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1. Das Heiligenbild

Ich habe Teta gekannt. Sie war eine alte Frau, untersetzt, rundlich, mit breiten Backenknochen und hellen Vergißmeinnichtaugen, die einen aufmerksamen, eigensinnigen und oft argwöhnischen Ausdruck besaßen. Sah man sie dann und wann vorüberhuschen, fiel ihr eilig bemühter Watschelgang auf, der scheue Paß eines nächtlichen Tieres, das aus der menschlichen Gefahrenzone fort und seiner sicheren Höhle zustrebt. Damals hätte ich nicht vermutet, daß ich eines Tages den Versuch machen würde, die Geschichte dieser alten Magd aufzuzeichnen, die gerade noch lesen und schreiben konnte. Nun aber sitze ich da, an einem fremden Tisch in einem fremden Land, und rufe sorgfältig die sehr schmerzliche Erinnerung an eine vergangene Welt empor, in welcher freilich meine Heldin nur eine schattenhafte Dienerrolle spielte. Das Landhaus in Grafenegg steht vor meinen Augen. Und der wunderbare Park. Und der niederzwingende Blick auf die schroffen Einsamkeiten des Toten Gebirges, dieser im Sommer lunaren und im Frühjahr und Herbst neblig-saturnischen Landschaft auf österreichischer Erde.

Der schöne Besitz in Grafenegg gehörte der Familie Argan. Die Argans waren meine liebsten Freunde. Sie hatten von allem Anfang an zu mir gestanden und sich auch in meinen unleidlichsten Zeiten nicht abgewandt von mir. Als ein wenig erfolgreicher, vernachlässigter und ziemlich haltloser Junggeselle fand ich in ihrem Hause eine Heimat, soweit das überhaupt nur möglich ist. Unter den zahlreichen Gästen der Argans habe ich mich niemals als einer unter vielen betrachtet, sondern als ein rechtmäßig Zugehöriger, um nicht zu sagen Angehöriger, hatte ich doch die beiden Kinder, Philipp und Doris, von der Wiege heranwachsen sehen, und sie nannten mich in frühen Jahren »Onkel« und später kameradschaftlich »Theo« wie die Eltern. Es fällt mir schwerer, als ich sagen kann, die Argans, diese vier außerordentlichen Menschen, gleichsam nur im Vorübergehen darzustellen. Mein Herz mahnt mich, ihrem bitteren Schicksal ein Requiem in Gestalt eines eigenen Buches zu singen. Aber dazu fühle ich nicht die Kraft. Auch befindet sich ja alles noch in Schwebe. Ich suche mir ein bescheidenes Geschöpf vom Rande ihres Lebenskreises, um dessen Weg bis zum Ende zu verfolgen. Meine lieben Freunde und ihr Haus bilden somit nur den Ausgangspunkt und werden später aus dieser Geschichte verschwinden wie ich selbst.

Was ich dem Hause Argan verdankte, war mehr als unbeschränkte Freundschaft und Gastfreundschaft. In unserer kargen und barschen Krisenwelt des motorisierten Unbehagens und der rekordschlagenden Verdrießlichkeit stand es da wie eine unzeitgemäße Insel der Freude. Was waren das für schöne, für volltönende Menschen alle vier, Leopold und Livia, Philipp und Doris! Sie bezauberten gleichermaßen alle, die über die Schwelle traten, durch ihr Leuchten, ihr Lächeln, ihre Stimmen, durch ihre herzinnige Wärme und ihr hochkarätiges Temperament. Ob in ihrer Wiener Stadtwohnung, ob draußen in Grafenegg, der Tisch war immer gedeckt, man speiste köstlich, der Wein wurde verschwenderisch geschenkt, und vor allem, die Musik regierte im Hause, denn die vier waren durchwegs Musiker und Musikanten, weit über das Maß des guten Dilettantismus hinaus. Leopold – wir waren gleichaltrig – hatte die Klavierklasse des staatlichen Konservatoriums als preisgekrönter Pianist verlassen, ehe er, dem Willen der Familie sich beugend, in den Dienst des Ministeriums des Äußeren getreten war. An Livias bestrickenden Sopran erinnern sich noch viele Opernbesucher, die sie in den Jahren knapp nach dem Kriege als Agathe, Amelia, Elsa, Leonore gehört hatten. Man konnte es nicht verstehen, daß diese blendende Frau und Sängerin in blühender Jugend ohne Not und ersichtlichen Grund der Bühnenlaufbahn entsagt hatte. Dabei war Livia im Gegensatz zu den oft so unförmigen dramatischen Sopranen eine mädchenhafte Erscheinung, sehr groß, mit dem feinsten Kameenkopf auf dem schlanken Hals. Die achtzehnjährige Doris hatte das dunkle Haar, den blassen Gemmenteint und die Stimme der Mutter geerbt. Philipp aber spielte alle erdenklichen Instrumente mit dem reinen Tonsinn eines musizierenden Engels, mit der gerissenen Kunstfertigkeit eines Jazzmeisters und dem trickreichen Witz eines musikalischen Clowns. Oh, wie viele Nächte wurden bei Argans durchgesungen, -gehämmert, -geklampft, -gefiedelt bis zum raschen und erstaunten Morgen hinan! Und dann ging man, taumelnd vor Entzücken, zu Bette, den bernsteingelben Rausch der Musik in allen Adern, diesen besten der irdischen Räusche, denn die von hundert Melodieteilchen durchmaserte Seele atmet sich mit einem »Seid-umschlungen-Millionen« in den Schlaf. Ich habe niemals Menschen gesehen, die so flügelweit offenstanden den einzig wahren Geschenken des Lebens, der Natur, dem Lied und dem Bild in allen Formen. Ich erinnere mich, daß mir einmal in Grafenegg Adalbert Stifters berühmte Schilderung der Sonnenfinsternis von 1842 in die Hand fiel. Nach Tisch las ich die wenigen Seiten vor. Bei der schönsten Stelle, jener, wo das »bleifarbene Lichtgrauen« überwunden ist, »die Dinge wieder Schatten geben, das Wasser wieder glänzt und die Bäume grün zu werden beginnen«, warf ich einen Blick auf die Runde. Unvergeßlich für immer wird mir der Ausdruck auf dem Gesichtchen der kleinen Doris bleiben, die damals noch keine dreizehn alt war. Dieses Zuhören an sich, die platonische Idee des Zuhörens gleichsam, dieses gespannte Versunken- und Hingegebensein, dieses ruhevolle Eintrinken der geistigen Schönheit, dieses reine Hervortreten und Sichtbarwerden der unsichtbaren Seele – es war einer jener seltenen Augenblicke, in denen man um eines solchen Gesichtes willen von erschütternder Menschenliebe und Menschheitsliebe erfaßt wird. Was Zuhörer wie die Argans für einen Mann des Wortes bedeuten mußten, das wird jeder verstehen. Ich ließ keine Zeile drucken, ohne sie ihrem Urteil zu unterwerfen. Und dieses Urteil erfloß weniger aus den nachfolgenden Gesprächen als im unbestechlichen Kaltbleiben oder Warmwerden während meines Vortrags. Dieses Auf und Ab ihres Zuhörens bildete gewissermaßen ein Fixierbad, in welchem sich Wert oder Unwert, Gelingen oder Mißlingen, Sauberkeit oder Fleckenhaftigkeit meines Produkts unnachsichtlich entwickelte.

So lebten die Argans aus der Fülle ihrer starken und bewegten Seele heraus in einer Art von glücklichem Jenseits, das sie sich aus der so ganz anders gesinnten Umwelt ausgespart hatten. Indessen aber rückte von allen Seiten die Sintflut heran, das bleifarbene Lichtgrauen der geistigen und seelischen Sonnenfinsternis. Ich höre deutlich eine Stimme: »Ihre Freunde hatten es leicht, sich ein glückliches Jenseits aus der Zeit zu sparen und das müßig gesellige Leben von Ästheten, Musiknarren, Natur- und Bücherschwärmern zu führen. Die anachronistische Insel, von der Sie sprechen, mehr als anachronistisch, war sie nicht vor allem eine wirtschaftsbedingte Tatsache?« Schmach über uns, die wir immer und überall nur die Bedingt- und Gebundenheiten des Menschen zu seiner ausschließenden Erklärung heranziehen, die wir mit superklugem Augenzwinkern uns zu den hundert Formen der Schwerkraft bekennen, denen wir unterworfen sind, die wir in selbstmörderischer Schadenfreude uns in den polypenhaften Determinismus vergafft haben, der die Brust der Menschheit umklammert und dem Naturlauf gemäß ewig umklammern wird! Fast möchte man meinen, wir täten das, nicht um uns ein wenig Luft zu verschaffen, sondern um im dumpfen Ingrimm des Plebejers die göttliche Größe und Freiheit unserer Seele zu verraten. – Nein, die Argans wären unter allen Umständen und unter jeder Bedingung das gewesen, was sie sind. Kraft ihrer großen Begabung, ihrer echten Ursprünglichkeit und unbändigen Lebensfülle. Im übrigen war Leopold durchaus kein reicher Mann. Er hatte, wie man so sagt, sein gutes Auskommen, das er freilich alle Zeit bis auf den letzten Groschen verausgabte und leider auch darüber hinaus, wie es sich nach der Katastrophe zeigen sollte. Vielleicht entsprang sein goldener Leichtsinn, seine Gastlichkeit und Gebefreudigkeit einem dunklen Vorwissen. Was aber den Besitz in Grafenegg anbetrifft – das alte, ziemlich weitläufige Landhaus inmitten des traumhaften Parks am Fuße eines der eigenartigsten österreichischen Gebirgsstöcke –, so war's keine Erwerbung, sondern ein Erbgut.

In diesem Hause besaß ich eines der Fremdenzimmer. Ich sage »besaß«, denn man hatte es ausdrücklich und ausschließlich mir eingeräumt, und niemand sonst durfte darin wohnen. Da ich seit Jahren schon meiner langen Reisen wegen keinen Wohnsitz hatte, auch in der Hauptstadt nicht, so war das Zimmer in Grafenegg der einzige Raum, den ich mein eigen nennen konnte, und ich hatte ihn auch mit all meinen Sachen vollgeräumt, wie sie im Laufe der Zeit zusammengewachsen waren. Dort lagen meine Bücher und Handschriften aufgestapelt, all die abgeschlossenen und unterbrochenen Arbeiten von den vielen Anfängen, Entwürfen, Skizzen und dem heillosen Zettelwerk ganz zu schweigen, das sich innerhalb eines Jahrzehnts in den Schubladen eines Schriftstellers beängstigend ansammelt. Es ist möglich, daß sich diese Menge in qualvollen und enthusiastischen Nächten beschriebenen Papiers noch immer an Ort und Stelle befindet, denn wie ich höre, ist der Besitz in Grafenegg bis zu dieser Stunde weder enteignet worden noch auch hat er einen Käufer gefunden. Mag mit dem Niedergeschriebenen geschehen, was da will. Der Verlust ist verschmerzt. Ich empfinde das Exil als einen Schicksalsruf zur Erneuerung. An alle Verbannten und Emigranten ergeht ja der Auftrag zum erbarmungslosen Neubeginn, gleichgültig welche frühe oder späte Stunde das eigene Leben geschlagen hat. Diesem Auftrag kann sich keiner entziehen, und von Tag zu Tag wird's für unsereins klarer, wie sehr alles Gewesene und Erworbene verwirkt ist. Dennoch will ich die Wehmut nicht verleugnen, die mich jetzt und hier erfaßt, wenn ich an das Haus zu Grafenegg denke und an mein schönes eigenes Zimmer dort. Es ist wirklich nicht der materielle Verlust meiner Manuskripte, der mich verstört, es ist vielmehr das von mir abgespaltene Leben, es sind die aus meinem Innern hervorgetretenen Geister, die ich dort in einem unbefriedigt-zwielichtigen Zustand umgehen fühle. Ich arbeite im allgemeinen sehr schwer. Welche Mühsal hatte es gekostet, welchen Aufwand an Glauben, Zweifel, schlechtem und gutem Gewissen, um diese ganze Gesellschaft heraufzubeschwören, die nun an meinem Fenster lehnt und über die hohe Rotbuche hinweg auf den höchsten Gipfel des Toten Gebirges starrt, auf den Großen Priel. Es sind meine Geister, so zugehörig mir wie mein eigener Schlaf. Alljährlich im Frühling, wenn ich zur Arbeit nach Grafenegg kam – lange bevor die Hausleute einrückten –, wurde ich beim Betreten des Zimmers von meinen selbeigenen, sich fleißig mehrenden Geistern empfangen. Eine sonderbar behagliche, ja kreuzgemütliche erste Stunde war das jedesmal. Ich schlenderte im Raum umher, begrüßte den und jenen, nahm dies und das in die Hand, las hier einen Satz und dort einen Vers, naschte gleichsam im Vollgefühl meines Reichtums an mir selbst. In dieser ersten Stunde hing ich nicht mehr vereinsamt in der Luft, sondern besaß zahlreiche Verwandtschaft, nahe und ferne, die mir äußerst ergeben war und auf den Wink parierte. Nein, ich war nicht zu beklagen und zweifelte nicht, es müsse so weitergehen und diese alljährliche Begrüßung werde sich wiederholen ungezählte Male, bis ich einst als behäbiger Urvater meiner Geistgeschöpfe sanft erlöschen würde, will's Gott in diesem Zimmer, das mir meine Freunde Argan auf Lebenszeit eingeräumt hatten. Dann erst, bevor ich mich an die neue Arbeit machte, stieg ich hinab in die unteren Wohnräume des Hauses und begrüßte die weit froheren Geister von Livia und Leopold, von Philipp und Doris; die lebten hier als der lachende Nachklang ihrer schönen Stimmen vom vorigen Sommer, der zugleich ein glücklicher Vorklang des künftigen war.

In diesem Sommer zu Grafenegg, der schön war wie alle vorhergehenden, dem aber für mich kein künftiger hier mehr folgen sollte, hatte sich die Familie Argan schon früher eingestellt als sonst. Wir verlebten den Juni und halben Juli in guter Gemeinschaft. Um aber ganz aufrichtig zu sein, das Glück dieses Landaufenthalts war nicht mehr ganz so rein und voll wie früher. Wenn wir auch einer stillen Übereinkunft gemäß politische Unterhaltungen vermieden, so gut es nur ging, so lastete das gegenwärtige und das herandrohende Weltgeschehen doch schwer auf unseren Gemütern: der spanische Bürgerkrieg und vor allem das ungewisse, zweideutige Schicksal unseres eigenen armen Landes. Alltäglich gegen vier Uhr, wenn der Briefträger, ein hinkender Bote dieses Weltgeschehens, mit den Morgenblättern der Hauptstadt vor dem Haustor auftauchte, hatten wir uns schon alle versammelt, und es begann regelmäßig ein heftiger Kampf um die Zeitungen. Auch das Radio wurde nicht so wie einst nur bemüht, um Konzerte und Opernübertragungen aus dem schwangeren Äther heranzulocken, sondern trotz Livias Protest drehte Philipp am Abend den Knopf, um die Hetz- und Lügenmeldungen der Despotien mit den allzu gleichmütigen Berichten der vorläufig noch freien Staaten zu vergleichen. Dabei waren wir alle in unserer Gesinnung und in unseren Wünschen bis auf leichte Schattierungen gleichgesinnt. Aber vorgestern hatte Doris einen Besuch in der Nachbarschaft abgestattet und dort Meinungen zu hören bekommen, die sie entsetzten, und gestern war Philipp in einem Wirtshaus der Ortschaft mit jugendlichen Rucksacktouristen ihres landfeindlichen Grußes wegen beinahe in tätlichen Streit geraten. Die Kinder kehrten von solchen Erlebnissen tief verstimmt heim, und der Druck legte sich dann auch auf uns ältere. Dazu kamen noch Livias ständige Befürchtungen wegen Leopolds höchst entschiedener öffentlicher Stellungnahme. Obwohl schon seit zwei Jahren aus dem Amte geschieden, hatte er sich mehrmals in Wort und Schrift für die von außen und innen bedrängte Unabhängigkeit Österreichs auf das schärfste eingesetzt.

Gegen Ende Juli verließen meine Freunde für eine Zeitlang das Haus in Grafenegg. Philipp und Doris waren auf ein Schloß in Tirol eingeladen. Dort gab es viel Jugend der konventionellen Art. Leopold meinte, es wäre für seine anspruchsvollen und sehr kritischen Kinder gar nicht vom Übel, ein paar Tage unter harmlosem Allerweltskraut zu verbringen. Er selbst fuhr mit Livia nach Salzburg, um bei den Festspielen gewissen Opernaufführungen beizuwohnen. Seine Einladung, mit nach Salzburg zu kommen, lehnte ich ab. Bis zum zwölften August spätestens wollte alles wieder heimgekehrt sein, denn auf den Siebzehnten fiel Livias Geburtstag, der jedes Jahr spaßhaft-festlich mit einer Art Akademie begangen wurde. So blieb ich, wie schon so oft, allein in dem großen Haus, denn bis auf Teta, die Köchin, war auch das Personal beurlaubt worden. Die plötzliche Einsamkeit war mir anfangs gar nicht unlieb. Ich hatte mich nämlich in den letzten Monaten verbummelt, hatte Zeit um Zeit vertrödelt und war mit meinem Arbeitsplan in bedenklichen Rückstand geraten.

Wenn eine künstlerische Arbeit ins Stocken kommt und nicht vorwärtsgehen will, so hat das jeweils seinen guten Grund. Zwar ist der Autor dann meist überzeugt, daß ihm die rechte Stimmung fehle oder daß der von ihm gewählte Stoff bockig sei und eigensinnigen Widerstand leiste. Mich aber hat die Erfahrung belehrt, daß es niemals an der Stimmung liegt und niemals am Stoff. Wenn die Stimmung fehlt, so stimmt etwas nicht. Und nicht der Stoff bockt, sondern die an irgendeinem Punkte verletzte Wahrheit. Ein einziger falscher Einschlag stellt das ganze Gewebe in Frage. In keiner anderen menschlichen Betätigung ist das formale Gelingen so unlöslich verknüpft mit Logik und Ethik wie im künstlerischen Schaffen, dieser sogenannten ›Welt des schönen Scheins‹. Ein alter, vielerfahrener Dichter sagte einst zu mir: »Gott darf unlogisch sein, das heißt ohne erkennbare Folgerichtigkeit, der Schriftsteller nicht.« Der Mann hatte recht. Nur wenn bei einer Erzählung alle Grade der Wahrheit in Ordnung sind, von der niedrigen Wahrscheinlichkeit angefangen, über die feinere Richtigkeit und Aufrichtigkeit hinaus bis zu den letzten Übereinstimmungen, nur dann erlebt ein Verfasser das seltene Wunder, daß gleichnisweise die Quellen des erfundenen Lebens wie von selbst zusammenströmen und einen epischen Wasserspiegel bilden, der ihn wie einen glücklichen Schwimmer hochhebt und trägt. Sein Eigengewicht scheint sich dann zu vermindern, und die elementare Wonne des Schöpfertums durchströmt ihn. In solchen Ausnahmefällen ist er Spieler und Zuschauer zugleich, und die Mühe des Schreibens besteht in einem atemlos raschen Ablesen dessen, was in ihm und um ihn schon fertig aufgezeichnet steht.

Nie war ich von dem hier geschilderten Glückszustand weiter entfernt als in den Sommertagen nach der Abreise meiner Freunde. Die plötzliche Einsamkeit erzwang eine bestürzende Bilanz der Arbeit, an die ich schon fast ein Jahr gewandt hatte. Der historische Vorwurf meines Buches erschien mir mit einemmal ganz verstiegen, seine Menschen steif und ohne Leben, ihre Gespräche erklügelt, ihre Handlungen verdreht, das Ganze unecht und bis zur Sinnlosigkeit mißglückt. Was sollte ich tun? Es war ein sehr umfangreiches Werk, und fünfhundert Seiten etwa hatte ich mir schon abgerungen. Die moralische Kraft besaß ich nicht, diesen hohen Stapel zu vernichten, noch auch die Geduld, das Fertige aufzutrennen und gänzlich neu und anders zu beginnen. Diese Arbeitsart der Penelope ist für die Kunst die einzig richtige. Die Welt aber verwandelte alle vier Wochen ihr Gesicht, und was gestern noch glaubwürdig war, entpuppte sich heute schon als Betrug. Wer konnte da die Ruhe und Festigkeit aufbringen oder auch die Blindheit und Taubheit, um mit unnachgiebigem Eifer an seinem Phantasiegespinst sitzen zu bleiben! Ich versuchte es trotzdem. Jeden Morgen setzte ich mich stöhnend an den Schreibtisch. Ich brachte meine Phantasie in Gang, die mir zu rasseln schien wie eine eingerostete Maschine, und schrieb ein oder zwei Blätter voll. Dann sprang ich auf und lief hinaus wie vom Teufel gejagt. Mitten im herrlichen Tag und in der teuren Landschaft überfiel mich aber dumpfe Verzweiflung, und ich eilte wieder in mein Zimmer zurück, ohne die Strahlenbilder des Morgens genossen zu haben, die starke, nach Honig schmeckende Luft des Toten Gebirges, und ohne dankbar meiner glücklichen Lage innezuwerden, die es mir erlaubte, in solcher Umgebung, wohlgehegt und ziemlich sorgenfrei der geistigen Arbeit nachhängen zu dürfen. Voll Gereiztheit und Ekel las ich das Geschriebene wieder und wieder durch, um es schließlich zu zerknüllen und in den Papierkorb zu werfen. Wie sehnte ich die Heimkunft meiner Freunde herbei, damit ich erlöst werde von dieser täglichen Konfrontation mit meiner eigenen Unzulänglichkeit. Oft war ich nahe daran, auszubrechen und davonzufahren. Ich war nicht mehr sehr jung und war in Einsamkeit aller Art recht beschlagen. Der diesmaligen Einsamkeit aber fühlte ich mich nicht gewachsen und verschmachtete nach wohlwollender Gesellschaft, die ja das beste Schlafmittel für jede Art von Selbsterkenntnis ist. Manchmal wiederum gelang mir ein Satz, eine Passage, ein Charakterbild, ein Szenchen, ich glaubte es wenigstens. Sofort schöpfte ich übermütige Hoffnung und fühlte mich grundlos erleichtert. Aber was hilft ein guter Satz in einem schlechten Zusammenhang? Ich starrte nachher nur noch zerschlagener auf das Papier, als ich's schon vorher getan hatte. Vielleicht werden nur meine Berufskollegen diesen abscheulichen Zustand würdigen können, dieses zermürbende Hin und Her, diese aus heilloser Verwerfung und flüchtigem Selbstbetrug gemischte Hölle? Ich glaubte erloschen zu sein, erledigt, und meine Gabe für immer verloren zu haben.

Eines Tages entschloß ich mich, bis auf weiteres Schluß zu machen, und sperrte das Manuskript fort, um es mindestens zwei Wochen lang nicht mehr anzusehen. Wie immer, wenn der Mensch einer Anstrengung ausweicht, einer Versuchung erliegt und somit moralisch Schiffbruch erleidet, war die Folge durchaus kein Katzenjammer, sondern ein unglaubliches Wohlgefühl. Ich hatte mir als mein eigener Vorgesetzter einen Urlaub erteilt. Nun durfte ich rechtmäßig die Zeit vertun, mich regelloser Träumerei hingeben, ohne widerstrebende Ausgeburten gewissenhaft aus dem Nichts heranbannen zu müssen. Ich war befreit, dachte an die unglückselige Arbeit nicht mehr, ging spazieren und fühlte mich passabel.

Der Park zu Grafenegg bestand aus verschiedenen Teilen. Vor der Stirnseite des Hauses lag ein mächtiger Rasen, Tummelplatz der Kinder und ihrer Gespielen, solange sie klein waren. Rechter Hand dehnte sich ein weiter Obsthain, der den Blick auf Glashaus, Wirtschaftsgarten und Kartoffeläcker verhüllte. Auf der anderen Seite sank das Grundstück allmählich zur Straße hinab. Hier standen in großer Dichtigkeit die edelsten alten Bäume, Ulmen, Platanen, echte Kastanien, Blutbuchen von einer Höhe und Schönheit, wie ich sie sonst nirgends gesehen habe. Ein Stück hinter dem Hause begann aber der eigentliche, der ›wilde‹ Park, eine Berglehne emporsteigend. Auf der Höhe verlor er sich in einen endlosen Lärchenwald, der nur teilweise zu Argans Eigentum gehörte. Die alte Einfriedung war dort auf lange Strecken eingestürzt, und die eigentumsmäßige Natur ging in herrenlose Natur über, ohne daß man die Grenze sah. Dieser Teil des Parks und der anschließende Berg, der in einem recht verlassenen und ungebahnten Höhenrücken verebbte, war die Stätte meiner täglichen Entdeckungsfahrten. Hier gab es sogenannte ›Platzln‹ in großer Menge, und nach zehnjähriger Vertrautheit mit dieser Gegend konnte es noch immer geschehen, daß man auf einen neuen Punkt, auf eine unbekannte Baumgruppe und einen überraschenden Ausblick stieß.

Einmal, es war schon ziemlich spät am Nachmittag, hörte ich durch das dunkle Sausen der Lärchen hindurch von fern den zirpenden Laut einer Zither und ein sonderbar dünnes Stimmchen dazu, das dann und wann von dem schmerzlichen Heulen eines Hundes begleitet wurde. Ich folgte dem Klang und kam auf eine ziemlich große Lichtung, die noch innerhalb des Parks lag. Hier mußte vorzeiten ein geringes Anwesen gestanden haben. Ein ganz und gar vermorschter Brunnentrog sprach dafür und zwei mächtig schöne, wohl hundertjährige Linden, die gerade abgeblüht hatten, jetzt erst vor Maria Himmelfahrt, wie überall im Hochgebirge. Unter der durchgoldeten Kuppel dieser Linden befand sich eins der berühmten Platzln, die halb zusammengestürzte Ruine eines groben Tisches und einer wackligen Bank. Auf dem Tisch lag der Zitherkasten. Unter die Saiten war ein Notenblatt geschoben. Daneben häuften sich ganze Berge von gesammelten Kräutern, Minze, Erika, Thymian, deren Duft mich erreichte. Auf der Bank saß Teta, den Hund Wolf zu ihren Füßen, diesen ältesten und grimmigsten Veteranen der Meute von Grafenegg, gefürchteten Wächter und geschworenen Feind aller Briefträger, der seiner reizbaren Gemütsart wegen sonst stets an der Kette liegen mußte. Wolf war blind. Doch weder Alter noch Blindheit hatte ihm zu einer abgeklärten Betrachtung des Lebens verholfen. Er war bei meinem Kommen aufgesprungen, starrte mich aus der opalisierenden Verglasung seiner Augen bitterbös an und knurrte leise, aber aus ganzer Seele. Auch die alte Magd hatte sich erhoben. Sie mahnte den Hund, ohne ihn anzublicken

»No, was ist denn, Hundl? Was hat der Burschl? Das ist doch der gnä' Herr ...«

Wolf überlegte eine Weile, ob er dieser beruhigenden Kundmachung trauen dürfe, dann ließ er sich voll abweisenden Unmuts auf seine Pfoten nieder und gab mir zu fühlen, daß ich ihm, als unerwünschter Eindringling, eine schöne musikalische Stunde verdorben habe. Teta aber blieb stehen und sah mich aus ihren merkwürdig hellen und schönen Augen erwartungsvoll an. Mir fiel ein, daß ich von Doris öfters folgenden Satz gehört hatte: »Soeben bin ich Fräul'n Teta mit Herrn Gemahl begegnet.« Unter dem Herrn Gemahl wurde Wolf verstanden, dem seine Gönnerin den zärtlichen Kosenamen ›Burschl‹ verliehen hatte. In Grafenegg gab es ein paar edle und schöne Hunde, einen Dobermann, einen Setter, einen reizenden Pudel. Teta aber behandelte all diese wohlgeborenen Hausgenossen mit ausgesprochener Feindseligkeit. Ihre eifersüchtig erbitterte Liebe galt einzig dem blinden, sehr unsympathischen Kettenhund, und es ging die Sage, daß kein Braten auf den Tisch komme, von dem der Wolf nicht schon vorher den Löwenanteil erhalten habe. Alljährlich bei der Übersiedlung nach Grafenegg pflegte Teta das Gepäck der Familie Argan um einige Handkörbe und verschnürte Pappschachteln zu vermehren, in denen sie allerlei abgesparte und zum Teil versteinerte Leckerbissen für ihren angejahrten Liebling mitführte. Niemand wagte es, ihr wegen dieses widerwärtigen Brockenzeugs Vorstellungen zu machen. Fräul'n Teta, wie die alte Frau auch von der Herrschaft genannt wurde, hatte es verstanden, sich im ganzen Hause Respekt zu verschaffen. Man ging mit ihr vorsichtig um. Auch ich verspürte jetzt etwas von diesem sonderbaren Respekt, als ich auf sie mit dieser Entschuldigung zutrat:

»Es tut mir leid, daß ich Sie gestört hab', Fräul'n Teta. – Sie haben da Musik gemacht. – Das versteht sich von selbst in einem so musikalischen Haus.«

Auf Tetas mongolisches Gesicht trat ein erschrockenes Lächeln.

»Der gnä' Herr haben nicht gestört, wenn ich bittlich sein darf. Der gnä' Herr müssen ja spazierengehen.«

Und als ob sie untertänigerweise keine direkte Antwort wage, wandte sie sich wieder an den Hund:

»Wir haben nur gesungen ein bißl. – Was, Burschl? – Zwei kleine Liedln nur. – Nicht wahr, Burschl?«

Der Angeredete hob sich auf die Vorderpfoten, streckte den mürrischen Greisenkopf vor und stieß ein langes tremulierendes Geheul aus, das dem hilferufenden Tone eines Nebelhorns glich. Nach dieser Darbietung ließ er sich gleichgültig wieder fallen. Teta lachte ein kurzes gurrendes Lachen:

»Brav ist der Burschl, kann schön singen der Burschl. – Er versteht alles, was man sagt – mehr als mancher Mensch.«

Teta sprach mit einem harten slawischen Tonfall, der aber durch den österreichischen Dialekt seltsam gemildert klang. Sie trug ein schwarzes Kleid, dazu eine hellblaue Schürze und auf dem Scheitel eine weiße Krause. Ihre dünnen Haare, die noch auffällig braun waren, spielten im Wind. Ich sah mich um. Seit vielen Jahren schon war ich nicht auf dem Lindenplatzl gewesen. Unbegreiflich. Es war der Glanzpunkt des ganzen Parks. Nach Westen öffnete ein breiter Baumschlag den Durchblick auf die Spitzen und Grate des Toten Gebirges. Diese oberhalb der Vegetationsgrenze sich meilenweit erstreckende Bergwüste und Felsöde, ein großer weißer Fleck auf der Landkarte, der selbst die Ehrfurcht gewiegter Bergsteiger genießt, eine fremde, abgesondert strenge Welt inmitten bürgerlicher Alpenketten, wuchs, von hier gesehen, zu überwältigenden Maßen auf. Die bereits altgoldne Sonne stand darüber und färbte die zahllosen Schrunden, Risse, Schluchten und die gezackten Schatten der Felswände mit einem kosmischen Violett. Das breite Tal zwischen uns und dem Gebirgsstock verschwand in einem nebligen Blau, in dem jede Form verdunstete. Nur eine Fabriksirene und ein paar in der Ferne ratternde Autos bewiesen, daß es in dieser verschwimmenden Mulde noch menschliches Leben gab. Der weiche Grasboden ging unmerklich in die schwingende Walderde über, deren Nadelgeruch sich stellenweise zum Duft von zehntausend Zyklamen verdichtete.

»Sie haben sich da gar kein schlechtes Platzl ausgesucht, Fräul'n Teta«, sagte ich, »etwas Schöneres gibt's hier überhaupt nicht.«

Teta seufzte tief auf und sagte mit inständigem Ton:

»Ja, das ist eine Pracht dahier ...«

Zwischen dem Vokal A und dem nachfolgenden Konsonanten schaltete sie einen Zischlaut ein, so daß es klang wie »Prascht«, und sie schüttelte eine ganze Weile lang den Kopf, um ihrer Verwunderung über diese Pracht Ausdruck zu geben.

»Ich muß Ihnen auch noch vielmals danken, Fräul'n Teta« begann ich wieder, »weil Sie so nett für mich sorgen.«

»Wenn's dem gnä' Herrn nur schmeckt«, erklärte Teta kurz und begann, die Kräuter in ihren Korb zu tun.

»Nur zu gut schmeckt's mir. Man sieht's mir ja auch an. Ihre Küche verwöhnt einen zu sehr, Fräul'n Teta.«

»Die gnä' Herrschaft hat's so angeschafft«, sagte Teta und wies damit jedes eigene Verdienst von sich: »Jetzt aber muß ich gehn, Nachtmahl kochen.«

Eilig packte sie ihre Sachen zusammen, als habe unsere Unterhaltung schon die zulässige Dauer eines Gespräches zwischen Herrn und Magd überschritten. Dann verschwand sie mit Zitherkasten, Korb und Hund, schwerfällig trippelnden Ganges, unter den Lärchen. Ich sah ihr nach. Sie trug in der rechten Hand einen angeschnittenen Ast als Stock. Da sie aber meinen Blick im Rücken zu spüren schien, benützte sie die Stütze nicht, als schäme sie sich. Während ich weiterspazierte, wunderte ich mich darüber, daß ich soeben das erste längere Gespräch mit Teta geführt hatte. Sie diente schon beinah zwanzig Jahre im Hause Argan. Ich war ihr in der Stadt wie in Grafenegg immer wieder begegnet. Wir hatten stets nur einen Gruß getauscht. Das gleichgültige Gespräch dieses Nachmittags aber klang in mir fort. Irgend etwas Festes und Abgeschlossenes spürte ich an der alten Magd, das mich packte. Freilich, wenn mir jemand gesagt hätte, ich würde mich einmal wochenlang mit Teta beschäftigen, ich hätte ihn nicht verstanden. Und doch, schon jetzt beschäftigte ich mich mit Teta. Das Bild, wie sie, den blinden Hund dicht neben sich, eilig und schwerfällig im Walde verschwunden war, wich nicht von meinen Augen. Ich dachte daran, daß Teta eine unerreichte Meisterin ihres Faches war, was alle Freunde und Gäste des Hauses Argan wohl wußten, und daß man mit Fug und Recht von der »Koch-Kunst« spricht und nicht vom »Koch-Handwerk«. Denn diese wie jede andere echte Kunst – sie ist die Musik des Geschmackssinns – beruht auf dem Zusammenwirken von Begabung, Formgefühl, hingegebenem Fleiß und echter Persönlichkeit.

Zwei Tage später kam ich um die Mittagsstunde nach Hause und wollte meine Pfeife anzünden. Da mir aber die Streichhölzchen ausgegangen waren, mußte ich in die Küche gehen und Teta um Feuer bitten. Die Küche lag im Erdgeschoß am Ende eines langen Ganges. Als ich nun an die weißlackierte Tür kam, hörte ich ein lautes Gespräch, das mich hinderte, die Klinke niederzudrücken. Es war ein philosophisches Gespräch, das sich zwischen Teta, Burschl und dem Gärtner Bichler entsponnen hatte und das ich indiskret belauschte. Dieser Bichler, ein arbeitsloser Mechaniker mit einer blassen Frau und zwei verhungerten Kindern, war von Leopold Argan auf irgendwelche Empfehlungen hin vor Jahren als Gärtner und Hausbesorger in Grafenegg angestellt worden. Damals, als er ins Haus einzog, glich er mit seinen hohlen Wangen und brennenden Augen einem gekränkten Säulenheiligen, der sein Opfer verschmäht sieht. Inzwischen aber schien sich mit zunehmendem Körpergewicht auch seine Seele verändert zu haben. Der Mensch hatte seltsame Rosinen im Kopf, trug eine Samtjoppe, langes Haar, flatternde Krawatten, sog wie ein Löschblatt alle radikalen Parolen des Tages auf, malte Aquarell, bastelte Radio und verlungerte, weil er sich für ein unterdrücktes Genie hielt, ansonsten den lieben Tag. Frau Bichler hingegen plagte sich redlich. Seinetwegen aber mußte man zweimal des Jahres Hilfskräfte aufnehmen, damit Nutzgarten und Park nicht gänzlich verfalle. Leopold und Livia waren nicht die Menschen, den Tagedieb mit seinen armen Kindern auf die Straße zu setzen, sosehr er auch seine Pflicht vernachlässigte und ihnen auf die Nerven ging. Meines Wissens hatte Livia während unserer ganzen Bekanntschaft nur ein einziges Mal ein Hausmädchen Knall und Fall entlassen müssen. Und danach war sie beinahe krank gewesen vor Unbehagen wegen dieser jähen Kündigung. Jetzt hörte ich Herrn Bichler sprechen. Er hatte eine hohe, enge, zugleich eifernde und wehleidige Stimme:

»Ich hab' einen Freund gehabt«, sagte er, »einen gewissen Hromada, der war bei der Anatomie bedienstet, in der Währinger Straße. Hunderte von Leichen, sag' ich Ihnen, hat der Hromada seziert, und er hat nirgends nicht ein Organ gefunden, wo hätt' eine unsterbliche Seele drin sein können, meiner Seel'. – Überhaupt, eine gescheite Person wie Sie, Fräul'n Teta, sollt' andere Ansichten haben. – Auch ich bin nicht viel in die Schul' gegangen, aber das muß ich sagen, ich hab' mich fortgebildet.«

»Wer red't denn mit Ihnen über solche Sachen«, entgegnete Tetas Stimme brummig. Dann hörte ich, wie sie unwirsch durch die Küche schlurfte, um nach einer Weile den Hund anzureden: »Spandln für die Feuerung werden wir brauchen, nicht wahr, Burschl, und eine Butte Kohlen.«

Bichler aber setzte seine Eiferrede fort:

»Und warum sind wir nicht viel in die Schul' gegangen, Sie und ich, Fräul'n Teta? – Weil bei uns noch immer die Juden und Pfaffen regieren. – Und die Pfaffen wissen ganz genau, warum sie das Volk blöd machen mit Himmel und Hölle. – Wenn nämlich das Volk mit dem Jenseits blöd gemacht ist, dann kuscht's hier herunten und frißt alles. – Und die Juden und die Pfaffen können sich den Bauch weiter vollschlagen. – Sonst wären Sie doch selbst eine Gnädige, Fräul'n Teta.«

»Und dann werden wir noch brauchen zwei Häupteln Salat. – Was, Burschl? – Und Karotten und Erbsen aus dem Garten, die uns der Herr Bichler bringen muß.«

»Das deutsche Volksvermögen aus Österreich aber geht nach Rom zum Oberpfaffen und nach Paris und London an die internationalen Juden. – Das ist doch klar. Dagegen können Sie nichts sagen. – Die Religion ist das Opium der Völker.« – »Opium bekommt man in der Apotheken«, erklärte Teta, »es ist eine ganz gute Medizin manchmal.«

Brav pariert! Keine üble Antwort, dachte ich. Bichlers Stimme aber klang jetzt tief gekränkt:

»Fräul'n Teta, eine Volksgenossin wie Sie verhindert den menschlichen Fortschritt und den Sieg der Idee.«

Die Köchin hatte geräuschvoll die Töpfe auf dem Herde hin und her gerückt. Jetzt unterbrach sie jäh diese zornige Tätigkeit:

»Wer ist Ihre Volksgenossin? Ich bin nicht Ihre Volksgenossin. – Und überhaupt, ich hab' Sie mir gestern beim Kartoffelhäufeln angeschaut, Herr Bichler – ein junger Mensch, der bei der Landarbeit einen Sessel braucht, um sich draufzusetzen wie im Büro, der kann nicht mitreden – der versteht nichts von solchen Sachen. – No, was sagst du, Burschl?«

Auf diese deutliche Aufforderung hin mischte sich der Hund mit heftiger Parteinahme ins Gespräch. Ich spürte geradezu hinter der geschlossenen Tür, wie dieser grimmige Kavalier der Köchin den Propagator verbellte, so daß dieser wahrscheinlich blaß wurde und zurückwich. Nach ein paar Sekunden wies Teta den Burschl zur Ruhe und schloß den Disput mit barscher Sachlichkeit:

»Es ist halber zwölf – der Herr muß sein Essen pünktlich bekommen. Stören Sie mich nicht länger.« – Ich entfernte mich leise, ohne meine Pfeife angezündet zu haben.

Abends gegen acht Uhr erlitt ich einen starken Anfall von Depression. Dergleichen Zustände hatten mich in früheren Zeiten öfters angewandelt, waren aber seit meinem vierzigsten Jahr beinah ganz verschwunden. Es begann wie immer mit einer Blutleere im Kopf, mit Herzgeflatter und einer Auskältung aller Glieder. Der Tod atmete eisig meinen Nacken an. Mir war, als ob sich ein unausdenkbar-unabwendbares Unglück von allen Seiten heranwälze. Nein, ich, dieses Zimmer, dieses Haus, dieses ergrauende Land vor dem Fenster, wir alle schienen vielmehr mit der donnernden Geschwindigkeit eines Schienenautos mitten hineinzufahren in dieses harrende Unglück, das nebelhaft und doch unbeweglich auf seiner Stelle thronte wie vom Beginn der Schöpfung her. Ich warf mich aufs Bett, um von diesem Unentrinnbaren, dem wir entgegensausten, nichts mehr zu wissen. Erst als es ganz finster geworden war, zersprang die Klammer um meinen Kopf. Nichts blieb übrig als das fadschmeckende Bewußtsein von der arktischen Einsamkeit meines ganzen bisherigen Lebens, eines somit heillos verpfuschten Lebens. Ich schlich mich feige aus dem Zimmer. Ich mußte lebendige Wesen sehen, die Bichlers, Teta, die Hunde ...

Die Küche, in die ich ging, war schon ausgelöscht und leer. Da stieg ich in den Mansardenstock hinauf, wo das Hauspersonal wohnte. Die Angst war noch immer da. Mein Herz arbeitete schnell, und ich mußte mich überwinden, um mich nicht lächerlich zu machen und wie ein furchtsames Kind nach Teta zu rufen. Ich hatte das unsinnige Gefühl, niemand anderer könne mich sicherer vor dem Tode retten als die alte Magd mit ihren Vergißmeinnichtaugen und breiten Backenknochen. Am Ende des Ganges drang durch eine Türritze ein Strich von Licht. Ich klopfte zweimal an. Keine Antwort. Teta war nicht da. Ich öffnete die Tür. Ein echtes Mägdekämmerchen. Auf dem schmalen Bett lag eine Decke, auf der in farbiger Netzstickerei eine Schäferszene mit ausgeblaßten Rokoko-Figuren dargestellt war. Diese rührend vergilbte Decke bildete zweifellos das wohlbehütete Eigentum Tetas, wahrscheinlich ein Erbstück, das sie auf ihrer ganzen Lebensreise begleitete. Die Kammer war vollgeräumt mit Körben, Schachteln, Paketen aller Arten. Die beiden altertümlichen Strohkoffer, die fest versperrt waren, schienen nicht hinzureichen, um die Habseligkeiten und den Krimskrams der Köchin aufzunehmen. In einer Ecke häuften sich die getrockneten Kräuter in verschiedenen Hügeln. Der scharfe Geruch der Minze schlug mir entgegen. Auf dem Fensterbrett standen zwei Levkojenstöcke, auf dem Tischchen zwei Wassergläser mit Zyklamensträußen. Über dem Bette, wo ich eine Muttergottes vermutet hätte, hing unter Glas und Rahmen der Farbdruck eines jungen, bildschönen Heiligen, der mitten in einem ungelenken Walde vor seiner Klause im Gebet versunken kniete, während sich das allzu körperliche Engelgedränge seiner Vision aus einer fast giftig lazuliblauen Himmelswunde auf ihn herabsenkte. Das Gesicht des Ekstatikers aber war jugendfrisch, überaus süßlich und stand in fröhlichem Widerspruch zu dem durch Entsagung erworbenen Heiligenschein. Unterhalb dieses anspruchsvollen Gemäldes hing ein zweites, aber bescheideneres Bild, ebenfalls unter Glas und Rahmen. Es war die Fotografie eines jungen Geistlichen im Chorrock, der das Brevier in Händen hielt. Seine Augen blickten schwärmerisch und kurzsichtig in die Ferne, als hätten sie soeben erst von dem erbaulichen Texte aufgesehen. Diese Fotografie im sogenannten Kabinettformat schien schon manches Jahr alt zu sein. Die pathetische Haltung des jungen Priesters bewies das sowie die unnatürlichen Wolken, die hinter seinem Kopf zu einem ewig drohenden Wetter geronnen waren. Ähnliche Bilder mit solchen feierlichen Prospekten im Hintergrund werden noch heute von den Schnellfotografen der Jahrmärkte aufgenommen. Hinter dem Rahmen steckten ein paar drahtige Stengel von pelzigem Edelweiß, auch diese vielleicht schon einige Jahre alt. Ohne einzutreten besah ich mir lange das Zimmerchen, und derselbe Eindruck von merkwürdiger Abgeschlossenheit und Festigkeit wie vor zwei Tagen ergriff mich. Hier hauste jemand, der mittels ein paar armseliger Dinge einem engen Raum den Stempel seines Wesens aufzudrücken vermochte. Ich fuhr zusammen, als ich Tetas Stimme plötzlich hinter mir vernahm. Da sie in Filzschuhen ging, hatte ich ihr Kommen nicht bemerkt. Aus ihren Worten glaubte ich Mißtrauen und Unwillen herauszuhören:

»Was wünscht der gnä' Herr dahier?«

»Ich fühl' mich nicht besonders wohl, Fräul'n Teta«, sagte ich verlegen, »vielleicht bekomm' ich ein Fieber. – Es wär' nett von Ihnen, wenn ich einen Tee haben könnt'. – Ich hab' Sie gesucht.«

Teta warf mir einen prüfenden Blick zu. Dann trat sie zu ihren Kräutern und begann in den Häuflein emsig zu wühlen:

»Da hab' ich einen Tee«, ächzte sie während des Suchens, »der bringt jede Erkältung weg und Kopfweh und verdorbenen Magen in einer halben Stund' wie ein Wunder.«

Und indem sie, noch immer gebückt, die Mischung bereitete, blinzelte sie zu mir herüber:

»Der Tee wird gleich fertig sein. – Geh' der gnä' Herr nur in sein Zimmer – wenn ich bittlich sein darf.«

Teta hatte mich nicht nur nicht aufgefordert, bei ihr einzutreten, sondern sie schickte mich fort. Vermutlich mochte sie es gar nicht leiden, wenn irgendwer ihrem Sanctissimum zu nahe kam. – »Da mach' ich Ihnen wieder einmal Mühe«, entschuldigte ich mich.

»Mit Erlaubnis, das ist keine Müh', bitte. – Der gnä' Herr sind ja immer allein und studieren so viel bis in die Nacht. – Und die gnä' Herrschaft hat befohlen, daß ich auf den gnä' Herrn schaun tu. – Ich werd' auch eine Wärmflasche heiß machen.«

»Fräul'n Teta«, sagte ich, »unsere gemeinsame Wirtschaft geht jetzt zu End. Übermorgen kommen die Herrschaften zurück, ich hab' Nachricht bekommen. – Da möcht' ich mich Ihnen erkenntlich zeigen ...«

Ich zog einen Geldschein aus der Tasche und drückte ihn ihr in die Hand, hatte aber dabei die peinliche Empfindung, etwas Unangemessenes zu tun. Sie jedoch schloß die Faust ziemlich gierig um das Geld und ließ es schnell in ihre Schürzentasche verschwinden, wobei sie sich mit einem kleinen Auflachen zierte: »Aber was tun der gnä' Herr da? – Nein, so was! – Das wär' ja gar nicht nötig!«

Ich mußte ihr die Hand entziehen, die sie nach Art alter Mägde zu küssen versuchte. Nur um einen Abschluß zu finden, deutete ich auf den Farbdruck des Heiligen über dem Bette hin: »Ein schönes Bild haben Sie da hängen, Fräul'n Teta.«

Sie nickte mehrmals, während sie tief aufseufzte: »Ja, das Bild ist eine Pracht.«

Mein Blick aber blieb lange an der Fotografie des jungen Geistlichen mit dem Brevier hängen. Zwischen Teta, dieser Fotografie und mir ging etwas Undeutliches vor. Ich fühlte, daß mich Teta von der Seite verstohlen ansah, als fürchte sie eine Frage, die zu beantworten sie nicht gesonnen war. Ich aber fragte nichts.


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