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Worin das vorige Kapitel auf einem anderen Globus – dem Apostel Petrus – fortgesetzt wird, aus einer beängstigenden Lage durch die Hilfe von Dunkelengeln in die Freiheit zurückführt, um endlich ganz unversehens aus dem interplanetaren in den interatomaren Raum zu geraten.
Mir war es, als erwachte ich aus einem dumpfen, einem ganz und gar fürchterlichen Schlaf. Aber vielleicht hatte ich gar nicht geschlafen, sondern nur hingestreckt dem Atmen obgelegen auf diesem syrupigen Etwas, auf dieser gummigen Bodenwelle, auf diesem rostroten und quatschigen Morast, der mich sonderbarerweise ebensowenig verschluckte wie das geschmolzene Bleimeer auf dem Johannes Evangelist. Daß ich es diesmal mit einer Art von noch nicht ganz konsolidiertem Eisenerz zu tun hatte, fühlte ich instinktiv. Wie aber hätte ich Unbelehrter wissen sollen, daß auf der noch recht unbefestigten Oberfläche des Apostel Petrus, nach welchem man den alten Jupiter umgetauft hatte, sich ganze Kontinente von Sümpfen aus Magneteisen erstreckten. Kontinente, die größer waren als alle irdischen Festländer zusammengenommen? Dies und noch anderes mehr erfuhr ich viel später, zum Teil nach meiner Rettung, zum Teil erst nach meiner Rückkehr in die ehemalige Gegenwart, die für mich (unschätzbar bereichert) jetzt und hier an meinem Schreibtisch fortbesteht. Um meinen Zustand auf dem gigantischsten, massenhaftesten, schwerkräftigsten und trotzdem dünnsten aller Planeten zu schildern, genügt ein kurzes Wort: Ich lag. Es war freilich kein Liegen wie man es auf Erden gewöhnt ist. Ich lag niedergehalten, zu Boden gedrückt, ja, ohne alle Zweifel, plattgepreßt. Fragt nicht jemand: plattgepreßt wovon? Von mir selbst plattgepreßt, muß ich antworten, und von niemand sonst. Das ingeniöse Raumtauchergewand der Chronosophen konnte mich wohl beschützen vor der Todeskälte des Grauen Neutrums und vor der Flammenglut des Johannes Evangelist, es konnte mich auch hier bewahren vor diesem unaufhörlichen, diesem agonischen Regen, welcher vom ewigen Dämmerhimmel des Königsplaneten auf mich herabtrommelte, um sich beim Aufprallen zugleich in lauen Dampf zu verwandeln – es konnte aber den Widerspruch zwischen meinen schwachen tellurischen Körperkräften und der gewaltigen Gravitation des Apostel Petrus nicht aufheben. Wie ich hier lag – oh, mir schwindelt bei dem Worte »hier« – wog ich gute achthundert Pfund. Ich lag also gewissermaßen auf mir selbst mit dem Gewichte eines jungen Nilpferds. Das Gute dabei war noch, daß ich auf etwas Weichlichem, Unentschiedenem, Schwammigem lagerte, eben auf jenem Morast aus dem rötlichen, noch nicht ganz konfigurierten Magneteisen, der vor mir zurückwich, ohne nachzugeben, wie ein Kissen etwa.
Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zurückzurufen, wie das alles gekommen war. Man wird mir aber aufs Wort glauben, daß bei den schrecklichen Gewichtsverhältnissen auf dem Apostel Petrus nicht nur jede kleine Bewegung mit Hand und Fuß eine Athletentat bedeutete, sondern auch jede Willensleistung des Gehirns, sei es Fühlen, Denken oder Erinnern, mit unvorstellbarer Anstrengung, raschester Erschöpfung und wilden Schweißausbrüchen verbunden war.
Wir hatten, wenn mich die Erinnerung nicht täuschte, den Johannes Evangelist mit der Schnelligkeit des Gedankens verlassen, wobei ich zum Mißvergnügen der Humanisten feststellen muß, daß der durchschnittliche menschliche Gedanke nur zu den mittelgeschwinden Fortbewegungsarten im Kosmos gehört, bleibt doch der schnellste Gedanke, um konzipiert zu werden, an die Sprache gebunden, in der Regel an die Monolingua und nur im genialen Ausnahmsfall an die Protoglossa. Das Licht aber und somit auch das Auge mit seinen Bildern ist unvergleichlich schneller als die Sprache.
Io-Knirps schlug einige seiner kühnsten Pirouetten über dem dampfenden Bleimeer, wir ahmten sie nach, worauf es uns emporriß, als habe Johannes Evangelist durchaus keine Absicht uns anzuziehen, sondern stoße uns mit Vergnügen ab, um den ungebetenen Menschenbesuch so schnell wie möglich los zu werden. Im Grauen Neutrum wieder zu Himmelskörpern, das heißt zu unendlich verdünnten Strichen mit Stecknadellichtköpfchen geworden, erlebten wir nun das Kometenturnen, diese herrlichste aller chronosophischen Übungen, als eine wohltätige Erholung von dem eben stattgehabten Abenteuer auf dem Mare Plumbinum. Da war es B.H., der den verhängnisvollen Wunsch aussprach, nach unserer Spritztour auf den leichtesten und kleinsten den entsprechenden Ausflug auf den größten und schwersten aller Wandelsterne zu unternehmen. Das würde für ihn selbst eine höchst spannende Abwechslung bedeuten, habe er doch bisher, durch Zufall und anderweitige Beschäftigung abgehalten, recht wenige chronosophische Erfahrungen sammeln dürfen; für mich aber, den Gast aus den Anfängen der Menschheit, wäre dieser vergleichende Besuch eine dringende, ja zwingende Notwendigkeit, da nichts mir den Fortschritt der mentalen Menschheit strahlender vor Augen führen könne, als ihre Beherrschung des Sternenhimmels durch die Chronosophie. Obwohl selbst nur ein Strählchen ausgewalkter Staubmaterie, räusperte ich mich heftig, um B.H. zu verstehen zu geben, er möge nicht mich in den Vordergrund drängen. Der Lehrer aber erwiderte, daß er »Seigneur« voll und ganz zu Diensten stehe, es liege auch nicht die geringste Schwierigkeit vor, den Fuß auf Apostel Petrus, den mittelsten und riesigsten Planeten, zu setzen, im Gegenteil. Wenn Petri Umlaufbahn sich auch ziemlich entfernt vom Platze befinde, so sei das Objekt andererseits näher als gewöhnlich zu dieser Stunde und liege außerdem in der verlängerten Achse unserer selbst. Er, der Lehrer, möchte nur folgendes zu bedenken anheimgeben. Seine Klasse bestehe aus kosmisch recht abgehärteten Burschen, wie überhaupt das Jugendalter vor der Geschlechtsreife sich am besten für die chronosophische Propädeutik eigne. Zwölfjährige genössen den unabsehbaren Vorteil seelischer Stumpfheit, das Nervensystem der Erwachsenen dagegen reagiere viel heftiger gegen alles Außerirdische und sei darum auch weit gefährdeter. Je früher man mit der Sternwanderschaft beginne um so besser. Apostel Petrus, der Jovialstern oder Mardukh der Urzeit, biete kein ganz so spaßhaftes Unternehmen wie zum Beispiel Johannes Evangelist, Maria Magdalena oder der Täufer, früher Mars. Er, der Lehrer, hüte sich, den Täufer zum Besuch vorzuschlagen, da diesen seit Menschengedenken Dilettantenvereine und würdige Spießbürger für ihre Familienausflüge wählen.
»Aber«, so sagte der Herr Lehrer wörtlich, »Petrus ist ein manisch depressives Wesen. Er ist eine Persönlichkeit von höchstem göttlichem Wert, aber dennoch nicht voll ausgereift und gefestigt. Das Große in der ganzen gestirnten Natur reift nur langsam und schleppend. Es bleibt am längsten den stürmischen Übergängen unterworfen, von denen die Jugendreife der schmerzlichste ist. Gott allein weiß, welche Zukunft dem Apostel Petrus noch erblühen kann. Gegenwärtig ist er voll Emotion, Heftigkeit und Unruhe und wartet den Betrachtern mit den Überraschungen seiner ungezügelten Schwermut auf. Man kann ihn leider nicht zuverlässig nennen, was ja seine Taufpaten auch nicht gewesen sind, weder Jupiter der Frauenverführer, noch der Apostelfürst, der Christum verriet, ehe der urzeitliche Hahn dreimal krähte. Ich weiß nicht, ob ich ab- oder zuraten soll ...«
»Natürlich sollen Sie zuraten, Herr Lehrer«, unterbrach ich seine Bedenken. »Ich habe es nicht gern, der Gegenstand von Sorge und Zurückhaltung zu sein. Kein Lebendiger ist durch ein ähnliches Schicksal gegangen wie ich. Was hätte ich vom Apostel Petrus zu fürchten?«
Auf diese Worte hin zuckte der Lehrer die Achseln und begab sich mit einem gemurmelten »Wie Sie wünschen, Seigneur« höchstselbst an unsere Spitze, was doch etwas ganz anderes war, als wenn der geniale Knirps sich vor uns vorwärts streckte. Die Extravaganzen, die der Lehrer anschlug, waren sofort von kühnstem Ausmaß, und obwohl Zeit, Raum, Ausdehnung, Lage, Richtung für mich »hier oben« vollkommen erfahrungsleere Begriffe waren, so kam es mir, während wir uns blitzschnell dehnten und zusammenzogen, mitunter so vor, als würden wir jetzt zehnfach so lange Strecken bedecken als zu Anfang der Unterrichtsstunde. Und nun, an dieser Stelle des Geschehens, begann meine Erinnerung lückenhaft zu werden. Die letzten Fetzen, die ich noch leidlich zusammensetzen konnte, bestanden aus dem zornigen, löwenhaft brummenden Paukengeroll und Orgelschüttern, das sich als Jovis-Petri Sphärenmusik schon in unendlicher Ferne ankündigte. Man verlor Leben und Bewußtsein an diese Musik, obwohl auch sie bei aller Furchtbarkeit niemals sehr laut wurde und niemals ein wühlendes Mezzoforte überstieg. Es war ja die Atmosphärenhülle des Planeten, die auf ihrer Fahrt also harfte, tremolierte, paukte und posaunte, wobei jedoch die Leere oder das überdünne materielle Medium des Kleinen Weltraums nur einen bescheidenen Teil der Schwingungen und Tonwellen weiterleiten konnte. – Mein letzter optischer Eindruck aber war, als sei der ganze Raum von Horizont zu Horizont eine allausfüllende, von innen rötlich illuminierte Suppenterrine, die sich vor uns öffnet und in die wir einfahren. Das leuchtende Porzellan, das uns schluckte, war aber wundersam gemustert und gestreift mit langen purpurnen, gelblichen und violetten Bändern. Ich hörte noch und konnte gehorchen, als der Lehrer uns befahl, kopfüber, das heißt mit dem Kopf nach unten, in die weltengroße Öffnung der Suppenterrine einzufahren und unser Landungsmanöver auszuführen. Aha, dachte ich, das Material unserer Kopfkugel scheint haltbarer zu sein als das Material unserer Knochen. Mein letzter klarzuckender Gedanke: Man landet auf dem Planeten Petrus deshalb mit dem Kopf nach unten, weil der Apostel in Rom mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden ist ...
Soweit reichte meine Erinnerung. Was zwischen diesem letzten Gedanken geschehen war und meinem ersten tiefverblüfften Gefühl, das mir ein Körpergewicht von etwa achthundert Pfund anzeigte, das wußte ich nicht mehr. Ich wußte nur, daß ich lag. Dies aber wußte ich wuchtiger als je etwas zuvor. Das Schlimmste war, ich lag mit dem Gesicht nach unten in dem rostroten, patschnassen Eisenschlamm. Der wohlbekannte Geruch der Eisenverbindung durchdrang sogar mein Raumtauchergewand. Die Pläne, die ich faßte, waren, wie man verstehen wird, äußerst begrenzt. Das Nächste was zu geschehen hatte: ich mußte mich umdrehen, das heißt auf den Rücken wälzen. Dies aber war für mich nicht viel leichter als das Gegenteil für eine der Riesenschildkröten auf Neu-Guinea wäre, die hilflos sterben müssen, wenn die Eingeborenen sie auf ihren Rückenschild umgekehrt haben. Alles, was ich betastete, war weicher, regennasser Lehm; nein, diese Definition entspricht nicht voll der Wirklichkeit. Es war nicht gewöhnlicher Lehm, sondern eine Art von Modellton von Plastilin, eine Masse, die viel fester zusammenhielt als Lehm und die sich wie Gummi auseinanderziehen ließ, ohne zu zerreißen, als sei sie künstlich. Die hohe Adhäsionskraft dieser Erdmasse – Verzeihung, man muß natürlich sagen Jupitermasse – schien auch der Grund zu sein, warum ich nicht verschluckt und in die Tiefe gezogen wurde, so wie sie auch der Grund dafür sein mochte, daß der seit Jahrmillionen regnende Regen keine Lachen, Teiche und Seen im Umkreis bildete, sondern nichts anderes tat, als den Modellierton feucht zu halten. Bildhauer gehörten hierher, fiel mir ein. Meinen ersten Plan aber, mich auf den Rücken zu wälzen, machte diese Bodenbeschaffenheit des ungefestigten Petrus zuschanden. Wie spürte ich das volle Riesengewicht der hiesigen Regentropfen, die fünfmal so schwer wie auf Erden auf mir zersprühten wie Maschinengewehrkugeln auf einem Tankpanzer.
In diesen Augenblicken fühlte ich noch keinerlei Angst und Einsamkeit. Der erste Lehrzweck der Chronosophie, das irdische Raum- und Zeitgefühl im Schüler unsicher zu machen um einer höheren und umfassenderen Wirklichkeit willen, hatte sich an mir voll bewährt. Ich hätte zum Beispiel nicht sagen können, ob ich auf dieser Stelle, wo ich auf dem Mammutplaneten niedergegangen war, bereits mehrere Tage und Nächte lag – Jupitertage und -nächte natürlich, die, wie ich zu meinem größten Erstaunen hörte, Tag plus Nacht, keine zehn Stunden währen – oder nur einige kurze Minuten. Nicht nach meinem gänzlich verwirrten Instinkt, sondern rein verstandesmäßig schloß ich auf letzteres, nämlich auf einige Minuten. Ich glaubte fest an die Autorität, an die Fürsorge und das überlegene Können unseres Lehrers, der uns bisher so sicher durch das Niedere Intermundium gelenkt hatte. Unter der Führung eines so alten und erfahrenen chronosophischen Pädagogen war es ausgeschlossen, daß irgendwem, der sich unter seiner Obhut befand, ein kosmischer Unfall zustoßen konnte. Zweifellos mußte der Lehrer in Kürze auftauchen und B.H., mich sowie seine ganze Klasse zusammentrommeln, die wir im Niederfall nicht genug Disziplin gehalten hatten, um dicht beieinander zu bleiben. Wie aber, wenn wir im Niederfall einen »Streukegel« gebildet haben, gleich den Füllkugeln eines explodierenden Schrapnells? Das zuckte mir in Erinnerung an meine Kriegszeit durch den Kopf. Dann lagen wir wohl hunderte oder gar tausende Meilen auseinander. Diesen Gedanken verjagte ich aber sofort, voll darauf vertrauend, daß kein verantwortungsbewußter Lehrer seine Schulkinder jemals einer ähnlichen Gefahr aussetzen und daß keine vernünftige Schulbehörde, geschweige eine Lamaserie, dem Vorstand einer Kleinknabenklasse solche Freiheiten über Leben und Tod einräumen würde. Nein, das ist kein Schiffbruch, dachte ich, mich selbst ermutigend und ermunternd. Dann versuchte ich meinen Kopf zu heben.
Zu meiner eigenen Überraschung gelang es mir nach einigen Versuchen. Es war erstaunlicherweise etwas eingetreten, wessen ich mich nicht versehen hatte, was aber darauf hinwies, daß ich mich hier unten in dieser prekären Lage schon längere Zeit befand als nur einige kurze Jupiterminuten. Wie sich nämlich der Johannes Evangelist, als ich mich auf seinem Mare Plumbinum tummelte, meines Körpers durch assimilierende Merkurisierung zu bemächtigen begann, so tat es ähnlich der tausendfach gewaltigere Apostel Petrus, indem er mich langsam jovisierte. Diese Jovisierung äußerte sich nicht nur im Agio der Schwerkraft, von der wir schon wissen, das will heißen in der Umwertung meines Gewichtes auf die hiesigen Verhältnisse, sondern auch in einer Gegenmaßnahme der Natur, welche den Widerspruch zwischen dem Übergewicht und der unzulänglichen Körperkraft in Balance zu bringen suchte. Oh, wie verehrte ich, da ich ihn so wohltätig an mir selbst erlebte, diesen heiligen Trieb zur Kompensation, diesen unbeirrbar der Schöpfung eingeborenen Willen, immer und überall das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen, einen der göttlichsten, der gottgewissesten Züge des Lebens. Gründet sich auf dem elektromagnetischen Gesetz der Anziehung und Abstoßung das Leben des Stoffes, so auf dem Gesetz der Kompensation, der Wiederherstellung des Gleichgewichts, das Leben des Geistes, als welcher der große Friedensstifter ist in der Natur. Die Gegenmaßnahme der kompensierenden Kräfte hier bestand darin, daß mein Körper plötzlich einer neuen ganz und gar unerhörten, ja einer höchst wunderlichen Weichheit und Geschmeidigkeit bewußt wurde. Meine eigene Körpersubstanz schien die plastilinartige Hochverwendbarkeit der jovialen Substanz annehmen zu wollen. Ich konnte z. B. mit meinen Armen und Beinen Wellenlinien beschreiben, was mir einigen Spaß bereitete. Die normale Steifheit des Knochenbaus war aufgehoben. Nicht nur wurde es mir leicht, den Kopf zu drehen, zu heben, ihn beinahe kreisend hin und her zu wenden, mehr als das, meinem ganzen Körper war plötzlich die kriechende und kraulende Fortbewegung geläufig, als hätte ich von Kind auf keine andere geübt. Wahrscheinlich entsprach diese Bewegung am besten den physikalischen Verhältnissen, die gegenwärtig im Elften Weltengroßjahr der Jungfrau auf der sich langsam konsolidierenden Oberfläche des Petrusplaneten herrschten. Hätte es nach irdischer Analogie eine höher entwickelte Fauna hier unten gegeben – aber es gab, soweit mein eigener Blick reichte, nicht einmal das niedrigste Pflanzenleben –, so wären es wohl am ehesten riesenhafte Kriechtiere gewesen, welche sich in peristaltischen Rucken durch den warmen, gummigen Modellierton gewunden hätten. Doch nicht an solche häßliche Echsen und Pythone dachte ich, sondern an unsern Knirps, und ich war begierig, auf welche graziöse und zierliche Art der kleine Sternentänzer mit dieser Gravitation und dieser Knochenerweichung hier fertig werden würde. Inzwischen schien meine Jovisierung schon so weit fortgeschritten zu sein, daß ich selbst den Eindruck hatte, mein Körper sei so sehr verbreitert und abgeplattet, als wäre er mit einem unsichtbaren kosmischen Nudelwalker bearbeitet worden wie Kuchenteig. Mir war's, als könnte ich meine beiden symmetrischen Hälften in der Art einer Omelette zusammenlegen. Mochte dies nun wahr sein oder nur eine Einbildung, es gelang mir jetzt durch eine gewaltige Kraftanstrengung mit kurzen und eidechsenhaft gespreiteten Armen mich aus der Grube herauszuarbeiten, die mein Fall in den rostroten Eisenmorast gebohrt hatte wie in ein Gummiluftkissen. Und wirklich, kaum hatte ich mich aus der Vertiefung herausgewunden, als sie sich mit einem schmatzenden Knall wieder füllte und ihrer Umgebung anglich. Ich verhielt mich einen Augenblick still, um hochaufatmend neue Kräfte zu sammeln, dann aber warf ich mich, mein ungeheures Gewicht, mit einem wohlberechneten Schwung nach rechts, überwand den toten Punkt und kam auf den Rücken zu liegen. Das Glück wollte es, daß ich durch die Gewalt des Schwunges und meine eigene Schwere eine Bodenneigung oder Böschung herabrutschte und zum Schluß in einem recht bequemen Winkel zu verharren kam, den Kopf oben, die Füße unten und einen weiten Rundblick vor meinen Augen.
Trübe novembrige Dämmerung herrschte. So wenigstens glaubte ich anfangs, indem ich die Tageszeit irdischer Erfahrung gemäß als »vor Sonnenauf- oder nach Sonnenuntergang« bestimmte. Doch wie bald sollte ich meinen Irrtum erkennen. Das, was mir als graueste aller grauen Dämmerungen erschien, war volles joviales Tageslicht. Der ungeheure, gänzlich fremde Himmel des Apostel Petrus war mit ebensolchen ungeheuren und gänzlich fremden Wolken bedeckt. Diese Wolken, meist braunrot oder schmutzig violett und sehr hoch oben, jagten in einer rasenden Sturmbraut dahin, die in den höheren Schichten der Jupiteratmosphäre herrschte. Das Wort »jagen« ist eine äußerst matte und blasse Metapher, denn die Bewegung der Wolken war so geschwind, daß man sie mit dem Auge gar nicht verfolgen konnte; dabei verwandelte sich das Gewölk und gestaltete sich um in demselben Rhythmus, der es dem Auge unmöglich machte, die Übergänge zu verfolgen. Heute nehme ich an (in aller Bescheidenheit des wissenschaftlichen Laien), daß dieser von mir mit unwiederholbaren Gefühlen erlebte Sturm und dieses schwindelerregende Wolkenjagen zusammenhängt mit dem Rotationstempo des gigantischen Himmelskörpers Jupiter, der nur zehn Stunden braucht, um sich um seine Achse zu drehen, während die tausendfach kleinere Erde sich dazu volle vierundzwanzig Stunden Zeit nimmt. Der unausdrückbare Sturm herrschte natürlich nicht nur oben, sondern auch unten, als Echo wenigstens. Er bildete gleichsam den grundsätzlichen Atmosphärenzustand auf Petrus, dem Apostel. Dadurch aber, daß auf dem endlosen, rostroten Morast nichts, aber auch gar nichts da war, was dieser Sturm ergreifen, schütteln, zausen konnte, machte er sich mir nur durch das Medium der schiefen, peitschenden, projektilartigen Regenstriche bemerkbar. Nein, dies ist nicht ganz richtig, etwas war da in diesem rostroten Morast aus ungefestigtem Eisen: Ich war da. Mein Körper war da. Dieser Körper aber war so schwer, daß er der Geschwindigkeit des Windes die Verhältniszahl seines Gewichtes entgegensetzend, diesen Wind nicht einmal so stark empfand als eine normale irdische Unbill, ganz davon zu schweigen, daß er durch das Raumtauchergewand vor jeder fühlbaren Attacke vollkommen geschützt war. Der Sturm offenbarte sich somit nur in jenem oben beschriebenen Wolkenjagen und in einem unablässigen Sausen und Heulen, das aber als beständiger Orgelpunkt kaum zu Bewußtsein kam.
Ich überblickte nur einen Teil des Himmels, unter dem ich auf meiner Plastilinwelle fixiert war. Dann und wann wurde der Regen schwächer. Einmal zerriß sogar das Gewölk für einige Zeit, weil der ewige Sturm Jupiters aus unbekannten Ursachen eine andere Richtung genommen hatte. Ein ziemlich umfangreiches Binnenmeer von preußisch-blauem Dämmerhimmel (nicht Nacht, nicht Tag) offenbarte sich da, und mitten in diesem Binnenmeer stand die Sonne. Was aber war aus dem goldenen Vlies geworden, der Wolle aus Weißglut, welches ich in derselben chronosophischen Unterrichtsstunde, die noch nicht zu Ende war, auf Johannes Evangelist betrachtet hatte, bebend und mit einem unterdrückten Winseln in der Kehle? Wo war der berstende Riesenschild, wo der Orkan lodernder Lebenstätigkeit, der vor Gott und sich selbst das große Drama aufführte, dessen Titel heißt: »Ich bin«? Wie, dieses kleine. schwache Fahrradlaternchen dort sollte die Sonne sein? Sie war es. Hätte es hier auf dem Jupiter eine Mythologie gegeben, Helios wäre vom erhabenen Wagenlenker zum Radfahrer degradiert worden. Die Sonnenscheibe erschien nicht einmal so groß wie eine ferne Fahrradlampe, und man konnte sie trotz ihres Strahlenkranzes ruhig ins Auge fassen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ich habe weiter oben geschrieben »die Sonne stand«, das war angesichts des Jupiterhimmels ein äußerst unbedachter Ausdruck. Die Sonne flog. Die Sonne floh. Die Sonne raste. Es war nicht nur eine durch die Jagd der Sturmwolken hervorgerufene Illusion, die Sonne bewegte sich hier mehr als doppelt so schnell wie sie sich am Erdenhimmel bewegt. Kaum war sie an einem Rande des preußisch-blauen Binnenmeers aufgetaucht, war sie schon hinter dem entgegengesetzten Rande verschwunden.
Wenige Minuten später, so rechnete ich, und, sie mußte hinter dem Horizonte des großen Moors untergegangen sein. Es machte aber keinen Unterschied, ob die schwächliche Bicycle-Lampe über dem Horizonte war oder unter ihm. Die Dämmerung des Tages unterschied sich nicht von der Dämmerung der Nacht. So absurd es klingt, ich bin aber gegenwärtig im zwanzigsten Jahrhundert der einzige lebendige Zeuge dessen, daß die Nacht auf Petrus Apostel, vulgo Jupiter, heller war als der Tag. Nein, ich hatte, wie manche Gebildete vielleicht meinen werden, während meiner angstvollen Ausgesetztheit nicht die Gelegenheit gehabt, alle Jupitermonde zu sehen; sie sind, man kann es mir aufs Wort glauben, im Überfluß vorhanden. Es gibt, wenn ich nicht irre, neun oder zehn davon. Die vier wichtigsten gehören der Geschichte der Menschheit an, da Galilei, indem er sie in seinem lächerlich primitiven Fernrohr, einem mäßig guten Operngucker, eines Nachts entdeckte, die moderne empirische Astronomie durch diese Entdeckung begründete. Immerhin sah ich sehr bald drei von diesen ehrwürdigen Monden gleichzeitig durch das stellenweise dünner gewordene Cumulus-Sturmgewölke schimmern. Einer davon war ein mächtiges Rad, doch auch die beiden anderen übertrafen an Größe unsern guten Erdtrabanten, um den ich gestern abend so bitterlich geweint hatte. Und wiederum stieg mir ein kosmisches Hundegefühl in die Kehle. Ist der Mensch dazu gemacht, drei Monde gleichzeitig am Himmel zu sehen? Nicht ein Mensch des frühesten Altertums wie ich einer bin. Alles was in uns Tier ist, erschrickt vor drei gleichzeitigen Monden am Himmel zu Tode, und glaubt, furchtbar zu träumen. Wo bist du, große heilige Mutter der Welt, daß ich mein Köpfchen in deinen Röcken verstecken könnte? ...
Es währte aber nur einige Atemzüge, und ich hatte dank meiner schon öfters selbstbelobten Charakterlosigkeit oder Anpassungsfähigkeit mich wieder völlig beruhigt. Ich mußte sogar plötzlich ein bißchen lachen, da ich mich an einen Ausdruck eines englischen Humoristen erinnerte, der im Gegensatz zu den nihilistischen Naturphilosophen, diesen Protzen, die stets in astronomischen Trillionenzahlen schwelgen, um den Menschen zur Laus zu machen, von einem »kleinen gemütlichen Universum« spricht, in dem wir leben. Fast war ich selbst ein lebendiger Beweis für die Richtigkeit dieser Formel von unserm »kleinen gemütlichen Universum«. Hatte ich doch während meiner ersten chronosophischen Unterrichtsstunde nicht nur im Kometenturnen beträchtliche Räume und Zeiten durchschossen, sondern zwei kontradiktorisch verschiedenartige Welten betreten, wobei ich das eine Mal keine vierzig, das andere Mal über achthundert Pfund schwer war. In diesem Augenblicke, da jenes Wort des gescheiten Engländers in meinem Geiste nachtönte, befand ich mich besonders wohl, hatte meine einzigartige Schreckenslage beinahe vergessen und glaubte, die wohltätigen Wirkungen der Chronosophie schon in meinem Blute zu empfinden, wie man die Wirkungen einer Kokain- oder Laudanumdroge empfindet, als eine Entwesentlichung aller Raum- und Zeitmaße und als eine Steigerung meines Souveränitätsbewußtseins.
Es war notwendig, entschied die Vernunft in mir, diese mutige, diese stimulierte Stimmung für einen besondern Kraftversuch auszunutzen. Den Ausschnitt der leeren, flachen, stellenweise leicht gewellten Mooreinöde, die sich vor mir bis zum Horizonte erstreckte, hatte ich durchforscht, so weit meine Augen reichten. Ich hatte sogar einige Male mit aller Kraft nach meinem Freunde B.H. gerufen, und nach mentalem Brauch die Feststellungsworte hinzugefügt: »Hier bin ich«. Mit Verwunderung hörte ich, wie sich dieser Ruf in der dichten jovialen Luftatmosphäre immer wieder erneuerte, ohne durch eine Echowand zurückgeworfen zu werden, und wie er in radioartigen Wellen und Ringen sich anscheinend ins Unendliche fortsetzte. Warum das geschah, weiß im Augenblick, da ich von dieser Erscheinung berichte, nur Gott allein; später werden es die Gelehrten zu wissen glauben, doch von Generation zu Generation anders. Erst fern am Rande des Gesichtskreises, wo schmutzig violettes, vermutlich magmatisches Gewölke lastete, verlor sich der Ruf. Keine Antwort kam. Ich nahm an, daß B.H., unser Lehrer und die ganze Klasse sich in einer ähnlichen Situation befinden mußten wie ich und fürs erste ebenso ihre Beweglichkeit eingebüßt hatten. Vermutlich befand sich die ganze Schar in meinem Rücken hinter der Plastilinböschung, auf der ich mit verhältnismäßiger Behaglichkeit ruhte. Daß hinter meinem Rücken aber manches Unbekannte vorging, und zwar von Sekunde zu Sekunde deutlicher, das merkte ich an einem dumpfen Rollen und Rumpeln, an einem beängstigenden Röcheln, Schnauben und Knirschen weithinaus, das ich mir gar nicht erklären konnte. Daß sich hinter meinem Rücken der viel interessantere Teil der Landschaft (so weit man auf Petrus Apostel von Landschaft sprechen konnte) ausdehnte, darüber konnte kein Zweifel herrschen. Mit dem ganzen Autoritätsglauben, der in mir als dem Sohn eines barocken und feudalen Landes steckt, vertraute ich auf unsern Herrn Lehrer und nahm an, daß er selbstverständlicherweise die interessantere Seite, die charakteristischere Aussicht gewählt hatte, um Unterricht zu halten, Prüfungsfragen zu stellen und seine Schüler zum Zwecke der Betrachtung einen Reigen bilden zu lassen (wie, das war seine Sache). Vielleicht hatte man mein Fehlen noch gar nicht bemerkt. Da sich die Wirkungen der chronosophischen Propädeutik schon an mir geltend machten, die Verwirrung des Raum- und Zeitsinns nämlich, so konnte ich lang und kurz und früh und spät nicht mehr unterscheiden. Daß die erschreckend schwächliche Fahrradlampe der Jupitersonne schon untergegangen war, sagte mir gar nichts. Ich nahm mich also im wörtlichsten Sinne zusammen. Das geschah folgendermaßen: Dank meiner neuen schlangenhaften Geschmeidigkeit und Weichknochigkeit bog ich meinen verbreiterten und plattgepreßten Rumpf ohne viel Mühe zusammen, etwa in der Form einer halben Röhre. Meine dadurch stark verkürzten Arme mit den Händen, die ich als außerordentlich klein empfand, spreitete ich in Eidechsenstellung seitwärts. Meine Sohlen stemmte ich gegen zwei schon verfestigte Eisenbrocken, mit denen die unendliche Einöde rings übersät war. Meine Kopfkugel, die hier, ich weiß nicht warum, diamanthart geworden war, bohrte ich so tief ins Plastilin, bis es nicht mehr nachgab. Meine Oberfläche und mit ihr die Reibung war so aufs menschenmöglichste verringert, zugleich aber war der Hebeldruck, den ich auf mein eigenes Gewicht ausüben konnte, ziemlich vermehrt. Es mißlang freilich zwanzigmal, ehe die richtige Lage und Kraftverteilung zustande kam, und ich mich langsam hochziehen konnte, indem ich meine Kopfkugel als fixen Schwerpunkt immer von neuem und immer weiter oben in die feuchte Lehmwelle bohrte. Schließlich krallten sich meine Eidechsenhändchen in ihren raumdichten Handschuhen auf einer rauhen Fläche fest. Noch ein Ruck, und ich hatte die Böschung erklommen. Das Unglaublichste aber: Ich lag nicht mehr. Ich saß. Ich saß mit nie erlebter Wucht auf meinem Hintern, der sich in den luftkissenartigen Modellierton eingeschraubt hatte und dadurch fixiert war wie ein Drehpunkt. Gelang es mir, was keine Kleinigkeit war, meine Beine ein wenig vom Erdboden zu heben, konnte ich erstaunlich leicht um mich selbst kreisen. Ich war gewissermaßen zum Klaviersessel meiner selbst geworden. Ich drehte mich nun der interessanteren Seite zu.
Das nächste war, daß ich schnell die Augen schloß, weil ich nicht glaubte, dem Bilde seelisch gewachsen zu sein, das sich mir darbot. Ich kann gar nicht sagen und habe es selbst nicht gewußt, wie sehr ich bis zu diesem Augenblick davon überzeugt gewesen bin, ich werde B.H., unsern Lehrer und meine Mitschüler, die mentalen Schuljungen, auf dieser »anderen Seite« vorfinden, die zwar interessanter, aber durchaus nicht wesensverschieden sein konnte von dem mir schon sattsam bekannten rostroten und wüsten Ödmoor. Sie war wahrhaftig interessanter, die andre Seite. Doch sie war auch sehr verschieden, so verschieden, wie nur Land und Meer voneinander sein können. Ich sage und schreibt »Meer«. Es war ein furchtbarer Ozean, der da vor mir wogte. Noch furchtbarer als der Ozean selbst jedoch war die Tatsache, daß er nicht aus Wasser bestand, sondern aus demselben rostroten Moor oder Plastilin wie alles andere ringsum, wenn auch dem Anschein nach in etwas verflüssigterem oder, genauer gesagt, erregterem und aufgewühlterem Zustand. Der furchtbarste Schlag für mich aber: Ich selbst befand mich inmitten dieses Ozeans. Ich hatte mich von Anfang an daselbst befunden, und zwar auf einer zeitweilig erstarrten Welle, auf einer unbewegten Trift, einer toten Flaute inmitten des Malstroms, die binnen der nächsten halben Stunde von den hügelhohen roten Wogen ringsum verschlungen, das heißt an- und ausgeglichen sein mußte. Die unkonsolidierte Oberfläche der Welt war in gezeitenartiger Bewegung. Die unteren Kräfte hoben und senkten sie, wahrscheinlich durch den Einfluß der zehn Monde, der unsichtbaren und der sichtbaren, deren knöcherner Schein durch das in verwirrendem Tempo sich ewig umgestaltende Sturmwolkengetümmel brach. Das Bild des aufgewühlten Ozeans ist schwach und unzulänglich, denn die phantastischste Wasserhose auf dem Pacific läßt sich mit diesem hochwogenden und hochgepeitschten Rotmoor nicht vergleichen, das einen Rumor entfesselte, ein stürzendes Poltern, Krachen, Gurgeln und Schmatzen, vor dem einem, und das ist keine Redensart, die Sinne vergingen. Wenn die roten Wogen zurücktraten, öffneten sich unsichtbare Spalten, aus denen der Lavaqualm zum Himmel stieg. Am Meereshorizonte aber, der durch den sonderbar tapsigen Wellentanz des schweren Schlamms immer wieder verstellt wurde, standen völlig unbeweglich mehrere finsterrote und schwarzviolette Feuersäulen, die den Jupiterhimmel zu tragen schienen mit seinen schädelbleichen Monden und dem unaufhörlichen Wolkensturm. Das lebhafteste Moment in dem schwerflüssigen und niederdrückenden Schauspiel bildete aber das unabsehbare Feuerwerk von weiß oder rot glühenden Eisenbrocken und von schwarzen Schlacken, die von der bewegten Fläche überall hochgeschleudert wurden, um beim Zurückfallen hörbar zermalmt zu werden.
Da hockte ich nun mit einem viel zu großen, plattgepreßten und doch krummen Buckel, von der ungemäßer Schwerkraft gleichsam zertreten. Ich hockte und schaute. Das hätte ich mir niemals ausgesucht, dachte ich, als ich mich schon etwas gefaßt hatte. Ich dachte diese Worte, und vielleicht habe ich sie sogar laut ausgesprochen und hinzugefügt: »Das wäre eher etwas für einen Wagnerianer«. Diese Objektivität inmitten meines kosmischen Schiffbruchs ist nur dadurch zu erklären, daß mein irdisches Bewußtsein es ablehnte, das großartige Drama der wogenden Moorlandschaft vor mir für gemäß, das heißt für wirklich zu halten. In einem Winkel meiner furchterschütterten Seele langweilte mich dieses Drama sogar. Daher die Worte: ich hätte es mir niemals ausgesucht. Da stand mir Johannes Evangelist viel näher. Dort, angesichts der tumultarisch sich offenbarenden Sonne hatte ich an meiner physischen Zeugenschaft nicht gezweifelt. Hier und jetzt, in diesem prekärsten aller Augenblicke, beschlich mich wieder der alte Argwohn: Hatten die Mentalen nicht hundert und ein Mittel ersonnen, um den Widerspruch zwischen der grenzenlosen inneren Erlebnisfähigkeit des Menschen und seinen tellurischen und physischen Schranken aufzuheben: der Reiseverkehr durch die Zusammenstimmer, die Sternschrift des Uranographen, die dynamische und visionäre Tapete, die jedermann ad libitum aus dem Schatz seiner Erinnerungen an die Wand projizieren kann, und vieles andere mehr? Man konnte ja geradezu den Astromentalismus als die Kunst definieren, die unendlich beweglichen geistigen Bilder unserer Seele zu verstofflichen und in Zeit und Raum zu stellen.
Im Hinblick auf den optischen Kristallberg des Djebels hegte ich darüber hinaus, wie man sich erinnern wird, einen beinahe »technischen« Verdacht. Hatte es nicht bereits zu meiner Zeit elektronische Photographie gegeben? Oder ist das ein Irrtum, eine Einbildung? War es mittlerweile nicht zum Kinderspiel geworden, einen lebendigen Menschen, der auf seinem Lager der Ruhe und Bewegung inmitten gewöhnlicher Zimmerfinsternis in Trance liegt, mit einer unendlich sich hinspulenden Filmaufnahme des Johannes Evangelist oder des Apostel Petrus zu synchronisieren, und zwar dergestalt, daß derselbe Mensch sich auf dem Filmstreifen der planetaren Landschaft kraft jener Synchronisierung befand und bewegte und, einem der mentalen Tricks gehorchend, sich selbst auch wirklich erleben durfte? Ich für meine Person habe in dem materialistischen Zeitalter des zwanzigsten Jahrhunderts nie daran geglaubt, daß unsere Abbilder, in Sonderheit unsere Lichtbilder, unsere Photographien, diese zweidimensionalen Abzüge unserer existentiellen Gegenwart, etwas Totes sind. Oft habe ich mich gewundert, daß solch ein photographierter Mensch sich aus seiner Zweidimensionalität nicht löste, um den Herzensmonolog des Augenblicks zu sprechen, den er verewigen mußte. Warum also sollte ich nicht, was ich jetzt erlebte, als plastisch photographierte Gestalt auf der plastisch photographierten Jupiterlandschaft erleben, durch den Mentalismus daselbst nicht nur synchronisiert, sondern, obwohl selbst nur ein Bild, auch zum Bewußtsein erweckt? Ich breche hier mein Versprechen, keine Erklärungen zu geben, einzig und allein deshalb, weil die obigen Überlegungen meinen Geist tatsächlich durchzuckten. Und ich verschweige diese Gedanken vor allem deshalb nicht, weil etwas sich sogleich ereignen wird, was auch der empfindlichste mentalisierte Filmstreifen im optischen Zentrum des Djebel nicht festhalten könnte ...
Flachgepreßt, doch tief gebückt, saß ich auf meiner Düne und bemerkte immer deutlicher, daß die starre Oberfläche des Eisenmoors sich von Augenblick zu Augenblick verkleinerte. Nun rumpelte, polterte, donnerte und knirschte es auch hinter meinem Rücken auf der uninteressanten Seite von vorhin. Wie lange konnte es noch dauern, ehe ich selbst in die Höhe geschleudert und dann zwischen diesen Plastilinkiefern zermalmt werden würde, die zwar tückisch zurückwichen, aber nicht nachgaben, wenn die Elastizitätsgrenze erreicht war. Wieder einmal erwies es sich, daß im Leben der stählerne Charakter von Mensch und Materie weniger gefährlich ist als der gummig dehnbare. Nicht genug mit dem Wogentanz des Moorbodens, ein neues Ereignis übergipfelte die vorigen. Es wurde dunkler und dunkler plötzlich. Unter dem alltäglichen Sturmgewölke des Jupiterhimmels brausten jetzt von allen Seiten sehr tief hängende, beinahe schwarze Wolkenfetzen gegeneinander, mit eingelegten Lanzen gleichsam, Geistersotnien durchgehender Rappen, von mythologischen Kosaken geritten, die terre-à-terre sich in die Mähnen verkrallten. Einen Atemzug später wußte ich: Das sind keine Wolken. Es ist frei in der Atmosphäre schwebender Jupiterboden, in Fetzen gerissen. Die Schwadronen aus unkonsolidierter Planetenerde krachten ineinander, und das unglaubwürdigste aller Gewitter hub an. Zwischen den Wolken aus Plastilin, die von nicht geringerer Dichtigkeit und Festigkeit waren als der Boden unter ihnen, knatterten dauernde, verharrende, erstarrte Blitze, ein Geflecht beständiger Entladungen wie etwa bei Leidener Flaschen von unausdenklichem Maß. Die Hoffnung, ich sei nur ein synchronisiertes und photomontiertes Bild, das sich selbst erlebt, war geschwunden.
Aufrichtig gesagt, mein ganzer Intellekt war geschwunden, von der wachsenden Not überwältigt. Ich vergaß alles, mein ehemaliges Leben, die hunderttausend Jahre meiner Absenz, mein überraschendes Wiedererscheinen, all das Außerordentliche, was mich zur Überlegenheit und Ironie und Verachtung des Schicksals verpflichtet hätte. Ich war nichts als ein Robinson Crusoe des Jupiters, oh, welche Selbstüberschätzung, ich war nichts als ein Mensch in Todesnot, was so viel heißt wie ein armseliger Realist, mit nicht mehr als zwei ungeduldigen Jupiterminuten hinter und zwei vor mir. In der zweiten Minute, die noch vor mir lag, zog sich die Düne, auf der ich saß, mit einem unvergeßlichen Aufstöhnen zusammen, spitzte sich zu, wuchs in die Höhe, den knatternden Dauerblitzen entgegen, immer mehr ... Ich fühlte mich hochgetragen, versuchte, mich tiefer in den nassen Schlamm zu bohren, noch ein Atemzug, und die Welle wird mich abwerfen wie ein ungeheueres fuchsrotes Pferd. Ich dachte in der letzten Sekunde an die heilige Kraft, die mich nicht nur einmal im Leben gerettet hatte, und es ertönten auf dem ungefestigten Riesenplaneten zum erstenmal seit Erschaffung der Welt diese lateinischen Worte aus einem irdischen Mund: »Ave Maria, Gratia plena, Dominus tecum ...«
Ich wußte von Engeln nur so viel, wie jeder weiß, der sich mit den heiligen Schriften ein wenig befaßt hat. Ich wußte zum Beispiel, daß sie in vier Klassen oder Gruppen eingeteilt werden, in die Chöre, Herrschaften, Fürstentümer und Throne, mit welchen wunderschönen Worten ich jedoch durchaus keine festen Vorstellungen verband. Mit diesen wunderschönen Worten waren aber auch die Grenzen meines Wissens schon erreicht. Offengestanden, ich glaubte nicht sehr entschieden an die Existenz von Engeln. Darin unterschied ich mich recht wenig von meinen ehemaligen Zeitgenossen, die mit demselben Fanatismus bereit waren, an die unsichtbaren Engel nicht zu glauben, wie an die ebensowenig sichtbaren Elektronen und Protonen zu glauben. (Nun, obwohl ich mich selbst nicht den Ungläubigsten aller Menschen nennen will, auch ich hätte es niemals für möglich gehalten, daß ich in Person, zuerst unsichtbar und dann sichtbar, in der mentalen Zukunftswelt auftauchen könnte.) Diese Tatsache war gewiß nicht weniger wunderlich als die beiden bisnun ungenauen Wesenheiten, die ich hinter mir fühlte. Wo aber war die mentale Erde und wo war ich? Ich war auf den Apostel Petrus verschlagen, den größten aller Planeten, der, ebenso alt wie unsere Erde, ein überraschend zurückgebliebenes Stadium durchlief, während wir schon beim Astro-Mentalismus hielten. Doch was verstand ich von spät und früh, von diesen menschlich-kindischen Einteilungen, die man allzu kühn auf Weltkörper ausdehnte? Was kümmerten sie mich auch in diesem Augenblick, wo ich gewärtig war, von der sich auftürmenden Bodenwelle abgeworfen zu werden und mit zerschmettertem Leibe in einer qualmenden Spalte zu verschwinden? Dies geschah aber nicht, sondern meine Bodenwelle schien sich nach einer deutlich fühlbaren Überlegung beruhigt zu haben, etwa in der Art eines nicht ganz unvernünftigen Sanguinikers. Sie ebbte zurück und erstarrte wieder, während um mich herum das Wogen, Rollen und Branden des ozeanischen Moorlandes nur noch wilder tobte. Der Dauerblitz und Donner knatterte endlos, die hochgewirbelten Brocken aus glühendem Eisen zischten durch die dichte Atmosphäre. Die drei zur Stunde sichtbaren Monde, einer davon ein tüchtiges Wagenrad, eilten dahin, immer wieder verdeckt, immer wieder entblößt, während die brandroten und schmutzig violetten Feuersäulen am Horizont als unerschütterliche Geraden emporwuchsen und hoch oben, wo sie den Himmel zu tragen schienen, korinthische Kapitale aus verwischten Rauchvoluten und Qualm-Akanthussen bildeten.
Da war es, daß ich neben mir die beiden Fürstentümer oder Herrschaften fühlte. Ich hatte keine Furcht, mich überlief kein Schauer wie sonst, wenn sich mir, wie schon einige wenige Male im Leben, die Gegenwart des Übernatürlichen entschleiert hatte. Ich lag wieder auf dem Rücken wie im zweiten Stadium meines Planetenbesuches. Nicht etwa aus Furcht, sondern aus einer ganz neuen Art freudigster Ehrfurcht vermied ich die kleine Anstrengung, meinen Kopf in der Kristallkugel zur Seite zu bewegen und die beiden schon etwas deutlicheren Wesenheiten anzuschauen. Mitten in den Explosionen des Weltuntergangs rundum fragte ich mit leiser Stimme, und wenn ich nicht sehr irre, in meiner deutschen Muttersprache:
»Sind Sie zu mir gekommen, meine Herrschaften?«
Sie beantworteten meine Frage in derselben Sprache und nicht etwa in der Protoglossa. Oft redeten sie unisono. Dann und wann nahm einer dem anderen das Wort ab:
»Wir sind da«, sagte der eine.
»Wir sind auf dem Weg«, sagte der andere.
»Dann habe ich vielleicht das Glück«, flüsterte ich, »echten Engeln begegnet zu sein?«
»Wir sind uns bekannt als Melangeloi und gehören hierher«, sagten sie unisono.
»Melangeloi? Dunkelengel«, erschrak ich ein wenig, »soll das heißen ›böse Engel‹?«
»Böse Engel sind uns unbekannt«, sagte der eine.
»Unsere Helligkeit ist noch nicht ganz erhellt«, sagte der andere.
»Sind Sie denn körperliche Wesen, meine Herrschaften?« fragte ich jetzt ziemlich kühn.
»Nicht körperliche Wesen sind uns unbekannt«, erwiderten die Herrschaften oder Fürstentümer oder Throne.
»Dann könnte sie vielleicht ein sehr lichtempfindlicher Film festhalten«, dachte ich laut.
Die beiden Wesenheiten aber wiesen meine Meinung zurück:
»Wir können nur festgehalten werden, wenn wir es wollen.«
»Und Sie wollen es nicht«, versetzte ich, »was ich ausgezeichnet verstehe ...«
Erst bei diesen Worten bemerkte ich, daß ich mich nicht mehr auf dem rostroten Ödmoor befand, sondern zwischen den beiden Herrschaften, Fürstentümern oder Thronen frei in der Dämmerung bewegte. Ich beachtete es gar nicht sehr, undankbar wie die meisten Geretteten. Allzusehr beschäftigte mich die ungeklärte Frage der Körperlichkeit dieser Melangeloi und aller Engel. Sie beschäftigte mich so über die Maßen, daß ich dem Raum, den wir durcheilten, nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte und daher auch nicht sagen kann, ob wir uns noch im Bannkreis des Apostel Petrus befanden oder diesen schon verlassen hatten. Ich bemerkte nicht einmal, auf welche Weise ich mich bewegte, ob meine beiden Begleiter mich trugen, oder ob ich kometenturnte, was mir schon zur zweiten Natur geworden war. Jedenfalls hab ich's vergessen. So sehr war ich mit meiner ganzen Seelenkraft dabei, die richtige Formulierung für meine Fragen auszudenken, denn ich spürte mit der ganzen nervösen Anpassungsfähigkeit meines Naturells die unaussprechlich adlige, doch ebenso empfindliche Wesensart der Engel. Ein falsches Adjektiv, und solch eine Herrschaft oder solch ein Fürstentum ist verschnupft für immer, oder muß sich abwenden, ganz schwach vor Verstörung. Der ewige Umgang mit dem Logos selbst macht eben ungeduldig und schnell unpäßlich vor einer groben und unzureichenden Wortwahl.
»Die dort unten auf der Erde«, begann ich mit großer Zaghaftigkeit, »haben schon vor undenklichen Jahrtausenden Spektrallinien unbekannter Elemente und den Elektronenhagel zersprengter Atome im Bilde festgehalten ...«
In ihrer Antwort auf diese herauslockend wissenschaftliche Bemerkung fühlte ich das erste Mal so etwas im Tonfall der Melangeloi wie eine gutmütige Amüsiertheit.
»An uns gibt es keine Spektrallinien«, sagten sie unisono, »und keinen Elektronenhagel und sonstige Götzen des irdischen Kleinhirns ... Das war auch so was ...«
»Wie können Sie aber dann körperlich sein, meine Herrschaften«, schnappte ich ein, »wenn Sie nicht einmal aus Licht oder Radiowellen bestehen? Ist denn die Materie nicht eine Einheit, vom härtesten Diamanten bis zum Sonnenstrahl, der sich in ihm bricht?«
»Sieh dir einmal den an«, sagte der eine Engel, »er weiß nichts von dem, was offenbart ist und geschrieben steht.«
»Er weiß nicht«, sagte der andere Engel, »daß wir die Vorgänger und die Nachfolger sind.«
»Es ist uns bekannt, daß wir aus demselben Stoff geschaffen sind wie diese Welt«, sagte der eine der beiden, »nur ein wenig weniger vergänglich.«
»Es ist uns bekannt«, sagte der andere der beiden, »daß wir da waren in dieser Welt, ehe sie selbst da war.«
»Es ist uns bekannt«, sagte wiederum der erste, »daß wir werden da sein in dieser Welt, wenn sie selbst nicht mehr sein wird.«
»Doch nur in dieser Welt«, vereinigten sich beide zum Unisono, und es klang aus ihren Worten etwas wie die Melancholie der Endlichkeit.
Ich hatte sie herausgelockt. Und es war nicht einmal schwer gewesen. Ich mußte mich bemühen, den Triumph, den ich über diesen Erfolg verspürte, in meiner Stimme zu verbergen:
»Ich verstehe Sie, meine Herrschaften«, sagte ich daher mit gemessener Fröhlichkeit. »Sie sind aus der Materia prima et ultima geschaffen. Sie waren schon da, ehe das Wort fiel: ›Es werde Licht‹, und irgend etwas von unendlich kleiner Wellenlänge ins Graue Neutrum einströmte. Sie sind halt Ultras und Infras und hinterlassen auf dem besten Zelluloid kein Abbild. Ich weiß aber, daß es Ihnen gerade deshalb so leicht wird, allerlei Gestalten anzunehmen. Den Jünglingen im Feuerofen sind Sie im Flammenmantel erschienen und dem alten Abraham als hochgeschürzte Wandersmänner. Oh, wie liebe und verehre ich Sie, Herrschaften, wenn Sie als gewöhnliche hochgeschürzte Wandersmänner erscheinen oder als Briefträger, Polizisten, Ambulanzfahrer ...«
Bei diesen Worten wagte ich zum erstenmal meinen Kopf zu wenden und die beiden Wesenheiten, die mich hartnäckig begleiteten, neugierig aus dem Augeneck anzublinzeln. Völlig überzeugt davon, meine Netzhaut werde nichts von der Materia prima et ultima erblicken, aus der die Melangeloi bestanden, war ich auf das wundersamste überrascht, als ich doch etwas zu sehen bekam. Freilich, hochgeschürzte Wandersleute wie Vater Abraham einst, sah ich hier nicht. Und doch, die zwei Fürstentümer, Herrschaften und Throne – ich vergaß festzustellen, zu welcher dieser Klassen die Melangeloi gehörten – waren irgend etwas wie ein Mittelding zwischen der unauffälligen Erscheinung, die Abraham besuchte, und der auffälligen Erscheinung, welche die drei Jünglinge im Feuerofen hatten. Vor allem, ich sah keine Flügel an diesen Engeln, was mich mit tiefster Befriedigung erfüllte. Ich habe Engelsflügel immer für eine menschliche Erfindung gehalten, und zwar für eine schlechte und verlogene. Entweder Arme oder Flügel. Jenes unverwendbare Schwanengefieder, das an menschenartigen Schultern festgewachsen ist und keine vernünftigen und zulänglichen Muskeln zur Verfügung hat, um in Schwung versetzt zu werden, ist nichts als eine anatomische Absurdität. Nichts greulicher, weil unmöglicher, als diese süßliche Verkitschung des babylonischen Flügelstiers. Um an Engel zu glauben – und ich möchte, dankbar für mein Erlebnis, zu diesem Glauben beitragen –, müssen wir uns mögliche Engel vorstellen, das heißt protomaterielle, ultrakörperliche Wesenheiten, die ihre Substanz beliebig verwenden, das heißt verkleiden können, was sie auch aus einer tiefen Neigung für ihre gesunkenen Halbbrüder, die Menschen, dann und wann tun. Wenn ich die Herrschaften, meine beiden Begleiter, richtig beschreiben soll, und das ist nicht ganz leicht, so sehe ich in der völligen Unerhelltheit des Grauen Neutrums, die wir schon so gut kennen, zwei eigenartige, doch sehr gedämpfte Erhelltheiten, die zwischen einem zarten Lila und blassen Rötlich schwanken. Das Wesentliche aber ist die Gestalt dieser Erhelltheiten. Am besten beschreibe ich sie als zwei bewegte Mantelformen oder Faltenwürfe, die mir zur Seiten in deutlichster Lautlosigkeit einherrauschten. Wie schön, wie herzerquickend, wie zufriedenstellend aber war's, daß diese blaßleuchtenden Faltenwürfe oder Mantelformen menschliche Gestalten einzuhüllen schienen, und zwar ganz und gar herrliche Gestalten. Plötzlich zeichnete sich im Faltenwurf ein spitzes Knie ab, ein mächtiger Schenkel, ein zarter Fuß, ein melodischer Ellenbogen, eine michelangelesk männliche Brust, und verschwand wiederum, als sei die brüderliche Annäherung des Menschlich-Ebenbildlichen schon mehr als genug.
Tintoretto und besonders der toledanische El-Greco hatten etwas davon heraus. Gesichter konnte ich nicht unterscheiden, besser gesagt, die beiden Wesenheiten drückten sich nicht so weit aus. Manchmal aber hatte ich den Eindruck von starken Köpfen hinter Schleiern, von Köpfen mit purpurn im Flug nachflatterndem Flammenhaar. Die Herrschaften hatten soeben vernommen, daß ich der hochgeschürzten Wandersmänner Erwähnung tat, die Abraham erschienen waren. Das mochte ihnen gefallen und prächtige Erinnerungen erwecken.
»Es ist uns bekannt, daß wir hochgeschürzte Wandersmänner sind«, sagte der eine.
»Und immer unterwegs«, fügte der andere hinzu.
Unterwegs, dachte ich, natürlich seid ihr immer unterwegs. Da unterscheidet ihr euch nicht von Sonnenstrahlen, Planeten und Atomen. Zu diesem Zwecke könntet ihr ruhig Materia media sein und keine Ultras und Infras. Wer weiß, vielleicht ist sogar der tote Raum unterwegs, das Graue Neutrum, das Nichts, die gähnende Leere zwischen den lodernden Lebenstätigkeiten. Eigentlich unterscheiden nur wir Menschen uns von diesem beständigen »Unterwegs«, da Gott allein uns die erquickende Illusion der Ruhe geschenkt hat. Im Tode weicht diese Illusion, und darin liegt das Geheimnis des »Gefahrenwerdens«. Aber ein freundliches Nachmittagsschläfchen auf dem Sofa, wenn der Roman aus der erschlaffenden Hand auf den Boden fällt und Körper und Geist sich im Gleichgewicht wiegen, während doch in Wirklichkeit jede einzelne Leibeszelle auf rasender Wanderschaft befindlich ist, diese Illusion ist einzig uns vergönnt. Und noch eins: Wenn wir Menschen unterwegs sind, so haben wir ein Ziel, ein limitiertes aber ausgesprochenes Wohin. Die Planeten in ihren monotonen Bahnen haben kaum ein Ziel, der Sonnenstern und die anderen Lichtgestirne vermutlich ebenso wenig. Die Engel aber, diese Menschen der Intermundien, müssen ein Ziel haben ...
»Meine Herrschaften«, sagte ich jetzt laut und zweifellos sehr geschraubt, »ich weiß, daß selbst unter Menschen nur die Schlechterzogenen ihre Bekannten auf den Boulevards fragen: Wohin gehn Sie da?«
Die Erhellten neben mir, diese beiden Mantelformen oder Faltenwürfe, blaßlila und zartrötlich, begannen zu wallen und sich zu blähen, wodurch die Ahnung menschlicher Glieder stärker hervortrat, ja sogar die angedeutete Prägung kräftiger Männergesichter mit nachflatterndem Rothaar. Ich hatte den Eindruck, daß dieses Phänomen ein herzhaftes Lachen der Melangeloi bedeutet. Sie beantworteten meine Frage nach ihrem Wohin nurmehr mit zwei kurz angebundenen Worten: »Rosarium virginis«. Dann streckten sie sich waagrecht aus, wurden zu matten Strahlen, und schon fühlte ich ihre Wesenheiten nicht mehr neben mir. Was ich aber fühlte, war ein Klumpen weinender Erschütterung in meiner Kehle. Die Melangeloi hatten mir die Richtung ihres »Unterwegs« angegeben: »Rosarium virginis«. Ich übersetzte es als Rosengarten der Jungfrau. Es war wohl das Sternbild der Jungfrau im Zodiak, das zu demselben Weltsystem gehörte wie unsere Sonne. Oder war es mehr? War es die Jungfrau selbst, die Königin der Sterne und der Engel, die Hof hielt in ihrem Rosengarten? Von allen Seiten schossen sie heran, die Vorgänger und die Nachfolger, die Flammenhaarigen und die Weißglutlockigen, die Riesigen und die Winzigen, die geschaffen waren vor den Sternen, um zu huldigen und um anzubeten das Erdenweib, aus dem der Geist hervorgetreten war, der durch seine Passion befreit hatte den Gott im Menschen und den Menschen in Gott.
Ich aber befand mich im selben Augenblick wieder mitten unter den Kometenturnern. Die Melangeloi, diese guten Bernhardinerhunde des Kleinen Intermundiums hatten mich aufgelesen und zurückgebracht. Mein Schiffbruch auf dem Apostel Petrus und meine Abwesenheit dürfte so gut wie gar keine Zeit in Anspruch genommen haben, denn weder der Lehrer noch B.H. hatten mich vermißt, sondern beide schienen Glaubens zu sein, ich hätte mich keinen Augenblick von ihnen entfernt gehabt. Nun war ich wieder ein langer Staubstrich mit einem matt leuchtenden Stecknadelköpfchen gleich meinen Mitschülern aus der chronosophischen Klasse. Ich lag neben B.H. schwerlos auf dem Raum. Leider konnte ich mich, trotz meiner guten Absicht, nicht zurückhalten, sondern stammelte in sich überstürzenden Worten das große Erlebnis von meinem Herzen:
»Weißt du denn nicht, B.H., daß ich schon verloren war? Und daß mich wirkliche, materiell existierende Engel, sogenannte Melangeloi, gerettet und zu euch zurückgebracht haben?«
Ich spürte wie B.H. seine Kopfkugel mir zuwandte und mich ansah, während wir uns des Weges streckten:
»Was redest du da, F.W.«, zischte er tonlos. »Welche Engel hätten dich gerettet? Was für einer Rettung hättest du bedurft? Ich habe weiß Gott keine Engel gesehen oder einen ähnlichen Wahnsinn. Du warst halt ein wenig knockout geschlagen von dem kurzen Blick, den wir auf Petrus Apostel geworfen haben. Ich übrigens auch, ich auch, aber sag's nicht weiter ...«
»Nein, B.H.«, kämpfte ich, »es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß ich wieder zu euch gestoßen bin. Es ist ein kleines Wunder, sagen wir ein Wunder zweiter oder dritter Klasse. Ich habe eine recht informative Unterhaltung mit zwei Dunkelengeln gehabt ...«
»Was hast du nur mit deinen Engeln«, fragte B.H. bereits irritiert.
Der Lehrer, der diese Unterhaltung hörte, näherte sich mir schnell, als wolle er mich beruhigen und Ärgeres verhüten:
»Wir sind auf dem Heimweg, Seigneur«, zischte er wie Dampf in der Heizung. »Die erste chronosophische Übungsstunde ist immer eine gewisse Anstrengung, zumal für Erwachsene. Jene Engel aber, deren Sie Erwähnung tun, sie dürften das Spiel einer wunderlichen Imagination sein, die Sie aus Ihrer früheren Lebenszeit mittragen.«
»Kein Wort weiter«, mahnte eine innere Stimme in mir. Undiszipliniert wie ich bin, gehorchte ich ihr nicht, sondern begehrte folgendermaßen auf:
»Wie? Warum keine Engel? Glauben Sie etwa nicht an Engel, Herr Lehrer? Sind vielleicht Engel nicht gut genug für den mentalen Geist?«
»Ich bin kein Gelehrter, sondern nur ein kleiner Schulmeister für die Anfangsgründe«, sagte der Lehrer in deutlich gekränkter Bescheidenheit. »Aber soviel weiß auch ich, daß seit Generationen der Bilderstoff der äußeren Welt und der Bilderstoff der inneren Welt des Menschen in den Lamaserien der Sternwanderer, der Verwunderer und der Fremdfühler inventarisiert worden ist. Wir besitzen ein lückenloses Verzeichnis alles dessen, was außerhalb und was innerhalb des Menschen existiert. Engel stehen nicht auf dem Verzeichnis des äußeren und inneren Bilderstoffs, Seigneur ...«
»Sie können nicht auf diesem Verzeichnis stehen«, versetzte ich enerviert, »denn sie gehören weder dem äußeren Bilderstoff noch dem inneren Bilderstoff des Menschen an ...«
»Verstehe ich recht«, zögerte nervös der Lehrer, seine munter dahinschießende Klasse jetzt ganz außer acht lassend. »Damit aber konzedieren Sie ja selbst, Seigneur, daß es keine Engel gibt. Denn was könnte es geben, das weder der äußeren Welt noch der inneren angehört?«
»So manches, Herr Lehrer«, entgegnete ich pointiert, »so manches kann es geben, zum Beispiel Gott ...«
»Gut, Gott«, bekannte der Lehrer nach einer Weile, »aber sonst nichts ...«
»Warum sonst nichts«, fragte ich, mich besonders genußvoll zusammenziehend und ausdehnend, »kann Gott etwa nicht eine Protomateria geschaffen haben? Er hat sie sogar sicher geschaffen, Herr Lehrer. Sie ist das, was zwischen ihm und den Worten liegt ›Es werde Licht‹. Sie ist das, was da war, ehe alles da war, was noch da ist. Sehen Sie, Herr Lehrer, sie ist das Geisterreich, zu dem auch die Engel gehören, die nicht im Verzeichnis stehen ...«
Ich glaubte, dem Lehrer mit diesen meinen Worten, wenn nicht die Existenz, so doch die Möglichkeit der Existenz von Engeln voll bewiesen zu haben. Er hatte aber meine Ausführungen gar nicht mehr so recht aufgefaßt, denn ein unerwartetes Ereignis – es war eine kosmische Lausbüberei Io-Knirpsens, unseres Turngenies – lenkte seine Aufmerksamkeit plötzlich ab und ließ seine Kopfkugel erbeben vor Zorn.
Da wir uns auf der Heimfahrt von Petrus Apostel zum Djebel befanden, konnten wir eine der planetaren Umlaufbahnen nicht vermeiden, die unvergleichlich belebter war als alle andern Bahnellipsen, bewegten sich auf ihr nicht nur ein einziges, sondern nach letzter Zählung mehr als elftausend Objekte, oder mit weniger wissenschaftlicher Kaltschnäuzigkeit ausgedrückt, mehr als elftausend echte Wandelsterne. Diese Planeten und Planetchen, die man in den Anfängen der Menschheit »Asteroiden« genannt hatte, entstammten insgesamt dem Zusammenbruch eines großen Planeten zwischen Petrus Apostel und Mars, dem Täuferstern, einem Himmelskörper, dem die Christianisierung des Firmaments den Namen Judas Ischariot verliehen hatte. Es bestand nämlich seit Menschengedenken eine initiierte Auffassung, daß dieser (von der Sonne aus gerechnet) fünfte Planet, der schönste und höchstentwickelte von allen, nicht einfach einem sideralen Verkehrsunfall erlegen sei, sondern bewußt Selbstmord begangen habe, indem er sich der Gefahrenzone einer überlegenen Schwerkraft, der des Apostel Petrus, allzusehr annäherte. Er hatte damit dasselbe getan, was Judas, der Mann aus Karioth auf Hackeldama tat, der Jünger, der Jesum für dreißig Silberlinge verriet und sich darauf umbrachte. Mochte in dieser Sage ein wahrer Kern stecken oder nicht, die alten Asteroiden, deren größte einst auf den Namen griechischer Gottheiten gehört hatten, waren jetzt unter dem Begriff »Judas Ischariot« zusammengefaßt. Daß wir uns im Bannkreis des Judas bewegten, bemerkten wir an einer gewissen, ganz leisen mondartigen Helligkeitsahnung, welche das Graue Neutrum plötzlich durchzitterte, sowie an einem unsagbar leisen, spinnwebartigen Getöne in höchster Lage, das uns von allen Seiten sommerlich zu umzirpen begann. Dann und wann sahen wir in fernster Ferne unseres Gesichtskreises eine matte Planetarscheibe auftauchen, dahinziehen und wieder verschwinden. Ich aber schloß die Augen jedesmal, um nichts mehr zu sehen, denn ich will es frei bekennen, meine Seele war übersättigt, sie konnte die Größe der Schöpfung nicht mehr ertragen, war sie doch eine Erdseele und keine Raum- oder Engelsseele. Um so mehr bewunderte ich die Knaben ringsum, die all diesen chronosophischen Erlebnissen und Übungen standhielten, als wären's Wettläufe auf einer zertretenen Spielwiese vor der Stadt.
Als ich aber wieder einmal die Augen öffnete, da bot sich meinen Augen ein Bild dar, das ich alle meine Tage nicht vergessen werde. (Ich meine natürlich den Rest meiner Tage im gegenwärtigen, das ist im zwanzigsten Jahrhundert.) Dicht vor uns strich ein Planetoid des Judas Ischariot vorbei. Die Gewissenhafteren unter meinen Lesern, deren Zeit- und Raumsinn durch die chronosophischen Übungen bereits nicht minder verwirrt sein dürfte als es der meinige war, werden es gewiß verstehen, daß ich die Maße dieses Planetoids, seine Größe, anfangs nicht beurteilen konnte. Ich selbst war als kometartiger Strich und Strahl über die Gebühr und über jede Vorstellung ausgedehnt. Davon aber hatte ich, wie öfters schon gesagt, durchaus kein Gefühl. Ich konnte in Bezug auf mich selbst, im Verhältnis zu meiner eigenen Ausdehnung, keine Größe messen. Welchen Umfang das Sternchen besaß, welches dort dahinschwebte, das hing nur von der Entfernung zwischen ihm und mir ab, und von der perspektivischen Verkürzung, die ich nicht beurteilen konnte. Ein starker Instinkt aber sagte mir, daß dieses Ding zum Greifen nahe sein mußte. Diesem starken inneren Instinkt aber widersprach die wundersame Durchmodelliertheit des sanft erleuchteten Himmelskörpers, welche darauf hinwies, daß der gewaltige Judas Ischariot vor seinem Untergang in der Tat ein herrlicher Wandelstern gewesen sein mußte. Ich gebrauche die Worte »wundersame Durchmodelliertheit«, mit welchen ich nicht mehr sagen will, als daß der dahinschwebende Globus ein wirklicher Globus war mit einer Tag- und Nachtseite, die Tagseite, von der uns unsichtbaren Sonne angestrahlt, die Nachtseite in tiefe Schatten getaucht, nicht anders als es unsere Erde gewöhnt ist. Ebenso wie die Erde und vielleicht noch der Täuferstern Mars trug das Sphäroid Schneekappen auf seinen beiden Polen. Und wenn ich mich nicht nachträglich noch täusche, so konnte man auf der lichten Oberfläche gewisse Bildungen, Flächen und Schatten unterscheiden, die auf Kontinente, Meere, Wüsten und kraterreiche Gebirge schließen ließen. Wenn die helle Halbseite des Dings plötzlich zur Scheibe gewachsen wäre, die den ganzen Raum ausfüllt und dann zur flachhohlen Schüssel und dann zur innen illuminierten Suppenterrine der Welt, ich hätte mich nicht gewundert. Das Ding aber blieb was es war, es wuchs nicht, noch wurde es kleiner. Da löste sich einer von den schimmerköpfigen Strichen los, als welche wir ad libitum dahinzogen, schrumpfte zu seiner eigenen winzigen Schülergestalt zusammen, die aber, ein bestürzendes Wunder für meine Augen, das schwebende Planetoid noch weit an Größe übertraf. Ich habe vorhin schon verraten, daß Io-Knirps der Sünder war.
Es spielte sich nun folgendes ab. Das Größenverhältnis zwischen Knirps und dem Sternchen entsprach dem eines spielenden Kindes und eines großen, lichten Luftballons, der diesem Kind etwa vom Knie zum Kinn reicht. Für den graziösen, aber geistig noch nicht ganz entwickelten Knirps bedeutete der Globus aus dem Trümmererbe des Judas Ischariot nicht mehr als ein entzückendes kosmisches Spielzeug. Man denke sich's nur aus, mit dem rechten Kindersinn: Ein wirklicher Stern, mit allen echten Attributen eines Planeten und doch so kleinwinzig, daß man ihn vielleicht fangen und nach Hause bringen kann wie einen tropischen Riesenschmetterling! Knirpsens Juchzer übertönten das dünne, kaum hörbare Sirren, welches der Beitrag zur universalen Sphärenmusik war, den das Sternchen leistete. Knirps aber fuhr auseinander und zog sich zusammen und schwebte über dem Ding und unter dem Ding und streckte seine Arme aus und schreckte spielend zurück und tauchte in werbenden Tänzen auf, Kopf oben oder Kopf unten, daß es eine atemberaubende Lust war, diesem buhlerischen pas de deux zuzuschauen, besonders dann, wenn Knirps vom reflektierten Sternchentag bleich angeleuchtet war. Das Sternchen selbst aber schwebte unerschütterlich seine heilige Bahn dahin, die ihm von Gott zugeordnet war, wie nur der Sonne oder dem Sirius die ihren, den frei hier oben blieben nur wir verruchten Kometianten und chronosophischen Irrstriche, mit einem Wort wir Menschen, die wir uns nicht schämten, nach Sternen zu haschen. Ich weiß noch ganz klar, daß jenes von Knirps umgaukelte und verfolgte Asteroid auf mich den Eindruck eines Mädchens machte, das mit schweigender Hoheit einen Nachsteiger und Belästiger nicht zur Kenntnis nimmt.
Der Lehrer war eine ganze Weile sprachlos über seines Lieblingsschülers kosmische Unverschämtheit. Dann aber zitterte er immer deutlicher. Schließlich zog er sich jäh zu seiner Lehrergestalt zusammen, fuchtelte mit dem Geographiezeigestab im Grauen Neutrum herum, und seine Stimme überschlug sich im Zischen:
»Ist so etwas erlebt worden seit Erschaffung der Welt? Nein, sage ich. Nie! Ein Knirps, ein Nichts, eine Fliege greift nach Sternen. Werden Sie das lassen, Sie Unhold, dem nichts heilig ist. Aus dem Weg! Fliehen Sie meinen Zorn. Ist das die Feierlichkeit und der Ernst, den ich fordere? Fliehen Sie! Aus dem Weg ...«
Und er streckte sich lang und schoß dahin, den Malefaktor zu verfolgen. Und wir anderen streckten uns ebenso lang und schossen dahin, um hinter dem Paar nicht zurückzubleiben. Knirps aber in seiner Angst und in seinem Genie war geschwind genug, um Abstand zu halten, und zwar mehr als eine Pferdelänge. Der Lehrer seinerseits jedoch war nicht nur gerieben, sondern er kannte auch das Niedere Intermundium mit all seinen Fallen und Tücken. Er kannte das Niedere Intermundium sogar besser als die großen Kapazitäten unter den Sternwanderern und Verwunderern. Denn seit mehr als hundert Jahren bewegte er sich in nichts anderem als in diesem elementaren Raum mit der jüngsten Schuljugend. Die Klassen stiegen auf, Jahr für Jahr. Der Lehrer aber blieb sitzen, Jahr für Jahr. So ist es nun einmal, und die mentale Pädagogik schien daran nichts geändert zu haben.
Plötzlich schien es uns, als sei die Lichtabwesenheit im Grauen Neutrum noch viel blinder geworden, und als sei auch die herrliche Bewegungsfreiheit eingeschränkt, die unsere komethaften Körper wundersam beseelt hatte. Ich fühlte mich so – ich kann es nicht besser ausdrücken – als führe ich ziellos in einem Kohlenkeller umher, dessen Wände nicht aus Stein, sondern aus Verboten oder Hemmungen bestanden. Gewiß war auch das eine chronosophische Übung, denn der Lehrer, der ein echter Lehrer war, kannte keine andere Leidenschaft als seinen Lehrgegenstand. Nun, jetzt hatte er den Sünder in die Enge getrieben. Armer Knirps, dachte ich. Aber was konnte einem ungezogenen Schüler schon Leides geschehen von einem Lehrer, der sich um ihn sorgte?
Da aber hatten wir die Bescherung. Auch dieser Kohlenkeller des Niederen Intermundiums war nicht unbelebt. Entschlossen preßte ich meine Augen zu und schwor mir, sie nicht früher zu öffnen als bis nach meiner Rückkehr ins Schulzimmer des Djebels. Ich hatte ohne Zweifel wiederum etwas Neues gesehen, und das war zu viel für mich. Es schien eine Art astronomisches Ringelspiel zu sein, was ich gesehen hatte. Ein größerer, selbstleuchtender, jedoch matter Himmelskörper in der Tiefe des Raumes bildete den Mittelpunkt, und um ihn her tauchten auf und verschwanden in der Runde mehrere Satelliten, die sich mit unvergleichlich höherer Geschwindigkeit als gewöhnliche Planeten bewegten. Obwohl der Globus in der Mitte eigene Strahlen aussandte, wäre doch ein Vergleich mit der Sonne oder andern Lichtgestirnen mehr als lächerlich gewesen, so bescheiden und dumpf erschien seine Lebenstätigkeit, und so dunkel, flach, ungegliedert und wesenlos waren die Satelliten, die ihn als Ringelspiel umtanzten. Auffälligerweise drang von diesem anscheinend gewaltigen Sternkörper und seinen Nebenwelten nicht der leiseste Ton einer Sphärenmusik an mein Ohr.
»Io-Knirps«, hörte ich die grimmige Prüferstimme unseres Lehrers, »was sehen Sie hier vor sich? Konstatieren und definieren Sie es.«
Was ich vermutet hatte, erfolgte: Ein schweres Sünderschweigen Knirpsens, hinter dem bereits das nahe Knabenschluchzen lauerte.
»Natürlich«, brach jetzt der typische Lehrerzorn los, »am Universum sich vergreifen, das paßt Ihnen. Aber wenn Sie die einfachsten Erscheinungen definieren sollen, bringen Sie den Mund nicht auf. Schämen Sie sich, Io-Knirps. Sie werden hundertmal in Extensivschrift an die Schultafel den Satz schreiben: Ich soll nicht nach Sternen haschen ...«
Knirpsens unterdrücktes Schluchzen erfüllte nun den übermenschlich strengen Raum. Zugleich aber fühlte ich, wie in demselben übermenschlich strengen Raum dem Lehrer das Herz weh tat, weil er seinen Liebling hatte bestrafen müssen. Nur um dieses sein Herz zu erleichtern, fauchte er die Antworter an, die beiden Musterknaben Io-Rar und Io-Hol:
»Was sehen Sie? Konstatieren und definieren Sie es. Eins, zwei, drei ...«
»Wir befinden uns einer Erscheinung gegenüber«, begann einer der Vorzugsschüler mit dem verlogenen Umschweif des Nichtswissenden, der mittels leerer und geläufiger Worte Zeit gewinnen will.
»Schwefeln Sie nicht, Io-Rar«, schnitt der Lehrer scharf diesen unzulänglichen Versuch ab. Er brachte auch den andern Antworter Io-Hol brüsk zum Schweigen, als dieser etwas von einem »geschlossenen System« zu stammeln begann, dem wir uns gegenüber befänden. Ziemlich lange schwangere Stille. Dann zischte des Lehrers Stimme mit deutlichem Hohn:
»Ich werde mir nächstens den Einfältigen des Zeitalters zu Hilfe holen ...«
Da kam aus den hintersten Reihen unserer Schar ein vorsichtig zögerndes Raten: »Vielleicht ein Unikel, ein Achad, ein Monal ...«
»Na also«, brummte der Lehrer nicht ohne Befriedigung, »wenigstens einer. Seien Sie belobt, Io-Schram, und machen Sie weiter so ...«
Ich drängte jetzt meinen Schimmerkopf dicht an B.H. und flüsterte erschrocken: »Um Gottes willen, was ist das, ein Unikel, ein Achad, ein Monal ... So etwas haben wir in unserm Gymnasium doch nicht mehr gehabt, nicht wahr B.H.?«
»Ich denke doch, F.W.«, beruhigte mich der Freund. »Haben diese Dinge nicht Atome geheißen, was eine ganz falsche Bezeichnung ist, denn sie waren alles eher als unzerlegbar, und man hat sie schon damals in Nukleus und Elektronen aufgeteilt. Ebenso falsch ist es, daß sie heute Unikel heißen, Achads und Monale, denn ich sehe nicht ein Objekt, sondern neun, ein großes und acht kleine ...«
Hinter mir erscholl aufrührerisches Gezisch der Klasse:
»Das ist ein Trick ... ein gemeiner Trick, Herr Lehrer ... Sie haben uns hereingelegt ...«
»Oho«, lachte B.H. leise, »die Buben haben recht. Er hat uns wirklich hereingelegt und durch eine verflixte chronosophische Finte aus dem Weltraum in einen faulen Mikrokosmos gejagt, ins Atomnetz eines verirrten Sonnenstäubchens oder in was Ähnliches, wo wir jetzt als Subkometen herumstrolchen.«
»Aber wir haben doch nichts an Geschwindigkeit verloren«, wunderte ich mich.
»Ein Trick, Herr Lehrer, ein Trick«, zischten die Knaben immer revolutionärer.
»Ruhe dort«, befahl der Lehrer, »Trick ist ein häßliches und respektloses Fremdwort. Seht ihr nicht mit euern dummen Augen, daß es auch in diesem unendlich kleinen, aber immerhin unermeßlichen Raume Sterne gibt? Das bedeutet, Ernst und Feierlichkeit tut not überall ... Mit welchem Index bewegen wir uns nun, Io-Knirps?«
Der Kleine mit dem runden Köpfchen schluckte und schnupfte ins Leere: »Wir haben jetzt ... einen Minuskoeffizienten ...«
»Gut gesagt, mein lieber Junge«, lobte ihn der Lehrer, herzlich bereit, den Sünder zu trösten. Danach aber wandte er sich an die ganze Klasse:
»Sie werfen mir vor, ich hätte einen Trick gebraucht, um Sie hereinzulegen. Unbeschadet des häßlichen Fremdworts, das unserer edlen Monolingua nicht ansteht, ich gebe es zu. Ich hab ein Unterrichtsmittel verwendet, das nur wenige Lehrer kennen, um meine Schüler von einem Extrem ins andere zu führen. Warum aber habe ich das getan, meine jungen Freunde? Ich hab's getan, damit Sie so früh wie möglich, das heißt schon während des ersten Jahrgangs, die Anfangsgründe der Chronosophie sich organisch zu eigen machen. Diese unumstößlichen Grundsätze aber lauten wie folgt: Das unendlich Große ist unendlich klein, wie das unendlich Kleine unendlich groß ist. Was soll das heißen? Das soll heißen: Nichts ist groß und nichts ist klein. Nichts ist lang und nichts ist kurz. All diese Worte sind im Lichte des Geistes illusorisch. Groß allein ist der Mensch, wenn er in sich selbst den Weg vom unendlich Großen bis zum unendlich Kleinen und vom unendlich Kleinen bis zum unendlich Großen zurücklegen kann. Das ist eine uralte Weisheit, und beinahe eine Banalität, wie mir Seigneur bestätigen wird. Der Unterschied zwischen den uralten Weisen und uns Chronosophen besteht nur darin, daß wir uns nicht damit begnügen, das All in uns selbst zu tragen, sondern daß wir uns selbst ins All tragen. Um wieviel kühner sind wir als die Meeres-, Luft-, Raketen-, Stratosphären- und Mondschiffer des grauen Altertums! Zuerst betreten wir die Planeten und lernen ihre Wesenheiten kennen und nähern uns auf kurze Distanz unserm vor Lebenstätigkeit berstenden Lichtgestirn. Die Sicherheit der Bewegung im Niederen Intermundium, die freie Geschwindigkeit beim Kometenturnen, sie ist das Wichtigste, denn sie entscheidet über alle späteren Fortschritte. Ja, meine lieben jungen Freunde, bald werdet ihr mich verlassen und euere Aufnahmeprüfung in die Lamaserie der Sternwanderer machen. Dann fahret ihr auf, wie man falsch sagt, in den hohen Raum hinaus, Jahr um Jahr, da wird's Ernst. Zuerst versenkt ihr euch ins galaktische Reich, von dem wir selbst ein Teil sind. Ihr dringet vor von den näheren Konstellationen zu den Wundern der Ferne. Dann aber nach neuen, schweren und rigorosen Prüfungen werdet ihr euch hinauswagen auf die unaussprechlichen Ozeane, die zwischen den einzelnen Universen der Sternnebel liegen. Und so mögen denn einige unter euch aufsteigen zu den Gipfeln der Menschheit, von den Sternwanderern zu den Verwunderern, den Thaumazonten, und von den Verwunderern zu den Fremdfühlern, den Xenospasten. Vielleicht aber ist sogar einer von euch dazu ausersehen, dereinst der Hochschwebende seines Zeitalters unter den Silberspinnen zu werden ...«
Während dieser schönen Rede bewegten wir uns unaufhörlich an den Wänden der Verbote und Hemmungen entlang, die mir das Gefühl einflößten, daß wir in eine Art von Kohlenkeller gebannt waren. Bei den letzten Worten vom »Hochschwebenden des Zeitalters« hatte ich die Empfindung, daß der Lehrer seinen Liebling Io-Knirps als den also Erhöhten vorerschaute. Die ganze Rede aber, besonders dort, wo sie von der Größe des Menschen handelte, ließ mich an den Großbischof denken und an seine Lehre von der durch den bloßen Zeitablauf wachsenden Entfernung der Menschheit von Gott. War die Chronosophie auch nur ein Symptom dieser Entfernung, ein Zeichen der ungeheuren Überheblichkeit des genus humanum? Plötzlich vergaß ich, was ich mir zugeschworen hatte und öffnete meine Augen. Wir schienen uns noch immer im Atomnetz jenes mutmaßlichen Stäubchens zu befinden, von dem B.H. gesprochen hatte. Obwohl wir uns fleißig streckten, zusammenzogen, streckten, hielt uns noch immer der »Kohlenkeller« fest, denn immer wieder tauchte eine plumpe, mattleuchtende Kugel mit ihrer Planetenfamilie in der Ferne auf. Ich aber wollte meinen Augen nicht trauen, als ich auf einmal gewahrte, daß sich von diesen gestirnförmigen letzten Grundgebilden – dem Gesetz der Anziehung und Abstoßung spottend – weiße Mantelformen und Faltenwürfe loslösten und davonströmten, ihrem freien Willen nach. Wie fern sie auch dahinblitzten, ich sah, oder besser, ich fühlte unter diesen schneeweißen Mantelformen und Faltenwürfen die menschlichen Glieder, und ich ahnte das flachsbleiche Haar, das im Fluge nachflatterte. Es war kein Zweifel, es waren Chöre, Herrschaften, Fürstentümer und Throne, und zwar keine Melangeloi, sondern Leukangeloi, Hellengel oder Weißengel, die sich dem Atom entrangen. Albertus Magnus, Bonaventura, Scotus Erigena oder wer immer darüber geschrieben, hatte die Wirklichkeit unterschätzt, wenn er behauptete, es gingen nur dreihunderttausend Engel auf eine Nadelspitze. Es gingen viel mehr auf eine Nadelspitze. Wohin fluteten diese Wesenheiten dort wie weiße Blitze? Versammelten auch sie sich im Rosarium virginis? Erregt wollte ich schon ausrufen: »Herrgott, B.H., schau doch nur, echte Engel!«
Ich beherrschte mich aber diesmal und schwieg. Es gab Erfahrungen, die man auch im astromentalen Zeitalter für sich behalten mußte, weil's einfach zu früh war. Mein Herz klopfte noch immer von einem süßen, unmittelbaren Wissen, als der Lehrer das alltägliche Regenlicht im Schulzimmer wieder eingeschaltet hatte.