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Ich hatte hier in Paris an einem hellen Vorfrühlingstag des Jahres 39 die letzten Seiten dieser Geschichte einer Magd niedergeschrieben. Und an demselben Tag kam durch eine jener sinnreich unentwirrbaren Verknüpfungen, die Zufall heißen, Livia Argans Brief mit der Mittagspost. Es war das erste Lebenszeichen meiner Freunde seit mehr als einem Jahr. Man wird ermessen können, mit welcher Mischung aus Schreck, Freude und Angst ich diesen Brief öffnete oder, besser, minutenlang nicht öffnete. Livia schrieb sehr vorsichtig. Doch durch den verschleierten Rätselstil hindurch, der den Untertanen der modernen Despoten auferlegt ist, sah ich schon bei der ersten Zeile, daß sich unerwartet Gutes ereignet hatte und daß Livias Herz in neuer Hoffnung blühte. Vor allem: Leopold war frei. In dem Brief hieß es, er sei braungebrannt vom Wintersport heimgekehrt. Der braune Satan hatte ihn also aus seinen Krallen entlassen, und wenn ich gewisse Andeutungen richtig verstand, schienen die Nerven meines empfindsamen Freundes nach fast einem Jahr Konzentrationslager noch nicht zugrunde gerichtet zu sein. Livia schrieb sogar ausdrücklich über die ruhige und abgeklärte Geistesverfassung, deren sich Leopold »trotz seiner übermäßigen sportlichen Leistungen« erfreute. Auch Doris ging es viel besser. Sie stellte nach den Worten ihrer Mutter eine Art medizinisches Wunder vor. Die Lähmungen waren bis auf eine leichte Schwäche im linken Bein vollkommen zurückgegangen, und von irgendwelchen Trübungen des Bewußtseins war nicht mehr die Rede. Um die letzten Spuren der entsetzlichen Krankheit auszutilgen, wollte Livia mit dem Kinde nach Lourdes wallfahren, wovon sie sich völlige Heilung versprach. Sie, die in unseren Gesprächen zumeist die Rolle der unbestechlichen Zweiflerin gespielt hatte, schrieb mit einer gläubig erregten Inbrunst von Lourdes, die mir an ihr ganz fremd war und mich erschütterte. Was alles mußte ihre Seele seit Philipps Tod ertragen und überstanden haben? Vielleicht war die glänzende Wiederherstellung von Doris doch nicht so ausgemacht, wie sie hoffte. Warum sonst der Weg nach Lourdes? Im übrigen berichtete sie, daß seit einigen Wochen das Kind seine Gesangstudien wiederaufgenommen habe und daß die Stimme schöner und rührender klinge denn je.
Livia bat mich, ein nettes und billiges Hotel ausfindig zu machen, denn Leopold, Doris und sie würden spätestens in vier Wochen in Paris eintreffen. Bei dieser Stelle ließ ich den Brief sinken. Ich hatte also mit meinen zudringlichen Bitt- und Bettelaktionen, die mich, einen bemerkenswert schlechten Supplikanten, bis in ein Ministerzimmer geführt hatten, offensichtlich Erfolg gehabt. Was ich längst nicht mehr zu denken wagte, es schien gegen alle skeptische Vernunft am Ende doch eine Intervention von Seiten der hiesigen Regierung erfolgt zu sein. Leopold Argan war nicht nur frei, er durfte sogar die Grenzen seiner geschändeten Heimat verlassen und hatte vermutlich schon für sich und die Seinen das sonst fast unerschwingliche französische Visum in der Tasche. Dieser zweite März war der beste und stolzeste Tag meines bisherigen Exils.
Ich lief wie närrisch in meinem Hotelzimmer hin und her. Im Blitztempo meines unheilbaren Illusionismus träumte ich mir eine liebe wunderschöne Zukunft zusammen. Die Emigration gewann plötzlich einen höheren Sinn, denn sie vereinigte mich mit meinen Freunden auf einer neuen Stufe des Lebens. Wie tief war ich in der Schuld der Argans, seit zwei Jahrzehnten schon. Sie hatten an mir gehandelt wie an einem Bruder, ach, der Vergleich ist falsch, denn an leiblichen Brüdern handelt man im allgemeinen nicht halb so freundschaftlich. Ich erkannte grell, wie sehr mich meine peinlich offene Lebensrechnung bisher gequält hatte. Nun aber würde ich ein kleines Häuschen für die gemeinsame Menage mieten. In einer der reizenden Ortschaften der Banlieue, am besten an den Ufern der Seine. Vielleicht in Malmaison oder in Levesinet. Da gab es sehr hübsche Villen mit drei oder vier Zimmern, inmitten gepflegter Gärten, die man schon für fünfhundert Franken im Monat zu mieten bekam. Eine Filmgesellschaft hatte bei mir angefragt, ob ich die Ausarbeitung eines bestimmten Szenariums übernehmen wolle. Es handelte sich um ein dummes, ja um ein unwürdiges Sujet, das ich inbrünstig verabscheute. Ich hatte mich bisher trotz meiner äußerst mageren Einkünfte vor Arbeiten bewahren dürfen, die nicht auf meinem eigenen Acker gewachsen waren. Sofort entwarf ich nun ein Telegramm an jene Filmgesellschaft, in welchem ich das Angebot annahm und um den Vertrag bat. Ich ertappte mich dabei, daß ich mir beinah wünschte, die Argans würden ohne alle Mittel ins Exil gehen, damit ich für sie sorgen dürfe fortan. Der ewige Gast fühlte sich plötzlich in der erhabenen Rolle eines Pater familias. Erst am Abend dieses glorreichen Tages erkannte ich, wieder ernüchtert, wie zweideutig auch unsere sogenannten edlen Regungen sind. Mein stürmischer Wunsch nach Dankerstattung war rettungslos an den Trieb der Selbstüberhebung gekettet. Verfluchtes Ich, das nicht einmal in der Liebe und Sympathie über seinen eigenen Schatten springen kann! Leopold und Livia waren trotz aller Künstlerschaft keine vagabundierenden Gäste des Lebens gleich mir, sondern Herren ihres Hauses. Auf der Messerschneide der Wahl zwischen dem Vaterland der Grausamkeit und der Grausamkeit jeder Fremde, was mußten sie leiden? Ich dachte nicht an sie. Ich dachte nur an mich und daß mir schon nach vier Wochen ein neues Leben in der Nähe Livias beschert sein würde, hundertmal enger, intimer, wärmer als das frühere. Mein Blick umfing mit einer Freude, deren Kraft ich schon verloren zu haben glaubte, eine Fotografie der Terrasse von Grafenegg, auf der sie alle vier umschlungen nebeneinander standen, auch Philipp. Es war dies ursprünglich ein kleines Amateurbildchen, das ich hier in Paris hatte vergrößern lassen.
Ich legte den Brief neben das offene Manuskript der Legende. Die Tinte der letzten Zeilen war noch ganz licht. Tetas Name sah mich mit den hellen Augen dieser Schrift an. Mir war's, als spräche der harte Tonfall ihrer Stimme zu mir. Ich konnte sie aber nicht verstehen. Unmöglich, länger allein zu bleiben an diesem Tage! Ich hatte nur sehr wenig Bekannte in Paris. Wen sollte ich aufsuchen? Sofort fiel mir der Kaplan Johannes Seydel ein. Er wohnte in einem Hotel am anderen Ufer, in der Rue de Seine. Das Sirenengeheul der Mittagsstunde in meinem Quartier verebbte soeben. Ich rief Seydel an und fragte ihn, ob er Lust habe, mit mir irgendwo in der Banlieue zu speisen. Er war einverstanden. Eine halbe Stunde später trafen wir uns auf der Gare Saint Lazare. Wir nahmen den nächsten Vorortzug nach Saint-Germain-en-Laye. Dort aßen wir in einem kleinen Restaurant des Schloßplatzes zu Mittag. Als wir nachher am Bahnhof vorbei das Gittertor des berühmten Parks durchschritten, wurden gerade die neuen Zeitungen ausgerufen. Auf der ersten Seite der Blätter sahen wir mächtige Bilder aus dem Vatikan. Vor mehr als zwei Wochen schon war Pius der Elfte gestorben, die Worte »Gesu« und »Pace« auf den Lippen. Jetzt ruhte er lange schon in der Krypta von Sankt Peter. Die Sedisvakanz ging zu Ende. Das Konklave hatte begonnen. Vielleicht wurde schon heute von der Loggia der Stadt und dem Weltkreis verkündet: »Habemus papam.«
Der Park von Saint-Germain ist eine der schönsten und ältesten Anlagen Europas. Den Hauptteil bildet ein riesiger Eichenwald, der sich meilenweit ins Land zieht. Ich bin überzeugt, daß sein Ursprung auf einen heiligen Druidenhain zurückreicht. Dafür spricht eine tausendjährige Wundereiche, deren heidnische Tradition trotz oder in dem Madonnenbild fortbesteht, das sie schmückt. O Frankreich, Land der Bäume, aus deren Geäst deine Heiligen die weissagenden Stimmen vernehmen! Noch griff das Wipfelgewölbe der Eichen kahl wie ein breitmaschiges Netzwerk in den blassen Himmel, der soeben von einer schweren Krankheit genesen zu sein schien. Ein paar Krähen taumelten zwecklos durch die Luft, und eine einzige ebenso freche wie verfrühte Amsel mit frisch gestrichenem Gelbschnabel hüpfte über unseren einsamen Weg. Wir gingen zu der von Le Nôtre erbauten Terrasse hinab. Sie gleicht einem endlosen Kai, der am Steilufer eines mächtigen Binnensees entlangwandert. Dieser Binnensee in der Tiefe ist das verschwebende dunstige Seinetal, an dessen jenseitigem Ufer die Vorstädte von Paris liegen. Beim Rosarium setzten wir uns auf eine Bank und sahen schweigend hinaus. Es war warm wie an einem Maitag. Das junge Licht des Jahres aber tat noch nicht weh. Ganz in der Ferne überm Montmartre, in Schwebe gleichsam zwischen Himmel und Erde, aufleuchtete manchmal die Gralsburg von Sacré-Cur, eine Fata Morgana des Glaubens in der Wüste.
»Sie werden sich erinnern, lieber Freund«, begann ich nach einem längeren Schweigen, »in diesem Winter haben wir uns immer wieder über eine gemeinsame Bekannte unterhalten. Die alte Köchin meiner Freunde Argan. – Es wird Sie übrigens interessieren, Leopold Argan ist endlich freigekommen, und ich erwarte ihn und seine Familie in den nächsten Wochen.«
»Das ist schön, da freu' ich mich aber für Sie«, lächelte der Kaplan aufrichtig und kindlich. Ich verglich ihn mit dem jungen Menschen, den ich in meiner Geschichte geschildert hatte. Er schien längst nicht mehr so jugendlich und fröhlich zu sein wie jener Schutzengel Tetas auf der Pilgerfahrt. Sehr mager sah er aus, blaß und fast gelbsüchtig und hatte nichts mehr von einem Athleten an sich. Wahrscheinlich war er ziemlich verhungert. Wovon soll auch ein nicht inkorporierter Geistlicher im Exil leben? Der graue Anzug machte einen überaus geschonten Eindruck. Mir fiel auf, daß Seydel zwar sehr abgetragene schwarze Schuhe anhatte, gleichzeitig aber neue Handschuhe aus hellem Glacéleder. Ich wollte einiges erfahren, was ich noch nicht wußte. Solange ich an meiner Geschichte gearbeitet hatte, war es mir peinlich gewesen, immer wieder von demselben anzufangen. Jetzt tastete ich mich vor: »Sie haben mir so viel von den letzten Tagen dieser Teta Linek erzählt und all die erstaunlichen Briefe und ihre letzten Verfügungen gezeigt. Eines aber ist mir noch nicht klar. Was ist eigentlich aus dem Geld geworden, aus der Erbschaft, mein' ich?«
»Wasser«, lachte Seydel, und es klang lustig und höhnisch zugleich. »Das kommt daher, wenn man anständig handeln will. Aber Scherz beiseite, ich wollte gar nicht anständig handeln. Ich hatte ja nicht den geringsten inneren und äußeren Anspruch auf die Erbschaft.« – Gleich nach Tetas Begräbnis, fuhr er fort, habe er die Summen der italienischen Behörde übergeben, die den Akt über die Verstorbene aufnahm. Sofort erfolgte die Sequestrierung des Schatzes. Devisenvergehen, Erbschaftsteuer, Gott weiß was noch, ein sehr komplizierter Fall zwischen zwei Staaten. Der Kaplan habe damit auch daheim noch eine Menge Scherereien gehabt und sei immer wieder allen möglichen amtlichen Inquisitionen unterworfen worden. Unverzüglich habe sich eine äußerst energische Dame in das Spiel der verschiedenen Finanzstellen sehr resolut eingeschaltet. Eine gewisse Katherina Zikan, eine Staatsbeamtenwitwe, der Teta Linek leibliche Schwester. Wie das Spiel ausgefallen sei, das wisse der Kaplan nicht mehr genau. »Das Ende Österreichs hat uns überholt«, sagte er. »Ich zweifle aber nicht, daß die Dame Zikan Siegerin in diesem Kampf geblieben ist. Denn genauso ist die Welt!«
»Schlimm für Teta«, sagte ich, »sie wird sogar in ihrem Himmel toben, wenn sie's erfährt. – Aber Sie haben recht. Genauso ist diese Welt.«
Mich hielt etwas zurück, nach dem Schicksal von Fräulein Iren zu fragen. Ob sie lebte oder nicht, die beiden waren getrennt, wahrscheinlich für immer.
»Nehmen Sie mir meine Neugier nicht übel«, fing ich nach einer Weile wieder an. »Aber ich muß mich vor Ihnen zu einer Schuld bekennen. Ich hab' nämlich die Geschichte der Teta Linek niedergeschrieben. Auch Sie kommen darin vor, lieber Herr Kaplan, und ich hoffe, wahrheitsgemäß. Es ist eine Art Vita, die Biographie einer Magd.«
»Eine Biographie«, fragte er und sah mich verletzt an.
Ich spürte seine Kritik sofort, wollte sie aber durch Scherze überwinden: »Meine Kollegen schreiben scheffelweise Biographien über Nebukadnezar, Dschinghis-Khan, Semiramis, Landru und den Schah von Persien. Warum soll ich Widerspruchsgeist nicht die Biographie einer böhmischen Köchin schreiben? Es ist übrigens gar keine Biographie.«
Seydel sprach vor sich hin, ohne mir sein Gesicht zuzuwenden. Ich hatte die Empfindung, er wolle Teta vor mir schützen:
»Und aus welchem Grunde haben Sie das geschrieben?«
Es war die Wahrheit, zu der ich mich bekannte:
»Angefangen hab' ich damit, um hier im Exil eine Weile wieder mit meinen Freunden zu leben und in ihrem Haus in Grafenegg, mit dem auch ich sehr viel verloren hab'.«
Johannes Seydel schien mit dieser meiner Wahrheit nicht zufrieden zu sein.
»Das ist doch kein Grund«, sagte er, »um einen einfachen Menschen, der doch im allgemeinen Sinn gar nicht interessant ist, zum Helden eines ganzen Buches zu machen.«
Die Ablehnung des Kaplans brachte mich in Bedrängnis. Ich mußte alle meine Kraft zusammennehmen:
»Sie haben recht«, gab ich zur Antwort. »Das ist kein Grund. Aber gibt es überhaupt einen Grund in diesen Dingen? Ich habe Teta Linek oft gesehen, ich hab' ein paarmal mit ihr gesprochen. Eine schreckliche Nacht mußte ich mit ihr gemeinsam am Totenbett eines jungen Menschen durchwachen. In dieser Nacht konnte ich das beklemmende und doch auch erhebende Gefühl nicht loswerden, diese alte fromme Jungfer sei ein besonderer Mensch, ein Held in ihrer Art, wie Sie sagen, ich fühlte mich damals klein. Später hab' ich die Briefe des famosen Neffen gelesen und von Ihnen selbst die Geschichte der Pilgerfahrt nach Rom gehört. Ich kenne also die Person anders, als der Schriftsteller gewöhnlich seine Geschöpfe kennt. Er muß sie entweder erfinden, und das ist zumeist ein bedenkliches Verfahren, oder es sind historische Bombennummern, die er aus anderen Büchern zusammenkratzt. Teta Linek aber ist keine Erfindung, ist kein Mosaik, sie ist wirklich, sowohl außerhalb meiner als in mir. Sie hat nicht aufgehört, in mir zu sein und zu wachsen seit jener Nacht am Totenbette Philipp Argans, trotz allem, was inzwischen geschehen ist. Ich habe im letzten Jahr von Hunderten furchtbaren Liebestragödien gehört und gelesen. Denken Sie nur an die vielen Schiffe, die auf den Meeren verfaulen, weil kein Land ihre Menschenfracht aufnehmen will. Jedes einzelne dieser Schicksale wäre vermutlich wichtiger und würdiger, gestaltet zu werden, als die Geschichte von einem betrogenen Dienstmädchen. Doch gegen alle diese von Aktualität gellenden Schicksale hat sich Teta Linek in meiner Phantasie zähe durchgesetzt. Ich weiß nicht warum. Es ist halt ihre Kraft. Sie ist hier in Paris bei mir in meinem Hotelzimmer geblieben und war nicht fortzubringen. Eine gebieterische Person, trotz ihrer dienstbaren Demut, das werden Sie mir zugeben.«
»Diesen Grund versteh' ich«, sagte Johannes Seydel, schien aber mit dem Vorwurf meiner Geschichte noch immer gar nicht einverstanden zu sein. Mir gefiel sein Widerstand. Er paßte gut zu ihm, der sich Tetas im ersten Augenblick schon so liebevoll angenommen hatte, daß er mich mit Strenge zurückwies. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr gehemmt, sondern sogar freier als sonst.
»Und doch, mein lieber Herr Kaplan«, sagte ich, »der eigentliche Grund für meine kleine Schrift zu Ehren Teta Lineks liegt ganz anderswo. Ich will ihn mir und Ihnen zu erklären suchen, wenn Sie mir ein bißchen Geduld schenken. Sie wissen, daß ich extra muros stehe. Sie werden aber auch aus unseren Gesprächen erkannt haben, daß ich jedem Glauben, vor allem aber dem katholischen, mit größter Liebe und Verehrung zuneige. Das ist ein Widerspruch. Bitte! Davon will ich aber heute nicht sprechen. Ich verabscheue unsagbar den allgemeinen Geisteszustand unserer modernen Welt, jenen religiösen Nihilismus, der als Erbschaft längst verschollener Eliten seit drei Menschenaltern das Gemeingut der Massen geworden ist. Verwechseln Sie mich aber nicht mit jenen Snobs, die nur deshalb als Mystiker und Orthodoxe herumlaufen, weil schon alle Schneider, Schullehrer und Journalisten wissenschaftsgläubige Atheisten sind. Bei mir geht dieser Abscheu, dieses Entsetzen vor der Leugnung einer geistigen Welt bis in die Jugend und Kindheit zurück. Wenn ich als junger Mensch durch die Straßen der Städte ging, da war mir's, als müßt' ich all diese dahinhastenden Leute mit ihren stumpfen Gesichtern festhalten und ihnen zuschreien: So bleibt doch stehen und denkt einmal nach und kostet es aus, dieses ungeheure Woher – Wohin – Warum! Ich hab' schon sehr früh erkannt, daß der Aufstand gegen die Metaphysik die Ursache unseres ganzen Elendes ist. In den protestantischen Völkern ist er logischerweise zuerst ausgebrochen, der Puritanismus hat ihn zum Sieg geführt, indem er Zeit – Arbeit – Geld an die Stelle der göttlichen Dreifaltigkeit erhob, und den tollsten Triumph dieses Aufruhrs erleben wir jetzt in unserer eigenen Heimat. Dabei ist der Aufruhr selbst noch weniger verabscheuenswert als die Gleichgültigkeit in seinem Gefolge, die kosmische Verdummung des Menschen. Ich sag's noch einmal, sie ist der absolute Urgrund all unseres Elends. Es gibt noch immer Narren, die meinen, man könne den Flecktyphus mit Aspirin heilen, weil es das Fieber heruntersetzt. Der Sozialismus ist solch ein braves Aspirin. Es handelt sich aber um eine Seelenpest. Unsere Seelen wollen nicht mehr an ihre Unzerstörbarkeit glauben und damit an ihre ewige Verantwortung. Der veruntreute Himmel ist der große Fehlbetrag unserer Zeit. Seinetwegen kann die Rechnung nicht in Ordnung kommen, weder in der Politik noch auch in der Wirtschaft, denn alles Menschliche entspringt derselben Quelle. Eine konsequent gottlose Welt ist wie ein Bild ohne Perspektive. Ein Bild ohne Perspektive ist die Flachheit an sich. Ohne sie ist alles sinnlos. In der totalen Sinnlosigkeit sind aber auch unsere natürlichen Menschenrechte sinnlos, selbst das Recht, nicht getötet zu werden. Folglich gibt es heute nur ein einziges Recht, nämlich die sogenannte Macht der Tatsachen oder das Gesetz des Dschungels. Es wird unbesiegbar so lange herrschen, als der Zeitgenosse das ist, was er ist. Da er an keinerlei Unzerstörbarkeit glauben kann, bekennt er schon das Teufelscredo. Alles ist für ihn vorübergehend und nichts bleibend, die Natur zeigt ihm, daß dieses Vorübergehende Dreck ist und in Fäulnis übergeht. Somit ist alles für ihn im Grunde Dreck. Daran kann auch die Kirche nichts ändern, wenn sie sich nur als Institution erhält und nicht von einem ungeahnten neuen mystischen Feuer entbrennt. Einmal, wenn uns Technik, Sport und Realgesinnung zum Halse heraushängen werden, dann wird die Sehnsucht nach diesem Feuer, die Sehnsucht nach einem neuen metaphysischen Bewußtsein die fortgeschrittenste Empfindung einer verwegenen Avantgarde sein. Bis dahin aber wird nichts gegen die Geistesverfassung des ungegliederten Massenmenschen aufkommen, gegen den Roboter, den motorisierten Golem, der hilflos an seinen Schmerzen laboriert und von einem Krampf in den anderen fällt. – Verzeihen Sie, verehrter Kaplan, es ist unverschämt von mir, Ihnen mit einer Predigt ins Handwerk zu pfuschen.«
Ich hatte sehr lange gesprochen und besser als im allgemeinen. Dennoch fühlte ich mich nicht sehr wohl dabei. Die leidenschaftliche Bitterkeit in meinen eigenen Worten störte mich. Was bitter ist, das ist noch nicht ganz richtig. Ich sah, daß der linke Ärmel des Kaplans ziemlich durchgewetzt war. Da erkannte ich, daß ich in meiner Philippika unserer schreienden Notdurft nicht Rechnung getragen hatte. Der Mensch lebt gewiß nicht von Brot allein, aber ebensowenig vom Geiste allein. Wenn man die materialistische Ketzerei ablehnt, kommt man leicht in Gefahr, ein spiritualistischer Ketzer zu werden. Wann endlich wird der große Mensch erstehen, der den echten Sozialismus mit der Metaphysik versöhnt?
»Sie haben mir freilich nichts Neues gesagt«, erwiderte Seydel, »ich selbst hätte es vielleicht weniger kraß und zugespitzt formuliert. Ich glaube mit der Kirche, daß auch Ihr Aufstand gegen die Metaphysik von der Vorsehung verordnet ist wie alles Weltgeschehen, wie Kriege, Revolutionen, Erdbeben und Epidemien. Er ist nichts als ein starkes Medikament, verflucht stärker als Aspirin, eine wüste Roßkur, die der Freiheit unserer seelischen Entscheidung zu Hilfe kommen soll. Gerade Menschen wie Sie sind ein Beweis dafür.«
Mein Auge hing an den großen Zillen, die in ununterbrochener Kette die Seine flußabwärts zogen. Sie erschienen mir wie ein Gleichnis, ich wußte aber nicht wofür.
»Das ist der ganze Unterschied zwischen uns«, sagte ich, »Sie haben einen festen, und ich hab' einen wirren Glauben. Zum Beispiel: Ich bin tief davon überzeugt, daß die Offenbarungen des Alten und Neuen Bundes und damit die Kirche selbst das allergrößte Ereignis der gesamten bisherigen Menschengeschichte bedeuten. Dann aber muß ich mir sagen, diese Geschichte steckt doch noch in den Kinderschuhen. Ist es nicht ziemlich hirnverbrannt, anzunehmen, daß in den nächsten hunderttausend Jahren nichts mehr in dieser Richtung erfolgen werde, und daß wir ewig angewiesen bleiben sollen auf die biblischen Ereignisse, die mit dem Jahre 33, mit Sinai und Golgatha zu Ende sind?«
»Wer nimmt das an«, lächelte der Kaplan und blickte mir jetzt zum erstenmal wieder ins Gesicht. »Nur Gott steht fest. Alles andere wandelt an ihm vorüber, auch die Kirche. Die ganze Menschheitsgeschichte ist ja nichts anderes als eine Entwicklung unseres Erkenntnisvermögens in abwechselnden Verdunkelungen und Erhellungen. Es sind noch viele Offenbarungen nicht offenbart ...«
Er unterbrach sich und suchte meinen Blick. Er schien versöhnt zu sein: »Was aber haben all diese hohen Fragen mit unserer gemeinsamen Freundin Teta Linek zu schaffen?«
»Vielleicht doch einiges«, gab ich zur Antwort. »Teta Linek war eine Persönlichkeit von großem Seltenheitswert in dieser Zeit. Sie hat ihr ganzes Leben ausschließlich im Hinblick auf das Bleibende gelebt. Ich hab' es ihr angespürt, eh' ich noch etwas von diesem Leben wußte. Zwar hatte sie von diesem Bleibenden nur primitive Vorstellungen ...«
»Wieso primitiv?« fiel er mir rasch ins Wort. »Sind nicht alle Vorstellungsinhalte der Menschen primitiv, weil sinnlich gebunden? Wir können doch nur in Zeichen denken und reden. Halten Sie diese Zeichen in Dantes Paradies etwa für primitiver als zum Beispiel in einem psychoanalytischen Buch? Wir müssen auch fein unterscheiden zwischen Einfalt und Primitivität, das sind ganz verschiedene Werte. – Aber Sie haben recht, in Fräulein Linek war ein ganz großer Durst nach Ewigkeit und Seligkeit.«
Jetzt störte mich das Wort Durst, es erschien mir fast pfäffisch.
»Warum sagen Sie Durst?« fragte ich. »War es nicht mehr? Was beweist der Durst?«
»Der Durst beweist die sichere Existenz von Wasser«, sagte der Kaplan und stand auf. Denn es war spät, und wir wollten noch bis zum Lustschloß am Ende der Terrasse spazieren.
Wir hatten noch keine hundert Schritte zurückgelegt, als durch die unnatürliche Wärme dieses Tages der silbergraue Dunst des Seinetales sich in schweren Nebel verwandelte, der in trägen Schwaden die Terrasse überflog und den Park langsam einzuwolken begann. Schweigend gingen wir weiter, obwohl wir beide dachten, es wäre jetzt besser, heimzufahren. Völlig einsam lag die Straße vor uns. Während der letzten halben Stunde war uns nur ein Reiter und eine Gruppe von Negersoldaten in feuerroten Mänteln begegnet. Da aber kam, aus dem Nebel brechend, eine Gestalt auf uns zu. Es war eine alte Frau, rundlich, untersetzt, schwarz gekleidet. Das Geländer der Terrasse streifend, trippelte und wackelte sie an einem Stock, als leide sie an Fußschmerzen. In der linken Hand trug sie ein Einkaufsnetz. Der Kaplan und ich, wir beide blieben stehen wie auf ein Kommandowort. Langsam näherte sich uns die Erscheinung. Als wir ihr aber ins Gesicht sehen konnten, da erkannten wir nicht Tetas slawisch-mongolische Züge, sondern das heitere Antlitz einer französischen Kleinbürgersfrau. Wir zogen den Hut. Freundlich dankte die Alte: »Bonsoir, Messieurs.« Nachdem sie vorbei war, drehten wir uns um. Der schwarze Rücken und der Gang gehörten wieder Teta Linek. Jetzt hatte sich der Nebel völlig geschlossen. Wir standen im Nichts oder im All. Wir sahen die alte Frau nicht mehr. Aber wir folgten ihr.