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Nun trug Jirmijah ein eisenbeschlagenes Joch auf den Schultern, wenn er auf der Gasse oder zum Tempel ging. Um so schwerer drückte die Last, als er selbst durch das Fieber hinfälliger geworden war. Dennoch legte er sie nur ab, wenn er den inneren Vorhof oder ein Wohnhaus betrat. Auch er nahm durch die Tat dieses Jochtragens die Zukunft vorweg, auch er warf sie als Fortwirkung in den Weltlauf. Und dennoch stand sein Jochtragen im schärfsten Gegensatze zu Chananjahs Jochbrechen. Er nahm die schlimmste Raunung des Ewigen als Unabänderlichkeit in Demut hin und vorverwirklichte sie durch seine eigenen Schmerzen. Dadurch zahlte er die Schuld schon ab, bevor die Rechnung noch ausgestellt war. Vielleicht konnte er so vom großen Zukunftsschmerz Israels ein wenig herunterleiden, vielleicht sogar (doch hier weiterzudenken war Greuel) würde sein kleiner aber ausdauernder Schmerz das Gemüt des Herrn rühren.
Es war schon einige Zeit seit Jirmijahs Rückkehr vergangen und dennoch verschob er es von Tag zu Tag, vor das Antlitz seines Königs und Schülers zu treten. Für dieses Zögern gab es im Herzen Jirmijahs so manchen Grund. Die bekennenden Worte, die nach seiner Ankunft aus Ägypten Zidkijah zu ihm gesprochen hatte, hafteten in seinem Ohr: »Vater und Mutter verdanke ich mein Leben ... Dir aber verdanke ich alles andre.« Und dann: »Jetzt werde ich dich nie mehr von meiner Seite lassen.« Diese glühenden Worte eines jungen Menschen in seinem Glück, sie mußten jetzt auf dem König wie ein bindendes Gelöbnis lasten, das ihn behinderte. Jirmijah spürte es deutlich. Es war auch kein Zufall, daß Zidkijah seinerseits in all diesen Tagen nicht nach seinem Lehrer gesandt hatte, ihn zu sich zu entbieten. Nicht unbekannt konnte dem jungen König das närrische Verhalten des Jochträgers geblieben sein, der als einziger den Jubel der Welt über das Bündniswerk des Friedens nicht teilte und diesem sogar durch leidenden Tadel widerstrebte. So stand die überschwengliche Dankesverheißung und das widrige Joch zwischen Zidkijah und Jirmijah wie ein Schatten, der beiden Unbehagen vor dem Wiedersehen einflößte. An den Künder mußte erst ein raunender Befehl der sanften und klaren Stimme ergehen, ehe er seufzend gehorchte und an Salomos Wohnhaus pochte.
Der erste, welcher ihn im Palast empfing, war der unförmige Verschnittene König Josijahs, an dessen schwammigem Gesicht die Zeit spurlos vorübergegangen war. Der alte Kämmerer hatte sich ganz und gar in einen Ägypter verwandelt, nicht nur was Kleidung und Wesen, sondern auch was die Sprache anbetraf. In Jirmijah begrüßte er vor allem den alten Kenner Ägyptenlands, der das liebliche und geschmeidige Leben Nophs genossen hatte, das gegen den düstern Ernst Jerusalems der Garten Eden zu sein schien. Aus dem Redeschwall des aufgetauten Eunuchen erfuhr Jirmijah viele unwichtige und ein sehr wichtiges Ereignis. Seine Herrlichkeit im einstweiligen Ruhestande, der entthronte Joachas, war plötzlich gestorben, und zwar in dem alten Hause zu Noph, wohin er durch die Gnade Pharaos hatte zurückkehren dürfen. (Bei Erwähnung dieses Hauses sah Jirmijah mit einem Schlage Zenua vor sich, wie sie in der Lotushalle auf ihrer rechten Ferse hockte und ihn mit ihrem einzigartigen Ernste aufmerksam anblickte.) Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Joachas war jünger als er. Wie hatte ihn der Tod ereilt? Der Verschnittene berichtete langatmig: Seine Herrlichkeit habe, wie man ja wisse, seine Tage mit dem Schnitzen der zierlichen und wunderholden Gegenstände des Zweilandes zugebracht. Zuerst seien es nur Schränkchen und Lädchen, Schiffchen, Wägelchen und dergleichen gewesen. Mit fortschreitender Meisterschaft aber habe sich der Künstler an die Nachbildung des Lebendigen herangewagt. Ein kleiner Löwe, ein Stier, ein Eselchen und dann, ja, dann auch menschliche Gestalten, ein paar Bogenschützen und Lanzenträger und Bootsleute und dann ... Der Kämmerer stockte. Der Anblick eines Propheten führte ihm erschreckend die Verfehlung seines Herrn vor das Gemüt. Er flüsterte trauervoll und mißbilligend zugleich. Und dann habe das Schicksal Seine Herrlichkeit ereilt, während er an der Holzgestalt einer kuhköpfigen Hathor arbeitete. Ein ganz kleines Figürchen übrigens, kaum eine Elle hoch und nur als Spielzeug für Kinder zu gebrauchen. Und doch, ein leichter Schnitt mit dem Schnitzmesser in die Hand und Joachas war binnen sieben Tagen an der schwärenden Wunde gestorben. Nicht einmal der Cher-Hep, der Verwalter des Westlandes, habe mit Tränken und der Beschwörung des Eiterdämons seinem Schutzbefohlenen helfen können.
Der Unförmige senkte den Kopf, als sei er trotz seiner Vorliebe für Noph bereit, die Nutzanwendung fromm entgegenzunehmen, die ein Künder des Herrn aus dieser Strafe notwendig ziehen mußte. Jirmijah aber bat nur den alten Kämmerer kurz, vor das Antlitz des Königs geführt zu werden. Dies war im Augenblick freilich unstatthaft. Seine Herrlichkeit ratschlagte zur Zeit mit dem Hoffürsten. Dennoch gab der Verschnittene Jirmijah nicht frei. Er würde sich dem heftigen Tadel Hamutals und ihrer Schnur, der jungen Königin, aussetzen, wenn er den lieben Hausgenossen von Noph unangemeldet entließe. Die Königin-Mutter frage täglich nach ihm und verwundere sich über sein Fernbleiben.
Der Dicke packte den Schmächtigen bei der Hand und zog ihn, watschelnden Schrittes, durch den inneren Hof des Palastes bis zur Eingangspforte des Frauenhauses, das nach Pharaos Tochter genannt war. Hier sollte er ein wenig warten. Der Kämmerer verschwand im Haus. Schon legten sich die ersten Schatten der Dämmerung auf die weißen Mauern. Nach kurzer Frist trat Hamutal selbst auf die Schwelle, um den alten Freund an ihr Herz zu drücken. In einem dunkelnden Gemach saßen sie dann nebeneinander auf dem Ruhelager. Nur wenig konnten sie sprechen. Es war wie so oft bei einem solchen Wiedersehen. Das Maß der Gemeinschaft verblaßte gegenüber der Fülle der Trennung. Hamutal betrachtete, den Kopf in die Hand gestützt, den Lehrer ihres Sohnes. War dieser abgemagerte Mann mit den scharfen Furchen um den Mund derselbe sanfte junge Mensch, an dem Josijah so sehr gehangen, daß er ihn von seinem Sterbelager nicht ließ? Da hatte es Jirmijah beinahe leichter, die gute Gönnerin seiner Jugend wiederzuerkennen, das Weib, das die Liebe seines Herzens beschützt und in Zenua eine Tochter verloren hatte. Hamutal war sehr voll und schlaff geworden und dennoch konnte man sie trotz ihrer Jahre noch immer keine alte Frau nennen. Wie die Nachröte des Sonnenuntergangs leuchtete es noch matt auf ihrem Antlitz von abgeblühter Schönheit. Jirmijah sah auf Hamutals schimmernde Hände nieder. Sie waren rund und weiß wie ehemals. Nachdem das wenige gesagt war, was gesagt werden konnte, ohne das Unaussprechbare zu berühren, fragte Hamutal mit einem Lächeln:
»Warum verschmäht es der liebe Hausgefährte von Noph, unser Brot auch in Jerusalem zu teilen?«
Jirmijahs Züge spannten sich:
»Ist es der Wille des Königs, daß ich sein Brot in diesem Palaste teile?«
Hamutal erschrak. Jirmijah fühlte, daß er einer freundlichen Redewendung, die nichts bedeuten sollte, durch seine ernste Gegenfrage ein peinliches Gewicht verliehen habe. Die Mutter des Königs schwieg. Offenbar suchte sie nach Worten, ihren Sohn vor dem Vorwurf der Untreue in Schutz zu nehmen. Sie fand ein ungeeignetes Wort, das die Seele des Künders verstimmte:
»Der König ist seinem Lehrer dankbar ...«
Dankbar? (Dir aber danke ich alles andre!) Jirmijah lehnte dieses matte Sätzchen Hamutals mit einer Handbewegung ab.
»Etwas andres ist ein lernender Knabe, etwas anderes ein herrschender König«, sagte er. Hamutal hatte in Verbindung mit der Dankbarkeit nur seiner Lehrerschaft gedacht, nicht aber der Thronerhebung Zidkijahs, die sein Werk war. Das Gespräch wurde unterbrochen. Mägde brachten Lichter und stellten flache Tonschüsseln mit scharf duftenden Narzissen auf den Tisch. Hinter den Dienerinnen aber war ein junges Mädchen eingetreten, das vor dem Fremden erschrak und an der Tür stehenblieb.
»Maacha«, rief Hamutal, »die Königin fürchte sich nicht! Es ist der treue Mann Josijahs und Zidkijahs, den sie hier sieht ...«
Maacha kam schüchtern näher. Ihre fast noch unfertige Erscheinung, ihr schwebendes Schreiten, die scheue Zurückhaltung ihres Wesens, dies alles erweckte tatsächlich den Eindruck eines jungen Mädchens, obgleich Maacha dem König schon zwei Söhne geboren und an ihrer Brust genährt hatte. Jirmijah erhob sich, um vor der Königin nach Gebühr den Boden zu berühren. Diese aber wußte es zu verhindern, indem sie ihn an den Händen faßte und festhielt. Dann standen sich Maacha und Jirmijah still gegenüber, mit Ernst in ihren Augen forschend, wie zwei Menschen, die eine gegenseitige Abhängigkeit ahnen.
Hamutal aber wurde plötzlich sehr lebhaft und begann ihr eigenes Lob zu singen. Nicht leicht sei es gewesen, in der Fremde zu Noph, aus den Fürstenkindern Jehudas für den Sohn die rechte zu wählen. Bei all dem Unglück, das der Herr ihr im Leben zugefügt, habe sie selbst doch immer eine glückliche Hand besessen, nicht am wenigsten bei dieser Frauenwahl. Maacha schien Hamutals Preisworten keinerlei Beachtung zu schenken. Nur ihre glatte Stirn kräuselte sich ungeduldig. Plötzlich wandte sie ihr Gesicht ab. Der Anblick Jirmijahs schien heimliche Sorgen beruhigt und sie zufriedengestellt zu haben. Als Hamutal nicht abließ, die Tugenden der Sohnesfrau vor Jirmijah zu loben, wurde Maacha ungeduldig und wies sie mit strengem Ton zurecht: »Mutter! ...« Hamutal aber war nun einmal im Zuge. Hatte Maacha dem König nicht prächtige Söhne geboren und würde noch mehr gebären, damit Davids Stuhl mit echten Königen versorgt sei bis ans Ende der Zeiten?
»Die Kinder ... die Kinder ...« rief Hamutal und sprang auf, als habe sie unverzeihlicherweise das Wichtigste vergessen, »soll unser Freund die Kinder seines Königs nicht sehen?«
Sie ließ es sich nicht nehmen, Jirmijah die Nachkommenschaft Davids selbst vorzuführen. Atemlos kam sie aus den inneren Gemächern zurück. Wärterinnen folgten ihr. An jeder Hand führte die Großmutter einen Knaben. Der ältere, der Folgeprinz Adajah war vier Jahre alt, der kleinere noch nicht drei. Beide waren sie durch die wunderschönen sinnend großen Augen ihres Vaters ausgezeichnet, die wiederum Hamutals glänzenden Kuhaugen glichen. Als sie einen Fremden im Zimmer gewahrten, wurden die Knaben widerspenstig, zerrten an den Armen ihrer Führerin und wollten nicht weitergehn. Nur durch eifrig geflüsterte Versprechungen konnte die Großmutter sie bestechen, einige Schrittchen in den Raum zu tun. Aufmerksam beugte sich Jirmijah über die jüngsten Sprossen Davids, deren Los der Herr noch vor ihm verhüllte. Adajah, der ältere Knabe, hielt seinem Blicke stand, ja erwiderte ihn sogar mit dem gereizten Unmut eines stolzen Kindes, das sich nicht gerne von Fremden betrachten läßt. Jechiel aber, der Dreijährige, verzog sofort seinen Mund nach abwärts und brach in ein mißbilligendes Wehgeheul aus, das sich durch keinen Zuspruch besänftigen ließ. Als Jirmijah Jechiels Händchen recht ungeschickt zu streicheln versuchte, wurde das Wehgeheul zu einem Furchtgekreisch, von dem die Wände zitterten. Auf einen Wink Maachas nahmen die Wärterinnen die Kinder auf den Arm und brachten sie schnell aus dem Gemach dieser mißglückten Vorführung. Hamutal hatte nicht einmal die vorbereitete Frage anbringen können, ob Adajah, wenn er älter sein werde, nicht denselben Lehrer zu haben wünsche wie sein Vater. Maacha, durch die gellende Aufführung ihres Söhnleins verlegen, lächelte Jirmijah zu, als bäte sie um Verzeihung. Dieser aber nickte nachdenklich. Er schien es ganz in Ordnung zu finden, daß er zu allem andern auch ein Kinderschreck geworden war.
Ebedmelech ging Jirmijah voraus, um ihn vor das Antlitz des Königs zu führen. Verwundert beobachtete Jirmijah das feierliche Schreiten des ehemaligen Tänzers und Zapplers, der nun die gelassene Würde selbst war. Dieser kleine Kreisel der Zerstreutheit hatte sich zu einem langsamen Manne gesammelt, hochgewachsen und steif. Es schien fast, als habe der selbstbewußte Kammerherr des Königs seinen Lehrer vergessen, der das blutsfremde, abergläubische Kind Kuschs zum Allgott der Welt geführt hatte. Doch wie täuschte sich Jirmijah über die Seele dieses Mannes, der mit dem nickenden Schritt des Äthiopiers vor ihm einherwandelte. Denn plötzlich drehte Ebedmelech sich um. Unter Tränen lachten seine Augen. Er riß die Hand des Lehrers an sich und bedeckte sie mit Küssen. Dann nahm er wieder seinen ernsten Schritt auf. Worte standen ihm nicht zu Gebote.
Vor der Tür des Königs begegneten ihnen die Fürsten, die soeben den Kronrat verließen. Es waren lauter neue Gesichter, bis auf Elnathan, Achbors Sohn, den alten Kriegshelden, den der Weltlauf aus einem finstern in einen trauervollen Mann verwandelt hatte. Jirmijah sah sich vergeblich nach Ahikam und seinen Zwillingssöhnen um. Die Schaffaniden waren nicht zugezogen worden. Sollte vor ihnen verheimlicht werden, was man heute beraten hatte?
Der König ging Jirmijah entgegen und empfing ihn, krampfhaft lächelnd, mit milden Vorwürfen, daß er sich so spät erst melde. Jirmijah bewahrte volle Förmlichkeit, bückte sich zur Erde und murmelte den vorgeschriebenen Königsspruch. Zidkijah winkte heftig ab. Jirmijah las in seinen schönen Augen sofort die innere Unsicherheit, die den König quälte. Es war noch eine Persönlichkeit in dem matt beleuchteten Gemache anwesend. Jirmijah erkannte den neuen Hüter der Schwelle, Zephanjah, den Mann, der nichts so sehr haßte wie Ärgernisse, von Kündern erregt.
»Briefe aus Babel sind angekommen«, sagte der König leichthin, als messe er diesem Ereignis nicht viel Wichtigkeit bei. Er wartete offenbar auf eine neugierige Regung Jirmijahs. Doch dieser rührte sich nicht. Da warf Zidkijah hin:
»Darunter ist ein Brief, der dich betrifft ...«
Noch immer zeigte Jirmijah keine Neugier. Er sah drein, als hätte er den ihn betreffenden Brief schon längst gelesen. Spät kam die Antwort der Gefangenen Babels auf seine Mahnungen. Sein Schweigen vermehrte das Unbehagen des Königs. Der Anblick des untertänig gebeugten Zephanjah aber erbitterte ihn. Mit ungnädigem Ton befahl er diesem: »Lies!« Der Hüter der Schwelle holte rasch eine siegelbeklebte Briefrolle aus seinem Gürtel, entfaltete sie, verneigte sich ein paarmal vor dem ungeduldigen König und las, ohne Jirmijah Beachtung zu schenken:
»Ein Brief Schamajahs, des Nechlamiten, aus Babel an Zephanjah, den Hüter der Schwelle am Tempel Gottes ...«
Die feierlich vorgetragene Anschrift schien den Empfänger des Briefes mit Stolz zu erfüllen. Er hielt inne und räusperte sich bedeutsam. Jirmijah aber blieb unbewegt. Jetzt wußte er, woher der Hauch wehte. Schamajah, der Nechlamit, war Pasch'churs Schwiegersohn. Zephanjah aber fuhr fort:
»Der Herr hat dich in dein Amt gesetzt, an Stelle deines Vorgängers Aufseher zu sein über jeden verrückten Künder, damit du ihn in den Stock tuest oder ins Gefängnis wenigstens. Warum also, Zephanjah, hast du dem Jirmijah aus Anathot, der bei euch weissagt, solches nicht mit großer Strenge verwiesen? Dieser Mann nämlich wagt es, uns in Babel Lehren zu geben, indem er schreibt: Lang wird die Dauer eurer Gefangenschaft sein. Darum bauet Häuser und wohnet darin! Pflanzet Gärten und esset ihre Frucht! Nehmet Weiber in Babel und vermehret euch! Und betet zum Herrn für das Wohl des Landes, in welchem ihr lebt ...«
Der König unterbrach hier die Vorlesung:
»Sind das deine Worte, Jirmijah?«
»Und was hast du zu dem Brief des Nechlamiten zu sagen, dessen Herz sich empört?«
Jirmijahs Augen waren nach innen gekehrt und in die Höhlen gesunken. Der König sah sie nur als Schatten, als er die Worte vernahm:
»Der Nechlamite!? Und Pasch'chur!? Und all die andern!? Ihr Name lebt nicht mehr, wenn ihr Leib auch noch lebt. Nicht gedacht wird ihrer werden!«
Zidkijah sprang von seinem Sitz auf. Sein wohlgeformtes Antlitz erglühte. Es ging um seine Ehre als König. Er mußte vor dem Hüter der Schwelle beweisen, daß er Kraft genug besitze, seinen Lehrer in die Schranken zu weisen. Dicht trat er vor Jirmijah hin.
»Weißt du«, rief er, »was du getan hast, du Erbarmungsloser? Du hast denen, die einzig nur von der Hoffnung leben, die Hoffnung geraubt. Bauet Häuser. Wo? Auf dem Grunde des Feindes? Wer wird ein Haus bauen, das ihm morgen schon genommen werden kann? Pflanzet Gärten! Wo? Auf fremder Erde? Wer wird auf Widerruf eine Erde bebauen, die ihn fortstößt? Nehmet Weiber in Babel! Warum? Damit verwaschene Geschlechter aufwachsen, die weder an den Ewigen noch an die Sterne glauben!? Betet zum Herrn! Wie? Ohne Tempel, ohne Opfer, ohne Bräuche!? Betet für das Wohl Babels, eurer großen Feindin! Soll der Mensch für das Wohl seines Mörders beten, der ihm das Schwert auf die Brust setzt!? ... Und nun sprich zu mir, Mann aus Anathot! Erkennst du, was du an den Gefangenen Babels getan hast in deinem Brief?«
»Ich erkenne es«, sagte Jirmijah ruhig. Der König aber rang nach Worten:
»Und es schaudert dich nicht ... vor dem ... vor dem Unmöglichen!?«
Jirmijah senkte den Kopf, so daß seine Stirn im Lampenschein erglänzte:
»Der Herr fordert es von ihnen und von uns ...«
Eine heftige Gebärde Zidkijahs entließ den Hüter der Schwelle. Als sie allein waren, schien der König ruhiger zu werden.
»Alles ist vertauscht«, sprach er vor sich hin, »ich rede als Künder und Jirmijah als Sünder ...«
»Der Herr«, sagte Jirmijah mit schwerer Zunge, »tut seinen Willen kund, doch nicht sein Vorhaben.«
Des Königs großer Blick ruhte starr auf seinem Lehrer.
»Ich habe dein Lied gehört«, murmelte er. »Von Nebukadnezar ... Und vom Joch der Völker ... Ist dieses sein Wille?«
»Zebaoth hat Nebukadnezar zu seinem Schwertknecht gemacht ...«
»Dann liebt er, welche ihn hassen, und haßt, welche ihn lieben ...«
»Liebst du deinen Schwertknecht?«
»Wahrlich, Jirmijah, mir schwindelt ... Wie soll ich ihn begreifen?«
»Begreife nicht ... Höre!«
»Hören? ... Bist du der einzige, der die Wahrheit hat? ... Selbst wenn ich es glauben will, daß du der einzige bist, darf ich es glauben? ... Der König hört viele Künderstimmen ... Sehr Verschiedenes weissagen sie ... Und er muß wählen, nicht nach seiner Neigung, sondern nach seinem Urteil zwischen Chananjah und Jirmijah ... Nicht das Unbegreifliche ist des Königs Sache, sondern das sehr Begreifliche ... Er fürsorgt und rechnet und plant für Volk und Stadt ...«
Eine neue Erregung trieb Zidkijah wieder von seinem Sitz. Er legte seine Hände auf Jirmijahs Hüften.
»Ich habe den Bund der Könige gestiftet ...« Er flüsterte, obgleich kein Zeuge im Gemach stand ... »Und wir haben einander Blutschwur geschworen, ein Leib zu sein, von den Grenzen Kuschs bis zu den Inseln des Nordens ... Nun sind wir stärker als Babel ... Du aber bist der einzige Mann in Zion, der meine Tat lästert ...«
»Möge mein König obsiegen, recht behalten und Rache nehmen an mir«, rief Jirmijah mit schmerzbewegter Stimme, »und möge er niemals ein Gefangener dieses Blutbundes weiden!«
Der König ließ Jirmijahs Hüften los:
»Und für wen tat ich, was ich für dieses Volk getan? Tat ich's nicht für Ihn, für Tempel, Opfer und Opfergebet?« Dem Herzen Jirmijahs aber entfuhr es:
»Nicht Tempel, nicht Opfer und Opfergebet sind wichtig dem Herrn!«
Da trat der König zwei Schritte zurück:.
»Es ist gut, mein Lehrer«, sagte er, »daß dieses Wort kein andrer gehört hat als dein vergeßlicher Schüler ...«
Er ließ ein langes Schweigen eintreten, damit sich die Lästersilben in der Luft auflösten. Dann fand er einen neuen versöhnlichen Ton:
»Es sei ein Weg zwischen mir und dir, Jirmijah ...«
Und in vermutlich schon lange erwogenen Wendungen erklärte sich der König bereit, dem Herrscherbund, den sein und seiner Räte folgernder Verstand geschlossen, einen andern Bund mit dem Unbegreiflichen folgen zu lassen. Nicht weniger wollte er für Gott tun, als sein Vater getan hatte. Er sehe ein, daß sich Zebaoth in Zion wohl fühlen müsse, wolle man ihn ganz auf seiner Seite haben. Wie ein umsichtiger Händler bot der König dem Künder verschiedene Abschlagszahlungen für Adonai an, als da waren: Neuerliche Säuberungen des Landes von Abbildern. Verschärfte Überwachung des Sabbaths. Ausschreibung eines neuen Fast- und Bußtages. Doch zu all diesen Anerbieten schüttelte der ungenügsame Jirmijah den Kopf. Wollte ein König den Herrn wirklich binden, dann war eine Tat notwendig, die über das gewöhnliche Welt- und Völkerwesen weit hinausführte. Dann mußte Adonai fürchten, ein durch Israel erfülltes Hochgesetz mit Israel unter den Völkern zu vernichten für immer. Jirmijah aber nannte dieses Hochgesetz. Es hatte nichts zu tun mit Tempel, Opfer, Fasten und Sabbath, nichts mit dem Dienst des Herrn, doch alles mit den Armen und Mühseligen des Landes. Jirmijah forderte von dem jungen König, daß er den Eintritt des neuen Jobels nicht abwarte, da die Gottlosigkeit Siebenjahr um Siebenjahr habe verstreichen lassen, ohne Jakobs Knechte und Mägde freizulassen und zu beschenken. Zidkijah starrte ihn fassungslos an.
»Du Mann des Unmöglichen und der Erschwerung«, stöhnte er, »du ladest mir die Erschwerung auf und stößt mich ins Unmögliche ... Nicht die Armen und Mühseligen sind die Kraft des Königs, sondern die Reichen und Glänzenden ...«
»Es sei ein Weg zwischen dir und mir, mein König«, wiederholte Jirmijah.
»Und ich will diesen Weg finden, wie hart du mich auch prüfest, Lehrer ... Höre, wenn das Jahr sich wendet, werde ich auf den Gütern des Hauses David Jobel und Freilaß ausrufen ... Ist das genug?«
»Es ist nicht genug, mein König, was ein einzelner tut ... Im ganzen Lande muß Jobel und Freilaß ausgerufen werden ...«
»Willst du, daß mich meine Fürsten wie einen Hund erschlagen«, schrie Zidkijah und schlug sich mit der geballten Faust an die Brust. Dann ging er auf und ab, auf und ab, ungemessene Zeit. Ober sein Antlitz jagten die Wolkenschatten der Gedanken. Einige unter ihnen schienen für die geforderte Erschwerung zu sprechen, so ungeheuerlich sie auch war. Jirmijah blieb stumm. Plötzlich wandte sich der König mit einem zornigen Ruck dem Künder zu:
»Wirst du das Joch ablegen? ...«
»Wenn mein König Freilaß ausruft, werde ich das Joch ablegen ...«
»Ich habe nichts gesagt«, grollte Zidkijah und beendete damit das Gespräch. Er hatte den Lehrer seiner Kindheit nicht eingeladen, Haus und Brot mit ihm zu teilen.