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Vierzehntes Kapitel.
Das Schicksal vor dem Scherbentor

Als sich in Jehuda die Kunde verbreitete, daß der ergraute Künder Urijah von dem wütenden Elnathan unter Mithilfe der Obrigkeit Pharaos in Noph aufgegriffen, nach Jerusalem geschleppt und in festen Gewahrsam eingeliefert worden sei, da wußte Baruch, daß sein Meister diesen Frevel in seiner nächsten Nachbarschaft nicht untätig hinnehmen würde und sich selbst schon auf den Weg gemacht habe, um dem Vorbildlichen beizustehen. Jirmijah wiederum wußte, daß Baruch seiner Heimkehr unbedingt gewärtig sei und ihm wahrscheinlich bereits an einem günstig gelegenen Orte entgegenharre. Diesen Ort erriet er genau, was freilich nicht schwer war, da in Hebron die großen Karawanenstraßen zusammenliefen und Reisende aus Ägypten hier schwerlich zu verfehlen waren. Jirmijah vermutete auch, daß Baruch zwei Eselinnen wie in früheren Tagen gemietet haben werde, damit man den Weg nach Jerusalem ohne Aufenthalt fortsetzen könne. Darin täuschte er sich ebenfalls nicht. Nach langer Trennung strebten Meister und Schüler ungeduldig einander entgegen, beide erfüllt von ein und derselben Sorge, Urijah. Der Wartende saß Tag und Nacht vor der südlichen Herberge Hebrons, den Schlaf verscheuchend, damit er keinen Ankommenden übersehe. Der Heimkehrende, der mit einer großen Karawane reiste, litt unter häufigem Unwetter und andrem Ungemach, das die zurückgelegten Wegstrecken seiner handelsmännisch vorsichtigen Reisegenossen täglich verkürzte. Beide jedoch, Jirmijah und Baruch, wälzten in ihrem Herzen dieselben Furcht- und Hoffnungsgedanken, Urijah betreffend.

Würde man zurechtkommen? Das war die Frage der Fragen. Elnathan und seine Schergen hatten auf ihrem Wege Urijah nicht umgebracht, was darauf hinwies, daß der König Jojakim den ins Verließ und in die Gewölbe Geworfenen nicht einfach unters Schwert, sondern unter sein Gericht und Gesetz zu stellen gedachte. Wahrscheinlich sparte er ihn für ein besonderes Fest auf. Vielleicht aber war sein Sinn in diesen Tagen von andern Begierden abgelenkt. Launenhafte Unberechenbarkeit hatte Eljakim als einzige Eigenschaft von seinem Vater geerbt. Es konnte geschehen, daß ein neuer Bauentwurf, die Entscheidung, in welchen Farben die Wände eines Glanzgemachs auszumalen seien, eine frische Sendung von Balsaminen, Myrrhen, Duftölen für seine Mischküchen ihn so hitzig in Anspruch nahm, daß sein Haß erlahmte, der ständige Wundschmerz seiner gekränkten Eitelkeit sich milderte und er tagelang seiner Beleidiger vergaß. Ebensogut aber konnte es vorkommen, daß ein beklemmender Morgentraum, eine Unpäßlichkeit seines Selbstgefühls, ja nur ein beschämender Gedanke seinen Grimm plötzlich aufpeitschte, und dann wehe den Schwachen, die in seiner Macht waren.

Trotz seines Laster-Erlasses an der Schwursäule hatte es Jojakim nicht gewagt, das Gesetz des Herrn aufzuheben. (Aufheben? Kein Mensch kann aufheben und zunichte machen, was durch Gott da ist. Er kann es höchstens nicht beachten und brechen.) Zu Recht bestanden demnach in Jehuda alle Gebote, die sich auf Gerichtshaltung und Strafübung bezogen. Nicht duldete es der Herr in seinem Erbarmen, daß der Urteilsspruch einem einzelnen oder gar einem über die andern erhöhten Richter anheimgegeben werde. In jeder Stadt, in jeder Gemeinde mußte ein Gerichtshof der Ältesten zusammentreten, damit nach peinlicher Durchleuchtung des göttlichen Gesetzes und des verübten Frevels ein weises Urteil rechtens gefällt werde. Und wenn in diesem Gerichtshof eine einzige Stimme nur die beklagte Verfehlung nicht todeswürdig fand, so war die Strafe der »Ausrottung aus dem Volke« nicht mehr anwendbar. Doch erging selbst der einstimmige Richtspruch des Todes, dann hatte der Gott des Lebens für letzte Hindernisse noch Sorge getragen, die seine Vollstreckung erschwerten. – Die Könige und Völker der Welt, allesamt herrlicher als Israel, unterhielten in ihrer Gerichtsbarkeit geeichte Vollzieher der Ausrottung. Dies waren die erprobten Scharfrichter, Nachrichter, Freymänner, Henker oder wie immer sie scheu genannt wurden, die Männer mit schwellendem Arm und gewaltig entblößter Brust, die den Zweihänder treffsicher über dem Kopf des Sünders schwangen oder diesen mit wohlgeübtem Zugriff in den Feuerofen stießen. Nicht also Israel. Unter allen Völkern der Welt als einziges unterhielt Jakob keinen Scharfrichter, denn die listig weise Güte der Lehre schrieb keine Ausrottung vor, die ein einzelner hätte vollziehen können. Dies aber war der geheime Sinn jenes Rechtsverfahrens, das man Steinigung nannte. Einer hatte so schwer gesündigt, daß ihn nach göttlichem Gesetz das Volk nicht mehr ertragen konnte, ohne selbst Schaden zu nehmen. Um der Reinheit und Heiligkeit Israels willen mußte der Schandfleck vertilgt und Blut vergossen werden. Blut aber war ein Heiligtum des Lebens, auch das Blut eines Mörders. Das Gebot »Du sollst nicht töten« galt immer und überall ohne die geringste Einschränkung. Kein einziger Mensch in Israel durfte töten, auch ein zur Tötung Beamteter nicht. Nur das Volk in seiner Gesamtheit durfte sich durch Ausrottung gegen einen Frevler wehren, nicht anders wie es sich im blutigen Kriege eines Feindes erwehren mußte. Darum gebot die göttliche Vorschrift, daß alle männlichen Bewohner der Ortschaft, die eine Ausrottung vollzog, sich vor die Tore zu begeben hätten, um, jeder einzelne und insgesamt alle, mit dem spitzen Steine in der Hand den Schädling zu Tode zu treffen. Alles vergossene Blut, wem immer es angehört, schreit zum Himmel um Rache. Auch dieses vergossene Blut schrie zum Himmel um Rache, doch nicht wider einen einzelnen, sondern wider die Gemeinschaft Israels, die sich um seinetwillen verantworten und reinigen mußte, was keinem Gewalthaber und dem von ihm bestellten Blutvergießer jemals gelingen konnte. Zugleich aber hatten die Männer des Gerichtshofes, der vor der Fällung eines Todesspruches stand, unablässig die grausame Pflicht der Steinigung vor Augen, die dämpfend auf ihrem Grimm lastete, und die niederdrückende Verantwortung der Blutschuld dazu, mit der sie das ganze Volk beluden. – Also lautete die Deutung des Gesetzes über Blutschuld und Blutsühne, die Jirmijah seinem Jünger Baruch und seinem Schüler Mathanjah gar oft dargelegt hatte, und sie diente ihm stets zum trefflichen Beweise des heiligen Angebotes Gottes an den Menschen, den Weltlauf gemeinsam zu entwirren. Jetzt aber hofften Jirmijah und Baruch beide, jener auf seinem Wege, dieser an seinem Orte, daß dieses Gesetz des Herrn Urijah vor dem Könige retten werde.

Baruch wartete Tag um Tag. Jirmijah verspätete sich Tag um Tag. Er zog durch die Wüste mit der Karawane auf jenem hochberühmten Wege entlang der Küste, der »die Straße des Goldes und Weihrauchs« genannt wurde. Was half alle Ungeduld, ja Verzweiflung? Man kam nicht vorwärts. Die Straße des Goldes und Weihrauchs war durch schier ununterbrochene Handelszüge verstopft.

Jirmijah saß allabendlich mit den Handelsleuten am Feuer beisammen. Baruch saß allabendlich mit den Handelsleuten am Feuer beisammen. Hier wie dort, in der Wüste und in Hebron wurde haargenau dasselbe erzählt, beredet und erwogen. Die Kaufleute beredeten die königlichen Heroldsrufe zu Noph, die verkündeten, daß der Sonnengott Necho geruht habe, sein lichtspendendes Unternehmen gnädig abzuschließen. Der Zweck, die menschlich-göttliche Sonne in die Finsternisse der Völkerschaften leuchten zu lassen, sei erfüllt. Das Herz des guten Gottes überfließe so unbändig von Liebe, daß er jenes Gewand, welches er am Triumphtag von Meggiddo getragen – bevor er es den Gottheiten seiner Leibwache nach Branchidai weihe –, zuerst im Tempel von Nu-Ptah sich auszustellen entschließe, zu Nutz und Frommen der Bewohner, zu allgemeiner Entzückung und Verehrung. Von diesem Erlaß Pharaos sprachen die Kaufleute zu Hebron und auf der Straße des Goldes und Weihrauchs. Doch ihre nützliche Rede und Gegenrede hing nicht so sehr an Pharao, Nu-Ptah und dem Sonnenwesen, als an der neuen Erscheinung am Nachthimmel. Ja, Mardukh, der Jupiterstern des Nachthimmels, war auf Erden in neuer und glänzendster Verkörperung aufgegangen. Nebukadnezar-Mardukh hatte den Thron zu Babel bestiegen im Schatten des heiligen Turmes Etemenanki. Wie spiegelte doch dieser jugendliche Mann die Eigenarten und Wesenszüge der Gottheit, die er war, so vollkommen wider! Das verzehrende Strahlen und rasche Tun ist Wesen der Sonne, das sinnige Leuchten und Planen ist Wesen des Sterns. Die Kaufleute wiegten genüßlerisch die Häupter, von ihrer Klugheit trunken. Ein dem Taghimmel angehöriger Held wäre dem geschlagenen Feinde auf den Fersen geblieben, hätte ihn aufgerieben und mit dem Pompe seiner siegreichen Götter sich alles Land unterworfen, bis zum Bache Ägyptens hinab. Dies aber tat Mardukh-Nebukadnezar mitnichten. Oder besser, er tat es auf seine Sternenweise, behutsam und unmerklich, trotz seiner großen Jugend. Wohl erschienen auch seine kegelbehelmten Reiter in den Ländern der kleinen Könige. Doch sie bildeten nur die gewappnete Bedeckung für höchst friedliche Gestalten. Dies waren die schmerbäuchigen Großhändler, Gütererzeuger, Einführer und Ausführer, die ihr berechnendes Lauschen hinter den geölten und künstlich geringelten Wollbärten würdig verbargen.

Dieser Männer Großherr war Nebukadnezar, weshalb, wie die Kaufleute einmütig erwogen, sein Zeitalter ein gutes Handelsalter zu werden versprach. Ein Kriegsheld, gewaltig und fromm, ein Gott, der sich seiner Gottheit denkend erfreute, hatte Mardukh vor seinem erstaunenden Hof nicht Stab, Geißel und Schwert, sondern den goldenen Spaten zu seinem Sinnzeichen erwählt. Er warf sich damit nicht zum Bezwinger der Welt, sondern zum neuen Bauherrn der Welt auf. Sein Wort, das er den Völkern zurief, hieß: »Babels Friede!«

Tausende von Spaten schon lockerten die Erde zu neuen Straßen, lenkten die Flußarme in schnurgerade Kanäle. Mardukhs kühle Stärke aber erwuchs ihm aus der heiligen Wissenschaft des Nachthimmels, die er mit den Göttern teilte und die in hohem Grade verläßlicher war als diese. Denn die Sterne, meinten die Kaufleute aller Zungen an den Abendfeuern, waren genaue Wahrsager und es gab keine falschen Propheten unter ihnen. Als aber Baruch zu Hebron die Rede auf den echten Propheten Urijah, auf den König Jojakim und auf die gegenwärtigen Herrschgewalten Jehudas bringen wollte, da verstummten alle, zwinkerten ängstlich umher und sprachen schnell von andern Dingen.

Einmal des Nachts sehr spät wurde Baruch, der an der Straßenkreuzung mit dem Kopf auf dem Sattel schlief, durch gedämpften Lärm und Fackelwinken geweckt. Im Erwachen sah er, wie Männer aus Kusch die Ballen von den Rücken kniender Kamele abluden. Als er die Augen weit aufschlug, stand Jirmijah neben ihm, in seine Betrachtung versunken. Baruch beherrschte sich männlich. Er wußte, daß sein Meister allen Entblößungen des Gefühls scheu aus dem Wege ging. Heimliches Fortstehlen und plötzliches Auftauchen, das war Jirmijahs Art, Abschied zu nehmen und wiederzukehren. Baruch tat so, als seien sie nicht länger als einige Tage getrennt gewesen und alles habe sich nach genauer Verabredung pünktlich gefügt. Er rekelte sich ein wenig zum Schein, sprang auf, sattelte die Eselinnen, zog die Gurten an und mahnte: »Wenn die Sonne aufgeht, können wir in der Stadt sein ...«

Ehe sie aber aufsaßen, sahen sich die beiden Männer mit erregten Augen forschend an. Jirmijah hatte einen schmalen Jüngling von blasser Gesichtsfarbe verlassen, dem das schwache Bärtchen in unordentlichen Inseln die Backen entlang sproßte. Er fand einen stämmigen Mann wieder, der beinahe zu leichter Dicklichkeit neigte und nach gutem Brauch eine nackte Oberlippe und den spitzen Kinnbart trug. Doch viel überraschender noch hatte sich für die Augen Baruchs Jirmijah verändert. War es möglich, daß der langwimprige Mann mit der mädchenhaft zarten Gesichtshaut, die unter der Flut und Ebbe des Herzens errötete und erblaßte, in den Jahren zu Noph sich soviele Falten und Runzeln erworben hatte? Und siehe, dieser Mann, den seine Mutter noch immer »Jüngstes Kind« nannte, war an den Schläfen ein klein wenig ergraut, und seine Backenknochen traten scharf und streng hervor. Nach dem großen Rechten und dem Tode deines Heldenkönigs, in welche Höllen bist du hinabgestiegen, Jirmijah, dort unten im Zweiland des Nil? Doch der, dem diese Frage hätte gelten können, er hielt die Erfahrung der Hölle in sich streng verwahrt. Niemals sollten die unreinen Gesichte der Amenti über seine Lippen treten. Selbst Baruch, der Altvertraute, erfuhr nichts von Mauernbrecher und Hinter-sich-Schauer, von den Prüfern und Schreckern, den Erpressern und Bezwingern, von den unseligen Seligen und der geretteten Erscheinung Zenuas. Längst schon hatte sich Jirmijahs Blick von dem Jünger abgewandt und nach Norden gerichtet, wo im versinkenden Vollmond das Berggelände Jerusalems verschwamm. Die tiefe Querfalte über der Nasenwurzel Jirmijahs verriet eine wilde Entschlossenheit und einen Willen zum Kampf, der Baruch bei diesem Zartgebornen als ein unbekannter Zug in Erstaunen setzte. Jirmijah schien einen neuen Jirmijah aus sich herausgemeißelt zu haben, ein unzufriedener Steinmetz seiner selbst. Sie ritten, wie sie es seit Jugend gewohnt waren, Jirmijah voran und Baruch eine Eselslänge hinterdrein.

   

Das feste Stadttor, in welches die große Südstraße des Goldes und Weihrauchs einmündete, hieß das »Taltor«, da es sich hoch über dem Tal Ben-Hinom erhob. Auffälligerweise war es an diesem Morgen verrammelt und von einer doppelten Kette königlicher Leibwachen besetzt. Jirmijah und Baruch mußten daher nach Aufgang abbiegen und unter der unregelmäßig geführten turmreichen Stadtmauer den Weg entlang reiten, um das nächstgelegene Tor zu erreichen. Dies war das »Scherbentor«, das die Mauern Jerusalems knapp vor ihrem Südende durchbrach, dort, wo sie oberhalb der königlichen Gärten zu einem spitzen Winkel zusammenliefen. Vor diesem durch Wachtürme und Bollwerke gut gesicherten Scherbentor dehnte sich ein trostloser, abwärts geneigter Anger, dem es seinen Namen verdankte. Denn hier befand sich die Miststätte, wo die ganze Stadt ihr zerbrochenes Geräte und Geschirr hinaustrug und ablagerte. Fünf Scherbenpyramiden häuften sich hier alljährlich auf, morgens und abends von einer Krähenschar weiblichen Bettelvolkes umtanzt, das mit leidenschaftlichen Krallen herumwühlte, um unter Bruch und Gelumpe am Ende eine verlorene Kostbarkeit der Reichen zu entdecken. Es konnte nicht wundernehmen, daß dieser Anger seines unwürdigen Zweckes halber als verrufener Ort galt. Hier war der Lieblingsplatz der bösen Geister, des Wandervolkes, dem man keinen Einlaß gewährte, und der Selbstmörder, die zum Erhängen einige knorrige Sykomoren vorfanden. Daß an dieser Stelle, je und je, der Vollzug der gerichtlichen Steinigung stattfand, das versteht sich von selbst. Der Anger führte viele Namen, von welchen »Hakeldama«, Blutanger, im Volke der geläufigste war. Die Vornehmen aber, die nach geistlicher Sitte den beschönigenden Ausdruck der nackten Wahrheit vorzogen, nannten ihn harmlos den »Töpferacker«. Unter den elenden Verkaufsbuden nämlich, die für die Bedürfnisse der Armen sorgten, gab es auch zwei Töpferstände, die damit rechneten, daß zerscherbtes Geschirr nach Ersatz schrie.

Als Jirmijah und Baruch den letzten Mauererker umritten hatten, sahen sie zu ihrer Betroffenheit, daß auch das Scherbentor von Bewaffneten besetzt, der Blutanger aber von einer dichten Menschenmenge überflutet war. Sie banden ihre Tiere an einen Mauerring, in dessen Nähe ein Wachtposten stand. Dieser gab ihnen für den Auflauf dort unten nur die mürrisch-einsilbige Erklärung: »Sie erwarten den König.« Unheilahnend eilten sie näher. Die Morgensonne stand hoch über dem Ölberg. Auf den Zedern, Säulchen, Kuppelchen, Springbrunnen der königlichen Gärten flitzten spielerische Lichter. Sie drängten sich durch die aufgeregte Menge. Man stieß sie immer wieder zurück. Hohnworte fielen. Jirmijah erkannte, daß sich das Volk Jerusalems seit den Tagen Josijahs gewaltig gewandelt hatte. Gesichter wie das seine, auf denen der Geist des Herrn lag, erregten Mißbehagen, Spott und Haß. Hingegen waren niedrige, stumpfe, entschlossene und rohe Züge, früher verachtet, zu einem unverkennbaren Ansehn gelangt. Das Gefühl, verhaßt zu sein, gab Jirmijah Kraft. Mit dem adligen Anspruch des Überlegenen schob er den Widerstand zur Seite, bis sie endlich in der vordersten Reihe der Ansammlung standen. Von der königlichen Leibwache wurde mit gespannten Seilen der geräumige Platz vor dem Scherbentor freigehalten. In der Mitte war ein kleines Gerüst mit dem Hochsitz des Königs errichtet, zu dem Stufen emporführten. Einige Hoffürsten und Machthaber erwarteten hier schon ihren Herrn. Es waren fast durchwegs neue Männer. Jirmijah erkannte nur zwei unter ihnen: Elnathan, den stets mißgelaunten Haudegen, der einen veilchenfarbenen Mantel und Helmbusch trug; und einen Vetter Jojakims, der zu Lebzeiten Josijahs niemals verabsäumt hatte, den großen König seine Nichtachtung spüren zu lassen. Dieser Davidsprinz mit seinem vorstoßenden Kinn und dem schmallippig-verbissenen Mund hieß Jerachmeel. Elnathan und Jerachmeel standen zur Seite des Hochsitzes.

Baruch atmete auf. Die Zurüstungen ließen nicht darauf schließen, daß ein Mann durch Steinigung gerichtet werden sollte. Es mußte sich um eine der überraschenden Veranstaltungen des Königs handeln, der es liebte, das Volk in Atem zu halten. Vermutlich trug er im Sinne, sich auf seinem Hochsitz als Richter und Redner aufzuspielen, denn nichts freute ihn am Königtum mehr, als seine Stimme erschallen zu lassen. Kaum hatten Jirmijah und Baruch ihren Platz gefunden, als eine Schar der Leibwache durch das Scherbentor brach und eine waffenstarrende Gasse bildete. Eljakim-Jojakim, der König, war da. Dieser aber lebte in ständiger Furcht vor Mördern und tat keinen Schritt ohne Umscharung und Schwertschutz. Jojakim erstürmte den Hochsitz. Leere Nachäfferei seines Vaters, den er verraten hatte, dessen Werk er verkehrte und der ihn noch im Tode bis in seine mageren Gliedmaßen hinein beherrschte. Dieser knallende Hervortritt bewies Jirmijah, daß hier mit ärmlichem Leibe ein übervolles Leben erheuchelt wurde. Der eitle Wille, den neuen David zu spielen, war bis zum Reißen angespannt. Dazu aber stand die Gewandung in mißlichem Gegensatz. Unter der himmelblauen Schimla der Davidsöhne trug Jojakim den gesteiften Hüftschurz der Götter Ägyptens und den farbigen Schulterkragen. Hinter ihm stellten sich die Kämmerer mit Panieren und großen Pfauenwedeln auf, als sei er Pharao. Und der König ließ seine Stimme hoch und gellend über den Anger erschallen. In dieser Stimme war freilich keine geringe Gewalt, welche Schrecken verbreitete, das Volk verstummen ließ und nach wenigen Augenblicken hinriß. Sie kreischte und überschlug sich vor Haß, wurde aber gleichzeitig von wachem Gaukelsinn verschlagen gezügelt:

»Merke dir's, Jerusalem«, gellte die Stimme über die Menge, »der König herrscht, der König geleitet dich. Er hebt auf, was dir schadet, er setzt ein, was dir nützt. Die Satzung des Gerichtes ändert er um deinetwillen und weil dein Vorteil in der Welt es begehrt. Er nimmt auf sich das Blut des Frevlers. Ja, Frevler sind sie alle, die Hetzer, Empörer, Unruhestifter, die im Namen Adonais wider seinen Gesalbten schüren und das Haus, das er erbaut. Der König aber wird nicht erlahmen. Denn groß sollst du sein und frei, kleines Jehuda, unter den Völkern ...«

Bei dieser Stelle brach gröhlender Jubel aus der Brust der Menge. Jojakims wacher Gaukelsinn hatte den großmännischen Nerv getroffen, den billigsten der Völkerlenkung. Denn die Amenti ist in allen Menschen verborgen, vorzüglich aber in Menschenmengen. Die Toten wollen hören, daß sie leben, die Kleinen, daß sie groß sind, und die Unterlegenen, daß sie gesiegt haben. Und die Stimme Jojakims erhob sich noch schneidender über den Jubel, den sie immer wieder aufpeitschte:

»Wer aber will dich aus deinem Erbe werfen, Jerusalem? Wer will dich den Feinden dienen lassen in Ländern, die du nicht kennst? Der Herr ist es nicht, der oben im Himmel wohnt und dich in dieses Land gebracht hat. Aber jene sind es, die Seinen Namen ewig im Munde führen, weil sie dich hassen, weil sie dich geringer haben wollen als den Auswurf der Völker, öffne ihre Köpfe und keinen Adonai wirst du darin finden, sondern nur den Haß gegen dich und deinen König ...«

Der Wutschrei, den diese Wendung der Menge entlockte, war so gewaltig und erneuerte sich immer wieder, daß selbst die gellende Stimme Jojakims darin unterging. Jirmijah, dem alles Blut zum Herzen strömte, packte das Sperrseil, als wolle er es zerreißen. Baruch aber packte Jirmijahs Hände mit pressendem Griff, um ihn von einer Wahnsinnstat zurückzuhalten. Bald jedoch erstarrten sie beide, denn das Grauenhafte dort ereignete sich so schnell, daß nichts Menschliches mehr es abwenden konnte. Von kurzgeschürzten Männern wurde eine halbnackte, um und um verschnürte Gestalt krachend auf die Bretter vor Jojakim geworfen. Ob dieser menschliche Warenballen lebendig oder tot, bewußtlos oder bei Sinnen war, ließ sich nicht unterscheiden. Jirmijah strengte seine Augen an, um den heiligen Umgänger des Herrn, Urijah ben Schemajah, zu erkennen, den er vor wenigen Monden noch zu Noph in kindlicher Ehrfurcht getröstet und gestreichelt hatte. Jetzt erkannte er den Mann Adonais nicht mehr, der ihm einst den Glauben an sich selbst und an seine echte Aussonderung gegeben hatte. Er sah nur ein gelbes knochiges Etwas, das von den Kurzgeschürzten emporgerissen und vor dem König in die Knie geworfen wurde. Eisige Totenstille brach ein. Das gelbe Etwas wimmerte und jammerte nicht, schien unendlich gleichgültig. Sein hochgetürmtes Haupt neigte sich beinahe schläfrig auf die linke Schulter. Urijah mußte rettungslos sterben für Gottes Wort. Wann würde der erste spitze Stein von hinten gegen seinen Schädel sausen? Doch wer konnte dieses Grauen vorherdenken, das den Mord an einem Gerechten noch teuflisch verzerrte!? Nicht schlossen erloste Männer der Gemeinschaft einen Kreis um den Unschuldigen, ihn durch Steinigung auszurotten aus Israel. Ein einziger erhob seine Hand jetzt, der König. Ihm wurde ein breites Schwert gereicht. Was ein König tut, das ist nicht die zufällige Tat eines Sterblichen, aus Haß, Angst, eitlem Wahn und Rachsucht geboren. Was ein König tut, das bedeutet, das reicht vom Oberen ins Untere, das ist ein Blitz, der am Himmel zur Dauer erstarrt. Schon lassen sich die Schriftmeister nieder, es einzuzeichnen in das Gedächtnisbuch der Könige für alle Zeit. Da es keinen Nachrichter gab im Lande, die stellvertretende Tat zu tun, so war es an ihm, den Erzfeind zu treffen, den Sprecher des Wortes, das nicht sein durfte, wo das Wort des Königs war. Jojakim hatte die Schimla Davids abgeworfen und stand, die Schärfe des Schwertes prüfend, in seinem armseligen Kleinwuchs da. Kein Schulterkragen Ägyptens, keine Spangen, Armringe, Gelenksbänder konnten es verhüllen, daß der König Jehudas spindeldürre Ärmchen besaß. Jetzt hob er das Richtschwert, schwang es überm Kopf, dem Volke die Kraft seiner Schwäche beweisend, und ließ es auf das gelbe knochige Etwas niedersausen. Der falsch geführte Hieb fuhr in die Schulter des Künders. Ein Blutquell färbte sie. Urijah brüllte kurz und tief auf. Jojakim aber sprang weit zurück, das entsetzte Gesicht von Ekel verzerrt. Er schwankte, als würde ihm übel, warf das Schwert fort und rettete sich durch eine Riechbüchse, die er an den Mund preßte, vor einer Ohnmacht. Indessen hatte einer der Krieger das Schwert aufgehoben und mit zwei schädelspaltenden Streichen das Werk der Ausrottung vollendet. Der König und sein Hof verließen die Stätte dieser Tat noch schneller, als sie sie betreten hatten. Mitleidige hüllten den ausgebluteten Leichnam in die bereitgelegten Tachrichim und schleppten ihn zu der Begräbnisstätte der Armen am Rande des Töpferackers. Das Sperrseil wurde eingezogen. Die Menge löste sich allgemach auf. Um die große Blutlache vor dem Gerüst drängte sich ein Kreis von Schweigenden oder Weinenden. Jirmijah aber stand regungslos an seinem Ort und dachte und dachte ...

   

Plötzlich hob er den Kopf. Sein Auge fiel auf einen der Töpferstände. »Einen Opferkrug ... den größten«, stieß er mühsam hervor. Der verständige Baruch wußte sofort, daß dieser Befehl nicht nur aus einem durch seine Hilflosigkeit zerrissenen Herzen, sondern aus dem Willen des großen Auftraggebers getreten war. Eilig sprang er hin und erstand den größten Krug des Töpfers. Es war ein sehr hohes, breitgebauchtes Gefäß, wie es von der Pilgerschar einzelner Dörfer zum gemeinschaftlichen Trankopfer in den Tempel gebracht wurde. Steinhart gebrannt, wie Lack geglättet, mit schwarzen Leisten und einem vergoldeten Rand geziert, konnte es zwei Bath, das sind zwei Eimer Weines fassen. Das Gewicht auch des leeren Kruges war so bedeutend, daß ihn Baruch nicht ohne Mühe heranschleppte. Jirmijah aber, dessen Augen in Tränen schwammen und der schluchzend atmete, ergriff den mächtigen Opferkrug leicht mit beiden Händen und hob ihn nach Art wassertragender Frauen auf sein Haupt. Baruch erschrak über diesen Beweis einer verborgenen Körperkraft, die nicht allein seines Meisters Kraft sein konnte. Er hielt sich dicht hinter Jirmijah, um bereit zu sein, wenn diesen die geliehene Stärke verlassen sollte. Der aber trug unermattbar das Gefäß des Gemeindeopfers, das sonst von mehreren Männern an den Henkeln geschleppt wird, gleich einer nichtigen Last auf dem Kopf. Dabei drehte er sich langsam um seine Achse wie ein Tänzer, wie ein Geschicklichkeits-Gaukler, der die Jahrmärkte in Staunen versetzt. Es gelang ihm durch dieses seltsame Tun auch, immer mehr Menschen um sich zu versammeln. Die Leute fingen an zu lachen und zu spotten. Denn dieser Mann war gewiß ein Besessener, ein Narr der freundlichen Sorte, mit dem man seinen Spaß haben konnte. Einen Besessenen zu necken, das war jetzt die rechte Entspannung. Schon fielen die platten Scherzreden, die foppenden Stichelworte, die das Stadtvolk immer bereit hat. Doch sie verstummten jäh und machten einer bestürzten Stille Raum, als der närrische Besessene seinen zuckenden Mund öffnete, und die unbekannte oder vergessene Stimme erklang, die des Künders aus Anathot Stimme war. Der Mann schien ganz aufgesogen von seiner Stimme, die ihm zum Worte diente. Da war kein Gellen und schneidendes Kreischen. Tief, voll, rund trat sie hervor, wenn auch von Stößen des inneren Schluchzens geschüttelt. Jirmijahs Stimme aber lud das Volk ein:

»Ihr Könige, Fürsten, Priester, Männer und Weiber dieser Stadt, kommet mit mir, eine Tat des Herrn zu sehen, ein Wort des Herrn zu hören!«

Was die Menschen plötzlich festbannte, war mehr als die Neugier für diesen vermutlich priestergeborenen Mann, der sich seiner Würde begab und gauklerhaft einen mächtigen Tontopf auf seinem Scheitel in Schwebe hielt. Es war auch mehr als die herzbewegende Macht dieser neuen Stimme. Es war der ungeheure, ganz und gar aberwitzige Mut, den selbst diejenigen an dem Manne verspürten, die der gegenwärtigen Königsherrschaft leidenschaftlich anhingen. Noch war kaum der vierte Teil einer Stunde vergangen, seit der älteste und berühmteste Künder des Zeitalters auf der Schlachtbank geschlachtet worden war, und schon erhob sich ein andrer in unverfrorner Tollheit, den Spruch Gottes zu sprechen, der gewiß keinen Schmeichellaut für Jojakim enthielt. Als ob die Seele des Getöteten in aller Geschwindigkeit nur den Leib gewechselt hätte, um dem König zum Hohne unzerstörbar fortzukünden, so war es. Diese Tollköpfigkeit verschlug selbst dem gewaltliebenden Pöbel den Atem. Kriegshelden trugen Panzer und Schild und standen mit Hunderten in Reih und Glied. Wo aber waren Panzer und Schild, Reih und Glied dieser einsamen Männer? Da geschah es, daß selbst in mancher stumpfen Rohlingseele die Ahnung der einzigen Kühnheit aufschimmerte, die auf dem weiten Schlachtfeld der Erde einiger Rede wert ist, der Kühnheit des Geistes. Im übrigen hatte das blutige Tun Jojakims, dessen sinnbildhafte Bedeutung durch den Fehlstreich verdorben war, dem Ansehen des Königs insgeheim Abbruch getan.

Zuerst waren es nur einige Mädchen und Frauen, die Jirmijah folgten. Dann kamen einige Haufen meist älterer Männer zögernd hinzu, die sichtlich ihre Furcht überwanden, ein verbotenes Wort zu hören, danach ihr seit Jahren bedrücktes Herz gierig verlangte. Verhungerte und elende Gestalten waren unter ihnen, die nicht genug Lumpen hatten, ihre Blöße zu decken. Zuletzt schloß sich von der Jugend an, was auf dem Blutanger zurückgeblieben war, mit neugierigen, mißtrauisch oder gar feindselig blinzelnden Augen. War dieser Mann, dieser tanzende Narr, einer von jenen, die nicht wollten, daß dieses kleine Jehuda groß werde und mächtig unter den Völkern!?

Zehn Schritte vor dem Scherbentor blieb Jirmijah stehn. Die Menge trat erwartungsvoll hinter ihn zurück. Er preßte die Lider zusammen und wankte, als müsse er unter der Last des Kruges zusammenbrechen.

Plötzlich aber wurde sein Antlitz blutrot vor rasendem Zorn. Er hob das mächtige Tongefäß mit verwunderlichen Kräften hoch über sein Haupt und zerschmetterte es auf dem Pflaster vor dem Torbau in tausend Scherben.

»Spruch des Herrn«, brach es laut weinend aus ihm. »Also will ich zerschmettern dieses Volk und diese Stadt wie ein Töpfergefäß, das nichts wieder ganz und heil macht ...«


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