wird.«
»Und Sie glauben an sie, Io-Efwe? Sie glauben, daß sie über den Intermundien lebt?«
»Glauben ist ein falsches Wort, Lala, in meinem Fall. Denn ich weiß, daß sie mir geholfen hat, wo immer sie lebt.«
»Dann soll auch sie sehen, was ich Ihnen jetzt zeigen werde«, sagte Lala und öffnete mit einem kleinen entschlossenen Ruck, der stolz war und verschämt und schmerzlich zugleich, ihre beiden Handflächen. Das Licht war düster in dieser Dorfkirche, denn es gab hier nicht einmal matte oder farbige Fenster, sondern nur kleine Scharten unter der Wölbung. Ich sah also zuerst nichts und verstand nicht gleich, was Lala wollte. Erst als ich meine Hände unter die ihrigen legte und sie näher an meine Augen zog, erkannte ich, daß es nicht mehr die leeren Handflächen einer Schaufensterpuppe waren wie die ihrer Mutter, ihrer Ahnfrau und aller Menschen drüben. Über Nacht hatten sich auf diesen wächsernen, aber rosig überhauchten Handtellern einige zarte Striche, Zeichen und Runen gebildet, welche die drei einfachen Grundlinien durchkreuzten und die ehemalige Leere des Schicksalsbildes mit einem neuen rührenden Leben zu erfüllen begannen. Diese wenigen feinen Striche griffen mir ans Herz wie frische Wunden. Es waren nicht die Stigmata des Heiligen, es waren aber die Stigmata des wirklichen Menschen, der schmerzhaft geboren wird, durch ein schweres Fatum geht und schmerzhaft stirbt, ohne diesen drei Unannehmlichkeiten auszuweichen. Über Nacht hatte Lala ihre Stigmata gewonnen, so flach und kärglich sie auch noch waren. Ich wartete beinahe darauf, daß sie jetzt sagen werde: Verstehen Sie nun, Io-Efwe, daß ich mit dieser Schande, die mein Stolz ist, nicht nach Hause gehen kann, sondern im Dschungel bleiben muß beim General, der sein Horn raucht, bis meine Augen tränen? ...
Sie sagte glücklicherweise nichts dergleichen, denn solange Lala lebt, wird sie eine astromentale Fee bleiben, kühl, unschuldig und jeder sentimentalen Regung unzugänglich. Wie sehr sich auch die Lineatur ihrer Handflächen vertiefen sollte, sie wird ewig verschieden sein von uns Früheren.
Lala sagte nichts Schwerfälliges. Sie fragte nur mit einem kleinen Lächeln:
»Können Sie das lesen, was in meiner Hand geschrieben steht?«
»Ich bin nicht ausgebildet zur Entzifferung dieser Schrift«, entgegnete ich, »aber in groben Zügen werde ich sie wohl verstehn ...«
»Und was bedeuten die groben Züge, Io-Efwe?«
Ich legte meine Stirn in Falten und tat so, als sei die einfache Hieroglyphe nicht leicht zu übersetzen. Endlich buchstabierte ich:
»Sie werden glücklich sein durch Unglück und unglücklich durch Glück, liebe Lala ...«
»Und ist das schlecht?« fragte sie mit aufmerksamer Stimme.
»Nein, Lala, ich glaube es ist gut ...«
Nach diesen Worten neigte ich mich über ihre zarten, unvergeßlich duftenden Hände, hauchte je einen Kuß auf die Wundmale ihrer Normalisierung, das heißt ihrer Rückfälligkeit, und nahm damit Abschied von Lala, die unter allen Frauen meiner näheren Bekanntschaft die mir Unbekannteste ist und bleibt.