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Zwölftes Kapitel.
Zenua wird angenommen

Einst, lange noch vor seiner Berufung, zur Zeit der halben und unfertigen Raunungen, war an Jirmijah nachts im Halbschlaf die Mahnung ergangen, kein Weib zu nehmen. Dieser raunenden Mahnung waren noch zwei seltsame andre gefolgt, die ihm befahlen, niemals das Haus eines Zechgelages noch das Haus der Trauerklage zu betreten. Diese Raunungen aus seiner eigenen Vorzeit hatte er längst schon aus dem Sinn verloren, vielleicht gerade deshalb, weil er gar nicht daran dachte, ein Weib zu nehmen. Oft mochte es ihm wie jedem gesunden Manne in Jehuda und Israel unbillig und gegen den Willen des Herrn gerichtet erscheinen, daß ein Zweig am Baume Jakobs verdorrte und kinderlos abstarb. Seit Jahren schon hatte ihn seine Mutter beschworen, durch die Enthaltung von solcher Pflicht den Unmut Gottes nicht herauszufordern. Er habe das geziemende Jugendalter der Eheschließung schon überschritten, und die Sonne seiner Mannbarkeit strebe bereits dem Mittag entgegen. Abi liebte es nicht, leere Worte zu machen, deshalb verwies sie auf bestimmte Jungfrauen, die zur Gattin des Jüngsten ihr tauglich und würdig schienen. »Warum will die Mutter«, wandte Jirmijah bei dergleichen Anpreisungen ein, »dieses oder jenes wohlgefällige Geschöpf unselig mit einem machen, der die Überlast des Herrn trägt, von der man nicht sprechen kann?« – »Ich werde schon ein Weib finden, das dem jüngsten Sohne die Überlast des Herrn erleichtert.« – »Das Weib verdoppelt jede Last, Mutter!« – »Was weiß mein Sohn vom Weibe?! Dein Vater hatte viel Bitternis im Herzen. Und er weckte mich auf in jeglicher Nacht, zwei- und dreimal, weil er zu jemandem von der Bitternis seines Herzens sprechen mußte. Und ich wachte und horchte und klagte und schmälte mit ihm, wenngleich er auch mich beschuldigte. Wer aber wird neben meinem Jüngsten wachen und sein Ohr sein, wenn die schlaflose Zeit über ihn kommt wie über seinen Vater?«

Jirmijah brach solche Gespräche zumeist mit dem Hinweise ab, daß er ohne ein ausdrückliches Wort des Herrn über sich selbst nicht verfügen dürfe. War auch jene Raunung der Frühzeit seinem Geiste entfallen, so verspürte sie die Seele doch als dumpfen Druck, wenn die Rede auf den Ehestand kam.

Jetzt freilich schien dieser dumpfe Druck gewichen für immer und jederlei Bedenken ausgelöscht. Es schien jedoch nur so, denn Jirmijah hatte sie mit Macht überwunden und verscheucht. Er überzeugte sich selbst, daß er des Glaubens sei, der aufgekündigte Herr habe sich nach langem Zögern besonnen und ihm die junge Ägypterin zugeführt, damit er sie zum Weibe nehme. Durch diese gnädige Tat aber habe der Aussonderer den Ausgesonderten endgültig aus dem Dienste entlassen und ihm ein unbelastetes Menschenschicksal irgendwo in der Welt zugebilligt. Lagen nicht Anzeichen genug vor, den Willen des Herrn dahin zu deuten? Zenua war keine ganz Fremde. Wenn sie sich ihrer Mutter auch nicht mehr erinnerte, so sprach doch vieles dafür, daß des verewigten Hafenverwalters Weib eine Tochter Israels gewesen sein mochte. Nicht anders ließ es sich erklären, daß die Waise von Nu-Ptah die Sprache des Herrn durch Wiedererinnerung so leicht und flüssig erlernt hatte. Wertvoller aber als dieser Anteil am Hause Jakobs war noch etwas andres. Zenua hatte in ihrem Herzen den Herrn immer gesucht, ja sie liebte ihn mehr, als sein eigenes Volk ihn liebte. War es nicht ein wundersam klärender Beweis, daß diese noch nicht achtzehnjährige Ägypterin, das heidnische Mündel des Cher-Hep, der im Namen der Osiris der Totenwelt vorstand, daß diese von den zweiundvierzig Neunheiten der Gaue durchwobene Seele ohne viel menschliches Zutun von einem Tage zum andern der Erleuchtung des Einzigen teilhaftig geworden war? Hatte man in diesem Wunder nicht die Hand des Herrn zu erkennen? Und schob diese Hand diesmal mit ungewohnter Deutlichkeit nicht die wohlbekannten Gründe aus dem Wege, derentwegen es nicht geraten war, dem Könige Salomo gleich »sich mit fremden Weibern zu vermischen«, die ihre Abgötter durch die Hintertür ins Haus Jakobs zu schmuggeln pflegten? Zenua glich einer einzigen nur, Ruth, der Fremden aus Moab, die ausersehen wurde zur Ahnin Davids.

Ihre inbrünstige Gottliebe ging so weit, daß sie Jirmijah nicht um seiner selbst willen zu lieben schien, sondern um des Herrn willen, der ihn ausgesondert hatte. Hamutal erkannte zur Freude ihres Herzens gar bald, daß Jirmijah und Zenua zwei Liebende waren. Doch diese Liebenden sprachen niemals über ihre eigene Liebe, da das Gottesgespräch in ihrem Munde nicht zu Ende ging. Nur manchmal, in schnell vorüberschießenden Augenblicken vermischten sich die beiden Ziele dieser Liebesinnigkeit trunken. Es kam zu einer leisen Berührung, nein, zu dem überschwenglichen Wunsche nach einer leisen Berührung, denn Zenua entzog sich ihr sogleich. So begann eine seltsame Brautschaft, wie sie noch niemand gesehn hatte, eine Brautschaft, in der alles Herzgeplauder dem Überirdischen mehr als dem Irdischen galt. Jirmijah fühlte eine ganz neue Freiheit. Während er mit Zenua vom Herrn redete, durfte er sich in Wirklichkeit immer weiter von diesem entfernen. Jetzt erst gelang die Flucht vor seinem Auftrag vollkommen, und zwar auf solch widerspruchsvolle Weise, daß er dem Auftraggeber wieder entgegenzugehen vermeinte. Er war nach Ägypten gegangen, um sich im Lande der dreihundertundachtundsiebzig Götter vor Gott zu verstecken. Doch auch Ägypten hatte ihn den Blicken des Verfolgers nicht ganz entziehen können. Erst die Liebe zu einem Weibe wurde zum undurchdringlichen Versteck. Da aber diese Liebe auf den Herrn schwärmerisch gerichtet war, schöpfte Jirmijah keinen Verdacht gegen sich selbst. Er machte sich vor Gott so sicher, wie er die andern stets warnte, sicher zu sein. Nur manchmal in tiefer Nacht beschlich ihn Angst um Zenua. Er mußte an König Josijah denken. Wurde nicht jeder ins Unglück gestoßen, der sich mit ihm verband?

Noch ein drittes Wesen war von dieser Brautschaft überstrahlt, Hamutal. Ihre großen Augen bekamen den alten Glanz zurück, und ihre Gestalt, trotz der fahlen Trauerkleider, beinahe die einstige Milde. Hamutal liebte in Jirmijah den letzten Tröster des gefallenen Helden und den einzigen Freund, der Treue freiwillig bewahrt und sie in der Verbannung nicht verlassen hatte. In Zenua aber liebte sie mütterlich-schwesterlich die Liebe selbst. Ohne die Königin wäre die Kraft, die Jirmijah und Zenua zueinander trieb, so leicht nicht offenbar geworden, denn beide waren sie scheu und ausweichend. Mit dem ganzen Eifer einer Frau, der durch sorgende Teilnahme sich plötzlich wieder das Leben auftut, nahm Hamutal das Mädchen zur Seite und gab ihm den Mut, selbst zu enträtseln, was es mit verlegener und brennender Seligkeit erfüllte. Auch die langen Flüstergespräche zwischen den Frauen waren herrliches Herzgeplauder, wenn vom Überirdischen dabei auch nur wenig die Rede ging. Über Jirmijahs Kopf hinweg wurden die schönen Pläne gesponnen. Was ihn selbst betrifft, so wußte es Hamutal so weise einzurichten, daß sich alles fügte, ohne erst breit beredet zu werden. Durch ihr Mittlertum war auf einmal das Unausgesprochene ohne Worte ausgesprochen, und auf kaum fühlbare Weise das Verlöbnis geschlossen. Und Hamutal sorgte beglückt weiter, so daß sich für die Verlobten das Notwendige leicht wie im Traume abwickelte.

In Noph lebte seit uralter Zeit eine kleine Gemeinde Israels, die sich rein erhalten hatte. Sie besaß ein Versammlungs- und Lehrhaus sowie eine eigene Begräbnisstätte. Alljährlich pilgerten die frommen Männer zu Passah nach Jerusalem, um im Tempel zu opfern. Dieser Gemeinde stand ein alter Priester vor, der als Richter alle Streitigkeiten schlichtete, der an den neugeborenen Knaben das Zeichen des Bundes vollzog, der die Dreizehnjährigen in die Gemeinschaft der Frommen aufnahm, die Ehen schloß und die Toten entließ. Diesen Hochwürdigen beschied Hamutal zu sich. Er hörte die Königin an und erklärte sich nach einigem Nachdenken bereit, die vornehme ägyptische Waise, die den Herrn wie Ruth glühend verehrte, in Jakobs Haus zu führen und dem Priestersohne von Anathot anzutrauen.

Hamutal aber tat auch nach der andern und vermutlich schwierigeren Seite hin das Notwendige. Der Nissanmond war gekommen, Passah vorübergezogen und der Staatsbesuch des Cher-Hep wieder einmal fällig an dem Tage, da Osiris nach seinem Wege durch die Totenwelt am andern Ende der Amenti auftaucht. Pünktlich erschien auch der höchste Zeremonienmeister des Todes von Nu-Ptah mit seinen beiden Unterpriestern. Man schob die löwenfüßigen Lehnsitze zurecht wie immer. Der arme Entthronte mußte widerwillig seinen Werkwinkel verlassen, um höflich gewählte Rede zu wechseln. Seine Augen umschweiften verzweifelt die Lotushalle, und seine Hände spielten ungeduldig in der Luft. Der Cher-Hep erkundete in feinfühligen Redewendungen das Wohlbefinden der Reichsgefangenen und forschte nach ihren Wünschen, die er zu Füßen des Vaters und Sohnes der Götter treulich niederzulegen gedenke. Er war in Sorge, ob man sich der Vergünstigungen zur Genüge erfreue und ob seine königliche Herrlichkeit im einstweiligen Ruhestande an dem Kutschierwagen und Gespann aus dem göttlichen Marstall keine Mängel entdeckt habe. Hamutal schwärmte an diesem Tage ganz gegen ihre sonstige Art in zungenfertigem Wortschwall von den gnädigen Zuwendungen Pharaos und den Huldbeweisen seiner übermenschlichen Güte, so daß sich der kahle, fahle Schädel des Cher-Hep ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zukehrte. Dem Könige Jehudas und seiner Mutter, erklärte sie, bleibe, von all dem Traurigen abgesehen, das sie hierher banne, kein Wunsch mehr übrig, sei doch durch die Gunst des Cher-Hep das liebliche und begreifende Herz zur traulichsten Gefährtin geworden. Oh, möchte die blühende Freundin doch für alle Zeit gebunden sein! Nach diesem bedeutungsvollen Seufzer erhob sich Hamutal und bat den Cher-Hep in ein Nebengemach, wohin Jirmijah und Zenua gar bald gemeinsam gerufen wurden. Der schmale, hohe Zeremonienmeister der Amenti stand vor dem Paar und betrachtete den Mann und das Mädchen aus steinernen Augen, deren Blick nach innen geschlagen war. Eine beklemmend lange Frist verging, ehe er den Mund zum Sprechen öffnete.

Eine große Sache sei es, sagte er, die Götter zu tauschen, und zwar nicht etwa für die Götter, die Unverrückbaren, sondern für die Menschen, die solchen Tausch wagen. Die menschliche Seele könne durch dieses Unterfangen gar leicht in das Zwischenreich geraten, über welches weder die alten Götter noch der neue Gott Macht haben. Dann aber bedrohe diese Seele die grausamste aller Gefahren, die Gefahr »aus der Welt zu fallen«. Eine derart aus der Welt gefallene Seele sei in schrecklicher Weise »unzuständig«, sie gehöre keinem geschaffenen Orte an und bleibe aus jeglicher Gemeinschaft ausgemeindet, selbst aus jener der Toten, denn die durch Osiris' Opfergang erblühenden Gnaden gelten nur für die mit heiligem Natron und dauernden Binden Verewigten, die sein Gefolge nicht verlassen haben. Demnach solle jede Seele, bevor sie einen Göttertausch vornimmt, diese entsetzliche Gefahr weislich in Erwägung ziehen.

Zenua hatte, wie sie es bei scharfem Nachdenken immer tat, mit gerunzelter Kinderstirn vor sich hingestarrt. Jetzt aber warf sie den Kopf so heftig zurück, daß ihr Haar sich löste und wie das einer Tänzerin den bunten Schulterkragen umwehte:

»Meine Seele liebt Adonai, den Gott dieses Mannes, den Unsichtbaren, Einzigen, Ewigen und meine Seele vertraut auf ihn. Er läßt keine Seele aus der Welt fallen, auch die meine nicht ...«

Hamutal, die sich abseits hielt, erblaßte bei diesen kühnen Worten des Mädchens, die eine Warnung des höchsten Geheimwissenden zu Nu-Ptah gleich nichts achteten. Der Cher-Hep aber zeigte sich darüber keineswegs verstimmt, sondern erlaubte sogar dem Anhauch eines Lächelns um seine blassen Lippen zu huschen:

»Ich habe gewußt, daß He-Nut-Dime aus der uradligen Familie May-Ptah nicht anders sprechen wird. Ich ehre den Willen des lieblichen Herzens. Doch der Vormund hat die Pflicht, seine Mündelkinder von allen Gefahren zu unterrichten. He-Nut-Dime vertraue ja nicht auf das Mütterliche. Die Gottheit wird nicht durch den Mutterteil bestimmt, sondern durch den Vaterteil. He-Nut-Dime vertraue auch nicht auf das Erbarmen der Götter. Sie merke sich's: Es ist gestattet, um das Erbarmen eines Gottes zu flehen, doch nicht darauf zu vertrauen. Denn das Erbarmen und der Zorn, das Gute und das Böse der Götter ist unbekannt ...«

Bei diesen Worten wanderte der Blick des Cher-Hep von Zenua zu Jirmijah. Dieser schauerte unter dem unerlaubt schrecklichen Gedanken zusammen, daß auch dieser Mann des Osiris, dessen Mund von leeren Götzennamen voll war, auf verborgene Weise ein Umgänger Adonais, des Weltengottes, sein könnte. Der Blick des Cher-Hep aber blieb an Jirmijah nicht haften, als fände er an dem fremden Brautwerber nichts Erforschenswertes. Er richtete kein Wort an ihn, sondern hob seine Rechte mit der zierlichen Osirisgeißel und wies stumm auf Zenuas linkes Handgelenk. Wie alle Ägypter, Männer und Frauen, trug auch sie eng anliegende Armbänder aus farbigem Stoff um beide Gelenke. Auf der Innenseite dieser Gelenkbänder waren schmale, zartbeschriftete Papyrusstreifen eingenäht. In dem rechten befand sich bei den Bewohnern von Noph ein Papyrusstreifen, der in Sinnschrift das Rückgrat des Osiris darstellte. Das Amulett hieß »Ded« und bedeutete die Wiederwerdung und Auferstehung des zerstückelten Gottes aus den einzelnen Rückenwirbeln, somit auch die Hoffnung der Auferstehung für den Träger dieses Zeichens. Man nahm es dem Leichnam nicht ab, damit es die Mumie bis zum Tage der Entscheidung begleite.

Der Papyrusstreifen des linken Gelenkbandes hingegen hieß »das geheime Vormerkblatt des Lebens«, kurz »Anech« genannt. Den Kopf des Blättchens schmückte das Henkelkreuz als Zeichen des Lebens. Dann folgten gedrängt die wichtigsten Voraussetzungen für das Schicksal des Trägers. Seine und seiner Eltern Geburtssterne, der Name des zur Zeit wiedergeborenen Apis und einige ganz geheime Charaktere, die auch der Hochgebildete nicht zu lesen verstand, es sei denn, er habe alle Schulen der Einweihung rühmlich durchlaufen. Dieses geheime Vormerkblatt des Lebens hatte der Cher-Hep von Zenua gefordert, die widerwillig den Anech von ihrem linken Handgelenk losnestelte. Der Geheimwissende vertiefte sich in die Erforschung der Schicksalsschrift. Es dauerte lange, ehe er endlich den Kopf hob. Er zog ein wenig die nackten Fleischwülste seiner gemalten Brauen hoch. Doch in seinen blassen, unermeßlich gleichmütigen Augen stand nichts von der Menschenzukunft zu lesen, die er soeben unwiderruflich errechnet zu haben schien. Eine rasche Angst würgte Jirmijahs Kehle angesichts dieses verschlossenen Gleichmuts. Der Cher-Hep kehrte sich langsam Hamutal zu, die mit begieriger Erregung sein Wort erwartete:

»Dem Ehebund zwischen He-Nut-Dime, der verwaisten Tochter aus dem Hause May-Ptah, und diesem Manne aus dem Auslande steht kein Einspruch des Vormunds entgegen ...«

Jirmijah und Zenua schwiegen. Hamutal begann laut dankzusagen. Sie hatte kein so leichtes Spiel erwartet. Der Cher-Hep jedoch unterbrach sie:

»Ich erteile meiner Herrin den Rat, die Hochzeitsfeier nicht anzusetzen, bevor die Kleine Sonne des Osiris nicht völlig zum Großen Auge des Horus geworden ist, zu Beginn des Sommers, nach meinem nächsten Besuch ...«

Der Fürsorger der Gefangenen wandte sich zum Gehen. Beim Abschied aber fuhr seine gelbe geistliche Hand leicht über Zenuas Scheitel. Eine zwei- und dreideutige Gebärde. War's ein freundlich-einverstandener Glückwunsch? Ein mildes Dahingeben? Eine Liebkosung wissenden Mitleids?

   

Am Abend desselben Tages bat der Bräutigam seine Braut, die beiden Gelenkbänder mit »Ded« und »Anech« von sich zu tun. Sie standen wie so oft an dem Wasserbecken des Gärtchens, in dem dank Hamutals Pflege sich dichtes Blühen drängte. Unter dem noch unerloschenen Himmel taumelten und stürzten die Sperber Ptahs. So glücklich wie durch dieses sein Begehren hatte Jirmijah das Mädchen noch niemals gemacht. Ein kleiner Schrei der Befriedigung entfuhr ihren Lippen. Sie streifte die Gelenkbänder rasch wie etwas Giftiges ab und warf sie ins grünspanige Wasser. Ihre Worte waren ein Aufatmen:

»Wie lange hat Zenua auf diesen Befehl gewartet ... Es ist das erste Opfer, das sie dem Herrn in Jirmijah und Jirmijah im Herrn bringen darf ...«

Sie stockte und fügte gequält hinzu:

»Weh, es ist ja gar kein Opfer ... Ich selbst nur mache mich frei ...«

Jirmijah verstand nicht recht, was sie mit diesem freimachen meine. Sie aber zog ihn neben sich auf den Beckenrand. Er bemerkte, daß sie mit irgend etwas kämpfte, von dem zu sprechen sie furchtbare Überwindung kostete.

»Der Bräutigam möge wissen«, begann sie mühsam, »daß der Braut etwas sehr Heimliches, etwas sehr Schreckenerregendes begegnet ist, als der Cher-Hep in der Aufzeichnung ihrer Zukunft las ... Wird der Bräutigam zürnen?«

»Wie könnte der fordernde Bräutigam der opfernden Braut zürnen?«

»Es betrifft aber Osiris ... Es betrifft aber die Lehre, in der man He-Nut-Dime unterwiesen ...«

»Dann betrifft es das, was Zenua von sich geworfen hat ...«

Sie lächelte fröstelnd wie ein Kind im Dunkeln, das sich Mut zuspricht:

»Die Braut will's dennoch mit des Bräutigams Erlaubnis für ein gutes und günstiges Zeichen ansehn ...«

Er legte den Arm um Zenua und ermutigte sie. Mit angestrengten Augen blickte sie zur Erde. Plötzlich schob sie mit ihrer Fußspitze drei Steinchen zurecht und flüsterte:

»Dies ist Jirmijah ... Dies der Cher-Hep ... Dies ist Zenua ... Der Vormund stand zwischen Braut und Bräutigam und trennte sie ... Da geschah es ...«

Sie verstummte. Jirmijah drückte sie an sich:

»Zenua habe keine Furcht! Jirmijah schützt sie, und der Herr schützt sie, zu dem sie geht.«

»Es war der Abschied von den dreimal dreieinigen Göttern Nu-Ptahs«, erschauerte sie ... »Vielleicht aber ist Zenua wahrhaftig schon aus der Welt gefallen nach den Worten des Vormunds und ausgemeindet ... Denn wer hätte je solches erlebt? ... Ich konnte Jirmijah, nach dem ich mich sehnte, zuerst nicht sehn; der Cher-Hep verdeckte ihn ... Doch auch bewegen konnt' ich mich nicht ...« Jirmijah spürte das Zittern, das durch ihren Körper lief, das Erkalten der Glieder. Mit abgerissenen Worten schilderte sie den Zustand der Entrückung bei wachen Sinnen:

»Zenua war zum Osiris geworden, zu dem erstarrten Gott, um den Isis und Nephtys klagen ... Und sie wuchs sehr hoch und sie war viel größer als der Cher-Hep und Jirmijah, den sie nun wieder sah ... Der Bräutigam höre mich: Seine Braut war eine starre Säule geworden, die sich nicht regen konnte ...«

Sie wandte ihm ein bittendes Lächeln zu:

»Solche Dinge im Gesicht zu sehen, das bringt Glück, nicht wahr? Sage doch, daß es Glück bringt ... Denn es war noch nicht alles ... Zenua hielt Chaïb, den kühlen Fächer, in ihrer versteinerten Hand, den Fächer, der aus allen Schatten zusammengefaltet ist, die ein Mensch wirft ... Da sie aber eine kraftlose Säule war, mußte sie den Chaïb niederfallen lassen ... Aus ihrem Herzen aber flogen zwei große Vögel auf ... Und das tat so weh ...«

Sie brach ab und schloß die Augen. Schon hingen ihr Tränen an den Wimpern:

»Weiß der Bräutigam, welche Vögel das sind, die aus dem Herzen der Braut grausam brachen? ... Ach, er kennt sie nicht ... Bâ, mein Geist, und er stieg sogleich zu den anderen Sonnensperbern ... Kâ aber, meiner Seele Seele, meiner Liebe Liebe, die Schwalbe, sie wollte loskommen und sich auf Jirmijahs Schulter setzen, friedlich sich ducken und ganz still sein und glücklich ... Dies aber durfte die Schwalbe nicht, wie sehr sie auch zwitscherte ... Die Säule gab sie nicht frei, sie mußte die starre Säule umkreisen, immer ... immer ... die Säule meiner selbst ...«

Zenuas Haupt war tief und tiefer über ihren Schoß gesunken. Jetzt schüttelte sie der so lange zurückgedrängte Weinkrampf. Jirmijah aber sprach zu ihr mit sanftem Wort:

»Zenua hat Abschied genommen vom dämmrigen Haus, das ist es ... Da kam noch einmal der Wirrwarr über sie mit Angst und Traum ... Jetzt aber tritt sie aus dem Dunkel zum Herrn ... Und er ist stark wie eine Burg, sie zu schützen und zu verteidigen ...«

»Ja, Bräutigam«, rief sie noch schluchzend stoßweise, »ich weiß, daß er stark ist, stärker als alle andern ... Er muß mich schützen, damit ich nicht im Zwischenreich vergehe ...«

Da stieg in ihm ein ängstlicher Zweifel auf. Durfte er, der Flüchtige, des Herrn Stärke und Trost Zenua zusichern, als kenne er das geheime Vorhaben Gottes? Auf diesem Wege aber gab es keine Umkehr mehr, darum verscheuchte er die schmerzhafte Anwandlung und verkündete seinen rasch gefaßten Entschluß:

»Wir wollen uns an das Wort des Cher-Hep nicht kehren ... Wir werden nicht warten bis zur Sommerwende ... Nicht lieb ist mir Ab, der heiße Monat des Sommers ... Das Zwischenreich machen wir klein, wenn wir uns nach Neumond schon zusammentun ... Willst du es, Braut?«

Die Zuversicht einer Geretteten leuchtete durch die frischen Tränenspuren:

»Ich will es, Bräutigam!«

Dann gingen sie beide zu Hamutal, um die Königin von ihrem Entschluß zu unterrichten. Hamutal zögerte, da sie der Warnung des Geheimwissenden dachte. Jetzt aber war es Zenua, die dieses Bedenken lachend zerstreute, das der Welt des Wirrwarrs angehörte, die sie heute nach einem letzten Rückfall dem starken Herrn Jirmijahs aufgeopfert zu haben glaubte, für immer.

   

Dennoch aber mußte die Feier des Zusammentuns plötzlich aufgeschoben werden. Am Vortage des Neumondes nämlich ereignete sich etwas, das die Herzen der Verbannten in Schrecken versetzte. Noch war die Sonne nicht aufgegangen, und die schon zerbröckelnde Finsternis der letzten Nachtwache herrschte, als der Türsteher das ganze Haus mit der erregten Meldung weckte, ein Mann aus Jerusalem sei eingetroffen und begehre den König und seine Mutter unverzüglich zu sprechen. Dieser geheime Bote (denn nichts andres könne er sein) lasse sich trotz der frühen Stunde und des festen Schlafes Seiner königlichen Herrlichkeit nicht abweisen. In Erwartung einer sehr großen Nachricht versammelte sich alles mit bleichen Mienen in der Lotushalle, auch Mathanjah, Jirmijah und Zenua. Im bangen Zwielicht der Vorfrühe und eines verglimmenden Kohlenbeckens gewahrte Jirmijah den vermeintlichen Boten, einen langen knochendürren Mann, der sich vor Joachas und Hamutal zu Boden geworfen hatte. Mantel und Leibrock hingen der hingekrümmten Furchtgestalt in Fetzen vom Leibe. Die Füße bluteten. Die Beine steckten bis über die Knie in Hülsen getrockneten Schmutzes, als wäre der Mann durch die Sümpfe der Nilmündungen gewatet. Mit einer Stimme, die kaum Atem genug fand, ächzte er gaumig:

»Ich bin gewürdigt, das Antlitz des echten Königs zu schauen ... damit er mir helfe ... vor meinen Verfolgern ...«

Bei diesen Worten enthüllte der Fremde sein entstelltes Gesicht. Aus dem verfilzten Gewucher des grauen Bartes trat eine zackige Riesennarbe hervor, die an einem fiebernden, eingesunkenen Auge entlang bis zum zahnlosen Mund lief, der nach Luft rang. Die alte Narbe aber durchkreuzten frische Schrammen, blutig oder kaum verkrustet.

»Urijah, Schemajahs Sohn!« schrie Jirmijah auf, der den echten Umgänger des Herrn erkannte. Die irren Augen eines Gehetzten flehten zu ihm empor, und eine zerbissene Zunge bildete kollernde Silben:

»Jirmejahu, Sohn Hilkijahs ... hilf mir doch ... Hilf mir ...«

Hamutal eilte davon, brachte mit eigenen Händen Brühe und Zuspeise, kniete neben dem todmatten Mann Gottes hin und flößte ihm Labung ein. Doch Trank und Brot, deren er nur wenig genießen konnte, schienen ihm keine Kraft zu geben. Er streckte sich aus und verfiel in schweratmige Stumpfheit. Da ließ Hamutal eine Mittah hereinschaffen, auf die der Prophet gehoben wurde. Doch es verging noch eine ganze Stunde, ehe er Atem genug gesammelt hatte, um in einigen abgerissenen Sätzen seine Leidensfahrt zu verraten.

Mehr als dreißig Tage schon war Urijah unterwegs, seit der Nacht seiner Flucht aus Jojakims Gefängnissen. Er hatte sich durch die Wegsperren, Streifscharen, Spürmeuten des Königs hindurch bis nach Beerscheba durchgeschlagen. Dann aber folgte der endlose Weg durch die Wüste, die der alte Mann, abseits der stets belebten Karawanenstraße, einsam, ohne Wasser, nur mit einer Handvoll Datteln versehen, fern von den menschlichen Lichtern und Feuern bestehen mußte. Doch der Herr war mit seinem Künder und ließ ihn auf Wunderweise die Grenze des Zweilandes nördlich des Schilfmeers bei Tophanches erreichen. Da zeigte es sich aber, daß die Mark von dichten Scharen der göttlichen Leibwache abgeriegelt war. Alle Karawanen aus Jehuda, Moab, Edom, Aram und dem Stromlande mußten umkehren. Die Schleudergeschütze der Grenzfestungen waren unerbittlich auf sie gerichtet. Der Grund für diese harte Maßnahme lag in der nahenden Rückkehr des einverkörperten Sonnengottes und seines zerzausten Heerbanns. Ja, Pharao Necho, der Vater und Sohn der Götter, war von einem jungen Krieger geschlagen worden, dessen Name in der weiten Welt immer schallenderen Klang gewann. Nebukadnezar hieß der Krieger, Sohn Nabopolassars, der sich auf Babels Thron geschwungen und seine Ferse auf Assurs Nacken gesetzt hatte. Die schwersten Tage aber sollten für Urijah, den gealterten Mann Gottes, erst kommen, als er sich unter Lebensgefahr durch die Grenzwachen geschlichen hatte und den Sumpfgau Seths, des teuflischen Gottes- und Osiris-Mörders, betrat. Abseits der Straßen und Ortschaften geriet er in das tödliche Moorland der Nilarme, wo er, von Störchen, Ibissen, Flamingos, Löffelschnäbeln umkrächzt, von unkendem Sumpfgetier und Nachtgespenstern gejagt, rettungslos an Entkräftung und Wahnsinn zugrunde gegangen wäre, hätte sich der Herr nicht durch ein zweites Wunder seiner erbarmt und ihm den Weg nach Noph gewiesen.

Bei jedem Worte, das Urijah seinem herzkranken Atem abzwang, blickte er sich scheu um, zwinkerte und versuchte sich aufzustützen. Er kannte seine Verfolger. Elnathan, Achbors Sohn, führte sie, der Schwager Jojakims und grimmigste Kriegsheld in Jehuda, dessen Herz kein Erbarmen kannte. Elnathan und seine Häscher hatten Vollmachten von Pharao selbst, Urijah zu ergreifen, wohin immer er sich in Ägypten wandte. Wehe, zu spät hatte er dies erfahren. Er flüsterte kaum vernehmlich, seine Zähne klapperten. Dann aber rang er wieder die Hände und flehte Joachas laut an, ihn wohlversteckt zu halten und nicht auszuliefern dem sicheren Tode.

Es verging noch geraume Zeit, ehe Urijah imstande war, folgerichtig von den Geschehnissen zu erzählen, die ihn in die Gefängnisse Jojakims gebracht und zur Flucht gezwungen hatten. Dies waren freilich weniger einzelne Geschehnisse als die neue Herrschaft im ganzen und der verwegene Widerstand, den er ihr geleistet hatte. Am Anfang hatte sich Jojakim mit der Verleumdung seines Vaters und dessen Zeitalters begnügt. Das Volk Jerusalems, zufrieden mit den glimpflichen Folgen des Unglücks, die es ihm zu verdanken meinte, jubelte ihm zu. Jojakim aber schürte diesen gefälschten Ruhm durch ein Heer gekaufter Zwischenträger, Eckensteher, Einflüsterer und Herausforderer, die überall und allezeit in Stadt und Tempel ihren anklagenden Geifer gegen Josijahs Herrschaft und ihre überlebenden Anhänger verspritzten. Der Pestgeruch dieser wohlberechneten Lügen breitete sich unwiderstehlich aus, Priester und Fürsten erlagen ihm und kaum einer bemerkte mehr, daß er verdorbene Luft atme. Es gelang Jojakim ohne Mühe, die schreckliche Landesschatzung von hundertein Kikar Silbers und Goldes zur Gänze auf die Schuldrechnung des Vaters zu wälzen. Diese Wunde blutete noch, als er, kühn geworden, eine neue Schätzung für seine eigenen Bedürfnisse einführte, denn er liebte es bis zur Narretei, sich durch Paläste und Prachtbauten zu verherrlichen. Nach dieser zweiten Schätzung folgte es Schlag auf Schlag. Um ein ausgebeutetes Volk gut zu beherrschen, müssen die Gerechten verjagt und die frechsten der Ausbeuter an ihre Stelle gesetzt werden. Dies geschah ohne Scham. Aus Tempel, Hofburg und Heer wurden die letzten treuen Diener Josijahs entlassen. Für die Vogelsteller, die Fallenrichter, die brünstigen Hengste, die Fälscher, Verdreher, Schmeichler, Schmierer und schleichenden Diebe aber war der große Tag angebrochen. Die Reichen des Landes, besonders aber die Söhne der Reichen, konnten sich wieder frei brüsten, die Stolzen, die Habgierigen, die Zornigen, die Raufbolde sich ungehindert spreizen. Unter den Priestern aber gewannen diejenigen die Macht, denen nur das Opferwesen wichtig, die Gerechtigkeit Gottes aber verhaßt war. (Dabei erfuhr Jirmijah auch, daß sein ehrwürdiger Gastfreund Meschullam, der Müller aus Kirjat Jearim, von Jojakim zum königlichen Schatzmeister erhoben worden war.) Bei der neuen Austeilung der Herrschaft konnte der König einem einzigen Vaterhause nichts anhaben. Dies war das Haus Schaffan, obgleich der Schriftmeister und Lehrer des Volkes an demselben Morgen gestorben war, da sich Eljakim durch seinen frechen und feigen Handstreich des Thrones bemächtigt hatte. Seinen frechsten Hieb aber hatte er zu Passah geführt, da er, an die Schwursäule des Bundes gelehnt, dem Volke im Tempel verkündete, daß fortan die Befolgung der Lehre und ihrer Gebote an die Zustimmung und den Einspruch des Königs gebunden sei. Kein Feuer war zur Antwort vom Himmel gefahren, auch dann noch nicht, als Jojakim, Adonai zur Drohung für strafende Pläne, ein goldenes Sonnenrad dem Tempel gegenüber errichten ließ. Dies war wahrhaftig eine Sünde mit offenem Helmvisier. Niemand konnte dem König gewaltigen Mut und Hochmut absprechen. Es fanden sich gar viele, die in Jojakim den neuen David priesen.

»Und die Männer des Herrn alle«, fragte Jirmijah mit bleichen Lippen. Der Flüchtling aber, von seinen eigenen Nachrichten belebt, brach in ein eifriges Gelächter aus:

»Die Männer des Herrn alle? ... Siehe, der Herr tut ihnen wohl und besucht sie mit freundlicher Raunung, daß ihr Mund nicht von Warnung, sondern von Heil überfließt und von Lobworten Gottes für den König ... Die Männer des Herrn?! ... Der eine war fern in Noph ... Und nun ist der andre auch fern in Noph ... Er sprach das Wort wider den König ... Da wurde er gepackt, geprügelt, in den Block gespannt ... Zitternd vor Angst erhob er sich und kündete fürder das Eingeraunte ... Sie schlugen ihn wieder und wieder ...«

Urijah entblößte mit starren Fingern seine Schultern. Blutrot liefen die Striemen der Skorpionsgeißel über den Rücken des alten Mannes, der die Tränen nicht mehr verhielt:

»Im Verlies und in den Gewölben lag ich, Mond um Mond ... Der König sprach den Tod über mich ... Doch zu schwach, zu feig bin ich, für den Herrn zu sterben ... Ahikam half mir ... Und ich floh, ich floh ...«

In diesem Augenblick trat der Türsteher in die Lotushalle, um der Herrin eine häusliche Meldung zu erstatten. Mit einem erstickten Schrei fuhr Urijah vom Lager auf und krallte sich an Jirmijah fest. »Sie sind es«, stöhnte er, »Elnathan und die andern ... Sie haben mich ausgeforscht und kommen, mich zu greifen ... Laßt mich hinaus ... Ich bringe Gefahr ... Ihr könnt mich nicht verstecken ...«

Hamutal faßte den Verzweifelten an:

»Ruhig, Mann Gottes ... Du bist bei uns ... Wir stoßen dich nicht aus ... Wir tragen Gefahr für dich, den Josijah, der wahre König, geehrt hat ... Deine Kammer ist bereit ... Ich werde dich in deine Kammer führen, damit du einen guten Schlaf tuest und deine Seele Frieden gewinne, als wäre Josijah, der wahre König, in diesem Hause ...«

Hamutals weiche, rundliche Hand, die den jähzornigen Helden so oft beruhigt hatte, sie beruhigte nun auch diesen Elenden, den Drangsal und Entbehrung endlich zerbrochen hatten. Behutsam wie eine Mutter stützte sie den hochgewachsenen, doch gebeugten alten Mann im zerfetzten Bettlerkleid und führte ihn aus der Lotushalle ins Innerste des Hauses. Die andern starrten ihnen nach.

Der aufgeschossene Mathanjah, auf dessen Wangen fliegendes Rot und Blaß jäh wechselten, schien auf einmal kein Knabe mehr zu sein. Hatte der Bericht des Verfolgten die Seele des Prinzen mit Haß oder mit Neid auf die glänzende Macht seines Halbbruders erfüllt, der süßen, erträumten Königsmacht, von der er ausgeschlossen blieb für immer?! Die großen Augen Mathanjahs suchten scheu den Lehrer, als sei er im Begriffe, sich rasend nach Verbotenem zu sehnen. Jirmijah aber ließ diese Blicke unempfangen von sich abgleiten. Er selbst war in Aufruhr. Nun hatte sich gegen den ewig Undeutlichen und Unergründlichen daheim eine höchst deutliche Gewalt erhoben. Dies war kein lauer Abfall, keine schlüpfrige Sünde mehr, sondern die entschlossene Verneinung. Und sie gedachte kräftig auszurotten, was Josijah für den Herrn getan hatte. Geschlagen und hingemordet wurden die Künder und Wahrheitsager. Der Herr aber, der Josijahs, des Gerechten, Werk nicht geduldet hatte, er schien das Werk der Frevler zu dulden, ja zu begünstigen. Wie gut war es doch, daß sich Jirmijah dem Untergang entzogen, dem Herrn gekündigt und im Zweiland sich vor ihm verborgen hatte, wohin nun auch Urijah geflohen war, der Entwürdigte, Zerbrochene! Keine Aufopferung war zu schwer, um Gottes Werk zu fördern. Aber Aufopferung um nichts, nur damit die Frevler, vom Herrn gefördert, Triumph haben!? Trotz dieser guten Gedanken jedoch konnte Jirmijah ein lauerndes Feingefühl in sich nicht ganz beschwichtigen, das ihm zuflüsterte: Es sind schlechte Gedanken.

Er wandte sich um und sein Auge fiel auf Zenua, die ihn ernst betrachtend ansah. Da überwältigte ihn das größte Geschenk, das dem Menschen von Gott verliehen wird: Ein Mensch. Mochte der Weltlauf dem Abgrund zustürzen in ungehindertem Sausen. Für ihn und die Braut war am Rande des Abgrundes Platz genug, ein Haus zu gründen und in Frieden zu siedeln. Er konnte Israel im Sturz nicht aufhalten, ohne zerschmettert zu werden wie Urijah. Doch er konnte mit Zenua dem Herrn ein zwiefaches Herz zuwenden in seinem Hause. Sie durften noch im allgemeinen Untergang dienen und hören mit immer zarter lauschendem Ohr. War das nicht genug für einen Gottesträumer, der vom Herrn nicht ausgestattet worden war mit der Roheit der Kämpfer?

Der Bräutigam aber sprach zur Braut: »Es ist Böses geschehen ... Doch uns trifft es nicht ... Nur ein Sabbath noch muß gehen, Braut, und dann kommt die Zeit der Freude ...«

An diesem Morgen war Zenua rosig entfaltet wie noch nie. Seitdem sie Ded und Anech von sich geworfen hatte, schien sie kräftiger geworden zu sein, und ihre Heiterkeit nahm zu. Auch hörte man das liebliche und begreifende Herz oft in der Kammer singen. Dennoch sah sie Jirmijah jetzt verschleiert an, als wisse sie etwas ganz Besonderes, und entgegnete singend:

»Ja, Bräutigam, es ist Zeit für die Zeit der Freude ...«

   

Ehe aber der nächste Sabbath noch gegangen war, geschah an Zenua pünktlich der Ratschluß Adonais, seines künftigen Vorhabens wegen. Am Morgen dieses Sabbaths saßen alle Hausgenossen zur Verlesung der Lehre versammelt in der Lotushalle. Auch Urijah war unter ihnen. In den vergangenen Tagen hatte er sich unter Hamutals pflegsamer Hut von den Mühsalen und Schrecknissen seiner Flucht langsam erholt. Wenn er auch noch immer das Bild eines Todkranken darbot, so war doch die jammervolle Entwürdigung in seinen Zügen jener hohen Müdigkeit gewichen, die Jirmijah schon in Huldas Dachgemach an dem entstellten Antlitz erschüttert hatte. Um ihn zu ehren, trat der Jüngere dem Älteren an diesem Sabbath das Amt des Lehrers ab. Urijah saß inmitten der Lauschenden, las mit erschöpft eintöniger Stimme vor und deutete das Gelesene, Abschnitt für Abschnitt. Doch sei es, daß er nicht so klar und deutlich sprach wie Jirmijah, sei es, daß über der kleinen Gemeinde eine merkwürdige Unruhe lag, es gelang dem Ehrwürdigen nicht, die Aufmerksamkeit der Seelen an den Herrn zu fesseln. Insbesondere Zenua war es, welche die Unruhe und Abgelenktheit durch ihr Verhalten steigerte. Sie erhob sich während der Lehrstunden drei- oder viermal, wandelte in der Halle umher, verließ sie, kehrte gleich wieder zurück, als sei sie von äffenden Stimmen hinausgerufen worden. Während sie sonst stundenlang in der reizenden Stellung junger ägyptischer Damen auf der rechten Ferse schwebend zu hocken vermochte, knickte sie heute jeden Augenblick ein. Sie sah starr vor sich hin, doch nicht mehr mit dem holden Ernst des auf den Herrn gerichteten Sinns. Ihre Stirn war kindlich gerunzelt, doch nicht mehr vor Anstrengung, dem Geist des Geliebten ebenbürtig zu folgen. Hamutal sah sie mehrmals eindringlich an. Sie war die einzige, die durch Zenuas Anblick mit unbestimmter Sorge erfüllt wurde. Jirmijah hingegen konnte über das zerstreute, störende Gehaben der Braut einen leichten Ärger nicht unterdrücken. Er wußte, daß Zenua die unüberwindliche Schönheitssucht der vornehmen Heidinnen besaß, die durch den Anblick jedweder Häßlichkeit und jeglicher Entstellung aus der Fassung geriet. Darum durchdrang ihn jetzt der Verdacht, daß sie, die so innig der Wahrheit des Herrn nachhing, das verheerte Antlitz Urijahs, seines Künders, nicht zu ertragen vermochte. Er meinte, es sei ihr übel vor dem zahnlosen Munde, der langen Geißelnarbe, den frischen Schrammen und der großen Gebrechlichkeit des schmerzhaften Mannes. Er litt darunter, daß Zenua nicht zu erkennen verstand, daß Urijahs Entstelltheit das herrliche Wundmal eines ehrenvolleren Kriegers war als alle Risse und Schmisse, mit denen die Helden der Völkerschlachten vor den erglühenden Weibern sich brüsten.

Jirmijah konnte kaum das Ende des Lehrdienstes abwarten. Der Unmut in ihm wuchs. Er begehrte heftig danach, seine Braut über diese eitle Verfehlung des Herzens aufzuklären, so eilig wie möglich. Doch als er ihr dann im Gärtchen gegenüberstand, da vergingen ihm Argwohn und Unmut, da versiegte ihm jedes Wort. Zenua war in zwei Stunden eine andre geworden, ganz durchsichtig und zerbrechlich, mit einer weißen, glatt vorgewölbten Stirn.

»Was ist Zenua geschehen«, stammelte er.

Sie sah ihn lange an, mit sonderbarem Liebeshohn, denn sie verbarg etwas, wovon der Geliebte nichts wußte.

»Es ist die Freude«, sagte sie, »denn der Sabbath geht vorüber ... Und dann ... Es ist die große Freude ...«

»Diese Freude der Braut erschreckt den Bräutigam ...«

Sie legte ihm die rechte Hand auf die Augen:

»Der Bräutigam sehe die Braut nicht an ... Denn der Gott kämpft mit ihr und will sie besitzen ... Vielleicht ist es der Herr ... Vielleicht aber ist es Osiris ...«

Er nahm zart ihre Hand von den Augen und drückte sie an seine Wange:

»Was spricht Zenua da für träumerische Torheiten?«

Sie schien zu schwach, ein Lächeln hervorzubringen. Der rechte Winkel ihres vollen Frauenmundes verzog sich ein wenig nach oben:

»Sage nicht, daß es träumerische Torheiten sind ... Eifre lieber deinen Herrn an, daß er mich ihm abgewinne ... Denn ich habe Ded von mir geworfen und Osiris gerufen damit ...«

»Muß ich nicht zürnen, wenn die Braut so Sinnloses redet?«

»Zürne nicht, Bräutigam ... Denn die Braut ist voll Freude ... Voll großer Freude ...«

Zenua löste sich von ihm los und trat einige Schritte zurück. Wie zu sich selbst sprach sie noch:

»Wenn der Gott kommt ... Tanzen muß ich ... Dem Gott entgegentanzen ...«

Dann kreuzte sie die Arme über die Brust und versuchte mit herzzerbrechender Schalkhaftigkeit sich im Tanze zu drehen. Ehe Jirmijah noch hinzuspringen konnte, war sie zur Erde gesunken.

   

Man hatte Zenua in ihre Kammer getragen und sie nach langer Bemühung mit Essig, brennenden Tropfen und scharfen Gerüchen wieder zum Leben erweckt. Sie schien die Sprache verloren zu haben. Grausame Krämpfe schüttelten ihren schmalen Mädchenleib. Die schreckensgroßen Augen hingen an Jirmijah, wanderten flehend zu Hamutal und kehrten wieder zur Jirmijah zurück. Hamutal verstand den Blick und seine Bitte. Die Braut wollte nicht, daß der Bräutigam sie in dem entstellenden Zustand dieses gräßlichen Leidens sehe. Unablässig arbeiteten ihre Lippen an lautlosen Worten. Da drängte Hamutal den Mann sanft aus der Kammer. Vor der Tür sank Jirmijah in sich zusammen und blieb stumpf und bewegungslos hocken. Sein betäubter Geist vermochte sich zu keinem Gebet, zu keinem Gelübde aufzuraffen. Ein und derselbe Gedanke durchkreiste schlaff und eintönig sein leeres Sinnen: Warum dieses große Leiden der Unschuldigen, immer und immer wieder dieses große Leiden der Unschuldigen!?

Erst gegen Abend rief ihn Hamutal in die Kammer der Kranken zurück. Zenua konnte jetzt wieder sprechen. Mit großer Mühe und Undeutlichkeit zwar stieß sie die Worte hervor, doch es gelang ihr, sich verständlich zu machen. Anstelle der Stummheit aber hatte sich eine schwere Lähmung über ihren Körper geworfen, einem unsichtbaren Höllentiere gleich, das Glied für Glied festgeprankt hielt. Die Veränderung dieses noch gestern zart blühenden Leibes, die sich schon am Morgen vorbereitet hatte, ließ sich gar nicht begreifen. Wenige Stunden hatten genügt, um ihn erbarmungswürdig auszuzehren. Mager streckten sich die gelähmten Arme und Beine, während die langgefiederten Hände und schmalen Füße formlos angeschwollen waren. Die Krankheit hatte die süße Rundung der Wangen fortgespachtelt, oh Ton in des Töpfers Hand, und unter die brennenden Augen des Todes blaue Höhlungen tief eingegraben. Und Zenua bewegte ihre schwere Zunge und sprach: »Siehe, Bräutigam ... Nun ist die Braut doch zur Säule des Osiris geworden ...«

Jirmijah tat, was jeder Liebende an einem Krankenbette tut. Er verlieh seiner Stimme eine glaubwürdige Art aufrechter Zuversicht, nicht ganz ohne Strenge:

»Der Herr wird noch in dieser Nacht die Säule wieder lösen ... Und morgen, am Tage der Freude, erwacht eine geschmeidige Zenua ...«

Worte, ohne Glauben gesprochen, sich selbst zur Verzweiflung. Ihr aber schienen sie wohlzutun. Fliegenden Atems flüsterte sie:

»Ja, der Bräutigam spreche vom Herrn, viel, viel ... Er ist der Höchste und läßt es doch zu, daß der andre Gott mich besitzt ... Zerrissen bin ich im Zwischenreich ... Ehe der Tag meiner Freude kommt, will mein Ohr nur hören vom Herrn Jirmijahs ... den ich so sehr liebe ...«

Jirmijah aber vermochte es nicht, ihr den Dienst zu tun und von Adonai zu sprechen. In keiner Stunde seines Lebens vermochte er es weniger als in dieser. Seine Seele lauerte auf die Untat des Herrn wie ein Schütze im Hinterhalt mit gespanntem Bogen. Der wider Gott gerichtete Pfeil lag auf der Sehne seiner Seele. Um aber Zenuas Wunsch doch zu genügen, tat er, was die Frommen an Kranken- und Sterbebetten tun; er sang mit leiser Stimme einen Psalm, den David einst selbst gedichtet hatte. Jirmijah wußte kaum, was er sprach und summte, das kindgewohnte Lied trat ihm wie ohne sein Zutun über die Lippen. Und er gelangte zu dieser Stelle:

»Meine Seele lobe den Herrn,
Mein Innres preise den Namen!
Der die Schuld verzeiht,
Der die Krankheit heilt,
Der aus dem Grabe dein Leben erlöst ...«

Bei dieser Stelle unterbrach Zenua, die mit halbgeschlossenen Augen zugehört hatte, den leisen Gesang:

»Bräutigam ... Siehe, noch ist Kâ, die Schwalbe, in meinem Herzen ... Ganz geduckt ... Ich spüre sie ... Bâ aber, der Sperber, flattert mir im Kopf herum und stößt an die Wand und will hinaus ... Von ihm kommen die großen Schmerzen ... Aber wir müssen die Schwalbe schützen ...«

Jirmijah berührte leicht ihre geschwollene Hand, die leblos auf der Decke lag. Sie schrie auf vor Schmerz. Erschrocken zog er die Hand zurück. Zenua aber bat:

»Laß deine Hand auf meiner Hand liegen, Bräutigam ... Sie tut mir wehe ... Und das tut mir wohl ...«

Er sang die Psalmverse weiter und fügte andre hinzu, denn auf diese Weise hoffte er Zenua einzuschläfern. Und wirklich, ihre Augen hatten sich völlig geschlossen und der flache Atem begann regelmäßiger zu gehn. Hatte der Herr endlich ein Einsehn? Erbarmte er sich nunmehr der Braut, die aus Liebe zu ihm mit den Wahngöttern sich entzweit hatte? Kam jetzt der Schlaf der Gesundung über Zenua? Wie leichtfertig war doch sein Herz, sofort das Günstige zu glauben und im Herrn wieder den bereitwilligen Obwalter seines eigenen Hoffens zu erblicken. Schon wollte sich ein Dankgebet in Jirmijah bilden, als das Antlitz der Gelähmten sich plötzlich verzerrte und sie laut aufstöhnte:

»Warum läßt du mich durch das Land Seths irren ... Er ist der große Mörder in den Sümpfen ...«

Wehe, ihre Götter plagten sie. Er aber konnte ihr keine Hilfe bringen, weil der Herr dieser Qual kalt zusah. Nach einigen erstickten Atemzügen brach es mit Worten tiefen Ekels aus ihr:

»Die Enten, die Enten ... He-Nut-Dime hat nicht gewußt, daß die Abbilder der Seele Seths schwarze Enten sind ... Schnell watscheln und plätschern sie auf dem Moorteich ... Breite rote Schnäbel, weh ... Sie schnattern und klappern und plappern Haß ... Ich komme nicht weiter ... Sie zwicken ... Sie haben mich schon ...«

»Schlafe! ... Du sollst schlafen ... Dann weicht es von dir ... Schlafe, Braut ... Schlafe, Zenua ...«

Dies »Schlafe, Zenua« wiederholte Jirmijah unablässig, als könnte er durch die eintönig-armselige Formel der Kranken Schlummer bringen wie durch ein Wiegenlied. Zenua aber öffnete die Augen. »Bräutigam«, fragte sie, »warum ist der Herr so schwach in dir heute?«

Jirmijah senkte den Kopf. Die Faust krampfte sich ihm zusammen, wütend an die Brust zu schlagen. Doch ehe er noch solches tat, lösten sich seine Finger wieder, und die Hand, die hadern wollte, fiel schlaff herab. Auch jetzt noch war Zenua hartnäckig wie immer und gab nicht nach:

»Bräutigam, betrüge die Braut nicht ... Der Herr, der alles kann, wendet seinen Willen ab ... Was du auch tust und betest und flehst, es hilft der Braut nicht ... Nimm doch all deine Kraft zusammen, deinen Herrn zu zwingen, damit er den Sperber ins Herz zurücktreibe ... Sperber und Schwalbe müssen zusammenhausen, soll Zenua leben ...«

Nach der furchtbaren Anstrengung dieser Rede verfärbten sich ihre Lippen, wurden blau, das letzte Entsetzen trat in die Augen, sie bekam keinen Atem mehr und keuchte:

»Laß mich nicht sterben ...«

Hamutal und die Mägde eilten herbei, setzten Zenua auf und schlugen ihren Rücken, damit sie nicht ersticke. Ihr Kopf fiel haltlos in den Nacken. Doch mit der äußersten Kraft ihres Lebens schrie sie:

»Jirmijah ... Hinausgehn ...«

Nicht häßlich, nicht im Sterbenskrampf sollte der Bräutigam die Braut sehen: Diese Angst war noch größer als die große Todesangst und sie gab der Gelähmten Heldenmut.

Jirmijah hockte die ganze Nacht vor Zenuas Kammer. Seine Seele war stumpf und gedankenlos. Mägde kamen und gingen mit Lichtern, Krügen heißen Wassers, essiggetränkten Tüchern und duftenden Räucherschalen. Sie weinten viel, tuschelten miteinander und plapperten Gebete. All das erreichte nur wie durch ein dichtes Schleiergewebe Jirmijahs Sinne. Endlich stieg ein wunderbarer Frühlingsmorgen über Noph auf. Die wachsende Sonne, die sich fröhlich anschickte zum großen Auge des Horus zu werden, durchdrang jeden Winkel des Hauses und ließ den roten und grünen Anstrich der Wände und Säulen kräftig erglühen. War's nicht der beschlossene Morgen der großen Freude, den der Herr so bitter prächtig heraufführte? Die übernächtige Hamutal trat aus der Krankenkammer und lächelte Jirmijah beruhigend zu, es gehe besser.

Als man ihn dann zu Zenua einließ, fand er wiederum eine gänzlich Verwandelte. Ihr Mund war rot und kindhaft aufgebrochen. Ein leichter Farbhauch lag auf ihren Wangen. Nur die Augäpfel waren noch tiefer eingesunken und das Weiße in ihnen schillerte perlmuttern. Wieder faßte der leichtfertige Blick jeder verzweifelnden Hoffnung ein wenig Mut. Jirmijah berührte die Hand der Braut. Zenua schrie nicht auf. Er spürte die tote Fühllosigkeit der aufgequollenen Finger. Nichts tat ihnen mehr wohl oder weh. Ihr Blick gab ihm ein heimliches Zeichen. Sie lispelte schwerfällig, damit niemand sonst es höre:

»Es ist entschieden ... Zenua gehört dem Herrn des Lebens nicht an, sondern Osiris ...«

Sie schwieg, von den wenigen Silben schon ermattet. Ein dumpfer Zwang aber zog Jirmijahs Auge von Zenua fort zum Fenster. Ach, es war schon der treulose Zwang, der die Blicke der Lebenden vom Antlitz der Aufgegebenen wegreißt. Der dunkelblau entschlossene Tag der großen Freude füllte herrisch das Fenster mit all den Bildern seiner Palmen, seiner Rhododendren, Akazien und Goldsträucher. Fern zogen die Segel der Nilbarken, und die scheltenden Stimmen der Schiffer, der Fuhrleute und Arbeiter, die ihr Tagwerk begannen, vermischten sich mit dem Gezwitscher der vielbeschäftigten Singvögel. Zahlreicher denn je standen die Sperber Ptahs, diese zur Sonne aufgefahrenen Menschengeister, in stolzgespreitetem Schweben zwischen Himmel und Erde. Wehe, daß dieser langsam lustwandelnde Tag der großen Freude so schön war, daß kein Sandsturm der Wüste ihn verhängte, entstellte, verlöschte! Ein flaches Gelispel rief Jirmijah zurück:

»Die Schwalbe wippt schon ... am Rande des Herzens ... wie auf einem Ast ...«

Er hielt einen Roßschweif in der Hand, mit dem er die surrenden Fliegen von Zenua verscheuchte. Als er sich über sie beugte, erreichte ihn, kaum vernehmbar, ein Geflüster:

»Wenn der Kâ aus dem westlichen Tor hervorgeht ... Wenn die Schwalbe sich auf deine Schulter setzt ... Wirst du's ihr gewähren?«

Dann sprach sie stundenlang nichts mehr und schien schmerzlos zu schlummern. Als die Sonne schon ihre Höhe überschritten hatte, hörte Jirmijah Zenuas Stimme noch einmal:

»Das Land meiner Mutter ... Das Land deines Herrn ... Warum hast du mich nicht genommen und hingeführt ... da es Zeit war für die Zeit der Freude ... Wir hätten ein Haus gebaut ... du und ich ...«

Kaum aber waren diese abgerissenen Sätze gesprochen, als eine neue Atemnot sie befiel, schrecklicher als alle früheren. Kein Schütteln und Rückenklopfen brachte Erlösung. »Laßt mich sterben!« keuchte sie mit hervorquellenden Augen. Nicht mehr dachte die Braut daran, schön zu sein für den Bräutigam und ihn fortzuweisen. Im letzten Augenblick aber, da sie schon zu ersticken drohte, hatte der Cher-Hup das Haus und die Kammer betreten. Er trug bedeutenderweise diesmal nicht das Zeichen des Osiris in der Hand, sondern das Zeichen des lebendigen Ptah, den hohen Bambusstab, auf dem ein geschnitzter Sperber hockte. Sein Eintritt gab Zenua den Atem sofort zurück. Der Cher-Hep aber sprach zu Hamutal mit gewählter Strenge:

»Zu früh hat meine Herrin den Rat verachtet ... Zu spät hat meine Herrin um Hilfe gesandt ... Schon hat der zuckende Kâ des lieblichen und begreifenden Herzens den Vormund gerufen ...« Er setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten oder jemanden zu beachten, schweigend an das Fußende des Lagers. Der große Arzt und Geheimwissende traf keinerlei Anstalten der heilenden oder beschwörenden Kunst. Nur seine kahlglänzende Kopfkugel schien zu vereisen. Die glanzlosen Steinaugen unter den mächtigen Stirnwülsten blieben müde und gleichmütig auf sein Mündel gerichtet. Zenua erholte sich. Ihr Atem ging kurz und schnell. Sie schien, von Freundlichkeiten umgaukelt, zu lächeln. Die Lider fielen zu. Sie schlief.

Nach einer Stunde etwa erhob sich der Cher-Hep und wandelte mit einem kurzen Gruß ernst hinter seinem Sperberstabe aus dem Haus. Vor dem Tore, da er eben seine Sänfte besteigen wollte, rührte ihn Jirmijah, der seinem Schreiten gefolgt war, leise an. Der Zeremonienmeister des Todes von Nu-Ptah streckte seine schlanke Gestalt. Ein rätselhafter Blick traf den Mann Gottes, nicht freundlich, nicht feindlich, sondern in den hohen Schulen des Herzverbergens zur Undeutbarkeit erzogen. Diesen hier hatte seine Gottheit nicht zum Künder, sondern zum Schweiger ihrer selbst auserkoren. Seiner Rede eignete die Hochbesonnenheit der Wahl zwischen dem Sagenswerten und Verschweigenswürdigen. Auch jetzt unterwarf er seine knappen Worte der treffsichersten Gewähltheit, die verbarg, wo sie eröffnete:

»Der Fremde mag ruhig sein ... He-Nut-Dime hat ihren Feind überwunden ...«

Darauf wartete er eine Weile, als gehe er mit der Sprache ins Gericht, ob ihre feinste Rücksicht noch einen klareren Ausdruck erlaube. Anstatt aller Rede aber streckte er nur seinen Stab aus und wies mit dem Sperber westwärts, wo sich am Wüstenrand die »Ewige Stadt« erhob mit ihrem Pyramiden- und Tempelgedränge und dem riesigen »Palast der göttlichen Werkstatt«. Jirmijahs Blick haftete am Westland, das die untergehende Sonne in Gold kleidete. Als er sich dann umkehrte, schwankte schon die schönverzierte Sänfte mit dem Cher-Hep davon. Vier abscheuliche Gestalten aber waren eingetroffen, verwachsene Rotköpfe, klein wie Kobolde. Sie hatten eine längliche, auf Schlittenkufen ruhende Lade mitgebracht. Diese umstanden sie nun, unverschämt grinsend. Jedes Kind in Nu-Ptah kannte die Rotköpfe und wußte, welchem mächtigen Gotte sie von Jugend an geweiht waren. Sie dienten Seth, der niedrigsten und greulichsten Erscheinungsform des Todes. Mochten sie verachtet werden, was tat's? Es gab kein Glanzgemach, in das sie nicht einmal einzogen.

Jirmijah floh ins Haus zurück. Hamutal erwartete ihn schon in der Eingangshalle. Mütterlich drückte sie seinen Kopf an ihre Brust.


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