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Vierundzwanzigstes Kapitel

Worin wir nach neuen Abenteuern höchst erstaunlicherweise auf die intakte Ahnfrau stoßen und schließlich in den Kutten der »Brüder vom kindhaften Leben« dem Uterus terrae matris entkommen.

 

 

Ich habe während meines Lebens im zwanzigsten Jahrhundert niemals irgendwen niedergeschlagen. Als Knabe war ich dann und wann in Raufereien verwickelt, wobei mein Gegner und ich uns regellos am Boden zu wälzen pflegten. Was meinen Kriegsdienst anbelangt, so war ich zum Glück Artillerist und diente auch da nur kurze Zeit am Geschütz, wobei ich nach den mathematischen Berechnungen des Kommandanten die sogenannten »Richtelemente« einzustellen hatte, denn wir schossen unsere Granaten und Schrapnells ins Leere, ohne das feindliche Ziel zu sehen. Einen Menschen niederschlagen, das war eine Handlungsweise, von der man in den Verbrecherspalten der Zeitung las oder sogar in den Berichten über jene alkoholisierten Gesellschaften, in welchen sich die ebenso zügellosen wie hochbezahlten Halbgötter der sogenannten »Vergnügungsindustrie« von ihren künstlerischen Mühen zu erholen liebten. Sonst wurde hauptsächlich auf der Leinwand amerikanischer Filme niedergeschlagen. Da aber hatte ich stets das Gefühl, daß dergleichen rhythmische, im Kreise umlaufende Niederschlägereien nicht einmal im kriminellsten Leben vorkommen und der Realismus, wie so oft, nur deshalb für wahr gehalten wird, weil er keine Phantasie hat. So blieb es denn dem Wintergarten der astromentalen Zivilisation vorbehalten, die erste Örtlichkeit zu sein, wo ein ziemlich sanfter, sich leicht ekelnder Mensch wie ich, jemandem auf den Kopf schlug, und noch dazu mit einer Schaufel. Ich will sofort gestehen, daß ich nicht mit Wut und Wucht zuschlug. Der Zweck bestand ja nur darin, den Animator zu betäuben, um ihn seines weißen Kittels zu berauben, was uns auch gelang. Ich schlug beinahe vorsichtig zu, da ich mir der sonderbaren Lebensschwäche der retrogenetischen Funktionäre voll bewußt war und keinen Mord begehen wollte. Und doch, es war ein unbekanntes und widerwärtiges Gefühl, als ich das Schaufelblatt auf den deformierten Langschädel des Animators niederfallen ließ, eine völlig neue Erfahrung für mich. Mein Freund und ich hatten uns hinter den salzweißen Büschen wohl versteckt, um dem Rückkehrenden aufzulauern. Zum großen Glück war es B.H. gelungen, sich aus der tödlichen Lethargie aufzureißen, in welche diese astromentalen Naturen in der Sphäre des Wintergartens zu verfallen pflegen. Der Anblick der Rübenmännchen, der Kataboliten und schließlich der Kampf um das Volk der eigenen Erinnerungen hatten ihn so nüchtern gemacht, daß er nicht mehr in jene schreckliche Todestrunkenheit verfiel wie früher, sondern krampfhaft umhersprang und sich Bewegung machte, um seine Wachheit zu steigern und in den Vollbesitz seiner Kräfte zu gelangen. Obwohl er kein Wort sprach, wußte ich doch zu meiner Befriedigung, daß er jetzt mindestens mit derselben Leidenschaft wie ich den Segnungen des Wintergartens zu entgehen trachtete. Als wir von unserm Versteck aus sahen, daß der Animator nicht allein kam, um unsern Zustand zu inspizieren, sondern in Gesellschaft von Badediener Nummer Zwei, griff B.H. seinerseits nach einem der Grabscheite, von denen an dieser Stelle ein ganzer Haufen zusammengetragen lag. Ohne daß wir uns erst miteinander verständigten, schlug er den Badediener nieder, als der Animator unter meinem sanften Hieb zusammenbrach. Ich setzte mir sofort die Zuckerbäckermütze von Nummer Zwei auf. Den beiden Betäubten die weißen Kittel abzustreifen, war ein hartes Werk, und B.H. und ich brachen dabei in Schweiß aus. Wir mußten sie ihnen über die Köpfe ziehen. Glücklicherweise hatte der Badehelfer den Krug mit dem Elixier mitgebracht, das mich sofort mit neuen feurigen Kräften erfrischte. Weder der Animator noch sein Untergebener trugen Unterkleider. Sie waren splitternackt. Es war eine graue, schwammige Nacktheit. Wenn man einen Finger in das Fleisch dieser Körper drückte, so blieb eine Delle zurück. Wir ließen beide über die Fläche der abgeknickten Brücke in den See gleiten. Das Leichte Wasser spritzte gierig auf. Beide kamen sogleich zu sich und taumelten hoch. Ich fürchtete schon, sie würden ohne weiteres an Land stapfen, da ja der See des Vergessens über sie keine Gewalt haben konnte; denn was hatten sie zu vergessen? Unerwarteterweise aber hatte das Wasser des Mnemodroms über Funktionäre des Wintergartens viel mehr Gewalt als über uns. Sie waren durchaus nicht immun. Ich bemerkte, daß der Animator nur mit Mühe seinen Oberleib bewegen konnte. Es war durchaus lächerlich von mir, aber ich fühlte mich ganz aufrichtig bemüßigt, einige Entschuldigungsworte vorzubringen, da ich schließlich zum erstenmal einen Menschen mit einem harten Gegenstand auf den Kopf geschlagen und ihn gleich darauf ins Wasser befördert hatte, wenn auch in Leichtes:

»Es tut mir leid, Maître Animator«, rief ich in den Nebel, »Sie sind ein Gelehrter, Sie gehören der höchsten Intelligenz an, es ist daher doppelt peinlich für mich, daß ich körperliche Gewalt gegen Sie anwenden mußte ...«

Des Animators Antwort kam aus dem Nebel. Er lispelte wieder, wenn auch mit Anstrengung:

»Ich hätte damit rechnen sollen, daß ich's mit keinem Kulturmenschen zu tun habe ...«

»Damit hätten Sie in der Tat rechnen sollen. Denn von Ihrem Zeitpunkt aus gesehn bin ich wahrhaftig kein Kulturmensch, sondern ein Steinzeitler. Und als ein Steinzeitler stehe ich zu tief für den Wintergarten ...«

»Das Schlimmste ist«, kam die Stimme aus dem Nebel, »daß Sie Ihren wohlgeborenen Freund in das Elend der Vergangenheit zurückreißen ...«

»Ja, das ist mir Gott sei Dank gelungen, obwohl große Energie dazu gehört hat. Sehen Sie, und daher brauchen wir die weißen Kittel, um unbemerkt aus Ihrem Institut herauszukommen, wenn das Schicksal es erlaubt ...«

»Oh, wie mich friert, wie mich friert«, schnapperte es vom Mnemodrom her, und auch Badediener Nummer Zwei ließ einen leisen Wehlaut vernehmen.

»Leider können wir Ihnen nicht helfen, Maître. Aber Sie als ein Chef des Instituts werden sich doch selbst helfen können. Im Notfall werden Sie zu einem Haufen von fettem schwarzem Humus gelangen und sich hineinlegen, endlich, endlich, nach hundert Jahren von Widerspenstigkeit ...«

»Und Sie, Seigneur«, ertönte die hohe Professorenstimme mit schneidender Schärfe, »und Sie haben sich doch nur aus Feigheit, aus der Feigheit des Altertums vor dem Ende, am Humus vorbeigewunden, tückisch und täppisch. Nur aus memmenhafter Feigheit, die sich lieber irgendwo unter der Erde ausstinkt, als das Ende mannhaft zu wählen und bis zum letzten Herzschlag zu bestimmen.«

»Das ist wahr, Animator, in jedem Wort. Ich lebe zu gern, selbst wenn mein Leben so dubios ist wie jetzt. Ich habe keine Lust, meinen Tod freiwillig zu wählen und zu beherrschen, wenn diese Beherrschung auch ein unermeßlicher Fortschritt sein mag, wie viele glauben ... Es ist ganz hübsch, als Marguerite zu enden, weiß und reinlich. Der Weg dahin aber ist mir zu riskant, wenn ich an die Kataboliten denke. Der Tod steht hinter mir! Ich habe keine Angst vor ihm, ich am wenigsten, da ich ihn bereits kennengelernt habe. Ich aber will nicht, daß er vor mir stehe ...«

»Feigheit und zu wenig moralischer Reinlichkeitssinn, nichts anderes.«

»Und Ihre hundertjährige Widerspenstigkeit, cher Maître, beruht sie nicht auf Feigheit?« fragte ich, und fragte es ohne jeden Hohn.

»Meine Widerspenstigkeit«, schrie er zurück, »ist ein Opfer, das Sie gar nicht begreifen können. Ich nehme diese Existenz auf mich, weil meine Gedanken noch nicht ausgedacht sind ... Soll ich Ihnen meine neuen Gedanken preisgeben?«

»Ich fürchte, meine Zeit reicht nicht dafür ...«

»Ich gebe Sie und Ihren Freund verloren, Seigneur. Ich bin bereit, Sie zu den Stationen zurückzubringen ...«

»Und die Bedingungen, Maître Animator?«

»Die einzig unerläßliche Bedingung, Seigneur: daß Sie mir aus dem Mnemodrom helfen, so wie Sie sich selbst geholfen haben. Wenn ich Sie zurückbringen will, muß ich schließlich dabei sein ...«

»Es wundert mich, Animator, daß der mit Clairvoyance geschlagene astromentale Mensch seine Verstellungskraft nicht höher entwickelt hat. Eine Schwebung in Ihrem Vorschlag überzeugt mich davon, daß Sie uns hereinlegen wollen ...«

»Das Mißtrauen, mit dem Sie die Schwebungen in meiner Stimme belauschen, ist nichts als kindische Selbstüberschätzung, Seigneur. Der Wintergarten ist nicht auf Sie angewiesen ...«

»Warum schenken Sie mir denn solch gewaltige Aufmerksamkeit, cher Maître?«

»Jeder Ausnahmefall erregt die Gunst des Forschers ...«

»Ich bedaure, Sie in der Patsche lassen zu müssen ... Ich fürchte nämlich, die Gunst des Forschers würde sofort wieder erwachen.«

»Ich bringe Sie unbeschädigt zur Hauptstation. Sie und Ihren Freund. Ich schwöre es bei der heiligen Retrogenese ... Helfen Sie uns heraus!«

»In Ihnen, Maître, erschreckt mich die gefährlichste Kombination, die es gibt, Fanatismus und intellektuelle Verbohrtheit. Ihresgleichen sind mir seit hunderttausend und mehr Jahren wohlbekannt, von Torquemada bis zu den Rasseärzten der Gestapo mit ihren Mordspritzen ... Übrigens kann ich Ihnen nicht helfen, ohne selbst ins Leichte Wasser zu steigen ...«

»Werfen Sie mir die Nabelschnur zu, Seigneur!«

»Von welcher Nabelschnur reden Sie?«

»Die grüne Nabelschnur, die Ihnen die Ammen zugesteckt haben, diese verfluchten Zellteilerinnen und Häklerinnen ...«

Bei diesen Worten erst merkte ich, daß ich den langen Strickstreifen jenes unglücklichen Mädchens (ich weiß übrigens nicht, ob sie subjektiv eine Unglückliche ist) wie einen Gürtel um meine Hüften gewickelt hatte. Ich wandte mich mit innerer Begeisterung an meinen Freund:

»Hörst du, B.H.? Er nennt die Handarbeit der Ammen Nabelschnur? Das ist wunderbar. Das Ewigweibliche zieht uns hinan und heraus ...«

»Wird's endlich, Seigneur«, rief der Animator mit sonderbar enger Stimme, »wird's endlich? Worauf warten wir noch?«

»Ich wundere mich, Maître, daß Sie nervöser sind als wir. Was kann Ihnen das Leichte Wasser anhaben? Ihre Erinnerungen bestehen ja nur mehr aus schrumpfenden Embryos ...«

»Nichts kann uns das Leichte Wasser anhaben«, tönte es zurück, frierend, leise, ja beinahe piepsend.

In diesem Augenblick zeigte es sich, daß es zu spät war. Von der Ferne rauschte es näher und näher. Die Abzugskanäle hatten sich zweifellos mit den Wassern der Stauteiche gefüllt und schwemmten nun die Kataboliten ins Mnemodrom. Wir sahen im Nebel, wie die Oberfläche des Sees zu wallen begann, und wie sein Spiegel sichtbar stieg. Der Animator und sein Helfer wurden langsam vom Ufer fortgezogen. Wir hörten keinen Laut mehr von ihnen. Ob das Wasser, das nicht naß macht, über ihnen zusammenschlug, das kann ich nicht sagen.

 

In dem Zeitraum, der zwischen dem Verschwinden des Animators weit draußen im Nebel des Mnemodroms und unserer Wiederbegegnung mit der Ahnfrau liegt, geschah recht vieles und äußerst Strapaziöses. Die Frage, wie groß dieser Zeitraum war, kann ich nicht beantworten, da es ja bekanntlich im Hohlraum keine Zeiteinteilung gab, sondern nur gestaltlose Dauer, das heißt ein wurmartiges, peristaltisches Nacheinander von Augenblicken, die Geschehnisse, Gespräche, Gefühle umkapselten. Man verlor hier den Zeitsinn, nicht ganz genau so, aber ähnlich, wie man im Grauen Neutrum den Raumsinn verlor. Nur an der Erschöpfung unseres Körpers konnten wir dann und wann ahnen, wie lange wir schon kämpften. Diese Uhr aber war ziemlich unsicher, denn die Müdigkeit kam in Wellen und wechselte ab mit Perioden merkwürdigster Energie. Erst oben, als wir den grauen Rasen unter unsern Füßen und die Sterne der dritten Nacht über unserm Scheitel hatten, erfuhren wir, daß unser Aufenthalt im Hohlraum des Wintergartens ungefähr zehn Stunden gewährt hatte. Meinem Gefühl nach hätte es viel länger sein müssen. Ich bemerke soeben, daß der Romancier in mir an dieser Stelle gerne zurücktreten möchte, um dem trockenen Reisebeschreiber das Wort zu überlassen. Das ist besonders abwegig, da es sich gerade an dieser Stelle um Flucht und Verfolgung handelt, um eine Situation also, die von altersher für jeden Epiker ein wahres Paradies bedeutet. Ich aber habe beschlossen, gerade hier die Erzählung abzukürzen und über die nächsten Ereignisse flüchtig hinwegzugleiten. Warum diese Resignation? wird man fragen. Warum verschmähen Sie die Gelegenheit, es Ihren Lesern einmal ein bißchen leichter zu machen? Warum? Weil ich mich schäme. Ich habe meine Leser so hoch gehalten, wie es nur ging. Ich habe bei ihnen geistige Leidenschaften vorausgesetzt und eine unbändige Neugier nach Erkenntnissen, Erlebnissen und Empfindungen, die jenseits des zwanzigsten Jahrhunderts liegen. Es widerstrebt mir daher moralisch und stilistisch, die materielle Spannung, die sich mir bietet, zu benützen, um zum Schaden der geistigen Untersuchung die nächsten Ereignisse breit auszuspinnen.

Niemand wird daran zweifeln, daß wir uns nochmals verirrten und daß wir auf Trottoirs roulants aufsprangen, die uns in falsche Richtungen brachten. Daß wir mehrere Schollenäcker mit Rübenmännchen zu passieren hatten, das bedeutete eine schier unerträgliche Belastung unserer Nerven. Auf einem dieser Äcker besaßen die Rübenmännchen die Körperkraft, sich von ihren Wurzeln loszureißen und sich an unsern Beinen festzubeißen, in vampyrischer Wut. Es war nicht leicht, diese zeckenhaften Resultate der Retrogenese abzuschütteln. Ich fürchte, daß ich ein oder zwei von ihnen erwürgt habe.

Wir hatten verschiedene sehr gefährliche Momente zu überstehen. Es geschah zum Beispiel, daß wir auf einem der laufenden Bänder, welches uns in die falsche Richtung brachte, wiederum in die Welt der Treibhäuser gerieten, wo gerade »Feierliche Einpflanzungen« stattfanden. Wir sahen kleine Gruppen vor dem jeweiligen Mann-Wiegengrab. Sie bestanden aus dem diensttuenden Animator, Badedienern, Gärtnern und dem Kandidaten, der, durch Moorbäder schon gehörig präpariert, jenen wonnigtrunkenen Gesichtsausdruck zeigte, den ich an B.H. kennengelernt hatte. Mit geschlossenen Augen schienen die Kandidaten Engelstimmen zu lauschen oder unsagbare Liebeserfüllungen zu erleben, während der Animator irgend etwas rezitierte, was ein Gedicht sein mochte, und die Gärtner die nackten, vermutlich bewußtlosen Gestalten mit Leichtem Wasser besprühten. Wir fuhren langsam vorüber, störende Eindringlinge. Manchmal rief man uns nach. Es ist ein Wunder, daß wir nicht festgehalten und verhaftet wurden. Vielleicht half es uns, daß B.H. nach Art der Badediener den Krug mit Elixier sich auf den Kopf gesetzt hatte. Wenn mein Freund auch nicht viel sprechen konnte, so entwickelte er doch immer mehr Kraft und Schlauheit, trotz der deprimierenden Irrfahrt, die nicht nur unsere Energien, sondern auch unsern Hoffnungsmut stark in Anspruch nahm. Der »Krug auf dem Kopf« hat uns gewiß aus der heikelsten Situation geholfen, in die wir uns verwickelt fanden. Wir waren längst wieder im Freien und auf der Suche nach der Grenzmauer, als wir plötzlich auf eine sehr große Kolonne von Weißbekittelten stießen, die uns entgegenkamen. Zweifellos ein Schichtwechsel der Nummernzähler. Ich versetzte B.H. einen leichten Stoß. Es blieb nichts anderes übrig, als uns dieser Kolonne anzuschließen. Die aufgeschwemmten, eunuchalen Figuren trabten schwankend des Weges. Ich wurde öfters angesprochen und gab darauf undeutliche, brummende Antworten. Und das war genau das Richtige, war doch hier unten alles Lebendige undeutlich und schwankend. Dennoch wußte ich, es hing nur an einem Haar, daß wir entdeckt und gefangen würden. Ich mußte mich beherrschen, um nicht einen Freudenruf auszustoßen, als aus der ewigen Tagnacht die Margueritenfelder auftauchten. Jetzt konnten wir die Mauer nicht mehr verfehlen. Wir blieben zurück. Ich riß B.H. mit mir ins Feld. Wir legten uns in die Margueriten, viele der Toten niederknickend. Als die Kolonne verschwunden war, und wir uns wieder erhoben hatten, stolperte ich über etwas. Es war der rote Garnfaden der Totenamme. Das zweitemal hatte diese Unglückliche uns gerettet. Wir zwängten uns durch die Scharte in der Umfassungsmauer. Wir standen draußen. Wir lehnten uns aneinander an und versuchten so tief zu atmen wie möglich. Jetzt erst sahen wir die Verschiedenheiten des Niveaus. Wir befanden uns in der Tiefe, während die fernen Lichtreflexe auf den Dächern der Glashäuser wie auf Bergen zu spielen schienen. Hoch über uns, unter dem entrücktesten Wolkenhimmel, wölbten sich viele Straßen, das heißt Brücken. Sie waren nichts als aluminiumsilberne Bänder, die, freischwebend und übereinander geschwungen, im Dämmer und Nebelreißen aufschimmerten. Es schien ganz und gar unmöglich, eine dieser Straßen zu erreichen. (Die mir unbegreifliche Konstruktion dieser Metallbänder bildete recht eigentlich das einzige Stück von »Zukunftsarchitektur«, wie man sie sich so vorstellt, die mir während meines ganzen Aufenthalts in der astromentalen Zeit zu Gesichte kam. Und dieses Stück »utopischer Architektur« befand sich in der Unterwelt.) Wir gingen los. Das sagt sich sehr leicht. In Wirklichkeit stolperten wir über einen Boden, der sich am ehesten mit stark geheizten Lederkissen vergleichen läßt. Es war ungefestigte Erde und gemahnte an das plastilinartige Eisenmoor vom Apostel Petrus. Ich schweige von der Mühsal dieser Wanderung, bei der das Quälendste die Ungewißheit war, wohin sie führte. Ich versage mir, verschiedene Schreckensmomente näher aufzuführen, wie zum Beispiel diesen, als plötzlich der ganze Hohlraum von hundeartigen Stimmen und kläffenden Rufen ausgefüllt war, die sich das Wort »Seigneur« zuwarfen, und wir überzeugt waren, unsere Flucht sei entdeckt, und eine Meute eloquenter Zerberusse werde nun gegen uns losgelassen. Wir begannen über die Lederkissen zu laufen wie die Wilden, was doch, waren wir entdeckt, keinen Sinn gehabt hätte. Da wurde der Boden plötzlich hart. Wir sahen vor uns eine hangarartige Baulichkeit aus einer rötlichen Masse. Ich konnte aber eine ganze Weile nichts unterscheiden, denn Schweiß und der ewige Nieselregen des Hohlraums liefen mir in die Augen. Das erste, was ich nach einer Weile sah, war die Aufschrift: »Frisches Quellwasser«. Und da sprudelte es auch aus einem altmodischen Holzrohr in eine Brunnenschale. Der Trunk, der unerwarteterweise eiskalt war, brachte sogar B.H. zu sich. »Ich kann wieder leicht reden«, sagte er mit erstauntem Ton.

»Und ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg, B.H.«, sagte ich.

Das rötliche, hangarartige Gebäude vor uns schien eine Kombination zwischen einer Labestation und einer Kapelle zu sein. Über dem romanischen Portal standen die Worte: »Sanctae Illusioni.«

»Heilige Illusion?« fragte ich, »kennst du eine Heilige dieses Namens?«

»Aber natürlich, F.W., es ist die Lieblingsheilige des Ordens vom ›kindhaften Leben‹.«

»Du mußt mir nicht antworten, wenn es dich anstrengt ...«

»Nein, nein, es ist doch herrlich, wieder die Zunge frei zu haben ...«

»Hat diese Heilige immer Illusio geheißen?«

»Wo denkst du hin? Das ist der Klostername, den sie angenommen hat, F.W.«

»Und wer war sie wirklich?«

»Ein Mädchen, das Io-Ha hieß und durch einen chemischen Unfall ihr Gesicht verloren hatte. Alles, Augen, Nase, Lippen. Die fröhliche Heiligkeit ihrer Seele aber war so groß, daß sie für jeden, der sie ansah, unerschöpflich aus sich selbst ein neues Gesicht hervorentwickelte, ununterbrochen. Und jeder, die sie erblickte, hielt sie für die größte Schönheit der Welt.«

»Ich verstehe die Brüder vom ›kindhaften Leben‹«, dachte ich laut. »Es ist sehr tiefsinnig von ihnen, daß sie dieser Heiligen gerade hier eine Stätte errichteten, hier im Angesicht von Retrogenesis und Analysis ...«

Die Erscheinungen ad ovum zurückführen, alle Achtung, wenn's dabei auch Kataboliten setzt. Aber ein herrliches Gesicht zu haben, wenn man gar kein Gesicht hat, das ist mehr, das ist des Menschen Göttlichkeit. Sancta Illusio, ora pro nobis.

Wir traten durchs Portal in die gewölbte Halle, die von frischer Luft und zartem Frühmorgenlicht erfüllt war, das uns nach so viel regnerischer Herbstdämmerung außerordentlich erquickte. Ich hatte vorhin richtig geraten. Die Baulichkeit beherbergte ein Kapellchen und einen größeren Raum, der zweifellos eine Infirmerie war oder mindestens ein Ruhehafen für Erschöpfte. Darauf wies eine Anzahl von Strecksesseln und breiteren Schlafstätten hin, die nebeneinander standen. Auf einem dieser Lager sah ich eine regungslose Gestalt. Es dauerte längere Zeit, denn ich traute meinen Augen nicht, ehe ich die Ahnfrau des Hauses Io-Fagòr erkannte. GR³ war fest in die taubengrauen Schleier der Brautschaft gehüllt. Der schwarze, engsitzende Helm krönte das bildschöne Gesichtchen, in dem nur die Augen etwas tief lagen, die uns mokant musterten. Nicht das leiseste Derangement war Ururgroßmama anzumerken, und das nach so langem Aufenthalt in diesem stygischen Gebiet, das doch bekanntlich ziemlich schmuddelig ist. Sie aber war tipptopp von oben bis unten, duftete leise wie immer nach ihrem unerforschlichen Parfüm und schien frischer und ausgeruhter als bei unserer letzten Begegnung. Ihre mentalen, elfenbeinfarbenen Händchen lagen blaß neben ihr.

»Na endlich«, sagte sie.

»Na endlich, wieso?« fragte ich ganz perplex.

»Die Herren werden diese unmöglichen Hemden ablegen wollen«, meinte die Ahnfrau und schien mit diesem höflichen Befehl auszudrücken, daß sie uns erkannt hatte und nicht etwa mit Funktionären des Wintergartens verwechselte. B.H. und ich rissen uns gegenseitig die geraubten weißen Kittel vom Leibe, obwohl es vielleicht noch zu früh war, die Maske zu lüften.

»Ich habe schon geglaubt, es sei die ›Ablösung‹«, sagte die Ahnfrau.

Das Wort »Ablösung« verstand ich nicht und fragte darum:

»Sie haben uns hier erwartet, Madame?«

»Ich erwarte niemand«, sagte sie spöttisch und fügte hinzu: »Sie waren nicht sehr galant, Seigneur, als Sie so galant waren, mir den Vortritt zu lassen.«

Jetzt ging mir ein Licht auf.

»Wie konnte ich ahnen, Madame, daß Sie den Familienbeschluß ...«

»Meine Nachkommen, das waren zusamt Ovetten, die vor Lebensschwäche zitterten ...«

»Sie aber wären dann allein im Hause geblieben und ausgesetzt den wohlgezielten Depressionen und Erfüllungsenttäuschungen ...«

»In meinem Alter?« lachte sie kurz auf. »Alle meine Enttäuschungen sind erfüllt, alle meine Erfüllungen sind enttäuscht. Ich fürchte keine psychische Artillerie ...«

»Höre ich recht«, rief ich aus. »Auch Sie sind eine Widerspenstige, Madame.«

»Sie sind zu kühn«, wies sie mich mit Hoheit zurück. »Ich adoriere den Wintergarten und werde ihn aufsuchen, wenn es so weit ist. Aber noch ist es nicht so weit ...«

»Man ist so jung, wie man sich fühlt«, stammelte ich verlegen, »so sagte man zu meiner Zeit ...«

»Nein, man ist so jung, wie man ist.« Und bei diesen Worten funkelten ihre alten versunkenen Augen. Ich fand mit Bewunderung wiederum eine der wichtigsten Erfahrungen der fortgeschrittenen Menschheit bestätigt, die Erfahrung von der heterochronen Zeit. Jedes Jahr bedeutet für jeden Menschen ein anderes Lebensmaß, für den einen ein größeres, für den anderen ein kleineres.

»Dort oben, Madame«, sagte ich, »sind Sie jetzt allein, ohne Familie, ohne Pflege ...«

»Allein ist man immer«, versetzte sie streng. »Dort oben aber lebt das Beste, was aus mir kommt ...«

»Sie sprechen von Lala, dem Kindchen. Die gehört jetzt ganz und gar dem Sieger ...«

»Sie haben Ihr Glück verspielt, Seigneur ... Oh, Sie wissen noch immer nicht, wo der Mensch beginnt ...«

»Und wo beginnt der Mensch, Madame?«

»Der Mensch beginnt damit, genau dort und genau damit, daß er keine Sorge hat ...«

»Keine Kleinigkeit«, murmelte B.H. dazwischen.

Wahrhaftig! Keine Kleinigkeit. Die Persönlichkeit dieser astromentalen Greisin beugte mich fast nieder. Am erstaunlichsten war, daß ihr nicht einmal die Bruthitze des Hohlraums etwas anzuhaben schien.

»Haben Sie bedacht, Madame«, fragte ich, »daß inzwischen vermutlich eine neue Welt entstanden ist, eine neue historische Epoche, die Ihnen fremd und unbequem sein könnte ...«

Sie sah mich starr an:

»Fremd? Darauf bin ich ja besonders neugierig.«

»Neugierig«, wiederholte B.H. begeistert, als sei er froh, mir endlich wieder etwas bieten zu können.

»Ich bin stolz, Madame«, sagte ich, »daß Sie mit uns zurückkehren werden, wenn Gott hilft ...«

»Wenn jemand zurückkehrt«, wies sie mich zurecht, »so werden die Herren mit mir zurückkehren ...«

Sie erhob sich leicht und arrangierte mit der Gebärde der Weltdame ihren Faltenwurf.

»Die Ablösung«, rief sie, die Augen zum Eingang wendend.

 

Der Name des Ordens »Brüder vom kindhaften Leben« hatte mich, als ich ihn auf der Wand unseres Zimmers im Wintergarten zum ersten Male las, nicht nur mit Staunen, sondern sogar mit einer leichten Bedenklichkeit erfüllt. Zweifellos war der Name in den Worten Christi begründet: »Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder usw.« Wieder zum Kind werden aber heißt, wieder in voller Gegenwärtigkeit leben, ohne Vorher und Nachher, eine Dimension, die der Erwachsene nicht kennt, und die ein irdisches Abbild der göttlichen Zeitlosigkeit ist. Deshalb sagt Christus in jenen Worten, der Mensch könne nicht göttlich werden, ehedenn er wieder wie ein Kind ist. Das war die tiefe Bedeutung des »kindhaften Lebens«. Zugleich hörte ich in diesem Begriff etwas mitschwingen, was auf das Jahrhundert zurückzuführen war, dem ich selbst angehörte, und seinen Skeptizismus. Ich hatte damals eine gewisse frömmelnde Kindlichtuerei kennengelernt, die sich im Vollbesitze Gottes wähnte, weil sie den Intellekt verachtete. Christus aber sagt nicht, wir sollen Kinder sein, sondern wir sollen werden wie die Kinder. Er fordert eine neue Kindheit.

Es war die angenehmste Enttäuschung. Keine Spur von frömmelnder Kindlichtuerei konnte man an den zwölf Burschen bemerken, die heiter und wohlgelaunt sich jetzt im Eingang dieser Schutzhütte drängten. Ich sage unerbietig »Burschen«, obwohl es sich um Mönche handelte, die ähnlich aussahen wie unsere Kapuziner. Aber ihre ganze Art war so lustig unmönchisch, daß mir das Wort »Burschen« ganz unabsichtlich in die Feder kam. Im übrigen könnte kein Schriftsteller die Weisheit und Tiefe frei erfinden, mit welcher die Kirche hier in der Unterwelt auf dem ihrigen beharrte. Der Rückentwicklung des Menschen zum Embryo setzte sie entgegen die Idee der ewigen Kindheit, indem sie die Betreuung des Wintergartens den ›Brüdern vom kindhaften Leben‹ anvertraute. Damit zeigte sie, wo der richtige Weg lag und wo die Abirrung. Und durch dieselbe Erleuchtung machte sie die heilige Ha, die Sancta Illusio zur Schutzheiligen des Abgrunds der Kataboliten, dieser verkörperten Desillusionen.

Den zwölf jungen Mönchen, die uns jetzt mit lachender Freundlichkeit umgaben, war die religiöse Betreuung jenes östlichen Flügels des Wintergartens anvertraut, dem wir soeben entkommen waren. Man weiß schon, daß sie nicht das Recht hatten, die Sterbesakramente zu vergeben, aber in kleinen Kirchlein außerhalb der Mauer die Beichte der Bedürftigen hörten und sie speisten. Wie viele Flügel der Wintergarten umfaßte und wie viele Brüder sich gleichzeitig im Dienste befanden, das konnte ich nicht eruieren. Ich erfuhr nur, daß diese soeben abgelöst worden waren und sich zur Heimkehr an die Erdoberfläche anschickten. Es war ihr wohlverdienter Feierabend nach harter Mühe in dem entsetzlichen Klima des Hohlraums. Man sah ihnen jedoch weder Erschöpfung noch Müdigkeit an, obwohl ihre braunen Kutten aus schwerem rauhem Stoff zu bestehen schienen. Weder die Ahnfrau noch wir brauchten ihnen erst begreiflich zu machen, warum wir hier Zuflucht gesucht hatten. Leute wie wir waren, um ein schiefes Bild zu verwenden, gewissermaßen ihr tägliches Brot, wenn nicht gar die Würze auf diesem Brot.

»Das letzte Mal haben wir fünfzehn Stück hinaufgeschmuggelt«, sagte einer der Mönche, »in fünf Partien, ganz glatt und ohne Anstand, durch eine ganze Kette von Nummernzählern ...«

»Und doch war's das letzte Mal noch ein Kunststück gegen heute«, lachte ein anderer, »denn heute drängen sich Tausende bei den Stationen, die vor dem Kriege heruntergeflohen sind. Heute wird's überaus leicht sein ...«

»Ein schierer Spaß«, bestätigte der Chor.

Ein strahlender Jüngling mit hellen Blauaugen, ohne Zweifel der Obere dieser Gruppe, nahm das Wort:

»Die Hauptsache ist dies: Niemals an den nächsten Augenblick denken. Wir werden gemeinsam die große Treppe ersteigen, Stufe für Stufe. Es gibt aber gar keine große Treppe, wenn man von jeder Stufe fest überzeugt ist, daß sie die letzte ist ...«

»Ich bin die große Treppe hinabgestiegen«, erklärte die Ahnfrau stolz.

»Und nur nicht zurückblicken«, sagte einer, der still vor sich hin lächelte. Nur nicht zurückblicken im Hades. Woher kenne ich das, dachte ich. Immer wieder diese alten Geschichten. Laut aber sagte ich:

»Es ist mir ganz unbegreiflich, warum die Direktion so streng ist und die Straßen durchaus nicht retour benützt werden dürfen.«

»Aber das ist doch ganz klar«, erhielt ich zur Antwort. »Sie wollen keine Zeugen dafür haben, die ausplaudern, daß hier unten nicht alles so ist, wie die Prospekte und Artikel des Uranographen es verkündigen ...«

»Nein, nein, das ist nicht der wahre Grund«, schüttelte der Strahlende den Kopf. »Die Direktion schämt sich.«

»Warum schämt sich die Direktion?«

»Weil sie den Tod zum Menschenwerk, das heißt unvollkommen, gemacht hat ...«

»Wenn es nach euch ginge«, grollte die Ahnfrau, »würden wir noch nicht einmal den Park des Arbeiters haben ...«

Ein Mönch, der wirklich aussah wie ein Kind, klatschte in die Hände:

»Jesus Maria! Nur keine faulen Debatten! Laßt uns lieber ein bißchen Gebete tanzen und singen und die Sekunden durch innerlichen Freudengenuß in die Länge ziehen ...«

»Daraus wird nichts«, wehrte der Strahlende ab. »Unsere Freunde hier haben diese Luft und den Nebel und die Dämmerung satt und wollen hinauf. Wir werden oben zu guter Stunde ankommen, wenn die Waffen ruhen und die Gefahr vermindert ist ...«

Der Blick des jungen Fraters umfaßte die Ahnfrau, B.H. und mich mit solchem liebevollen Wohlwollen, daß mir ganz warm ums Herz wurde. Ich fühlte die knabenhafte Freundschaftlichkeit, die von diesem Manne und seinen Mitbrüdern ausströmte, eine Seelenkraft, die vermutlich in besondern Exerzitien erworben wurde. Vorhin, als alle zwölf die Gefahr, die wir noch zu bestehen hatten, so auffallend bagatellisierten, hatte ich ein ganz leises Unbehagen empfunden. Die allzu kindhafte Art, mit der sie uns die Angst vor dem Abenteuer auszureden versuchten, war eher dazu angetan, nervösen Leuten Angst zu machen. Jetzt aber empfand ich ein so tiefes Vertrauen zu dem Strahlenden und seinen Confratres, als wären sie keine Mönche sondern die erfahrensten Menschenschmuggler. Sie hatten aus einem Nebenraum Kutten hereingebracht, die sie uns anprobierten. Ich wunderte mich, daß diejenige, die man für mich wählte, trotz des rauhen Stoffes sehr leicht und schmiegsam war und nicht einmal warm machte. Auch B.H. lächelte mir zufrieden zu.

Mit GR3 aber gab es eine Szene.

»Was glauben Sie von mir«, rief sie empört. »Ich in einer Kutte mit Kapuze?«

»Es ist ja nur für ein kurzes Stück Weges«, suchte der Strahlende sie zu beruhigen.

»Kein Stück Weg ist kurz genug für meine Eitelkeit ... Ich hatte im Leben eine einzige Mission, und ihr werde ich nicht untreu ...«

»Was für eine Mission, Madame?« fragte ich neugierig.

»Schönsein«, erwiderte die Uralte, und sie war auch untadelig schön in ihrem stolzen Zorn. Und noch merkwürdiger: dieses Bekenntnis zum »Schönsein« im Munde einer rund Zweihundertjährigen klang nicht grotesk, sondern natürlich würdevoll. Die Mönche steckten die Köpfe zusammen, dann sagte einer, der ihr mit dem falschesten Mittel Vernunft beibringen wollte: »Aber, lieb Mütterchen, der Zweck der Übung ist es gerade, daß Sie niemand sieht und identifiziert ...«

»Und Sie, meine Hochwürdigen«, fragte sie spitzig, »werden Sie mich etwa nicht sehen und identifizieren? Aber selbst, wenn ich hier ganz allein wäre, würde ich mich lieber in den Humus legen als mich lächerlich machen ...«

»Probatum est«, lachte der Obere der Brüder. »Es geht auch so. Es geht so vielleicht besser«, und die andern stimmten kräftig bei.

Jemand zog mir die Kapuze über den Kopf. Ich setzte mich auf eines der Ruhelager, denn in diesem Augenblick erfüllte mich ein starkes Gefühl: Genau dasselbe habe ich bereits einmal erlebt. War das etwa eine fausse connaissance oder déjà vue, wie man es nennt? Nein! Ich war wirklich einmal nahe daran gewesen, als Mönch vor erbarmungslosen Verfolgern zu fliehen. Marseille, Juli 1940. Die Deutschen hatten zwei Drittel von Frankreich besetzt. Sie werden in wenigen Tagen das ganze Land okkupieren, so heißt es. Dann aber bin ich verloren, denn laut Paragraph 19 des Waffenstillstandsvertrages müssen die Franzosen mich und meinesgleichen ausliefern. Ich sitze im Kloster der Dominikaner. Man berät darüber, ob man die Gefährdeten in Kutten stecken und über die spanische Grenze schaffen könnte. Mich hält von diesem Abenteuer nichts anderes zurück als der Anblick von zwei falschen Mönchen, die sich ganz unmöglich im Habit bewegen.

Was für ein feines Gefühl hat doch die Ahnfrau, dachte ich bei dieser Erinnerung, die mich sehr sonderbar berührte, da nach endlosen Zeiten eine ähnliche Situation sich nicht nur wiederholte, sondern ein abenteuerlicher Plan, der im Jahre 1940 gefaßt worden war, im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau zur Ausführung kam. Ich hing diesem Gedanken noch immer nach, als uns die »Brüder vom kindhaften Leben« bereits in die Krypta unter dem der Sancta Illusio geweihten Altar und von da durch eine niedere Tür in einen Korridor führten.

»Einzeln abfallen«, kommandierte der Strahlende humoristisch. Dieses alte Militärkommando schien sich in der Ordensdisziplin erhalten zu haben.

Im Gänsemarsch durchquerten wir den Gang, immer unter Scherzen und Lachen der Mönche, die es nicht zuließen, daß wir uns der furchtbaren Spannung, in der wir uns befanden, so recht bewußt werden konnten. Dennoch, als wir den Gang verlassen hatten und vor der gewaltigen Wendeltreppe standen, erfaßte mich ein Schwindel. Diese Treppe glich einer Turmtreppe; nur war der zu ihr gehörige Turm nicht vorhanden. Sie wuchs wie ein graumetallenes Schraubenband in die Höhe, und zwar so hoch, daß wir nur ihren unteren Teil sehen konnten. Nach mehreren Windungen schon verschwand sie im Dämmer und Nebel der unterirdischen Herbstlandschaft. Ich konnte meinen Schrecken vor der Aufgabe, diese Treppe zu erklimmen, nicht mehr unterdrücken.

»Mein Gott«, seufzte ich, »so etwas hat man schon in meiner Jugend niemandem zugemutet. Als der Campanile in Venedig nach seinem Zusammensturz wieder errichtet wurde, baute man ihm den prächtigsten Aufzug ein ...«

Der Strahlende klopfte mir leicht auf die Schulter:

»Das ist keine Sache, mein Freund. Wer wirklich hinauf will, muß steigen.«

Ich schwieg, fürchtete mich aber vor dem plötzlichen Herztod, den mir der Animator prophezeit hatte. Unsinnigerweise hatte ich gar nichts dagegen, zu zerfließen und mich aufzulösen, aber vor dem Versagen meines dubiosen Körpers fürchtete ich mich. Da wäre vielleicht die Retrogenese besser gewesen. (Haha, endlich kommst du der großen Errungenschaft auf den Geschmack. So ist es mit allen Fortschritten. Der alte Konservativismus entpuppt sich am Ende als Gewohnheitsmeierei.)

»Ich kenne diese Treppe«, sagte die Ahnfrau, »und ich hoffe, daß niemand von mir glaubt, ich fürchte mich ...«

»Kein Grund zur Furcht, Mütterchen«, erwiderten einige der Brüder. »Sie werden emporschweben wie ein Engel, Mütterchen ...«

»Ich verbitte mir das«, rief GR3 erzürnt. »Ich bin für Sie kein Mütterchen und kein Mütterlein. Ich bin eine Ururgroßmutter, und auch das ist nicht ganz richtig, denn ein Ur habe ich gestrichen ...«

Die Fratres erzählten, daß sie manchmal gezwungen seien, die große Treppe vier- oder fünfmal hintereinander auf und ab zu steigen. Während all dieser Reden und Gespräche merkten wir kaum, daß wir schon einige Windungen zurückgelegt hatten. Zwei Mönche hatten die Uralte in die Mitte genommen und trugen sie. Hinter mir und B.H. ging je ein Bruder, der uns mit starken Händen voranschob. So wurde die Besteigung zum reinen Vergnügen. Ein Teil der Mönche blieb zurück. Es geschah wegen der Nummernzähler, die den Rückweg nur für die zwölf Mönche freigaben, die stets abgelöst wurden, um wieder aufzufahren. Eine Stimme sang ziemlich guttural:

»Geliebte Männer und Frauen,
Wir Brüder vom kindhaften Leben,
Wir kennen kein Vorwärtsstreben
Und kennen kein Rückwärtsschauen ...«

»Der größere Teil liegt längst hinter uns«, sagte der Strahlende plötzlich.

»Aber das ist doch gar nicht möglich«, wunderte ich mich, ganz aufrichtig, »wir haben doch kaum mit dem Aufstieg begonnen.«

»Das kommt daher«, lachte der junge Prior, »daß wir Sie unausgesetzt lehren, nicht an die nächste Windung zu denken.«

Es war völlig wahr. Die Mönche entwickelten einen physischen und psychischen Rhythmus von solcher Macht, daß sie B.H. und mich zu unbedenklich freudiger Hingabe an die Tätigkeit des Treppensteigens zwangen. Mein guter Freund sagte plötzlich:

»Wie schade, daß wir bald am Ziel sein werden. Ich wollte, die große Treppe ginge noch höher.«

»Das hören wir immer von unsern Klienten«, nickte der Strahlende, der die Nachhut unserer kleinen Schar bildete. Und er fügte hinzu: »Da wir jetzt sogleich die Hauptstraße erreichen werden, bitte ich um folgendes: Wir bleiben dicht beisammen. Wir reden nicht. Wir drehen uns nicht um.«

Diese Straße war, wie man es uns angekündigt hatte, mit dichten Menschenmengen erfüllt, die in die Richtung des Wintergartens strömten. Die Menge war so groß, daß von Zeit zu Zeit Stockungen eintraten und die Flut erstarrte. All diese verrückten Leute zogen eine vorzeitige Retrogenese dem Leben in einer durch den modernsten Krieg gefährdeten Welt vor, nicht anders als Io-Fagòr und die Seinen, die freilich dieser Plebs vorangeeilt waren und sich dadurch eine rasche und prompte Bedienung durch Animatoren, Gärtner und Badediener gesichert hatten. Die Neukommenden hier würden zweifellos sehr lang auf ihr selig-unseliges Ende zu warten haben. Die Weißbekittelten lehnten nicht mehr teilnahmslos am Geländer der Straßenbrücke, sondern bildeten Kordons mit dem Rücken gegen den Strom. Der Strahlende zwinkerte mir entzückt zu. Die Situation war günstiger denn je. Wir drängten uns fest aneinander, um in unsern Kutten einen dicken Haufen zu bilden. Die Mönche stimmten einen schallenden Chor an, der in seiner Kraftfülle zum stygischen Raum im trotzigen Widerspruch stand. Wir drangen in unserer Geschlossenheit gegen den Strom vor, wie ein Schiff mit scharfem Bug. Die Mitte bildete die Ahnfrau. Dicht hinter ihr kamen B.H. und ich. Die Mönche kreisten uns ein. Obwohl die Ahnfrau die Treppe emporgetragen worden war, machte sie jetzt einen grauen Eindruck. Ich muß gestehen, sie erschien mir alt, ohne Beschönigung alt. Dieses Altsein äußerte sich aber nicht in Schwäche, sondern in einer fühlbaren Grimmigkeit, die von ihr ausging. Ich selbst wurde durch ihren Zustand unruhiger von Augenblick zu Augenblick.

Soeben hatten wir den ersten Kordon der Nummernzähler passiert. Der muskulöse Chor der Mönche bahnte uns einen Weg durch die Weißbekittelten, die, unangenehm berührt durch die Stimmkraft des ›kindhaften Lebens‹, beschämt wegschauten. Nur noch eine solche Reihe von Wächtern hatten wir vor uns, und dann war das Spiel gewonnen. Wir sahen in mäßiger Entfernung jene glatte Felswand, welche die Station hieß, weil in ihr die Camerae caritatis landeten. Das nächste Geschehnis kann ich deshalb mit großer Genauigkeit beschreiben, weil es so war, als ginge es in meiner eigenen Seele vor und betreffe mich selbst. Durch irgendeinen astromentalen Akt nämlich spiegelte sich in mir bis zur Schmerzlichkeit all das wider, was die Ahnfrau zu ihrer unsinnigen Handlung hinriß. Ich spürte die gräßliche Lockung, das Verbot zu übertreten. Ich spürte den herausgeforderten Trotz des Weibes. Ich spürte ihren wilden Hochmut, der nicht an sich halten konnte und der die Mönche, ihre Retter, haßte. Und hinter dem allen spürte ich die Wurstigkeit, der die nächsten Schritte zu viel waren und der vor dem Gedanken an die Auffahrt ins Leben graute. War diese Wurstigkeit schon das Desiderium originis?

Und so geschah es, daß GR3, als wir die letzte Reihe der Nummernzähler erreicht hatten, plötzlich stehen blieb und sich mit Aplomb umkehrte. Einen Augenblick blieb unsere ganze Gruppe stehen, und der Chor brach ab; jedoch nach drei Sekunden erscholl er von neuem kräftiger als zuvor. Ich fühlte einen Stoß und taumelte vorwärts. Obwohl ich die Ahnfrau nicht besonders liebte, hatte ich ihr doch das grüne Seil der Ammen zuwerfen wollen. Es war der Strahlende, der mir's aus der Hand geschlagen hatte. Die Ahnfrau aber war von der Menge, die zum Wintergarten pilgerte, verschlungen worden.

Wir erreichten die Station der ›Brüder vom kindhaften Leben‹ nach einigen Schritten. Alles verlief ohne die geringsten Schwierigkeiten.

Ob Lalas Urgroßmutter oder nach ihrem eigenen Geständnis Ururgroßmutter auf diese höchst freiwillige Weise das Ziel ihres astromentalen Lebens erreicht hat, das weiß ich nicht mehr. Es wäre ihr aber zuzutrauen, daß sie ihren Entschluß noch einmal geändert hätte.


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