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6. Der Pfarrer von Hustopec

Teta hatte in Lundenburg, der Grenzstation, einen armseligen Bummelzug bestiegen, der die Strecke befährt, die sich bei den Ortschaften Pavlovic und Hustopec im tiefen Saatengrün der mährischen Erde verliert. Ostern lag heuer sehr weitgerückt, im letzten Drittel des April. Die Hitze aber war dem April um mehrere Wochen vorangeeilt und entsprach einem strahlenden Tage im Juni. Neben zwei Bauern, die sich eilig aus dem Staube machten, entstieg Teta als einzige Reisende dem schmutzigen Zuge. Sie holte tief Atem, als wolle sie die Heimatluft genau schmecken, ob sie sich ihrer auch erinnern könne? Dann humpelte sie an dem Stock, den sie sich zur Vorsicht in Wien gekauft hatte, durch die Bahnsperre auf die Straße hinaus, die etwa einen Kilometer weit in die Ortschaft Hustopec führt, denn man hatte die Haltestelle außerhalb des Fleckens errichtet. Teta war nicht reisemäßig, sondern feierlich schwarz gekleidet, und auf ihrem Kopfe saß ein kleiner brauner Hut, den Livia Argan vor zehn Jahren etwa getragen hatte. Das Täschchen mit ihrem Schatz hielt sie wie immer fest an die Brust gepreßt. Das neue Suitecase hingegen hatte sie dem Träger des kleinen Bahnhofes anvertraut, der es ihr auf Verlangen später in den Ort bringen sollte. Wohin in den Ort freilich, das hatte sie nicht verlauten lassen, als sie sich die Bescheinigung über ihr Gepäckstück ausstellen ließ und dem Mann nach einigem Zögern ein Trinkgeld in die Hand drückte.

Die Straße war mit blühenden Fruchtbäumen eingesäumt. Wie rosa Wolken standen sie am metallen starren Himmel. Rechter Hand dehnten sich Rübenfelder und gelb blühender Raps, linker Hand halbwüchsiges Getreide. Am östlichen Horizonte der weiten Ebene dämmerten die Vorhügel der weißen Karpaten wie ein schwacher Rauch an den Grenzen der fernen Slowakei. Die Luft ruhte bewegungslos. Kleine Waldflecken sprenkelten das Land. Vor vereinzelten Häuschen an der Straße standen Pappeln, Kastanien, Akazien und dann und wann ein früherweckter Fliederstrauch. Die Kastanienblätter glichen nicht mehr schlaffen Kinderhänden, sondern waren schon voll entfaltet. Es war eine Landschaft ohne jede Besonderheit, nicht zu vergleichen mit den berühmten Platzln im Park von Grafenegg und mit den herabdrohenden Gipfeln des Toten Gebirgs. Dennoch schüttelte Teta immer wieder den Kopf und sagte laut vor sich hin: »Aber das ist ja eine Pracht!« – wobei sie den bewundernden Ausdruck durch einen Zischlaut noch verstärkte. In den Dörfern läutete man zwölf.

Mittwegs fühlte Teta, sie könne bald nicht mehr weiter und müsse sich nun ausruhen. Es war auch etwas Ungebührliches, jetzt während des Mittagessens dem Herrn Pfarrer ins Haus zu fallen. Ihr eigenes Mahl, ein Stück Brot, eine Knackwurst und eine Tafel Milchschokolade, trug sie bei sich. Sie kam an einer winzigen Budenschenke vorbei, vor der ein paar ungehobelte Tische hockten. Teta aber kehrte nicht ein, sondern kaufte eine Flasche Bier und trippelte damit in eine junge Wiese hinein, die von einem Bach durchschnitten wurde. Sie erinnerte sich an diesen Bach. Er mußte in das Flüßlein Suratka münden. Auf einer erhöhten Stelle über dem Bachufer breitete ein mächtiger alter Birnbaum sein Geäst. Er war so überladen mit weißem Blust, daß er einen großen sanften Schatten unter sich ausbreitete. Teta liebte die großen Bäume sehr, und nichts hatte sie höher geschätzt als ihre Ruhestunden unter den hundertjährigen Linden von Grafenegg. Als treue Naturfreundin wußte sie genau zu unterscheiden zwischen Blüten- und Blätterschatten. Dieser ist dicht und voll und kühl und blauschwarz, und wer in ihm ausruht, gibt seine Seele der Erde zurück. Jener aber, den man nur selten genießt, der frühlingsflüchtige Schatten der Blütenbäume, ist dünn und zart und lichtdurchlässig und lila, und wer in ihm ausruht, dem wird eine träumerische Vorahnung des himmlischen Ruhestandes zuteil, der seiner wartet, wenn einst alles seinen wunschgemäßen Ablauf genommen haben sollte.

Teta breitete ihren Mantel unter dem Birnbaum aus. Dann ließ sie sich nieder, öffnete ihr Paket, zerschnitt die Wurst in kleine Scheiben, brach die Semmel und begann langsam und nachdenklich zu kauen. Da sie großen Durst hatte, leerte sie in einigen Zügen die Flasche Bier. Von dem erhöhten Punkt, auf dem sie lagerte, sah sie die Straße entlang bis in den nahen Ort hinein, und jenseits der Straße sah sie bis in die verschwimmende Unendlichkeit die Saatfelder ihrer Heimat und ihrer Kindheit. Seit fünfundfünfzig Jahren hatte sie auf dieser Erde nicht gesessen. Recht wunderlich war's für sie, daß sie in all diesen Jahrzehnten alles vergessen zu haben glaubte und doch in Wirklichkeit gar nichts vergessen hatte. Sie erinnerte sich jeder Turmspitze im mittäglichen Flimmerlicht, jeder schwebenden Baumgruppe in der Ferne, sie erkannte die alten Bauernhöfe dort unten und unterschied genau das ehemals schon Gewesene vom neu Hinzugekommenen. Das arme Häuschen ihrer Eltern, das Mojmir Linek senior so frühzeitig versoffen hatte, konnte sie von hier nicht sehen, vielleicht auch war's schon längst abgebrochen. Dennoch trat es jetzt mit seinem Strohdach und den blumengeschmückten Fensterchen überdeutlich vor ihr inneres Auge. Im Grase unter ihr wuchs das Gedröhn der Insekten mit sommerlicher Aufgeregtheit. Woher nur die vielen Bienen kamen? Dieses Gedröhn, der Blütenduft und das Bier machten sie schläfrig. Sie streckte sich auf dem Mantel aus, vergaß aber nicht, das kostbare Täschchen unter ihren Kopf zu legen. Der Schmerz in den Beinen wich. Ihr war sehr wohl ums Herz.

Es war aber weder ein tiefer Schlaf noch auch ein angenehmes Träumen, das sie im Blütenschatten hier überfiel, sondern etwas höchst Abstoßendes und schwer Erzählbares. Ihre Erinnerung holte nicht die einst in diesen Fluren verlassenen Eltern herbei, nicht den Herrn Pfarrer, der sie als Bräutlein Christi mit weißem Kleidchen und Schleier gefirmelt hatte, und auch sonst nichts Liebwertes oder auch nur Alltägliches. Hingegen tauchte ein sehr altes Weib aus den Anfängen ihres Lebens auf, das man in Tetas Muttersprache »Babitschka« genannt hatte, was soviel bedeutet wie Großmütterchen. Großmütterchens Rolle war aber nicht ganz klar. Teta hatte vergessen, ob das Hutzelweib ihre eigene Großmutter gewesen, die schattenhaft im ungenauesten Ausgeding des Gedächtnisses hauste, eine kleine Gestalt, die stets an den Wiegen saß, vielerlei Ratschläge gab, im Dämmern Geschichten erzählte und frischgeschlagene Beulen mit großen runden Silberstücken, die sie daraufpreßte, flink zu heilen wußte. Schlimm war es aber, daß dieser im großen und ganzen gute Geist nicht in reiner Form erschien, sondern sich mit einem ausgesprochen bösen Geist vermischt hatte. Teta kannte seinen Namen gut: Polednice, zu deutsch Mittagshexe. Sie war einem Gedicht entsprungen, die Mittagshexe, und alle Kinder hatten sie einst gefürchtet, wenn ihre heiße Stunde da war und sie zwischen den Kornähren hervorlugte. Teta wußte es längst nicht mehr, daß niemand anderer als ihr Neffe Mojmir zuletzt diese Mittagshexe beschworen hatte, damals nämlich, als er in der Küche des Hofrates Slabatnigg jenes alte Gedicht vortrug. Heute, da sie ihn in seinem Pfarrhaus aufsuchen wollte, schien er ihr das Gespenst entgegenzusenden, um sie abzuholen. Denn die Mittagshexe war ihrer Jahreszeit, dem Sommer, weit vorangeeilt wie dieses ganze Osterfest und hatte sich über ihr Element vorgewagt bis zum Birnbaum hinter der Budenschenke und stand nun da als Großmütterchen. Sie hatte eigentlich kein böses Gesicht, aber schrecklich zerraufte Haare und einen spitzen Höcker, der ihren Hinterkopf überragte, und eine Hühnerbrust und ganz lange Arme, die bis zur Erde hinabpendelten. Teta rappelte sich auf, um Großmütterchen zu begrüßen. Aber schon hatte sich die Mittagshexe nach ihrer Art auf Tetas Schulter gesetzt – wie unangenehm leicht war sie – und hatte den Stock ergriffen und trieb sie an:

»Vorwärts, faules Luder! Was liegst du da herum? Zum Herrn Pfarrer, zum Herrn Pfarrer, damit er nicht davonläuft!«

»Laß mich, Großmütterchen!« keuchte Teta. »Gründonnerstag, übermorgen, bin ich siebzig. – Und ich bin noch nicht verödet. Da kann ich nicht so laufen, wie du willst.«

»Lüg nicht, faules Luder!« schimpfte die Hexe. »Unser Herr Pfarrer wird nicht warten auf dich.«

Die Reiterin wurde immer schwerer. Teta schlug Kreuz um Kreuz. Sie rief die Muttergottes an und alle Heiligen. Nichts half. Sie mußte mit ihrer buckligen Last im Straßenstaub traben. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie das Täschchen mit ihrem Schatz unterm Birnbaum hatte liegenlassen:

»Großmütterchen, erbarm dich!« schrie sie. »Meine Ersparnisse und meine Abfindung ...«

Großmütterchen-Mittagshexe erbarmte sich nicht. Teta versuchte in ihrem Lauf immer wieder von der Straße abzubiegen und zum Birnbaum zurückzukehren. Jedesmal aber hieb ihr der eigene Stock wie eine Peitschenschnur über die Waden, daß sie aufjammern mußte.

»Was kümmert mich deine Abfindung?« keifte der Mahr. »Alles gehört dem Herrn Pfarrer!«

Teta benützte einen Stein, um zu stolpern und hinzufallen. Und das war eine ausgezeichnete Idee. – Denn in demselben Augenblick erwachte sie aus ihrem Alptraum. Sie setzte sich auf und schüttelte lange den Kopf und begann gurrend zu lachen: »Nein – aber so was!« Dann nahm sie ihre Sachen und stiefelte schwankend aus der Wiese heraus. Sie vergaß nicht, in der Budenschenke sich den kleinen Einsatz für die Bierflasche zurückerstatten zu lassen. Es war ein Uhr und zwanzig Minuten. Der Mahnung von Großmütterchen-Mittagshexe getreu wackelte sie an ihrem Stock die Landstraße hinab in die Ortschaft.

 

Und dies war wirklich und wahrhaftig das uralte Pfarrhaus von Hustopec. Es stand nicht wie die meisten seinesgleichen auf dem Kirchplatz, sondern ein Stückchen hinter der Kirche, abseits der anderen Häuser, beinah schon im freien Land. Die Sonne brannte grell. Teta mußte ihre alten Augen mit der Hand beschirmen. Von der Wegesmüh ging ihr die Brust schwer. Vielleicht aber rührte ihr Herzklopfen auch von einem freudigen Erschrecken her. Mit dem ersten Blick nämlich erkannte sie, daß der hochwürdige Neffe nicht geflunkert hatte. Maler und Anstreicher waren hier ohne Zweifel kürzlich am Werk gewesen. Die Hausmauern erstrahlten im scharfen frischen Kalkweiß bis zum Dach, das seinerseits dem Voranschlag der Firma Karel Fasching gemäß ausgeflickt worden war, wie die neuen Eternitplatten inmitten der alten dunklen Holzschindeln bewiesen.

Teta trat an die Hauspforte heran, zu der noch immer dieselben zwei Steinstufen emporführten, mit Gras und Moos zwischen den Ritzen wie einst. Sie erkannte über der Tür die Jahreszahl »Anno Domini 1624« und in verwittert gotischen Lettern darunter die lateinische Aufschrift »Fide vide cui«.

Neben dem Ave Maria und Credo waren dies die einzigen lateinischen Worte, deren Sinn Teta verstand. Der Herr Pfarrer hatte die damalige Schuljugend von Hustopec belehrt, daß die Mahnung »Trau schau wem« einen sehr beherzigenswerten Leitsatz für das menschliche und insonderheit für das bäuerliche Leben beinhalte. Teta war diesem »Fide vide cui« ihr Lebtag in hohem Grade treu geblieben. Jetzt aber bewies der sichtbar erst jüngst angebrachte elektrische Leuchtkörper über der Inschrift, daß es Menschen und Dinge gab, die über jenem sprichwörtlichen Argwohn stehen sollten. Die Magd hatte ihre Hand schon zum Türklopfer erhoben. – Plötzlich aber ließ sie diese Hand wieder sinken, klomm die beiden hohen Stufen herab und begann an der Mauer des Pfarrgartens entlangzuwandern. Sie gelangte nach ein paar Schritten zu einem offenen Pförtchen, durch welches sie mutig eintrat. – Welch ein Garten! empfand Teta ehrfürchtig. Ein echter Pfarrgarten, jawohl! Und wieviel mußte Hochwürden Mojmir in den wenigen Tagen seiner hiesigen Wirksamkeit an diesem Garten gearbeitet haben, den ihm sein achtzigjähriger Vorgänger gewiß in ziemlich verwildertem Zustand übergeben hatte. Die Wege waren mit reinem gelbem Kies bestreut. Das Brunnenbassin in der Mitte, jetzt noch leer, hatte eine eifrige Hand geputzt und gefegt. Ein ganzes Regiment von Rosenstöcken stand sauber in Reih und Glied, jeder einzelne liebevoll gepflegt und mit Bast aufgebunden. Schon drängte sich aus mancher Knospe ein süßes Rot und Rosa und Gelb und Weiß hervor und küßte das Licht. Und gar erst die Gemüsebeete mit ihrem prachtvollen rostbraunen Humus. Wie mit einem scharfen Messer waren ihre genauen aufgelockerten Rechtecke in die Erde eingeschnitten. Der lange Gummischlauch, mit dem man sie soeben gespritzt hatte, tropfte noch. Das Frühgemüse des mährischen Sonnenlandes stand schon üppig. Aus anderen Beeten guckten erst die neugierigen Triebe des Kopfsalats, der Möhren und Kohlrüben knapp über die Schollen hervor. – Eine große Ersparnis für den Haushalt, urteilte Teta, man würde nicht viel kaufen müssen, und sie hörte mit Befriedigung das Gegacker der Hühner, das von irgendeinem abgeteilten Gartenstück eifrig herübergluckte. Nur etwas störte sie. Der zwanzigjährige Dienst im Hause Argan war an ihren ästhetischen Bedürfnissen nicht spurlos vorübergegangen. Über all dem Schönen und Nützlichen hing nämlich an einer zwischen zwei Platanen gespannten Leine die trocknende Wäsche des Herrn Pfarrers, altmodisch-ländliche Unterhosen zumal, vom Winde zu bedenklicher Korpulenz aufgebläht. – Das muß anders werden, beschloß Teta, und sie sah sich im Garten nach einem diskreteren Plätzchen für Hochwürdens Leibwäsche um. Dabei erreichte ihr Blick die abgelegenste Stelle dieses Pfarrgartens und stockte gebannt.

Diesmal war es aber kein freudiger Schreck, sondern einer, der ins Leben des Lebens fuhr. Teta wankte buchstäblich. Dort am äußersten Ende des Gartens stand vor ein paar rege umsurrten Bienenstöcken der Herr Pfarrer selbst, so wie er sich's einst gewünscht und in einem seiner Briefe ausgesprochen hatte. Er trug noch die Soutane, denn wahrscheinlich war er soeben aus der Kirche gekommen, ohne vorher das Haus zu betreten. Er hatte eine Art Fechthaube über den Kopf gestülpt wie die Imker sie bei ihrer Arbeit zu benützen pflegen, und seine Hände steckten in mächtigen Fäustlingen. Noch ist es Zeit, davonzulaufen, überkam Teta ein feiges Bangen. Sie aber floh nicht, sondern näherte sich mit kleinen Trippelschritten sehr langsam der Hauptperson ihres Lebens, die plötzlich zu Fleisch und Blut geworden war. Der dunkle Orgelton der schwärmenden Bienen hüllte ihn ein. Jetzt aber merkte der Pfarrer etwas, drehte sich um und rief warnend und hohl hinter seiner Maske hervor:

»Achtung, Mütterchen, halt, stehenbleiben! Die Biester sind wie toll heut! Sie haben ihren großen Tag!«

Teta stand angewurzelt. Sie hätte nicht die Kraft gehabt, weiterzugehen. Ihre Augen starrten auf den Hochwürdigen. Seine Gestalt, groß und schlank, entsprach haargenau der Vorstellung, die sie sich nach Fotografie und Briefen von ihm gemacht hatte. Kein Wort des Grußes brachte sie heraus. Er aber, ohne sich umzusehen, mahnte freundlich mit seiner verborgenen Stimme, die wie aus der Erde kam:

»Geht nur ins Haus, Mütterchen. Es ist gleich soweit, dann steh' ich zu Diensten.«

Wie geblendet von allzuviel Erfüllung, machte Teta kehrt und trottete den Gartenweg entlang, zwischen den Gemüsebeeten hindurch, auf die Rückseite des kleinen Pfarrhauses zu. Über eine schmale Terrasse hinweg betrat sie das Innere, wo sie in einem sehr engen und dunklen Gang bescheiden stehenblieb. Wunderlich sondergleichen war ihr zumute, und sie konnt's nicht verarbeiten in ihrem Herzen, daß es eingetroffen war, was sie kaum mehr für möglich gehalten und woran sie sich doch festgeklammert hatte mit ihrer ganzen Kraft. Des Neffen unordentliche aber feurige Seele hatte ihren Frieden gemacht mit Gott, und nicht vergeblich war somit die Fülle der Opfer gewesen seit jenem fernen Nachmittag in der Küche des Hofrates. Nun stand Mojmir Linek, der Umbangte und Beargwöhnte, »zu Diensten«, er hatte es selbst so genannt. Die letzten und bleibenden Dienste, um welche es sich bei diesem »zu Diensten« vor allem handelte, die wollte sie weiterentgelten und abverdienen, nicht als Gläubigerin und Ziehmutter, sondern als das, was sie war und stets gewesen, als Dienerin und Magd. Viele schnelle Gedanken kreuzten sich in Tetas langsamem Sinn. Wie gut, daß der hochwürdige Herr Pfarrer noch bei seinen lieben Bienenstöcken zu schaffen hatte. Möchte er sich doch um Christi willen nicht beeilen! Sie fand nicht Zeit genug, um diese Minuten auszukosten. Er hatte »Mütterchen« zu ihr gesagt. In ihrem Gemüt streichelte sie die Zärtlichkeit dieses Wortes, das sie nicht verdiente, denn zärtlich hatte es geklungen trotz der Imkermaske. Zugleich aber war aus dem Munde der Autorität ein Befehl erflossen, dem man sich beugen mußte: »Geht ins Haus, Mütterchen!« Damit schien das ganze künftige Leben aufs schönste vorgezeichnet zu sein. Dienst und Gehorsam auf ihrer, zärtliche Autorität auf seiner Seite. Daß der Neffe während allzu langer Wanderjahre ein Bummelstudent, Tunichtgut, Schuldenmacher und fahnenflüchtiger Missionar gewesen, das hatte für sie nun alle Bedeutung eingebüßt. Übriggeblieben war nur der geweihte Mann, ein schöner prächtiger Mann zweifellos, ein großer Seelentrost in der nahenden Stunde des Absterbens, ein Wesen, das sie unermeßlich überragte, mehr als jegliche gnä' Herrschaft dieser Erde. Nach getaner Arbeit – und sie fühlte jugendliche Schaffenskräfte in sich – würde sie an Sommerabenden und in der Winterdämmerung mit gefalteten Händen sich freuen dürfen, daß einzig und allein durch ihre saure Mühe und Beständigkeit ein guter Priester am Altar waltete, der vor Gottes Thron rechtens ihr allein gehörte.

Trotz dieser hohen Träumereien schnupperte Teta aufmerksam nach den Gerüchen des Hauses. Es roch nach frischem Anstrich und Maurerarbeit. Küchenduft hingegen war nicht zu merken, wie Teta mißbilligend feststellte. Da mußte Abhilfe geschafft werden. Ein Geistlicher, der die Last so vieler Seelennöte zu schleppen hat, braucht schmackhaft-kräftige und auskömmliche Ernährung. Außerdem hilft ein gewähltes Essen und ein gepflegter Trank – Teta war das nicht unbekannt – einem noch jugendlich strotzenden Manne, gewisse Anfechtungen zu überwinden, von denen leider auch ein Priester nicht verschont bleibt, und die Weiber sind doch insgesamt Hurenstücke, wenn etwas Verbotenes winkt. Am liebsten hätte Teta sogleich die Küche gesucht, sich an den Herd gestellt und zu backen und zu braten begonnen. Ostern stand vor der Tür. Es war also hohe Zeit, den Teig der Striezel zu kneten, zu flechten und mit Zibeben und Mandelstiften auszustecken.

Gerade als sie ziemlich bekümmert an die zu backenden Striezel dachte, trat der Pfarrer rasch ins Haus, bemerkte die im Dunkel wartende Teta, stieß mit einer raschen Bewegung eine Tür zur Linken auf und rief:

»Da hinein, Mütterchen, wenn's gefällig ist! Nur noch ein paar Minuten!«

Sie stand in einem zweifenstrigen Zimmer. Und dieses Zimmer war ganz genauso, wie es sein mußte. Eine große Bücherwand. Ein Kruzifix mit dem brennenden Öllämpchen darunter. Ein farbenfrohes Muttergottesbild. Der Tisch in der Mitte mit grünem Tuch bedeckt. An einem Fenster ein Sekretär, hoch beladen mit Amtspapieren. Viel Staub und ein wenig abgestandener Pfeifengeruch. Man sah's, hier fehlte noch die streng wirtschaftende Hand, die am Morgen die Möbel wischte und unerbittlich die Fenster aufstieß. Als aber nach einer kleinen Weile der Pfarrer hereinkam, durchfuhr Teta zum drittenmal der holde lähmende Schreck. Mojmir Linek nämlich, den sie als Erwachsenen nie gesehen hatte, glich also wirklich dem zusammengeträumten Neffen aufs Haar, oder besser aufs fehlende Haar, denn den Glatzkopf und die bräunliche Hautfarbe verdankte er, wie er ihr öfter geschrieben, nicht der hiesigen Sonne, sondern den Urwäldern Feuerlands. Den Fuß zwar schleppte er nicht nach, wie sie sogleich mit großer Befriedigung sah; dies aber kam wohl daher, weil im Laufe der Jahre jener teuflische Insektenstich ausgeheilt war. Der Hochwürdige lächelte Teta freundlich an und rieb sich die soeben gewaschenen Hände:

»Jaja, die Karwoche«, nickte er, »die Woche heiliger Beschwerde, wie ein Dichter sagt. – Heilige Beschwerde auch für so einen groben Dorfpfarrer. Da soll alles blitzblank sein und schön feierlich, und klappen soll's, daß die Herren Vettern und Nachbarn sich einbilden können, sie sitzen in Rom bei Sankt Peter und nicht in Hustopec. – Aber nehmt doch Platz, Mütterchen, setzt Euch nur!«

Teta ließ sich auf den Rand eines Stuhles nieder und schaute nur und schaute. Sie konnte die Augen nicht voll genug bekommen vom stolzen Anblick des Neffen und die Ohren nicht von der männlichen Musik seiner Stimme. Der Pfarrer hantierte irgendwo herum, während er fortfuhr, sich humoristisch zu beschweren:

»Aufräumerei in der Kirche – Aufräumerei im Haus – Aufräumerei im Garten. Kein Mensch ist auf seinem Posten, eine Heidenwirtschaft das, nichts steht an seinem Platz. – Übermorgen ist Gründonnerstag, und die Menschen geben keine Ruhe bis zur letzten Stunde. Meine Bedienung hat mich allein gelassen heut, denkt Euch nur, Mütterchen, mitten in dem Rummel, sie ist hinüber nach Klobouky zu ihrer kranken Schwester, und seit dem Frühstück hab' ich noch keinen Schluck und Bissen in den Magen bekommen.«

Er hatte endlich gefunden, was er suchte, eine Thermosflasche. Jetzt schraubte er sie auf, füllte eine Tasse mit abgestandenem Milchkaffee und begann ihn zu schlürfen, während er dazu ein Stück Schwarzbrot in mächtigen Bissen kaute, die ihm die Wange vorwölbten.

»Nehmt mir's nicht übel, Mütterchen«, entschuldigte er sich mit vollem Munde bei Teta. – Diese aber vermochte sich nicht länger zu beherrschen und sprach zum erstenmal in seiner stattlichen Leibhaftigkeit jenen an, um welchen sie so viel Entbehrung und Unruhe erlitten hatte:

»Der hochwürdige Herr Pfarrer müssen mit Erlaubnis ein anderes Mittagessen bekommen«, rügte sie mit zitternder, aber strenger Stimme, »nein, so was, das geht ja nicht, nur ein Kaffee und ein Stück trocken Brot, das ist ja zu schlecht für einen Bettler.«

»Ja, das muß wirklich anders werden, Mütterchen«, stimmte ihr der Pfarrer zu, »das ist wirklich keine Wirtschaft. Ich hab' Pech mit meiner neuen Bedienung, bei der ist immer was los mit ihren werten Angehörigen, und ich muß hungern.«

Teta erklärte großmütig, doch nicht ohne Tadel:

»Der hochwürdige Herr Pfarrer müssen mittags haben eine gute Bouillon mit Nudeln drin oder Grieß und dann eine Vol-au-vent oder Forelle blau am Sonntag und einen guten Braten nachher oder ein Backhuhn mit jungen Kartoffeln und Erbsen und gemischtem Salat und zuletzt eine feine Mehlspeis, ein Soufflé mit Marillengeschmack oder Schokoladeauflauf oder so.«

Der Pfarrer hatte die Aufzählung dieser Genüsse mit weit aufgerissenen Augen verfolgt:

»Bravo, bravo, Mütterchen«, schmunzelte er hingerissen, »ich könnt' Euch da stundenlang zuhören! Mir läuft das Wasser im Mund zusammen bei Eurem Menü.«

Teta verbarg ihre frohlockende Bewegung hinter den ernsten Planungen, die sie bereits der verlotterten Pfarrerswirtschaft angedeihen ließ.

»Es ist doch alles da im Garten«, sagte sie. »Gemüse und Hühner und Eier, und die Butter ist billig auf dem Land, und man kann ein herrschaftliches Essen herstellen um nichts. – Nur das Fleisch, da wird man sich umschauen müssen und den Herren Fleischhauern auf die Finger sehen, das bin ich gewohnt.«

Der Pfarrer von Hustopec schien durch den teilnehmenden Eifer seines Besuches sehr erheitert zu werden. Er ging zur Kredenz und füllte zwei Gläschen mit bäuerlichem Kornschnaps.

»Darauf wollen wir anstoßen, Mütterchen«, lachte er freundlich und kippte das Glas bis auf die Neige. Nachdem auch Teta in gehorsamer Nachahmung den Schnaps auf einen Zug geleert hatte, ließ der Pfarrer seinen forschenden Blick auf der Frau ruhen, die mit ihrem Stock und dem Täschchen in steifer, aber sichtlich erregter Haltung dasaß:

»Ihr seid von weit dahergekommen, wie?« fragte er.

»Von Wien doch selbstverständlich, wenn ich bittlich sein darf«, erwiderte sie. »Wohl die Heimat wiedersehen und die liebe Verwandtschaft besuchen«, fragte er.

»Aber der hochwürdige Herr Pfarrer werden doch wissen ...«, erwiderte sie.

Darauf antwortete der Pfarrer zuerst nichts und schien nur nachzudenken. Dann räusperte er sich und verfiel in einen geschäftsmäßigen Ton, das erste Mal während dieses Zwiegesprächs: »Und womit kann ich Euch dienen, Frauchen?«

Teta ließ eine Weile verstreichen. Nicht nur ihr von Kornschnaps gerötetes Gesicht, sondern auch ihre Stimme begann langsam zu erblassen:

»Ich bin ja mit Erlaubnis hierhergefahren aus der Stadt, um dem hochwürdigen Herrn Pfarrer zu dienen, wie der hochwürdige Herr Pfarrer es gewollt haben.«

Der Vikar von Hustopec blinzelte erstaunt. Ein scharfer Sonnenstrahl fingerte störend in seinem Gesicht.

»Mir dienen?« fragte er und schützte seine Augen mit der Hand. »Wie seid Ihr um Himmels willen auf diese Idee gekommen – und gar in Wien? Wie heißt Ihr denn überhaupt, Mütterchen?«

Nun schützte auch Teta ihre Augen vor dem Sonnenstrahl, wobei sie ihr halbes Gesicht mit der Hand verdeckte: »Der hochwürdige Herr Pfarrer wissen doch genau, wie ich heiß'«, stammelte sie, und ihre Lippen waren auf einmal ganz welk.

»Wie soll ich das wissen, meine Beste?« sagte der Geistliche, und in seinen gutmütig rustikalen Tonfall mischte sich die erste Ungeduld. Teta senkte den Kopf wie ein wenig begabtes Schulkind, das sich nun mit Mühe sammelt, um die Frage des Lehrers zu erfassen. Dann sprach sie mit harten, abgehackten Silben wie folgt:

»Der hochwürdige Herr Pfarrer Mojmir Linek haben mir, seiner Tante Teta Linek, doch mit Erlaubnis einen Brief nach Wien geschrieben an die Adresse meiner gnä' Herrschaft Argan, und es sind noch keine drei Wochen her ...«

Während sie mit erwürgter Stimme nach diesen Worten rang, holten ihre bebenden Finger aus dem Täschchen des Neffen unwiderruflich letzten Brief hervor. Mit ernstem Kopfschütteln nahm ihn der Pfarrer entgegen. Ehe er aber zu lesen begann, rieb er zwischen Daumen und Zeigefinger sein schlecht rasiertes Pfarrerskinn, so daß ein borstiger Ton zu hören war:

»Aber ich heiße ja gar nicht Mojmir Linek«, sagte er endlich nach einem Zögern, als sei das nicht von allem Anfang an klar gewesen, »sondern Ottokar Janku und hab' keinem Menschen nach Wien einen Brief geschrieben.«

Teta hörte diese Worte, ohne sich zu rühren. Sie saß noch immer steif und aufrecht da, wie es sich in Anwesenheit eines Geweihten ziemt. Zwei oder dreimal bewegte sie die Lippen, die aber kein Wort zu bilden vermochten. Der Pfarrer sah sie fragend an. Sie aber erwiderte seinen Blick noch viel fragender, wenn man's so ausdrücken darf, als sei immer noch eine leise Hoffnung vorhanden, daß Ottokar Janku sich allmählich erinnern und zugeben werde, Mojmir Linek zu sein. Er aber schüttelte den Kopf langsam, aber unaufhörlich, kniff die Augen ein, gleicherweise unmutig über den Sonnenstrahl und diese Verwechslung. Träumerisch zerstreut murmelten seine Lippen wohl zehnmal: »Linek – Linek – Linek ...« Da aber keine Aufklärung erfolgte, wandte er sich mit einem tiefen Atemzug dem kalligraphierten Prachtbrief zu und las ihn, die Stirn gerunzelt, aufmerksam, aber sichtlich verständnislos zu Ende. Als er fertig war, legte er die Epistel auf den Tisch und strich sie mit seiner weißen großen Hand glatt, als wolle er alles Verdächtige von dem Papier fortwischen:

»Helft mir, Mütterchen«, bat er wie einer, der des Rätselratens müde ist. »Was ist das für ein sonderbarer Geistlicher, dieser Herr? Welchen achtzigjährigen Amtsvorgänger meint er? – Mein Amtsvorgänger ist mit fünfzig gestorben, und ich selbst bin der Pfarrer von Hustopec schon seit zwölf Jahren. Ich versteh' von diesem Zeug nicht ein einziges Wort, meine gute Frau. – Das scheint ja eine verflucht peinliche Geschichte zu sein. – Jaja, allerlei Leute gibt's unter den Herren Kollegen, da hab' ich auch schon meine Erfahrungen machen müssen, leider.«

Wortlos streckte Teta die Hand nach dem Brief aus, nahm ihn an sich und versorgte ihn wie ein kostbares Stück vorsichtig zu den anderen in ihrem Täschchen. Janku aber hatte sich gedankenvoll erhoben und ging mit starken Schritten in seiner Pfarrerstube auf und ab. Seine dichten schwarzen Brauen waren zusammengezogen, und die Unterlippe trat vor. Er schien den Besuch, der da steif und lautlos an seinem Tische saß, völlig vergessen zu haben. Im letzten Augenblick erst gewahrte er, daß sich der Körper der alten Frau zur Seite neigte und vom Stuhl zu sinken drohte. Er sprang hinzu, fing Teta auf und führte oder besser schleppte sie zum Kanapee, auf das er sie hob. Sie wehrte sich gegen diese Hilfeleistung:

»Hochwürdiger Herr – wenn ich bittlich sein darf – nicht, nicht! Es ist ja schon wieder gut! Ich schäm' mich bitte so viel. Werd' jetzt sofort weggehen! Nicht stören ...«

Doch auch Tetas mächtige Seelenenergie reichte nicht hin, um die Schwäche zu überwinden, welche der Keulenschlag der Erkenntnis verursacht hatte. Ihr vergingen für ein paar Augenblicke die Sinne. Doch noch aus der Ohnmacht flüsterte sie eifrig: »Meine Tasche! Wenn ich bitt ... Hochwürden Herr Pfarrer ...«

Janku hatte aus seinem Schlafzimmer ein Fläschchen Eau-de-Cologne gebracht und benetzte ein wenig Tetas weiße Stirn. Er wollte auch ihre hochgeschlossene Bluse öffnen, doch es gelang ihm nicht, da sie sich wehrte. Ihn rührte die Silberbrosche und die Korallenkette, die diese alte Frau um den Hals trug. Während er um sie beschäftigt war, bewegten sich ihre Lippen unaufhörlich. Die Worte waren nicht deutlich erkennbar. Es klang immer wieder wie »finden« und »fangen«.

Nach drei Minuten schon wurde ihr Atem ruhig, und sie schlief vor Erschöpfung ein. So aber geschah es, daß Teta Linek in dem Pfarrhaus zu Hustopec, wo sie die lange Ruhe des Feierabends zu finden gehofft hatte, eine kurze Nachmittagsstunde sich ausruhen durfte, während ein Geweihter neben ihr saß und sie pflegte. Es war freilich nicht der richtige.

 

Pfarrer Ottokar Janku hatte Teta ins Wirtshaus des Örtchens geführt, um ihr erstens einen heißen Milchkaffee mit Kuchen auftischen zu lassen, und zweitens um Erkundigungen über den fraglichen Mann Gottes und Urheber absonderlicher Briefe einzuziehen. Sie war freilich mit der öffentlichen Behandlung ihres schmerzlichen Geheimnisses nicht besonders einverstanden. Brennende Scham erfüllte sie. Am liebsten wäre sie aus Hustopec und der ganzen Welt verschwunden. Zugleich aber peinigte sie im Widerspruch zur brennenden Scham ein düsterer Drang, »ihn zu finden« und endlich nach einer Ewigkeit banger Hoffnungen und gehätschelten Selbstbetrugs sich rücksichtslose Klarheit zu schaffen.

Zur Stunde pflegten sich die Notabeln von Hustopec im Extrastübchen zu versammeln, ihr Bier zu trinken und Tarock oder Mariage zu spielen. Heute allerdings sahen sie angesichts des interessanten Ereignisses, das da zu ihnen hereingeschneit kam, vom Spielchen ab und umstanden den Tisch des Pfarrers und seines Gastes. Die bereitwilligen Auskünfte des Gastwirtes wiesen auf verschiedene Spuren hin. Vor etlichen Wochen habe sich eine Gesellschaft von Geistlichen und Seminaristen aus dem nahen Brünn in dieser Stube zum Mittagessen eingestellt. Die Herren hätten sich auf einer Fußreise ins Gebirge befunden, einen großen Appetit entwickelt und den gesamten Hausvorrat an Geselchtem mit Knödeln und Kraut bis auf den letzten Rest verzehrt. Einer unter ihnen, ein fröhlicher Vierziger mit Glatze und Hornbrille, sei möglicherweise Mütterchens Neffe gewesen. Er habe als ältester und Gescheitester das große Wort geführt und zweifellos die Reiseleitung innegehabt. Ein witziger Mensch, verdammt noch einmal, das müsse der Wirt schon sagen, obgleich er nicht erwartet habe, aus solchem Munde dergleichen Witze und Anekdoten zu hören. Papier, Feder und Tinte hingegen, wie unser Herr Pfarrer es haben wolle, sei an dem Tische von keinem der Herren verlangt worden. Dieses Schreibzeug habe ein andermal, nicht viel später, ein einzelner Durchreisender gefordert, und zwar nach dem Mittagessen, Rindsgulasch mit Kartoffeln und Faschingskrapfen. Ob der Betreffende ein Kleriker gewesen, könne der Wirt nicht feststellen. Der Herr habe kein Kollar getragen, doch ihm sei er, den scharfen Gesichtszügen nach, wie ein Künstler, Musiker oder Schauspieler erschienen. Vielleicht auch war's ein Schriftsteller, da er während des Essens mindestens drei Seiten voll schrieb. Ein düsterer Mann jedenfalls, schloß der Wirt seine Darstellung. Teta hörte schweigend zu. Ihre hellen Augen ruhten aufmerksam auf dem jeweiligen Sprecher und wanderten weiter, wenn ein anderer das Wort ergriff. Der Neffe schien in des Wirtes Schilderung manchmal ganz nahe zu sein, dann aber zog er sich wieder ins Unbestimmte und Unfaßbare zurück, wie es seine alte Gewohnheit war.

Die hier vereinigten Honoratioren von Hustopec – auch der Bürgermeister, der Apotheker und der Lehrer Hvizd waren unter ihnen – gehörten insgesamt den jüngeren Generationen an. Sie wußten nichts mehr von der Familie Linek, die vor Jahrzehnten hier gesessen hatte. Tetas Schwägerin, die Mutter des Neffen, war bereits während des Weltkriegs gestorben, der einen unüberwindlichen Graben zwischen Vorzeit und Geschichtszeit gezogen hatte. Für die meisten Hustopecer begann die Weltgeschichte erst mit Gründung des neuen Staates in Versailles, und alles Vorherige gehörte einer dämmerigen Sage an, unbeschadet dessen, daß man ihren Ausklang selbst noch erlebt hatte. Die Honoratioren kamen daher auf den Rat des jungen Lehrers Hvizd überein, Herrn Markus Prossnitzer zu Hilfe zu rufen.

Markus Prossnitzer war der Alt-Prinzipal der einzigen und sehr ansehnlichen Gemischtwarenhandlung am Platz. Jetzt führte das Geschäft längst schon sein Enkel, auch er ein grauhaariger Mann, denn Markus Prossnitzer selbst war mehr als dreiundneunzig Jahre alt. Er hatte seinen Laden 1866 im Kriegsjahr eröffnet und bildete somit eine Art patrizischen Ortsaltertums, auf das man in Hustopec nicht ohne Stolz hinwies. Der lebhafte Greis saß noch immer bei schönem Wetter den halben Tag vor dem Geschäft, das seinen Namen führte, und erkannte alle Vorübergehenden am Schritt, denn sein Augenlicht war fast erloschen. Doch nicht nur sein Ansehen als ältester Mann und Geschäftsmann der Ortschaft verlieh ihm den Rang einer hochwichtigen Person. Er besaß zudem noch ein Wunder von Gedächtnis und Personenkenntnis. Markus Prossnitzer war Chronik, Grundbuch, Matrikel und Sterbeprotokoll von Hustopec in einer Gestalt. Es wäre aber verfehlt zu meinen, er sei nach Art sehr alter Leute stets nur dem Vergangenen zugewandt gewesen; nein, weder die Morgenzeitungen aus der nahen Landeshauptstadt noch das Radio aus der weiten Welt hatten ihn entbehrlich gemacht. Es konnte im Ort und in der ferneren Umgebung kein Stein zu Boden fallen, ohne daß der blinde und schwerhörige Uralte davon Wind bekam, den Vorfall in sein Wissenslager einreihte und gehörig katalogisierte. Auch zu dieser Stunde heute sonnte er sein nacktes braunes Schildkrötengesicht vor der Gemischtwarenhandlung, die auf dem bescheidenen Ringplatz dem Gasthause gegenüber lag. Der junge Lehrer wurde ausgesandt, um den Greis von seiner Bank ins Extrastübchen zu bitten. Hvizd, ein spritziger Knirps, war, wie es die Rollenverteilung des Dorfes von alters her verlangt, ein Rebell, der den verschiedenen Behörden durch seine Eingaben, radikalen Beschwerden und menschenfreundlichen Projekte manches zu schaffen machte. Und wie es häufig die Art von Aufrührern und Verschwörern ist, war er zugleich ein sehr neugieriger Mann. Er eilte daher, recht erfreut über die Unterbrechung des ländlichen Einerleis, zur Gemischtwarenhandlung angelegentlich hinüber. Die Chronik von Hustopec liebte nichts mehr, als in Anspruch genommen zu werden. Nach einem Weilchen schob sich der Uralte am Arme des erregten Lehrers Hvizd ins Gastzimmer. Der Wirt rückte einen bequemen Lehnsessel zurecht und brachte ein Viertel Rotwein: »Herr Prossnitzer«, rief er sehr laut, »was wissen Sie von der Familie Linek? – Haben Sie verstanden? – Linek, L wie Ludmilla!«

Die verschwommenen Augen des Blinden gingen zuerst im Kreis. Dann fragte er mit seiner hohlen, sehr hohen Stimme:

»Wieso Linek, was heißt Linek? – Wer lebt noch von diesen Lineks?« Der sensationslüsterne Lehrer klärte ihn auf:

»Aus Wien ist eine Linek angekommen, Herr Prossnitzer, heut mit dem Mittagszug!«

Prossnitzers Schildkrötengesicht verhundertfachte ärgerlich sein Faltennetz:

»Daß heut eine Dame mit dem Mittagszug angekommen ist, das brauchen Sie mir nicht zu sagen, Herr Hvizd, das weiß ich. – Ist die Dame eine Linek? – Moment bitte – ich muß mir diese Lineks zuerst auszählen.«

Er sagte das, als sei die Erinnerung keine intuitive, sondern eine mathematische Geistestätigkeit und das Gedächtnis eine Art von mechanischer Rechenmaschine, die man nur richtig einstellen müsse, um zu dem gewünschten Resultat zu kommen. Sein Kopf begann sich zu wiegen, und er trat im Sitzen von einem Bein aufs andere wie ein Weber vor dem Webstuhl. Nach drei gesammelten Minuten hatte er den Fall aus seinem Magazin hervorgezogen:

»Linek, Linek«, es war ein stolzer Singsang, »das Häusl hat gestanden zwischen Kaschpar und Schubrt. Heut steht das Spritzenhaus dort. In den achtziger Jahren, denk ich's noch. – Zehn Joch Feld, Gerste, Hafer, Kartoffeln, nichts Besonderes, drei Kühe. – Der alte Linek hat die dritte Tochter vom Kaschpar geheiratet und nichts mitbekommen. Sechs Kinder haben sie gehabt, lauter Mädeln – nein, pardon, einen Burschen auch! Ein schlechter Bauer, hat getrunken, hat sein Grundstück verkauft an die Gemeinde damals, so im Fünferjahr, schlecht verkauft, Schulden, schlimme Wirtschaft!«

Pfarrer Ottokar Janku, der dem Singsang mit angestrengter Miene gelauscht hatte, fiel jetzt ein:

»Und dieser Linek hat einen einzigen Sohn gehabt, Herr Prossnitzer, nicht wahr?« – Der Neunzigjährige lehnte sich gekränkt zurück und legte Verwahrung ein:

»Ich brauch' keine Unterstützung, Hochwürden, Gottlob – ich bin noch ganz gut beisamm'.«

Beifälliges Gemurmel lohnte diesen hoffärtigen Ausspruch der »Chronik«. Die tausend Runzeln in Prossnitzers Gesicht falteten sich zusammen und entfalteten sich wieder. Dieses Runzelwerk atmete gewissermaßen. Der Uralte zählte sich vermutlich Tetas Neffen aus, um bei seinen eigenen Worten zu bleiben. Auch der zahnlose Mund ging dabei auf und nieder. Plötzlich aber pfiff sein Stimmchen triumphierend auf:

»Lineks Sohn – ein Studierter. Unterstützt von einer hohen Protektion. Ganz genau denk' ich ihn – so ein junger Mensch im langen Talar, oder wie das heißt.«

Seine verwaschenen Augen gingen absammelnd im Kreis. Das Runzelwerk probierte ein Lächeln. Noch war Markus Prossnitzer auf dem Damm. Da gab es keine Frage aus gegenwärtiger oder verschollener Zeit, die an seinem Gedächtnis nicht zuschanden wurde.

»Seminarist oder Priester«, schrie ihm der Pfarrer ins Ohr.

Prossnitzer schaukelte erregt und trat seinen unsichtbaren Webstuhl:

»Wie soll ich das wissen?« schalt er. »Es ist nicht meine Religion – da kenn' ich mich nicht aus.«

Hier nahm Teta zum erstenmal das Wort:

»Und haben der gnä' Herr Prossnitzer den Neffen Linek persönlich gesehen und gekannt, wenn ich bittlich sein darf?«

»Was heißt gekannt?« schnalzte die »Chronik«. »Ins Geschäft zu uns ist er gekommen und hat gekauft und hat nicht bezahlt. Einem geistlichen Herrn darf man doch nicht sagen: Nein! – In unserer Strazza von damals werden die Außenstände noch aufgeschrieben sein.«

Tetas Stimme zitterte von neuer Hoffnung. Der Geschäftsmann Prossnitzer hatte dem Neffen die Ware nicht verweigert, da er einem geistlichen Herrn nicht nein sagen durfte. Hatte aber Mojmir die Weihe empfangen, so war noch nichts verloren. Sie fragte jetzt lauter, als sie sonst zu sprechen pflegte:

»Der Herr Prossnitzer weiß also, daß der Neffe Linek ein geistlicher Herr ist?«

Die »Chronik« von Hustopec hatte ihr Viertel Rotwein geleert. Durch diesen Trank und die Anstrengung ermüdet, renkte sich der Greisenkopf immer tiefer. Die Beine ruhten. Der unsichtbare Webstuhl versank. Träumerische Gedankenreihen nahmen von Markus Prossnitzer Besitz. Er begann ungenau und weinerlich zu lallen:

»Die Dame soll Audienz nehmen beim Kaiser. Eingabe an das Zivilkabinett. Ich kenn' den Weg von voriger Woche. Ob ich den Weg kenn' in Frack und Claque ... Der Kaiser wird der Dame helfen.«

Lehrer Hvizd sprang auf, wie von der Tarantel gestochen.

»Aber, Herr Prossnitzer!« rief er empört. »Sie verwechseln sich das! Sie vertauschen die Zeiten! Wir leben nicht mehr in der Monarchie, wir leben in der demokratischen Republik, und nächstens werden wir in der sozialen Republik leben, wenn's Ihnen gefällig ist!«

Daraufhin aber wurde der Uralte unruhig und böse:

»Gefällig ist – gefällig ist«, murmelte er trotzig vor sich hin. »Nichts verwechsle ich mir! Ich weiß, was ich weiß, dazu brauche ich keinen Advokaten und keinen Schullehrer! – Ob ich den Weg kenn' in Frack und Claque ... Zuerst die Eingabe an die Kabinettskanzlei und dann die Audienz. War ich vielleicht nicht bei der Audienz vorige Woche am Donnerstag?«

»Herr Prossnitzer, was reden Sie da, ein gebildeter Mensch wie Sie?« jammerte Lehrer Hvizd. Der Kopf der »Chronik« aber war auf die Brust gesunken:

»Ich will nach Haus«, sagte Prossnitzer.

Die Müdigkeit des Alters versöhnte den Lehrer. Fürsorglich brachte er den Neunzigjährigen hinüber und übergab ihn seinem ältlichen Enkel und Nachfolger. Die Honoratioren aber seufzten.

»Er wird auch schon alt, unser Herr Prossnitzer.«

In Tetas Seele, die sich rasch erholt hatte, ging Sonderbares vor. Die Worte des uralten Mannes »geistlicher Herr« wuchsen in ihr mit erstaunlicher Keimkraft. Markus Prossnitzer hatte den Neffen also wirklich im Gewande des Priesters gesehen, folglich war ihr großer Lebensplan noch nicht zerstört. Er war sogar bis zu einem gewissen Grade erfüllt, denn die Weihe bildete nicht nur ihr eigenes Verdienst, sondern ließ trotz des schlimmen Charakters des Geweihten immer noch glückhafte Möglichkeiten offen. An solchen Gedanken richtete sich die unverwüstliche Teta kräftig auf. Sie schien bereits die niederschmetternde Enttäuschung dieses Tages überwunden zu haben. Der gute Pfarrer Ottokar Janku brachte sie später zur Bahn. Während des langen Weges stammelte Teta immer wieder demütige Entschuldigungen wegen der Mühen und Ungelegenheiten, die sie dem Hochwürden durch ihren unerwarteten Besuch bereitet hatte. Jedem Gespräch über ihr wahres Anliegen jedoch wich sie mit großer Geschicklichkeit aus. Darin war sie schnell wieder die alte geworden, die eine Teilnahme an ihrem heilig-schändlichen Geheimnis nicht dulden wollte. Der Pfarrer schien's bald zu merken, denn auch er brachte das Gespräch nicht mehr auf seinen fragwürdigen Amtsbruder. Als sie schon in der Nähe des kleinen Bahnhofs waren, wandte sich Janku an Teta: »Und Ihr wollt also jetzt nach Wien zurückkehren, Mütterchen?«

Teta blieb stehen. Erst in diesem Augenblick wurde sie sich ganz klar darüber, daß es eine schmähliche Rückkehr und eine feige Verschleierung nicht länger geben durfte und daß sie verpflichtet war, die volle Wahrheit auf sich zu nehmen:

»Mit Erlaubnis«, sagte sie, »werd' ich nicht nach Wien fahren, sondern nach Prag.«

Ottokar Janku nickte ermunternd zu dieser Wahl, als hätte er gewußt, daß sein Besuch an einem schwierigen Scheidewege stehe.

»Ich versteh' Euch, Mütterchen. Nach Prag habt Ihr nämlich die schnellere Verbindung und den direkten Anschluß.«

Er warf im Stehen ein paar Worte auf eine Visitkarte. Teta möge sie bei den Ursulinerinnen in Prag überreichen. Die Oberin werde für eine gute Unterkunft sorgen. – Sie hatten noch fünfzehn Minuten auf den Zug zu warten. Als die untersetzte Lokomotive der Nebenstrecke heranschnob, nahm Janku Tetas Hand und sagte:

»Seid recht vernünftig, Mütterchen, dort in Prag. In meinem Beruf stolpert man leichter als in jedem anderen, und nicht die Schlechtesten stolpern. Wenn man aber ernsthaft aufstehen will, dann wird einem auch geholfen.«

Teta war ganz seiner Meinung.


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