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11. Der Pilgerfahrt letzte Station

Nachdem Johannes Seydel gegangen war, ließ sich Teta Schreibzeug und Briefpapier bringen. So erregend es für sie war, Briefe zu erhalten, gehörte es doch zu den größten Selbstüberwindungen ihres Lebens, sich hinzusetzen und mit schiefgeneigter kindlicher Schrift diese Briefe zu beantworten. Der Sprache selbst mündlich nur in ihrer eigenen, abweichenden Art mächtig, fiel es ihr doppelt schwer, sie schriftlich zu gebrauchen, da sie sich jeder Fehlerhaftigkeit bitter schämte. Es half aber nichts. Obwohl die Zeit nicht drängte, zwang sie ein unabweisbarer Willenstrieb, Ordnung zu machen und mit der Wiederaufrichtung noch in dieser Nacht zu beginnen. Zuerst schrieb sie den Brief an die Stellenvermittlung. Eine harte Mühe! Sie mußte gewaltig nachdenken, um die ihr gemäße unterwürfige und doch eigensinnige Ausdrucksweise im Schriftwort festzuhalten, noch dazu mit der diesem Eigensinn angepaßten falschen Rechtschreibung. Sie nahm den Antrag der Baronin Perera, deren Hände küssend, gehorsamst an und wurde bittlich, daß Ihre Hochgnaden mit Gunst möchten denselben Monatslohn genehmigen, welchen die erstklassig perfekte Köchin im herrschaftlichen Hause Argan zuletzt bezogen hatte. Zu diesem mit großer Besonnenheit stilisierten Brief brauchte Teta eine ganze Stunde. Sie wollte bei der künftigen gnä' Herrschaft ganz bewußt den Eindruck hervorrufen, daß sie keineswegs zu der unverschämten Klasse der neuen Dienstboten gehöre und daß der Nachteil ihrer Jahre durch den unabschätzbaren Vorteil gepflegter Umgangsformen voll aufgewogen werde. Sie kannte genau die Ehrbedürfnisse der Gnädigen aller Gesellschaftsschichten, angefangen von der neureichen Unsicherheit der Bezirksarmenrätin Fleißig bis zur wegwerfenden Huld wirklicher Aristokratinnen.

Nachdem Teta mit angestrengten Strichen die Adresse auf den Umschlag gemalt hatte, blieb sie eine Weile erschöpft sitzen. Dann aber schritt sie zur Tat. Sie entnahm dem Täschchen ihren Schatz, den sie gegen alle Devisenvorschriften auch in Italien mit sich führte, und häufte die Neunzehntausend, die sie noch von ihrem Schatz besaß, hoch vor sich auf. Mit verdunkelten Augen starrte sie diesen Reinertrag ihres Lebens erst lange an, ehe sie ihn wieder einmal abzählte und in zwei ungefähr gleiche Pakete teilte. – Was war's? Was wollte sie damit?

Vor allem war's der Überschwang ihres Gefühls für Johannes Seydel. Sie sehnte sich mit einer bebenden, ihr ganz und gar unbekannten Ungeduld danach, den Herrn Kaplan fassungslos vor Glück zu sehen. Durch Teta, die unscheinbarste aller Pilgerinnen, deren er sich freundlich angenommen hatte, sollte der Herr Kaplan urplötzlich in die schwindelerregende Lage versetzt werden, seinem gnä' Fräulein Schwester den Lebensdank abzustatten. Tetas Gemüt bäumte sich vor süßer Lust, wenn sie den Herrn Kaplan heranträumte, wie er bestürzt, mit offenem Mund dasteht, da er nun das viele, viele Geld in der Hand hat, um Fräulein Irens letztes Lebensjahr zu erleichtern und zu vergolden. Sie war der Summe wegen mit sich zu Rate gegangen und zu dem Schluß gelangt, daß auch die vornehmste Heilanstalt nicht mehr als einen Tausender im Monat begehren könne. Zuerst hatte sie von ihrem Schatz zwölf Tausender abgesondert, dem Fräulein Iren noch ein volles Jahr zubilligend. Später aber nach einigem Zögern rundete sie die Summe auf zehntausend herab; man durfte ja füglich annehmen, die Kranke werde die nächsten Frühlingsstürme trotz aller Sanatorien und ärztlichen Kapazitäten nicht überstehen. Möge sie's gut haben durch Tetas Geld und dann, von den besten Ärzten und Krankenschwestern gepflegt, von dem geweihten Bruder betreut, sanft dahinschlummern, früher oder später. Es kam Teta durchaus nicht darauf an, daß es dank ihrer Hilfe auch etwas später werden könnte. Sie fühlte sich im Besitz einer unbeschränkten Wartezeit. So merkwürdig es war, eine vollständige Genesung des Fräulein Iren zog sie ebensowenig in Betracht wie eine Gefährdung ihres eigenen Lebens vor dem Jahre 1940. Und hier lag nun das schöne Geld. Und es gehörte nicht mehr ihr. Sie schob es von sich. Ihr Gesicht aber erstrahlte vor inbrünstiger Freude.

Diese Inbrunst, diese Lust war jedoch nur die äußere Erscheinungsform dessen, was sie ganz erfüllte. In der Tiefe arbeitete ihr klarer Verstand an demselben Werke. Sie bewies damit in ihrer Art eine echte Durchdrungenheit von der katholischen Religion, die ja auch nur zu einem Teil mystische Hingabe ist, zum andern aber eine streng logische Ordnung. Teta wußte genau, daß sie den neuen Lebensplan so wenig wie den alten ohne Opfer verwirklichen könne. Wieviel Opfer hatte sie der Neffe gekostet, abgesehen von den zahlreichen Tausendern seit einunddreißig Jahren, wieviel Schwierigkeiten, schlimme Zweifel, schlaflose Gedanken, ein quälendes Heiß und Kalt immerzu. Der Herr Kaplan kostete, so schien es ihr, bedenklich wenig Opfer. Den Hauptteil ihrer Ersparnisse, auf welche Zikan lauerte, Zehntausend und basta. Die wunderbare Fügung der Dinge machte ihr's beinah zu leicht, jetzt, wo sie wieder arbeiten und sparen konnte wie früher. Ein mittelmäßiges Opfer, vom Herzen gerissen und dem geliebten Herrn Kaplan dargebracht, und schon ist die Straße zu seiner demnächst frei werdenden Dankbarkeit gebahnt. Rettungslos verpflichtet bleibt ihr dann der Herr Kaplan. Ihr schamloser Stoßseufzer »Tät' er nur mir gehören«, dieser verbotene närrische Wunsch geht mit Zauberschnelle in Erfüllung, und der Herr Kaplan gehört wirklich ihr. Der Himmel hat sie um den nichtswürdigen Lumpen jahrzehntelang bangen und bangen lassen, den reinen schönen fröhlichen Engel aber schenkt er ihr im Schlaf, von einem Tag zum andern: »Aber Fräulein Linek«, wird der Herr Kaplan sagen, »das kann ich ja gar nicht annehmen! Wir haben nur eine liebe Pilgerfreundschaft geschlossen, gleich auf den ersten Blick, das aber geht trotzdem zu weit, ich bin außer mir, wie soll ich Ihnen jemals entgelten, was Sie damit für meine arme Schwester Iren tun ...?« Teta aber wird darauf wegwerfend erwidern: »Hauptsache, daß die gnä' Schwester wieder gesund wird in der Schweiz im allerbesten Sanatorium, und daß man nichts versäumt. Mit Erlaubnis, der Herr Kaplan brauchen sich sonst keine Sorgen zu machen. Ich hab' doch selbst die größte Freud damit, daß es dem gnä' Fräulein bald besser gehn wird und daß sie nach einem Jahr gesund zurückkommt. Wenn aber auch traurigenfalls der Herr Kaplan nächstens sich eine eigene Wirtschaft einrichten, so werd' ich bittlich sein, daß der Herr Kaplan an mich denkt. Die alte Linek ist noch immer so flink wie keine andere, und ihr Apfelstrudel ist berühmt in den hochgnädigsten Häusern und auch die ganz feinen französischen Vorspeisen und ihre Soufflés, Cremetorten, Eiskrapfen wie vom Zuckerbäcker Dehmel. In meiner Jugend hab' ich ja volle fünf Monate in der Küche vom Hotel Sacher mitgeholfen.« Darauf wird der Herr Kaplan wieder über sein ganzes liebes junges Gesicht lachen: »Wo denken Sie denn hin, Fräulein Linek, ich mit meinen Zweihundert monatlich, da gibt's keine Soufflés, Cremetorten, Eiskrapfen, wenn ich auch wirklich nach all dem schlechten Fraß sehr gern eine gute eigene Wirtschaft haben möcht'.« Teta macht, während sie dieses innere Zwiegespräch führt, eine großzügige Handbewegung. »Darüber müssen der Herr Kaplan auch nicht nachdenken«, fällt sie eifrig ein, »das macht die alte Linek schon, die kennt sich aus. Die hat ihre Quellen in jedem Bezirk. Der Herr Kaplan sollen nur nach Haus kommen und sich an den Tisch setzen.« – Auf diese Versicherung hin wird der Herr Kaplan die alte Linek um die Hüfte fassen und in die Höhe heben, der Athlet, vor lauter Glück und Lustigkeit.

Ein leichter Zweifel mischte sich ein. Was aber, falls der Herr Kaplan die Gabe zurückweist? – Ausgeschlossen! Wenn er auch der äußerste Gegensatz zum Neffen ist, er würde kein liebender Bruder sein, wenn er diese sehnsüchtig erträumte Summe zurückwiese, die es ihm ermöglicht, der mütterlichen Schwester seines Lebens endlich den Dank abzutragen. Man muß es nur besonders fein und vorsichtig anstellen, damit der Herr Kaplan sich nicht verletzt oder bedrückt fühlt, von einer Niedrigen Geld annehmen zu sollen. Wie sie das anstellen werde, wußte Teta noch nicht. Ob die Übermittlung des Geldes schon in Rom zu erfolgen habe oder erst daheim und in welcher Form, das mußte noch reiflich überlegt werden. Jetzt nahm sie einen Briefbogen und schrieb darauf folgende Worte, die in ihrem Stil und in ihrer nicht wiederzugebenden Rechtschreibung so sehr ihr eigen waren, wie alles, was sie dachte, sprach und tat:

»Endesuntergefertigte überweist hierdurch den beigelegten Betrag von Schilling zehntausend dem Herrn Kaplan Johannes Seydel Hochwürden zum gefälligen Kurgebrauch gnädigen Fräuleins Schwester, Irene Seydel Hochwohlgeboren. Teta Linek, derzeit Private.«

Glücklicherweise fand sie einen groben Umschlag, der groß genug war, die dicke Summe aufzunehmen. Nun lag nur mehr der zweite, kleinere Haufen ihres Schatzes vor ihr, den sie aufmerksam betrachtete. Da aber stieg etwas in Teta auf, das mit der klaren Zielbewußtheit ihrer bisherigen Überlegungen nichts zu tun hatte. Es war das traurige Bild Mila Lineks, des armen Trottels, das auf einmal alle anderen gaukelnden Wunschbilder durchkreuzte. Sie hatte Milas wegen niemals irgendeine Verpflichtung oder Schuld empfunden. Jetzt aber drängte sich die Schwachsinnige mahnend vor, als sei es ihr gutes Recht, in solcher Stunde des Überglücks einen verwandtschaftlichen Anteil auch für sich zu fordern. Teta sah die Verkümmerte mit dem großen grauen Wackelkopf vor sich, wie sie in der Konditorei ihr Fruchteis verschlang, den Teller mit der linken Hand mißtrauisch gegen eine feindselige Welt verteidigend, die ihr's nicht gönnen wollte. Sie sah die Ärmste, wie sie die ängstlich geöffnete Trinkgeldhand hinhielt, und sie hörte in ihrer römischen Kammer hier deutlich Milas Stimme, diese Stimme eines elfjährigen Kindes: »Damit mich die Frau Oberrevident nicht aus dem sozialen Leben fortschickt, Schwesterlein!« – Und was ihr noch niemals im Hinblick auf Milas Los zugestoßen war, ihr stiegen bei der Erinnerung an diese Stimme Tränen in die Augen. War es zu fassen, daß es in ein und derselben Welt ein Glück gab wie das ihre und ein Unglück wie das des armen Trottels? Da spielte Teta ein paar Minuten voll einander widerstrebenden Empfindungen mit dem Geldpaket, ehe sie sorgsam fünf andere Tausender abzählte und zur Seite tat. Und nun wieder ein Briefpapier bereitgelegt, die Feder eingetunkt und mit schwerer Not und tief gerunzelter Stirn folgendes hingekritzelt:

»Endesuntergefertigte ist bittlich, daß der Herr Kaplan Johannes Seydel Hochwürden infolge Todesfalles beigelegene Summe von Schilling fünftausend vormündig zur Beschützung ihrer geistesarmen Schwester Mila Linek, wohnhaft bei Frau Oberrevident Katherine Zikan, Ottakringer Straße 315, bestens anwendet. Teta Linek, derzeit Private.«

Dies war klarerweise eine testamentarische Verfügung, denn mit den Worten »infolge Todesfalls« meinte Teta ihren eigenen Todesfall. Keineswegs erwartete sie dies in absehbarer Zeit, fühlte sie sich doch durch den ärztlichen Befund bis zum Jahre 1940 vollkommen gesichert. Dennoch aber war's ihr vorhin ein aus der Tiefe hervorbrechendes Bedürfnis gewesen, in der glückhaften Neuordnung aller Dinge des armen Trottels nicht zu vergessen und ihn umsichtig vor den Listen der gierigen Erbwitwe zu bewahren. Diese Schenkung bedeutete eines der guten Werke, zu welchen das selbstische Menschenleben so selten die Veranlassung nimmt. Es muß aber zu Tetas Ehre gesagt werden, daß sie trotz all ihrer theologischen Verschlagenheit, mit der sie um ihren Platz im Himmel kämpfte, diesmal gar nicht daran dachte, sich durch gute Werke ein diesbezügliches Verdienst zu erwerben. Das gute Werk war nur eine Nebenleistung ihres liebenden Herzens, das sich durch jene Zehntausend dem Gegenstand seiner Schwärmerei für ewig verbinden wollte. Daß sie sich nach einem Leben voll Gleichgültigkeit Milas endlich erbarmte, gehörte für sie zu den schönen Wundern dieser Nacht. Als sie jetzt auch diese Fünftausend kuvertierte, mußte sie plötzlich hell auflachen. Die Vorstellung der rasenden Zikan war eine besondere Würze des guten Werks.

Der Schatz war jämmerlich zusammengeschmolzen. Ihr blieben nur mehr viertausend. Sie seufzte. Aber es war kein klagender Seufzer, sondern ein Seufzer der Müdigkeit, einer grenzenlosen Müdigkeit. Welch ein Tag, welch ein Abend, welch eine Nacht! Die Zubereitung eines Hochzeitsmahls kann nicht müder machen. Sie verschloß die beiden an Seydel gerichteten Briefpakete in ihrem Täschchen, das sie gewohntermaßen unters Kopfkissen schob. Dann aber, trotz ihrer Müdigkeit, wusch sie sich noch von Kopf bis zu Füßen mit kaltem Wasser. Sie wusch sogar ihre noch immer dunklen, aber schon etwas dünn gewordenen Haare. Als sie nach dieser Mühe zu Bett torkelte, hatte sie ein wundersames Gefühl, das man am besten mit den kühnen Worten bezeichnen könnte: Bräutliche Sauberkeit. Sie schlief sofort ein, schlief träum- und regungslos durch bis fünf Uhr morgens. Wunderbar ausgeruht erhob sie sich. So frisch und leicht hatte sie seit Jahren sich nicht mehr gefühlt. Um sechs Uhr fuhr sie mit den eifrigsten Pilgern zur Messe nach Sant' Anastasia. Es war die Stationskirche des heutigen Tages. Sie hörte, wie der Herr Kaplan zu einer Gruppe sagte:

»Im heutigen Introitus wird das einzige Mal nicht die Herrlichkeit Gottes, sondern die des Menschen verkündet. Es heißt: Empfanget die Wonne eures eigenen Ruhms! Ich finde, wir Bagage verdienen auch diese einmalige Erwähnung nicht.«

Nach der Messe empfing Teta die Kommunion, das erste Mal seit ihrer tragischen Entdeckungsreise.

Eine Stunde später, in der Herberge, bat sie der Herr Kaplan, einen Augenblick zu ihm zu kommen. Er bewohnte eine abgeschrägte Dienerkammer unterm Dach. (Die Pilgerfahrt machte er natürlich nicht auf eigene, sondern auf Kosten des Komitees mit, das ihn gewissermaßen zum Seelsorger dieser Reise erwählt hatte.) Lachend wies er auf seine Soutane, die übers Bett gebreitet lag.

»Heut muß ich die Uniform anziehen, Fräulein Linek, ich tu's nicht sehr gern, die Leut schauen einen so merkwürdig an, selbst in diesem heiligen Rom, aber ich kann doch vor meinem höchsten Oberhaupt nicht gut in Zivil auftreten.– Und da haben wir die Bescherung. Fünf Knöpfe sind mir abgesprungen, drei Hafteln und zwei Ösen. – Das ist zuviel für einen alleinstehenden jungen Mann, auch wenn er sich sonst vor einem Fingerhut nicht fürchtet. – Übrigens, Fingerhut, Nadel, Zwirn, Schere, Knöpfe, Hafteln, Ösen und so weiter sind in reicher Auswahl vorhanden, da staunen Sie, was?«

Teta setzte sich hin, fädelte aufmerksam, während ihr die Brille ein wenig über die Nase rutschte, den Zwirn in die Nadel und begann ruhevoll und feierlich, die Knöpfe an die Soutane zu nähen. Sie zog dieses Werk mit Absicht in die Länge. Es war ja ein unbeschreiblicher Genuß, eine andächtige und witzige Entzückung, in der Wohnung des Herrn Kaplans zu sitzen und, magdlich für ihn sorgend, die schöne Zukunft vorwegzuerleben. Am andächtigsten und witzigsten aber dünkte sie's, daß sie sich nicht hatte aufdrängen müssen, sondern daß der Herr Kaplan aus freien Stücken sie zu seinem Dienst berief, ohne zu ahnen, was in ihrem Herzen schon längst über ihn beschlossen war.

»Haben der Herr Kaplan niemanden, der sich um die Wäsche des Herrn Kaplan kümmert?« fragte sie harmlos in die Arbeit versunken. »Wenn's gar zu arg wird«, gestand er, »pack' ich das Zeug zusamm' und schick's der Schwester. Die bessert's mir aus.«

Teta blickte höchst mißbilligend von der Arbeit auf.

»Das ist ja aber sehr unpraktisch, mit Erlaubnis«, erwog sie. »Gnä' Fräulein Schwester wohnt doch in einer anderen Stadt und hat Plag genug im eignen Geschäft.«

Johannes Seydel stand am Fenster und sah hinab auf das Gewimmel der Via Nazionale.

»Sehr richtig, meine Liebe«, sagte er. »Ich bin halt von Kind auf gewohnt, die Güte meiner Schwester zu mißbrauchen. Man nimmt's halt an wie den lieben Sonnenschein.«

Teta nähte eine Weile ruhig weiter, ehe sie hinwarf:

»Wenn ich bittlich sein darf, könnt' ich mich ja kümmern um die Wäsch vom Herrn Kaplan anstatt dem gnä' Fräulein Schwester, die ja Arbeit genug hat und schwer krank ist.«

Seydel stand noch immer am Fenster, aus dem er sich jetzt weit hinausbeugte:

»Eine prachtvolle Idee, wirklich!« rief er aus und war fühlbar mit ganz anderen Gedanken beschäftigt. – Teta spürte diese Unaufmerksamkeit. Sie kam ihr nicht ganz ungelegen.

»Ich könnt' jeden Samstag das Paket abholen, und Dienstag bring ich's dann zurück.« – So drang sie, ein unaufhaltsamer Stratege, Schritt für Schritt weiter vor.

»Eine prachtvolle Idee, Fräulein Linek«, wiederholte Seydel, unterbrach sich aber plötzlich und wandte ihr sein Gesicht zu, »das kann ich ja gar nicht annehmen so ohne weiteres.«

Teta kicherte leise vor sich hin, verwandelte aber ihr verräterisches Lächeln schnell in ein kleines Hüsteln. – Ich hab' viel prachtvollere Ideen, und der Herr Kaplan werden noch ganz anderes annehmen müssen von mir. Der Herr Kaplan wissen gar nicht, was die alte Linek da drin in ihrem Taschl hat. – Laut sagte sie:

»Die gnä' Herren zerreißen halt ihre Strümpf so gern.«

»Eine scharfe und tiefeindringende Beobachtung«, lachte Seydel.

Teta aber stand auf, schon ein wenig gebieterisch:

»Da könnten wir mit Erlaubnis gleich nachschauen ...«

Bereitwillig öffnete der Kaplan seinen Kasten. Teta unterzog die Wäschestücke einer langen und stirnrunzelnden Prüfung. Sie zeigte sich äußerst unzufrieden:

»Diese Leut waschen mit Chlor«, tadelte sie, »und stopfen die Strümpf immer mit anderen Farben. – Ich werd's gleich heut ausbessern, mit Erlaubnis.«

»Ich glaub', wir ergänzen uns sehr gut, Fräulein Linek«, sagte Johannes Seydel, in ferne Gedanken versunken, und dieser Satz war dennoch eine verheißungsvolle Gunsterklärung und beinahe schon ein Pakt.

Es klopfte, ein Chasseur trat ins Zimmer und meldete, der Herr Kaplan möge sofort zu Herrn Kompert hinunterkommen. Es sei äußerst wichtig. Teta blieb allein. Sie packte die Wäschestücke zusammen. Dann setzte sie sich damit zum Fenster. Ihre Hand strich über die kümmerlichen Socken und Hemden des Kaplans. Ihre hellen Augen aber umfingen die Mansarde mit einem Blick unabwehrbarer und innigster Besitzergreifung.

 

Im Speisesaal der Karawanserei stürmte Josef Eusebius Kompert in hellster Erregung auf und ab. Es war etwas geschehen, was seinen Erfolg als Reisemarschall dieser Pilgerfahrt ernsthaft bedrohte. Ein Telefonanruf aus dem innersten Heiligtum der vatikanischen Paläste. Die schmerzlich weiche Stimme eines diensttuenden Prälaten hatte mitgeteilt, daß der für die heutige Mittagsstunde im Saal der Konsistorien angesagte Pilgerempfang wahrscheinlich nicht werde stattfinden können, da Seine Heiligkeit eine ziemlich schlechte Nacht verbracht habe und man ihr jegliche Strapazen fernhalten müsse. Noch sei die letzte Entscheidung darüber nicht gefallen, denn diese liege bei dem sehr Heiligen Vater selbst; doch man mache sich am besten schon jetzt damit vertraut, daß weder heute noch in den künftigen Wochen mit einer persönlichen Begrüßung der treuen Kinder durch den gemeinsamen Vater werde zu rechnen sein.

Die Enttäuschung kam nicht unerwartet. Aus den Zeitungen wußte man, daß Pius, der Achtzigjährige, einen Heldenkampf gegen seine Todeskrankheit kämpfte. Ganze Monate lang blieb der willensstarke Greis Sieger über den versagenden Körper. Dann aber kamen Tage – zumeist nach den großen Festen oder Empfängen –, da er sich kaum vom Bette zu erheben und in seiner Privatkapelle die Messe zu lesen vermochte. An solchen Tagen bedeutete es für den Papst das allergrößte Problem, die schlichte Wohnung des Menschen Achille Ratti im dritten Stockwerk des Vatikans zu verlassen, um in die Prunk- und Staatsräume des Statthalters Christi hinabzusteigen, die im zweiten Stockwerk lagen. Ähnlich wie bei der niedrigen Magd Teta Linek hatte auch die Krankheit des höchsten Priesters aller Gläubigen die schlimmsten Verheerungen in den Beinen angerichtet. Bei der Magd waren's offene Krampfadern und entzündete Venen, beim Pontifex schwere Verkalkungen und Gangrän, dort die Folgen einer allzu stehenden, hier die einer allzu thronenden Lebensweise. Keine gefährlichere und schmerzhaftere Beanspruchung gab es für den dreigekrönten Greis als die häufigen Pilgeraudienzen und unter ihnen die mittleren und kleinen weit mehr als die großen. Mußten nämlich mehr als tausend Pilger empfangen werden, so fand sich ein gutes Auskunftsmittel. Man versammelte sie unten in den berühmten Damasushof, und Pius erschien auf der purpurbekleideten Loggia, von wo herab er seine Ansprache hielt und den summarischen Segen erteilte. Weit weniger bequem aber hatte er es bei jenen Empfängen, wo sich nur einige Hunderte in der Sala Clementina oder in der Halle der Konsistorien drängten. Da mußte Seine Heiligkeit die langen Defileen der Knienden entlangschreiten, einem jeden den Fischerring zum Kusse hinhalten und persönlich seinen päpstlichen Segen spenden. Nicht genug damit, der gemeinsame Vater durfte sich's nicht ersparen, diesen oder jenen, der ihm besonders gebrechlich oder unmündig erschien, durch einige Fragen in dessen Nationalsprache auszuzeichnen. Es war dies jedesmal eine schwere körperliche Arbeit, und einer vom Gefolge hatte es ausgerechnet, daß der Papst an manchen Tagen oft mehr als fünf Kilometer auf solche Weise zurücklegen mußte, Pilgerkilometer könnte man's nennen, wie man von Stundenkilometern spricht. Kein Einsichtiger wird es demnach dem päpstlichen Leibarzte Dr. Milani verargen, daß er heute nach einer beinahe schlaflosen Nacht des Patienten auf Absage der vorhergesehenen Empfänge drängte. Freilich, Josef Eusebius Kompert war kein Einsichtiger. So glühend er auch den Heiligen Vater verehrte, das Gelingen der von ihm bisher so glänzend vorbereiteten und durchgeführten Pilgerfahrt ging ihm weit über die menschliche Person des leidenden Greises. Alles hatte vortrefflich geklappt bis zu diesem Tage. Fiel aber Sinn und Krönung des Ganzen aus, so war's ein voller Mißerfolg, ein beschämender Fehlschlag, und man durfte nicht mehr von einer verdienstvollen Pilgerfahrt reden, sondern nur von einer gleichgültigen Vergnügungsreise nach Italien, wie sie jedes Reisebüro ebensogut veranstaltet. Josef Eusebius jagte vorerst den Minister und Monsignore in den Vatikan, damit sie dort ihren Einfluß geltend machten. Die Notabeln kehrten ohne Erfolg zurück. Sie brachten kein Ja und kein Nein. Und neun Uhr war schon vorüber.

Da entschloß sich der Reisemarschall kurzerhand, selbst sein Glück zu wagen. Wenn er zu diesem Unternehmen auch durch nichts anderes legitimiert war als durch seinen Mangel an Zaghaftigkeit, so schien er doch fest davon überzeugt zu sein, daß seinem persönlichen Ansturm weder der Hofstaat noch die Krankheit Seiner Heiligkeit würde gewachsen sein. Er strahlte und schwitzte vor wilder Energie. War er auch vom Glauben der Väter abgefallen, so lebte doch in seinem Blute ungebrochen die vererbte Bereitschaft weiter, sich inbrünstig mit jeder Schwierigkeit zu messen und nichts Unmögliches für unmöglich zu halten. Einem todkranken Papste den Pilgerempfang im letzten Augenblick doch noch abzuhandeln, das war eine begeisternde Aufgabe, die nicht nur den Konvertiten, sondern auch den ursprünglichen Herrn Kompert aufs höchste anlockte. Er bat den jungen Kaplan, ihn zu begleiten. Sie fuhren im Taxi zu jenem geheiligten Eingang des vatikanischen Palastes, der Portone di Bronzo genannt wird. Kompert reckte seine ausgiebige Gestalt hoch und tat mit seiner schneidigsten Stimme den Schweizer Hellebardieren kund, daß er im Auftrag des österreichischen Pilgervolkes erscheine und an höchster Stelle bekannt und erwartet sei. Dabei schwang er irgendeine Einladungskarte als unwiderstehliche Signalfahne hoch in der Rechten. Die Torhüter der Garde, denen er ohne Zweifel imponierte, gaben salutierend den Weg frei. Johannes Seydel wunderte sich über Komperts sonore Sicherheit nicht wenig. Dieser trat schallend die tausendjährigen Steinfliesen und schien sich im Dunstkreise des Papsttums ziemlich zu Hause zu fühlen, hatte er doch schon sieben Audienzen und darunter zwei intimen beigewohnt, wie er nebenbei anmerkte. Seydel hingegen fühlte sich beklommen und scheu und wär' am liebsten auf Zehenspitzen gegangen. Der Reisemarschall führte ihn raschen Schrittes durch den Korridor der Schweizer, den Damasushof, über die majestätische Scala Regia in das zweite Stockwerk, wo sie eine Anzahl von großen Sälen durcheilten, immer wieder von den Offizieren der Garden aufgehalten und nach Komperts selbstbewußtem Auftreten immer wieder durchgelassen. Allein wäre Seydel nach Überwindung des Portone di Bronzo vermutlich nicht einmal bis zur Scala Regia vorgedrungen. So aber gelangten sie dank Komperts hemmungslosem Vordrang wie durch ein Wunder in die »Sala dei Parafrenieri«, die bereits der päpstlichen Anticamera nahe liegt. Hier saß an einem völlig leeren Schreibtisch unter dem hohen Fenster ein sehr würdiger Herr in Frack mit glänzend steifer Hemdbrust. Auf einigen weit auseinandergestellten Sesseln an den Wänden warteten ein paar geistliche Herren mit Aktentaschen im Schoß, lautlos, unbewegt und in sich versunken. Es waren gewiß hohe Beamte aus den verschiedenen Ämtern der Kurie, die ihre Relationen in der Privatkanzlei des Papstes abzugeben hatten. Dem Kaplan fiel es auf, daß die meisten Gesichter in der Hofhaltung des Pontifex sich auf eigentümliche Weise glichen. Er konnte es in seinen Gedanken nur widerspruchsvoll ausdrücken: Sie schienen von ungesunder Gesundheit zu glänzen. Sie waren glatt, gespannt, rosig, feucht und dennoch wie von Wachs. Er mußte an künstliche Blumen denken oder an gewisse Orchideenarten, die bei elektrischem Licht gezüchtet werden, um ihre unnatürlich nuancierten Färbungen zu gewinnen. Vielleicht hatten die Hofchargen der urzeitlichen Priesterkönige ähnliche Gesichter besessen, blühend und leichenhaft zugleich.

Besonders der Herr im Frack, völlig haarlos und ohne Brauen, rief in Seydel diesen Eindruck hervor. Es war einer der »Sediari«, wie die Diensttuenden der Anticamera heißen, die den Grenzerdienst zwischen der Außenwelt und den innersten Kreisen der päpstlichen Arbeitszimmer versehen. Auf ihn trat nun Kompert mit einer eingeweihten Verbeugung zu, stellte sich und seinen Auftrag vor und verlangte in einem ebenso verwegenen wie mangelhaften Italienisch des fraglichen Empfanges wegen vor »Seine Exzellenz den Doyen« geführt zu werden. Die kugligen, etwas fischhaften Augen des Reisemarschalls traten bei diesen Worten ziemlich stark aus ihren Höhlen. Seydel wunderte sich abermals über Komperts vertrauenerweckende Kenntnis der pontifikalen Hofämter. Wer mochte das sein, Seine Exzellenz der Doyen? Der Herr im Frack richtete den erloschenen Blick in seinem rosig polierten Gesicht auf dieses reife Pilgerhaupt mit geradezu leidenschaftlicher Teilnahmslosigkeit, sagte nichts, sondern gab nur die Initiale eines Lächelns zur Antwort, das aber ebensogut eine kleine schmerzhafte Verzerrung des eingefrorenen linken Mundwinkels hätte sein können. Dann erhob er sich und schwebte in seinen ausgeschnittenen Lackhalbschuhen davon, durch diese Fortbewegung die Stille im Raum gleichsam noch verdoppelnd. Es lag eine unbeschreibliche Behutsamkeit, Demut, ja Zerknirschung in seinem Gang, der nicht innerhalb einer einzigen Generation erlernbar war, weshalb sich auch das Amt des »Sediari« in gewissen Familien durch Geschlechter weitervererbte. Diese »Sediari« gingen mit jedem ihrer knieweich und doch geschmeidig schwebenden Schritte wie durch hocherlauchte Sterbezimmer oder durch Räume, in denen ein Heiliger in visionärer Verzückung liegt. Sie drückten mit ihren Beinen nicht ohne Anmut die wandelnde Erstorbenheit aus, welche der Umgang mit den Letzten Dingen erfordert. Ob sie Frack und hohen Stehkragen trugen oder ihre starre Livree von rotem Atlas, sie spürten die brennende Glut dieses Tages nicht, sie schienen Durst und Hitze nicht zu kennen, sie hatten ihre gewöhnlichen Menschenleiber aufs wunderbarste dazu trainiert, nichts anderes zu sein als der dienstbare Schatten, den das Pontifikat wirft. Selbst der Frack des jetzt Entschwebenden schien aus Schattenstoff gewebt zu sein.

Nach zehn Minuten, während derer niemand im Raum, nicht einmal Josef Eusebius, sich auch nur geräuspert hatte, kam der Sediare wieder zurückgeschwebt. Er verneigte sich leicht vor Kompert und setzte sein angefangenes Lächeln genau dort fort, wo er's vorhin abgebrochen hatte. Er zeigte mit zwei sehr weißen und müden Fingern auf die hohe Tür im Hintergrund und glitt voran, um sie ohne den geringsten Ton zu öffnen. Josef Eusebius Kompert folgte mit schmählich knarrenden Stiefeln, diesen Symbolen unabstreifbarer Erdenschwere. Als er dann nach ziemlich langer Zeit wieder aus derselben Tür tauchte, war sein breites Bankiersgesicht naß, pfirsichrot, und seine Augen, noch kugliger als sonst, funkelten den Kaplan triumphierend an. Er sagte aber in diesen Räumen des Schweigens kein Wort, bis sie auf dem Rückweg ungefähr die Mitte der Scala Regia erreicht hatten. Dann konnte er nicht länger an sich halten und zerriß mit seinem Siegesruf die ehrfürchtig geschonte Stille ringsum:

»Ich hab' es erwirkt, daß der Doyen bei Seiner Heiligkeit noch einmal persönlich angefragt hat. Seine Heiligkeit haben nachdrücklich erklärt, daß sie trotz des schlechten Befindens und ärztlicher Einsprache ihre lieben Österreicher empfangen werden. Denn die haben ja eine besondere Ermutigung notwendig, nach den eigenen Worten Seiner Heiligkeit.«

Und jubelnd prustete es aus ihm:

»Ihr aber, was tätet ihr alle ohne euren braven Kompert?«

Johannes Seydel mußte ihm recht geben.

Daheim stand die ganze Pilgerschar in der unruhigsten Bereitschaft. Die Männer hatten schon zu dieser Stunde ihren Frack oder Bratenrock angelegt, die Frauen ihre hochgeschlossenen Kleider und die schwarze Spitzenmantilla. Keiner von ihnen hatte an die Absage glauben wollen, die ja diese schöne Romfahrt entwertet und geradezu entheiligt hätte. Jedermann empfand es als einen berechtigten Anspruch, das Antlitz des Heiligen Vaters sehen und seine Stimme hören zu dürfen. Man nahm also die Triumphmeldung Komperts mit wohlwollendem Beifall entgegen, ohne sie in ihrer ganzen Größe zu würdigen. Ein verfluchter Kerl, dieser vierschrötige Jude, der zur Zeit auf die rechte Seite getreten war, der Schlaumeier. Auf die Tüchtigkeit dieser Menschensorte, die alles herbeizuschaffen verstand, konnte man sich verlassen. Der brave Reisemarschall schien von diesen tückischen Gefühlsströmen unterhalb des allgemeinen Wohlwollens nichts zu ahnen. Berauscht von seiner hohen Notwendigkeit, die er soeben glanzvoll bewiesen, warf er sich in Gala und befestigte die fünf Orden an seinem Frack, die er sich durch seine hartnäckigen Dienste an der gesellschaftlichen Wohltätigkeit schon erworben hatte. Auch Johannes Seydel fuhr eiligst in seine Soutane.

Teta stand längst schon gerüstet in ihrem schwarzen Festkleid, das sie durch das Halsband aus blaßroten Korallen – dieser Perlenschnur der Dienstmägde – ein wenig belebt hatte. Ihre Mantilla freilich ließ sich mit den kostbaren Spitzenüberwürfen der Damen Fleißig, deren Erwerbung zwei volle Vormittage in Anspruch genommen hatte, nicht im entferntesten vergleichen. Es war nämlich gar keine Mantilla, sondern ein schwarzes gestricktes Kopftuch, das inmitten einer Versammlung von gnä' Herrschaft ihren dienstbaren Stand besonders zur Geltung brachte. Sie fühlte es und hielt sich noch mehr abseits als sonst. Johannes Seydel bemerkte, daß Teta heute ohne Stock ging. Deshalb kam er sogleich auf sie zu und reichte ihr den Arm. Sie sah ihn zum erstenmal in der Soutane. Sein helles freies Gesicht wirkte durch das geistliche Gewand noch knabenhafter. Heut erst war es wirklich der frohe Schutzengel, der neben ihr ging. Wie hatte sie nun alles bei sich, das zu ihr gehörte: den sinnvoll aufgeteilten Schatz im Täschchen und den geweihten Jüngling an ihrer Seite, der ihr durch eine unausdenkliche Fügung vom Himmel selbst zugeteilt worden war. Glücks genug, um andächtig ein- und auszuatmen. Trotz dieser nie erträumten Erfüllung, trotz dieser seligmachenden Neuordnung, in der Teta nunmehr wandelte, konnte sie doch nicht zum Vollgenuß all des Gewährten kommen. Ihr Geist war ganz merkwürdig benommen. Die Welt schwankte vor ihren Blicken. Rasche Schwindelanfälle zwangen sie, immer wieder die Augen zu schließen. Schwer hing sie am Arm ihres Schutzengels.

Als sie den Portone di Bronzo durchschritten, überfiel sie ein wildes Herzklopfen. In dieser unbekannten Erregung wußte sie minutenlang nicht, wo man sich befand. Ihr war's, als ginge sie durch die endlosen Gänge, Treppenhäuser, Wartehallen eines gewaltigen Bahnhofs. Dieser Bahnhof aber war auf irgendwelche Weise schon in den Himmel eingesprengt. Von anderen Bahnhöfen unterschied er sich durch eine Art reger, ja überfüllter Totenstille, die an den Nerven nicht weniger zerrte als der hastige Lärm. Ganz oben, weit in der Ferne, hinter tausend Räumen, mußten die Züge kommen und gehen. Pilgerzüge mit langen Wagenreihen. Hier hörte man sie nicht, es sei denn, das dumpfe Rauschen in den Ohren kam vom Rollen jener Züge her. Die gelb- und blaugestreiften Schweizer mit ihren Pumphosen, faltigen Baretten und langen Lanzen marschierten in kleinen Abteilungen vorüber, aber so stramm sie auch ausgriffen, man hörte ihren festen Soldatenschritt nicht. Alle waren sie riesengroß und jung und kühn. Konnten sterbliche Männer so schön und so gleichmütig sein? Diese Schweizer waren nicht mehr ganz Menschen und noch nicht ganz Engel, eine Vorstufe des himmlischen Militärs gleichsam. Vielleicht hingen ihre Paradeflügel in der Waffenkammer. Erbarmungslos zog sich der Weg. Die Stufen der Scala Regia nahmen kein Ende. Teta blieb stehen. Sie hatte keinen Atem mehr. Johannes Seydel machte eine weite Handbewegung.

»Was sagen Sie zu alldem, Fräulein Linek«, fragte er.

Am liebsten hätte Teta gekeucht: Kehren wir um, mit Erlaubnis des Herrn Kaplans. Ich hab' solche Angst, da hinauf in diesen Himmel zu steigen. Nie mein Lebtag hätt' ich geglaubt, daß ich am liebsten vor dem Himmel davonlaufen möcht'. Ich hab' solche Angst, den Heiligen Vater mit meinen Augen zu sehen. Ich bin doch nur ein alter niedriger Dienstbot. Wenn ich bittlich sein darf, das ist nichts für mich. – In Wirklichkeit aber sagte sie, heftig den Kopf schüttelnd:

»Ja, das ist eine Pracht dahier.«

Es war auch eine Pracht. All der Marmor, das Gold und Blau in der Höhe, die riesigen Fenster, durch die nicht der kochende Junitag, sondern das gedämpfte Licht kahler Höfe drang. Über der königlichen Pracht aber herrschte eine grausame Nüchternheit, die Nüchternheit des entsagenden Geistes und eines eiskalten Scharfsinns, der Schrecken einflößt. War dies hier ein in den Himmel gesprengter Vorbau, so konnte der Himmel selbst nicht besonders gemütlich und einladend sein. Jedenfalls war's ein anderer Himmel als der von Teta seit ihrer Kindheit eifervoll umworbene, dieser liebliche Ruheort, diese von allem Übel gelüftete und gereinigte Fortsetzung des innig Gewohnten.

Die schwarze Herde der Pilger hatte die Scala Regia überwunden und ergoß sich nun in das berühmte zweite Stockwerk. Wie klein jedoch erschien die Schar von hundert Menschen unter den Riesenmassen dieser Säulen, Bogen und Deckengewölbe. Am Kopf der Treppe wurde sie von drei Sediari empfangen, die hier keinen Frack trugen, sondern die enganliegende Livree aus feuerrotem Atlas. Die alterslosen, blühend wächsernen Gesichter dieser sakralen Lakaien glichen einander so aufs Haar, daß man sich fragte, wer sie wohl auseinanderzuhalten vermochte. Sie schienen tagsüber belebte Puppen oder hell aufgeschminkte Mumien zu sein, die man nachts in den Glasschränken der vatikanischen Sammlungen verwahrte. Sie schwebten jetzt behutsam und lautlos dem Monsignore, dem Minister und dem Reisemarschall voran, die an der Spitze der Pilgerschar schritten.

Die Sala Clementina öffnete sich. Über dem Eingang dämmerte ein kolossales Wandgemälde. Eine vollbesetzte Barke im Sturm mit knatternden Segeln. Reiherartige Vögel strichen durch die Lüfte. Teta dachte an die Störche ihrer Heimat, die auf den Dächern nisteten. Vor dem ungeheuren Kamin stand in breitbeiniger Paradestellung ein völlig erstarrtes Pikett der Schweizergarden. Diese regelmäßige Druse kristallisierter Tapferkeit schien nicht zu atmen. Jeder einzelne Mann war ein erzgegossenes Kriegerdenkmal seiner selbst. An der Eingangstür zum nächsten Saal warteten wieder drei purpurne Sediari und vor ihnen ein schwarzer Sottomaestro di Camera. Sein Gesicht wiederholte und übertrieb die maskenhafte Glätte und erstorbene Sanftmut der roten Höflinge. Er verneigte sich leicht vor den Führern der Pilger und schwebte durch die Tür voraus, deren hohe Flügel sich vorsichtig und wiederum unbeschreiblich stumm öffneten.

Man war am Ziel. In der riesigen Halle der Konsistorien. Die konnte mehr als tausend Pilger leicht fassen. Hier wurden von den Päpsten die Beratungen des heiligen Kollegiums abgehalten, hier den neuen Eminenzen der Kardinalshut aufgesetzt. Von dem baldachingekrönten Throne dort oben nahmen die Enzykliken und Bullen ihren Weg in die Christenheit. Auch in diesem Saal wuchs aus dem mosaikdurchwobenen Steinboden eine ehern erstarrte Druse der Schweizer. Je näher der Anticamera, um so kriegerischer schienen diese Landsknechte der Statthalterschaft Gottes auf Erden zu sein. Hier trugen sie Visierhelme mit Federbusch, Harnisch und Schwedenkoller. Der Sottomaestro di Camera trat mit einer angedeuteten Verbeugung auf den pyramidenförmigen Prälaten zu, der heute in Violett ging. Das milde, glatte Gesicht des Schwarzen war völlig in ein regungsloses Lächeln feinhörigster Verzeihung getaucht. Diesem gnadenvollen Ausdruck gemäß hatte man es hier mit einem Funktionär der höheren Rangstufen zu tun. Er neigte sich sanft zu Monsignores Ohr und flüsterte ihm tonlos und doch mit geübter Deutlichkeit einige Wünsche zu. Monsignore seinerseits wandte sich an den Reisemarschall und gab die Anweisungen des Sottomaestro mit weniger geübter Tonlosigkeit an diesen weiter. Josef Eusebius Kompert, ganz in seinem Element, sprengte wie ein berittener Adjutant mitten unter die Schar und bildete aus ihr, während die Bewegung und Erregung sein blendendes Frackhemd knickte, einen weiten Halbkreis um den päpstlichen Thron. Jetzt lächelte der Sottomaestro di Camera noch um einen Grad verzeihender als vorhin. In einer knappen Flüsterrede verkündete er, daß Seine Heiligkeit den heutigen Empfang der österreichischen Pilger gegen den ausdrücklichen Willen des Leibarztes abhalte. Es müsse dafür Sorge getragen werden, daß sich die Zeremonie möglichst mühelos für den sehr Heiligen Vater abwickle. Vor allem sei es ganz ausgeschlossen, daß jeder einzelne Pilger zum Handkuß gelange. Es mögen daher sieben oder acht Persönlichkeiten ausgewählt werden, um recht unauffällig vor den übrigen zu knien.

Eine äußerst schwierige Sache! Da war zum Beispiel gleich die vierköpfige Familie Fleißig, von der kein Mitglied darauf verzichten wollte, zu diesen Ausgewählten zu gehören. Ohne den Fischerring geküßt zu haben, wäre für die Fleißigs diese ganze Pilgerreise eine Niete gewesen. Sie mußten doch dafür belohnt werden, daß sie die Wallfahrt »außerhalb der Saison« und nicht in »der allerbesten Gesellschaft« angetreten hatten. Andere ihresgleichen wurden angesteckt. Es kam zu halblauten Auseinandersetzungen mit dem verzweifelt schwitzenden Reisemarschall, den gehässige Augen umfunkelten. Der Sottomaestro di Camera ließ den Streit eine Zeitlang hin und her wogen und lächelte noch um einen weiteren Grad verzeihender. Dann aber trat er selbst auf Katzensohlen vor den Halbkreis und musterte ihn mit halb geschlossenen, aber verklärten Augen. Plötzlich ließ er das Kinn auf die Brust sinken und sah in die Richtung, wo Teta Linek mit ihrem schwarzen Kopftuch am äußersten Ende und ganz hinten stand.

»Wenn ich bitten darf.« Diese Worte sprach er wie ein Mann, der die Stimme verloren hat und sich mit großer Kunst nur durch die Bewegung seiner Lippen verständlich macht.

»Vorwärts, Linek!« zischte Kaplan Seydel und schob die Widerstrebende in den leeren Raum. Da stand Teta nun ganz einsam, das Täschchen ans Herz gepreßt, und hatte Angst. Sie sah sich nach ihrem Schutzengel um, ob er ihr nicht helfen wolle, Angst zu haben. Der aber schien davon nichts zu spüren und zwinkerte ihr stolz zu. Er freute sich für sie. In diesem Augenblick war es Teta so, als sei sie durch eine lautlose Stimme, gegen die es aber keinen Einspruch gab, vor die Reihe aller Menschen gerufen worden, um Gott ganz einsam gegenüberzustehen. Eiseskälte kroch ihr die Glieder empor. Nach Teta wurden noch sechs andere Pilger ausgewählt. Ein sehr alter Staatsbeamter, ein dürres Fräulein von krankhaft blassem Aussehen, ein fünfzehnjähriger Bursche, nebenbei gesagt ein widerwärtiges Subjekt, eines der dicken Fleißig-Mädel, der Minister und der Reisemarschall in seiner ganzen Ordenspracht. Sie sollten nur einen halben Schritt vor den übrigen knien, damit Seine Heiligkeit nicht den Eindruck einer regelwidrigen Bevorzugung gewinne. Diese letzte Verfügung traf der Sottomaestro di Camera noch, ehe er davonschwebte.

In dieser Sekunde beginnt das dichte Mittagsgeläute Roms. Man könnte glauben, die Halle der Konsistorien liege mitten im Brennpunkt allen Glockenläutens der christlichen Welt. Wer denkt da nicht an das schöne Karfreitagsmärchen vom Pilgerflug sämtlicher Kirchenglocken nach Rom? Der Schall wird immer drängender und überschwemmt die Stille. Auch die Kalten und Nüchternen durchschleicht eine unerklärliche Erregung. Teta aber tastet mit den Händen um sich, als suche sie eine Stütze, um nicht hinzustürzen.

Die Glockenflut ist noch nicht verhallt, als auf einen Wink des unbemerkt zurückgekehrten Sottomaestro die sechs feuerroten Sediari zu einer der inneren Türen treten und ihre Flügel sanft aufstoßen. Man sieht in einen damastroten Salon, in dem wiederum zwei gemeißelte Hellebardiere Wache halten und zwei Sediari die Tür hüten. Auch diese Tür öffnet sich mild und damit der Durchblick in einen zweiten Salon, der dem vorigen genau gleicht, denn auch in ihm wurzeln zwei Geharnischte. Dasselbe wiederholt sich nun siebenmal. Perspektivisch verjüngt sich diese weite Flucht von roten Räumen und ausgerichteten Türen in eine flächig verdämmernde Ferne. Die letzten Garden wirken nur mehr wie gemalt. Es ist, als ob man nicht in eine wirkliche Raumtiefe hineinsähe, sondern nur in ein Spiegelbild dieser Raumtiefe. Da beginnt sich auf einmal in der Ferne, dort, wo alles nur gemalt zu sein scheint, eine leichte Bewegung abzuzeichnen. Es ist eine kleine Gruppe von roten, schwarzen und violetten Tönen, die langsam wie aus der Unendlichkeit näher kommt. Man kann es aber nicht eigentlich ein Näherkommen nennen, sondern eher das Heranfließen eines hellen Schweigens inmitten des dunkleren Schweigens ringsum. In den einzelnen Räumen sinken nach und nach die Garden und die Sediari aufs Knie, wie gefällt. Jetzt erst gewahrt man, daß die farbige Gruppe einen schneeweißen Kern hat. Unter den Pilgern gibt es kein Herz mehr, das nicht in schnellem Takt davonläuft. Ein Fleck unaussprechlich weißer Gewißheit wird immer deutlicher. Kurz ertönt ein halblauter Kommandoruf. Auch im Thronsaal knien nun die Schweizer. Ihre Rechte umklammert ziemlich hoch den Schaft der Hellebarde. Mit der Linken salutieren sie. Ihre Männergesichter unter dem Visierhelm sind Marmor.

Johannes Seydel ist, wie man weiß, durchaus kein Schwärmer. Er selbst sieht in sich mehr einen Vernunft- als einen Gefühlsmenschen. Ihm hat's der Herr nicht im Schlaf gegeben. Eine bittere Jugend voll schwerer Seelenkämpfe liegt hinter ihm. Er hat dort unten in den Katakomben zu Teta die volle Wahrheit gesprochen. Wenn auch kein Strolch, so hätte aus ihm doch etwas ganz anderes werden können als ein braver kleiner Kaplan mit der Anwartschaft auf eine mühselige Pfarrstelle irgendwo in Stadt oder Land. Noch heute ist er wahrhaftig nicht frei von gewissen Anfechtungen. Insbesondere das Verhältnis zur kirchlichen Hierarchie ist ein schwacher Punkt in seiner Katholizität. Allzulange und allzu vorsichtig, so scheint's ihm, hat die Kirche zu den Greueln dieses Zeitalters geschwiegen, und wenn sie ihre bannende Stimme erhob, so verdammte sie lieber die begreifliche Ketzerei der Armen und Beladenen, den Kommunismus, als die gefährlichere und gemeinere Häresie der Reichen, den Faschismus in all seinen Formen, diese teuflische Revolte der internationalen Jeunesse dorée. Viel Groll lebt deshalb in der Brust des jugendlichen Priesters, der sich noch nicht zu bescheiden gelernt hat und schlaflose Nächte wegen des spanischen Bürgerkriegs verbringt. Jetzt aber ist ihm der Mund trocken von einer ganz seltsamen und unbekannten Erschütterung. Die weiße Gestalt dort! Man möchte die Augen schließen vor ihr. »Der Diener aller Diener Gottes«, lautet ihr schönster Titel. »Tu es Petrus!« – Ja, von Petrus zu Pius reicht die ungebrochenste Linie der ganzen Weltgeschichte. In Pius ist Petrus und mehr als Petrus. Mit seinem Herzschlag stärker als mit seinem Verstand begreift Seydel plötzlich das Geheimnis der Menschwerdung der Gottheit, an dem die Päpste in ihrer Art teilnehmen. Achille Ratti, ein gewöhnlicher Mensch und Priester, kein gottbegnadeter Geist, sondern ein stiller Gelehrter, zärtlicher Bibliothekar und tüchtiger Alpinist in seinen kräftigen Jahren. Eines Tages treten die Kardinäle zusammen, gewöhnliche Erdenmenschen alle siebzig, und erheben Achille Ratti auf Petri Stuhl. Und nun ist der Mensch Pius nicht mehr nur Mensch allein. Ein Tropfen des köstlichen Balsams, der sich seit dem Tage des galiläischen Fischers, der mit dem Herrn umging, angesammelt hat, verwandelt den gewöhnlichen Menschen und fügt etwas zu seiner Natur hinzu, das nicht von dieser Welt ist. Einem flachköpfigen Intellektuellen könnte Seydel dies nicht erklären, aber er ist überzeugt davon, daß auch dieser flachköpfige Intellektuelle es jetzt und hier in allen Nerven spüren würde wie er selbst. – Ecce sacerdos! denkt er. Du hoher Priester, der du zurückreichst in die unerschöpfliche Tiefe der Zeiten, der du fast zweitausend Jahre alt bist als Träger deines Amtes, hilf uns Verlorenen, führe unsere Sache, denn du mußt die einzige Macht auf Erden sein, die gut ist und von Gott! –

Der weiße alte Mann hat unter Vorantritt des Ersten Maestro di Camera, eines Prälaten, der den Sottomaestro an Sanftmut und Erloschenheit noch weit übertrifft, den Saal betreten. Das schwarze, rote und violette Gefolge hinter ihm bleibt zurück und verschwimmt. Die Füße des Papstes in den roten, mit einem goldenen Kreuz gezierten Maroquinschuhen bewegen sich langsam, stockend. Jeder Schritt kostet den Kranken sichtbare Selbstüberwindung. Sein Antlitz ist beinahe so bleich wie sein Kleid. Nur die Haare an den Schläfen, die unter dem Gipfelschnee des Käppchens hervorhängen, sind noch auffällig schwarz. Die goldeingefaßte Brille funkelt stark unter den beiden mächtigen Buckeln der Stirn, zwischen denen eine Schlucht schwermütiger Gedanken dämmert. Manchmal durchdringt ein Blick das Funkeln der Gläser. Es ist ein stolzer, prüfender und gescheiter Blick, hinter dem jener wache Humor lauert, mit welchem sehr seelenstarke Leidende ihren eigenen Schmerz ironisieren. Die schmalen, ein wenig zusammengekniffenen Lippen mit den abwärts strebenden Mundwinkeln ironisieren aber den Schmerz nicht, sondern geben ihn preis. Bei jedem dritten Atemzug öffnen sie sich zu einem asthmatischen Luftschnappen. Dies ist das wohlgebildete Gesicht des achtzigjährigen Pius, das aber weniger alt wirkt als erschöpft durch Leiden und Schlaflosigkeit. Der Körper in der weißen Soutane ist nicht mager, sondern abgemagert. Die breite Gürtelschärpe aus cremefarbenem Moiré – neben dem Juwelenkreuz die einzige Nuancierung des Papstgewandes – verhüllt deutlich die zusammengeschmolzene Behäbigkeit.

Abseits von dem hohen Gefolge steht Giovanni Malvestiti, der Kammerdiener Seiner Heiligkeit, in Frack und Escarpins, eine hochwichtige Person, der die irdische Existenz des elften Pius fast völlig anvertraut ist. In vorgeneigter Haltung beobachtet Malvestiti scharf seinen Herrn, als sei er jeden Augenblick bereit, herbeizuspringen und den Sterbenden in seinen Armen aufzufangen. Und diese angstvoll lauernde Gebärde des Kammerdieners überwältigt mehr als alles andere das Herz des jungen Kaplans und stößt ein schwarzes Schluchzen in seine Kehle.

Pius besteigt nicht seinen Thron – es wäre eine überflüssige Strapaze –, sondern macht unter der ersten Stufe halt. Er steht da, eine weiße Vertiefung der Totenstille. Seine Züge sind erstarrt. Seine Augen fallen zu. Er muß vor allem einen großen Vorrat von Atem sammeln und sich mit Stärke über den wüsten Schmerz in seinen Beinen erheben. Mit beiden Händen umkrampft er die dünne Goldkette des großen Juwelenkreuzes, das er auf der Brust trägt. Es ist eine gewohnte Geste, die jede Ansprache einleitet. Heute aber scheint er sich an dieser dünnen Kette, seinem einzigen Halt, festzuklammern. Ein matter Blick durch die halbgeschlossenen Lider auf die regungslose Pilgerschar zu seinen Füßen. – Wer sind diese? Woher kommen sie? – Eine Weile noch Geduld, bitte! Der Weg vom Arbeitszimmer hierher war äußerst lang. Erst muß das arhythmische Herz und mit ihm die arhythmischen Gedanken in Ordnung kommen. Diese Gedanken aber spielen allerlei Streiche. Da ist gleich diese Geschichte mit dem Rasierapparat. Pius hatte ihn einst von seiner Schwester Donna Emilia geschenkt erhalten. Gewohnt, sich selbst mit dem nackten Messer zu rasieren, mußte er nur während der langen Bettlägerigkeit davon eine Ausnahme machen und seine Wangen einem Barbier preisgeben. Dr. Milani, der Leibarzt, hatte drauf bestanden. Jetzt aber war er ja wieder genesen. Ein Papst durfte nicht krank sein. Ein kranker Papst, das ist ein Widerspruch in sich selbst, das ist kein Schicksalsschlag, sondern eine Art von mutwilligem Verstoß, unter dem die ganze Kirche zu leiden hat. Seine Genesung ist urbi et orbi verkündet worden. Also fort mit den Regellosigkeiten und Verhätschelungen! Der Barbier wurde zur Erhärtung dessen abbestellt. Und heute hatte Pius sich wieder selbst rasiert, zum Schrecken Milanis und Malvestitis. Da er aber seinen ermatteten Händen noch nicht traute, wurde anstatt des nackten Messers das Geschenk der Schwester zum erstenmal in Gebrauch genommen. Was für ein kompliziertes Ding, solch ein netter kleiner goldener Rasierapparat! Von fünf bis sechs Uhr morgens hatte sich Seine Heiligkeit mit dem komplizierten Ding abgeplagt, vor seinem kleinen Spiegel und dem armseligen Schälchen mit kaltem Wasser. Er hatte sich dreimal geschnitten, einmal in die Wange, einmal in die Oberlippe und einmal sogar in den Zeigefinger. Und nachher war er erschöpft gewesen wie am Abend nach der Heiligsprechung der lieben Therese von Lisieux. Als dann Malvestiti um sechs Uhr wie alltäglich ins Zimmer trat, hatte Pius nur zum Schein in seinem Brevier gelesen, in Wirklichkeit aber den schrecklichen Lufthunger kaum verbergen können. Wie schwer war ihm das Ankleiden gefallen, nachdem er seine ganzen Kräfte bereits an diesen netten Rasierapparat verausgabt hatte, mit dem er leider noch nicht gut umzugehen verstand. Die päpstliche Toilette, das ist auch keine Kleinigkeit. Da sind zuerst die weißen engen Seidenstrümpfe mit den goldgestickten Strumpfbändern. Von diesen Strumpfbändern kann man leider nicht absehen. Sie brennen überm Knie wie das höllische Feuer und sind gewiß der neugewonnenen Gesundheit gar nicht zuträglich. Aber den Doktor hat er trotz allem ganz gut zum Narren gehalten. Milani tritt ein, kniet hin. Er reicht ihm den Ring zum Kuß und gibt den Segen. Damit ist die ärztliche Visite zu Ende, ehe Milani den Mund öffnen durfte. Nicht einmal ein kleiner Scherz war nötig wie damals auf dem Höhepunkt der nun endgültig überwundenen Krankheit, als Milani ein ärztliches Konsilium berufen wollte und er, der kranke Papst, sich's mit der ruhigen Bemerkung verbat, ein einziger Doktor genüge vollauf, um einen einzelnen Patienten umzubringen. Was für ein ehrfürchtiges saures Lachen auf den Zügen des guten Milani. Es ist nicht Milanis und nicht seine eigene Schuld, daß er nun wieder herumgehen und seine geistlichen Kinder empfangen kann. (Nur nicht im Rollstuhl fahren müssen! Von der Sedia gestatoria in den Rollstuhl, welche eine widerwärtig lächerliche Vorstellung!) Wie oft hatte er dem Herrgott sein Leben als Opfer angeboten in all diesen Tagen. Er weiß aber genau, daß dies kein übermäßig loyales Angebot bedeutet, das Leben eines Achtzigjährigen, der an Herzasthma und sklerotischen Veränderungen in den Beinen leidet. Ebensogut könnte ein Bankrotteur mit seinen Schulden ein wohltätiges Liebeswerk finanzieren wollen. In der hohen vatikanischen Aristokratie erzählen sich die alten Damen, daß die heilige Therese von Lisieux, an die er sich so gern im Gebete wendet, die Heilung auf ihn herabgefleht und damit ein neues Wunder vollbracht habe. Nun, nun, die gute, liebe Heilige hätte dadurch weder ihm selbst gedient noch den Interessen der Kirche. In diesen Zeitläuften der satanischsten Irrlehren seit den großen Konzilien gehört ein Riese in den Vatikan, der nur drei Stunden schläft und die übrigen dreimal sieben Stunden arbeitet, arbeitet, arbeitet. Ein großer Papst müßte zornig sein und wie ein eingesperrtes Gewitter in seiner Bibliothek hausen, stündlich bereit, mit Blitz und Donner dreinzufahren. Er aber ist kein Zorniger. Er hat immer wieder behauptet, etwas wirklich Neues könne sich gar nicht ereignen, und alles lasse sich an Präzedenzfällen messen. Er hat immer wieder geglaubt, die Menschen seien nicht halb so böse wie ihre Taten. Nun aber, in diesen letzten Jahren, sind die Taten der Menschen so böse geworden, daß für ihre eigene Bosheit kein Maß mehr hinreicht. Ein großer Papst müßte die Geschichte und die Tagespolitik von siebzig Nationen beherrschen bis in die feinste Einzelheit. Er müßte das Seelenleben des geringsten mexikanischen Kulis ebenso vollinhaltlich in sich umschließen wie das des Herzogs von Alba, wahrhaftig die Seele jedes einzelnen Menschen in der Welt, präzis, in unzähligen Sprachen, in unzähligen Lebensformen. Nur dann könnte es ihm gelingen, die einzelnen unsterblichen Seelen wieder aus der abscheulich klebrigen Verpackung herauszulösen, aus dem Zustand der tierischen Massenhaftigkeit, in welche sie die Proletarisierung und die modernen politischen Theorien zusammengedrückt haben. Nur dann könnte er, Pius, wirklich sein, was er zu sein hat: der große konzentrische Kreis des Weltgewissens, der all die zahllosen kleineren Lebenskreise in strenger Liebe umfängt und versöhnt. Was aber ist er, Pius? Ein schlecht geflicktes Wrack, das sich nicht mehr aus dem Hafen traut. Was sind die wichtigsten Fragen für ihn? Seine Strumpfbänder oder die Treppen zur Bibliothek hinab oder der lange Weg in die Halle der Konsistorien. Woran scheitert Pius heut? An einem vergoldeten Rasierapparat, mit dem er sich nicht auskennt und der ihm die Kraft eines ganzen Tages fortnimmt. Damit ist der Zickzack der Gedanken schnell wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt.

Seine Heiligkeit richtet sich ein wenig auf, schöpft mehrmals Atem, tritt auf den knienden Monsignore zu und reicht ihm den Fischerring zum Kuß. Der Wiener Prälat, der vor Erregung seine rosige Wangenfarbe verloren hat, stammelt eine kurze Ansprache, in welcher er dem Heiligen Vater seine treuen österreichischen Söhne und Töchter vorstellt. Aus den Zügen des Papstes weicht jede Müdigkeit, sie werden auf einmal straff und transparent von einem innerlichen Leuchten. Pius spricht mit einer klaren, warmen, etwas skandierenden Stimme ein sehr langsames Deutsch, das durch den italienischen Tonfall aufs schönste zugeschliffen ist.

»Unser sorgenerfülltes Vaterherz«, beginnt er wörtlich, »wollte es nicht zulassen, daß die österreichischen Pilger von Rom nach Hause fahren, ohne Uns gesehen und begrüßt zu haben.«

In dieser gefährlichen Epoche, fährt er fort, sei es von höchster Notwendigkeit, daß der Vater die Kinder suche, die Kinder aber auch den Vater. Wie jede kleine, so müsse sich in Zeiten der Verleumdung und Verfolgung auch die große katholische Familie eng zusammenscharen. Mit besonderer, ja mit angstvoller Liebe denke er stets an die schöne Heimat der hier Versammelten, dort wie überall, wo deutsch gesprochen wird, lauere der tückische Verführer, der das Unterste der von Gott eingesetzten Werte zuoberst kehren wolle und das Evangelium der Liebe in ein Disangelium des Hasses verwandle, schwache Seelen durch die Lust der Überheblichkeit an sich lockend. Pius erinnert seine Kinder an die Worte des Heilands: »Seid wachsam und betet!« Und er schließt damit, daß er von seinem eigenen sehr langen Leben spricht. Er habe in diesem langen Leben immer wieder erkannt, daß jede Unternehmung und jede geleistete Arbeit, die einem noch am Abend recht gut erscheint, sich schon am nächsten Morgen als minder gut entpuppt. »Es gibt nichts, was man schon gut gemacht hat«, sagte er mit seinem italienischen Akzent, »man muß es immer wieder besser machen jeden Tag!«

Nach dieser kleinen Rede lächelt Pius ein wenig hinter dem Gefunkel seiner Augengläser. Vielleicht denkt er, besser werd' ich's nicht mehr machen, so gern ich auch möchte, aber diese Schmerzen sind wirklich zu groß, und ich werde unendlich zufrieden sein, wenn ich den Empfang beenden kann, ohne daß jemand etwas merkt. Dann tritt er zu dem knienden Minister, reicht ihm den Fischerring zum Kuß und stellt, plötzlich in eine Wolke von Wohlwollen gehüllt, einige Fragen.

Teta kniet als sechste in der Reihe. Das Knien ist diejenige Haltung, welche ihr die unerträglichsten Beschwerden verursacht. Unter anderen Umständen hätte sie gewiß vor Schmerzen geschrien. Jetzt aber sind die Schmerzen und sie selbst zweierlei. Eine schneidend wollüstige Buße sind sie für ein ganzes Leben und für die ungeheure und schreckliche Auszeichnung dieses Augenblicks. Sie bohrt krampfhaft die Fingernägel in ihre Handflächen. Nun erkennt sie, warum sie solche Angst gehabt hat vor diesem Augenblick. Er ist einfach zu groß für sie. Das Herz will an ihm zerschellen. Ihre ganz verdunkelten Augen hängen mit starren Pupillen an dem weißen alten Mann. Der weiße alte Mann ist der Heilige Vater, der Geweihte aller Geweihten, der Papst. Ach, was weiß sie vom Papst? Der weiße alte Mann ist beinahe Gott selbst, der sie seit ihrem ersten Atemzug so nahe, so fühlbar umwaltet hat. Aber was weiß sie von Gott selbst? Mit diesem weißen alten Mann ist für sie die mögliche Sichtbarkeit Gottes auf Erden durch jene hohe Tür getreten. Sie hat seinen Worten angestrengt gelauscht, ohne sie zu verstehen. Nur daß man heute alles besser tun müsse als gestern, diese Lehre ist haftengeblieben. Sie selbst hat ja das Ihre zuerst schlecht gemacht, um es für die Zukunft verbessern zu dürfen. Aber Teta denkt jetzt nicht einmal flüchtig an die Zehntausend für Fräulein Iren und an den geliebten Herrn Kaplan. Was könnte Johannes Seydel in dieser Minute für sie bedeuten, da sie dem sichtbaren Unsichtbaren begegnet, nach dem sie sich gesehnt hat, seitdem sie denken kann? Alle Berechnungen und Hoffnungen ihres Lebens verdrängt der Anblick des weißen alten Mannes dort. Die Qualen der Knienden wachsen von Sekunde zu Sekunde, und mit den Qualen und mit dem flatternden Herzschlag wächst diese unfaßbare Sehnsucht nach ihm, der Gott vertritt, nein, ist. Teta weiß es gar nicht, daß sie zaghaft ihre Arme dem Heiligen Vater entgegenstreckt. –

Pius schreitet langsam von einem zum andern der geschickt Vorgeschobenen. Er hält die Hand zum Kuß hin, er lächelt ernst, er macht mit seiner schon ausgeschriebenen Segenshand das heiligende Zeichen. Sein Gefolge, zu dem nun auch Monsignore, der Minister und der stolz aufgeblühte Reisemarschall getreten sind, bleibt hinter ihm zurück. Nur der Maestro di Camera folgt ihm dicht auf dem Fuß. Abseits schleicht beobachtend und mit gebeugtem Rücken Giovanni Malvestiti, immer auf dem Sprung.

Der Heilige Vater hat Teta erreicht. Er hält den Ring zum Kuß hin. Teta aber küßt die Hand. Er macht das Segenszeichen über sie. Kaum aber ist er damit zu Ende, als er wankt, sich noch bleicher verfärbt und die Linke gegen das Herz preßt. Eine Atemnot? Eine gefährliche Schwäche in den Beinen? Seine rechte Hand greift in die Luft und sucht nach einer Stütze. Sie findet eine Stütze und ruht einige Sekunden lang schwer auf Tetas Scheitel, als wolle sie das Gewicht des Segens verzehnfachen. Doch auch Tetas Schmerzen und ihre Sehnsucht haben nun jedes Maß überschritten. Ihre Hände tasten flehend an der weißen Soutane hoch. Es sind vielleicht nur zwölf Sekunden, in denen das Oberhaupt der katholischen Kirche und ihre bescheidenste Magd einander berühren, beide von der Wucht ihrer irdischen Not überwältigt. Teta aber berührt in diesen unausdenklichen Sekunden zugleich den Gott, an den sie glaubt. Und schon steht Giovanni Malvestiti an der Seite des Papstes. Dieser winkt dem Helfer mit einem leichten, aber ärgerlichen Verkneifen der Mundwinkel ab. Dann sagt er mit allzu starrer Formelhaftigkeit zu Teta:

»Ich erteile meinen Segen nicht nur Ihnen, sondern auch allen, die Ihnen teuer sind.«

Und nun geht es bereits wieder. Pius reicht dem letzten Pilger den Ring zum Kuß. Dann wendet er sich noch einmal gegen die Versammlung und grüßt sie feierlich lächelnd mit den beiden erhobenen Händen. Lautlos öffnen sich die Türflügel. Man sieht wieder die spiegelbildhafte Flucht der acht Salons. Und dann ist alles zu Ende. Josef Eusebius Kompert schwingt seinen Zylinder und schreit mit traumhaft erstickter Stimme: »Lang lebe Seine Heiligkeit!«

Er hat gehört, daß Franzosen und Italiener am Ende der Empfänge in solche Rufe ausbrechen. Niemand aber stimmt ein. Auf allen Gesichtern liegt es wie dumpfe Betäubung. Teta ist vornüber gesunken. Die Hände sind ausgestreckt. Ihre Stirn berührt den Steinboden. Johannes Seydel hält es anfangs nur für die Gebärde der tiefsten Prostration. Erst als er sich über sie beugt, bemerkt er, daß sie ohnmächtig ist. –

Während der langen Regierungszeit des elften Pius hatte sich bei den allgemeinen Audienzen ein Todesfall nie, eine schwere Erkrankung nur drei- oder viermal ereignet. Teta Linek war seit Menschengedenken der erste Pilger, der den vatikanischen Palast nicht gehenden Fußes verlassen konnte. Zwei palatinische Gendarmen, sogenannte Bussolanti, trugen sie auf einer altertümlichen und verstaubten Tragbahre so schnell und so unauffällig wie möglich in das Marodenzimmer der Garden im Erdgeschoß. Dort ließ man ihr die Erste Hilfe angedeihen und brachte sie wieder zu Bewußtsein. Es stellte sich jedoch schnell heraus, daß die alte Frau rechtsseitig gelähmt war und die Sprache verloren hatte. Sie konnte nur Undeutliches lallen. Die Thrombose, von dem mürrischen Kassenarzt durch eine leichtfertige Redensart für 1940 in Aussicht gestellt, hatte Teta schon drei Jahre früher eingeholt, und zwar im machtvollsten Augenblick ihres ganzen Lebens. Ein Blutgerinnsel aus den überanstrengten und gemarterten Venen hatte eines der kleinen Hirngefäße verstopft und zerrissen. Sie schämte sich und war auch ein bißchen stolz, als hätte sie irgend etwas nicht ganz Unwürdiges geleistet. Immer wieder glaubte sie folgendermaßen zu ihrer Umgebung zu sprechen: Nur nicht viel Umstände mit mir, wenn ich bittlich sein darf! Es geht schon wieder gut. In einer halben Stunde spätestens ist alles in Ordnung. Hoffentlich haben Seine Heiligkeit nicht bemerkt, daß die dumme alte Linek solche Geschichten aufführt, das wäre ja noch schöner. Mit Erlaubnis, der Herr Kaplan muß vielmals entschuldigen, es wird nicht wieder vorkommen, denn zu Haus lass' ich mich jetzt gleich veröden, damit ich am ersten Juli die Stelle bei der Frau Baronin Perera in Gössl antreten kann, frisch und froh, und dann, und dann ... Der Herr Kaplan weiß ja noch nicht, was sich die Linek ausgedacht hat. Wenn ich bittlich sein darf, sollte man nicht so gut und lieb zu mir sein, all die gnä' Herren Offiziere, warum denn nur, das geht doch nicht, ich bin's nicht gewohnt. Und der Herr Kaplan soll nicht zornig werden, denn der Herr Kaplan wird ganz sicher keine Anstände mehr haben mit der Linek. –

Dies und noch manches andere meinte sie durcheinanderzuschwätzen und schien ihres hastigen Gelalles gar nicht bewußt zu werden. Ihre schönen Augen waren vergißmeinnichtblau wie noch nie. Da die rechte Gesichtshälfte etwas verzogen war, konnte man glauben, daß sie immerfort lächle, und zwar ein bißchen mokant. Teta wunderte sich sehr, als man sie später auf ein Rettungsauto hob. Welche überflüssige und allzu zärtliche Fürsorge wegen einer solchen Kleinigkeit. Und das alles für Teta Linek aus Hustopec. Die gelb und blau gestreiften Landsknechte des Himmels vom Portone di Bronzo umstanden mit ihren langen Hellebarden diese Teta Linek aus Hustopec und salutierten ihr ernst, als sei sie eine Verwandte Seiner Heiligkeit mindestens: Nein – aber so was!

Man brachte sie in das Hospital der Barmherzigen auf der Tiberinsel. Dort lag sie nun in einem engen, aber eigenen Krankenkämmerchen, in einem leichten schneeweißen Bett. Alles erschien ihr so winzig, so kahl, so eigen, wie sie's liebte, wie sie's brauchte. Jawohl, hier konnte man bleiben für immer, wenn es nötig war, und der Herr Kaplan verließ sie nicht. Er ging nicht einmal aus dem Zimmer, als ihr der Arzt irgend etwas in die Venen spritzte. Der Herr Kaplan schien ebenso freudig gestimmt zu sein wie sie selbst. Er lachte über das ganze jungenhafte Gesicht und machte immerfort Witze:

»Sie haben den Vatikan mit einem Schlag erobert, Fräulein Linek«, zwinkerte er, »passen Sie auf, nächstens werden Sie dort gegen den Brauch durch päpstliche Bulle als Küchenchef engagiert.«

Auf einmal verfinsterte sich Tetas Antlitz. Sie sah unruhig umher: »Wa ... ma ... ta ...«, lallte sie.

»Suchen Sie Ihre Tasche?« fragte Seydel, der ihr den Behälter des Schatzes nachgetragen hatte. Sie nickte heftig und begann mit der freien linken Hand im Innern des Täschchens eifrig zu wühlen. Der Kaplan trat ans Bett und half der Kraftlosen.

»Ne ... me ... win ...«, wiederholte sie immer von neuem.

»Wollen Sie diese beiden Briefe da haben, Fräulein Linek?«

Teta nickte begeistert. Seydel entnahm dem Täschchen die beiden dicken Briefpakete und sah, daß sie an ihn gerichtet waren.

»Soll ich sie jetzt öffnen und lesen, diese Briefe?« fragte er sehr laut, als habe die Kranke nicht nur die Sprache, sondern auch das Gehör verloren. Teta schüttelte zornig den Kopf.

»Soll ich diese Briefe einstecken und bei mir behalten, bis Sie wieder gesund sind?« schrie er noch lauter.

Teta nickte jetzt triumphierend. Ein glückseliges Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. Aber es hatte auf der rechten Seite einen Sprung wie ein Gefäß. Seydel ließ die schweren Kuverts in die Taschen seiner Soutane gleiten. Er vermutete darin testamentarische Verfügungen, machte sich aber weiter keine Gedanken. Teta schloß die Augen vor müder Befriedigung. Ihr fehlte nichts mehr.

Eine Stunde später erschien Josef Eusebius Kompert mit einem gewaltigen Strauß roter Pfingstrosen und einer Mandeltorte aus dem Café Arragno. Die Klosterfrauen, die hier die Kranken pflegten, hatten ihn nicht vorlassen wollen, aber der Reisemarschall war nicht der Mann, dem eine Tür verschlossen blieb. Glänzend von Schweiß und tätiger Munterkeit setzte er sich an Tetas Bett und hielt mit anspornender Stimme diese Ansprache:

»Ja, unsere Frau Linek, die ist ein Mittelpunkt geworden direkt ... Wir alle haben sie liebgewonnen, herzlich lieb auf unserer Pilgerfahrt, die doch voll gelungen ist, das kann man jetzt ruhig sagen, nach den herrlichen Worten Seiner Heiligkeit, an denen ich nicht unschuldig bin, wie ich mir schmeicheln darf, nicht wahr, sehr verehrter Herr Kaplan? Und wir werden unsere Frau Linek hier nicht zurücklassen, auf mein Wort, wenn sie Donnerstag noch nicht reisefertig ist, so warten wir bis Freitag oder Samstag, das macht der brave Kompert schon, das richtet er schon so ein. Und wenn Ihnen etwas nicht recht ist hier oder nicht paßt, liebe Frau Linek, dann wissen Sie, an wen Sie sich zu wenden haben, an Ihren Reisemarschall natürlich. Ein guter Reisemarschall, der ist auch ein Beschwerdebuch. Und Seine Gnaden, der Herr Generalabt, ist mein Freund, Sie sollen es hier gut haben wie der Herrgott in Frankreich. Und Sie haben Aufsehen gemacht, das will ich meinen, tadellos, man hat sich erkundigt nach Ihnen und ich durfte Auskunft geben, und man war direkt sehr angetan. Und es kommt noch etwas für Sie, etwas sehr Schönes meine ich, etwas ganz Besonderes, vielleicht von Seiner Heiligkeit persönlich, wer kann das wissen. – Und jetzt werden Sie nur schnell gesund, und nachher daheim veranstalten wir eine prachtvolle Feier, ganz allein für Sie, Frau Linek.«

»War ... me ... mi ... hn ...«, lallte Teta mehrmals, und sie wollte damit sagen:

Nur keine solchen Umstände, wenn ich bittlich sein darf. Wofür bringt mir der gnä' Herr die vielen hochherrschaftlichen Blumen und eine Torte zu sechs Personen, was fangen wir damit an? Ich hab' mich ja gar nicht gut benommen, sondern sehr dumm und sehr ungeschickt. Und Donnerstag bin ich sicher gesund, und man wird nicht auf mich warten müssen, das wär' noch schöner, und ob ich mit Erlaubnis hier liege oder im Schnellzug sitz', das ist doch ganz egal, und ich küss' die Hände für das hochgnädige Präsent, und ich verdiene ja gar nicht. –

Nachdem Teta diese abwehrende Erklärung geleistet zu haben glaubte, verfiel sie sofort in schweren Schlaf. Auf dem Gange draußen fragte Kompert den jungen Kaplan, ob er ihn in die Stadt begleiten wolle. Seydel verneinte. Er werde bei der Kranken ausharren, solange ihr Zustand sich nicht zum Bessern gewendet habe. Die Ärzte seien ziemlich bedenklich. Dergleichen Anfälle pflegen sich knapp hintereinander zu wiederholen und enden öfters tödlich. Er selbst wisse nicht genau, was er diesem alten Dienstmädchen wünschen solle, einen raschen glücklichen Tod oder noch ein paar Jahre eines elend hingeschleppten Lebens.

»Ich würde mich immer fürs Leben entscheiden«, seufzte der vitale Josef Eusebius aus dem Grunde seines Herzens, das sehr weich war. Er mußte sich die Augen wischen. Dann aber klopfte er Johannes Seydel anerkennend auf die Schulter:

»Bravo, bravo! Das ist sehr schön von Ihnen, lieber Herr Kaplan!«

Und in seiner naiven Bewunderung für Lebenserfolg und Karriere fügte er prophetisch hinzu:

»Man wird auf Sie aufmerksam werden, Verehrter, lassen Sie nur den Kompert dafür sorgen.«

Der Kaplan kehrte in Tetas Kammer zurück, um der Magd zu dienen, deren höchster Ruhmestraum es gewesen war, ihm dienen zu dürfen. Kaum war der Reisemarschall gegangen, als einer nach dem andern die Pilger erschienen, um sich nach dem Befinden der Mitpilgerin zu erkundigen und ihr Geschenke zu bringen. Teta hatte mit den meisten kaum gesprochen, sondern in ihrer Art stets den Abstand gewahrt. Vielleicht aber erklärt sich gerade daraus die tiefe Wirkung, die der tragische Zwischenfall im Saal der Konsistorien auf die Seelen der Pilger ausgeübt hatte. Sie beurteilten ihn nicht einmal ganz falsch. Eine schlichte, volksfromme Seele, meinten sie, war durch die überwältigende Nähe des Höchsten Priesters auf Erden niedergeworfen worden. Es gibt also noch Gläubige und Katholiken reinsten Wassers. Die Pilger brachten Nelken und Gladiolen und Rosen und Pfingstrosen und viele andere Blumen und kleine Marienbildchen und Mandeltorten und Wein und Likör und Bonbons und allerhand unschuldige Hausmittelchen aus ihren Reiseapotheken, die sich bei Typhus, Schnupfen, Schlaganfällen und Rotlauf gleicherweise erfolgreich bewährt haben sollten. Es gab unter den sechsundneunzig kaum einen, der sich nicht mit irgendeinem Angebinde einstellte. Als Teta nach zwei Stunden tiefsten Schlafes erwachte, lag sie in einem verzauberten Garten. Sie konnte kaum zu sich kommen vor Staunen. Ungläubig starrte sie die Fülle der Geschenke an, die sie umgaben.

»Die Weihnachtsbescherung kann sich sehen lassen«, lachte der Kaplan, »und morgen haben wir erst den Quatembermittwoch nach Pfingsten.«

Teta, ganz beschattet von diesem Märchengarten der Aufmerksamkeit und Sympathie, der dem letzten Tag ihres Lebens entsproß, bewegte unaufhörlich die Lippen. Es war wohl ihr altes Sprüchlein, das ihr immer wieder aus dem Herzen drang: Das ist eine Pracht!

Kaplan Johannes hob zwei Flaschen mit Asti spumante hoch:

»Und die hat mir der Herr Bezirksarmenrat Fleißig höchst persönlich übergeben. Mir scheint, Fräulein Linek, Sie haben sogar seine widerliche Alte zu sich bekehrt.«

Teta bestarrte noch eine Weile dieses Wunder, ehe sie ganz begriff, was sich da ereignet hatte.

»Sa ... se ... sehe ...«, lallte sie, plötzlich beunruhigt.

Seydel beugte sich über sie: »Bitte noch einmal.«

Sie brachte dieselbe Lautreihe hervor. Er aber hatte schon gelernt, sie zu verstehen: »Sie meinen wohl, daß all das Gute hier alt und schlecht werden wird?«

Teta lächelte erlöst und nickte eifrig.

»Ja, was sollen wir da tun«, erwog er stirnrunzelnd.

Teta fädelte dieselben Laute zusammen wie vorhin.

»Sie wollen etwas davon essen«, tastete der Kaplan.

Teta schüttelte äußerst empört den Kopf.

»Meinen Sie, daß ich davon etwas essen soll, vielleicht«, blinzelte Johannes Seydel.

Teta atmete tief auf und nickte beglückt.

»Keine schlechte Idee«, meinte der Kaplan, »denn ich hab' einen jämmerlichen Hunger.«

Mit seinem Taschenmesser schnitt er sich ein mächtiges Stück von einer der Mandeltorten ab und schenkte dazu ein Glas Wein ein. Gierig kaute und trank er und sah dabei gedankenvoll aus dem Fenster auf die hohe breitästige Zeder des Anstaltsgartens. Seinen Heißhunger mit dieser ersten Mahlzeit des heutigen Tages stillend, bemerkte er nicht das überschwengliche Glück in Tetas Augen, das sich bis zum Ausdruck verwegener und verschlagener Lustigkeit steigerte. Ja, da aß und trank er, der liebe Herr Kaplan! Und wenn sie's ihm auch nicht zubereitet und kredenzt hatte, so nahm er die Speisen doch gewissermaßen aus ihren Händen entgegen. So wird es werden, so wird es sein vielleicht schon nach einem Jahr. Und er hat das Geld bei sich für das gnä' Fräulein Schwester Iren und für den armen Trottel. Und der Bund ist geschlossen für immer. Und eigentlich bleibt nichts mehr zu tun übrig. Und wär' sie nicht ein bißl krank geworden – nicht der Rede wert –, wer weiß, ob sich's hätte so schön und unauffällig einfädeln lassen. Sie lallte zärtlich etwas vor sich hin. Er verstand's nicht. Johannes Seydel aber hatte den letzten Bissen noch nicht geschluckt, als etwas sehr Großes geschah. Die Tür tat sich sanft auf, der Prior des Hospitals trat persönlich über die Schwelle und meldete nicht ohne frohe Teilnahme: »Monsignore Caccia im Auftrag Seiner Heiligkeit!«

Ein noch ziemlich junger Priester trat ein, in schwarzem Habit mit violettem Kollar. Sein Gesicht war rundlich und rosig und glänzte feucht. Das schwerelose und ein wenig scheue Lächeln aller Vatikanmänner lag auf diesem Gesicht. Er bewegte sich graziös und feierlich zugleich wie ein sakraler Tänzer. Der Prior schob ihm einen Stuhl ans Bett. Monsignore Caccia ließ sich leicht nieder, und zwar so, als sitze er nicht völlig, sondern deute das Platznehmen nur an und bleibe eigentlich in Schwebe. Er legte der Kranken ein Lederetui auf die Bettdecke, das einen schönen großen Rosenkranz aus rötlichen Achatkugeln enthielt. Er sprach leise, mit dem gebändigten Organ eines Sängers, das seinen Resonanzreichtum meisterhaft auf kleine Räume abzustimmen versteht:

»Seine Heiligkeit sendet mich zu Ihnen, meine Tochter, um dieses persönliche, mit eigener Hand geweihte Geschenk zu überreichen. Der sehr Heilige Vater lassen ferner gute Besserung wünschen und erneuern den heute mittag erteilten Segen. Seine Heiligkeit beauftragen mich schließlich mit der Botschaft, daß sie morgen bei der Frühmesse Ihrer, meine Tochter, im Gebete gedenken wollen.«

Der Prälat sprach ein fließendes, gut geglättetes Deutsch, ähnlich wie Pius, sein Herr und Meister. Diese drei Geschenke der großen Menschenliebe eines achtzigjährigen Papstes, der selbst bei Tag und bei Nacht mit dem Tode kämpfte, waren in die feine Trockenheit und streng durchdachte Sauberkeit einer diplomatischen Note eingekleidet. Caccia stellte darauf noch einige Fragen an den Prior und den Kaplan, dann verbeugte er sich ziemlich tief vor der Kranken und entwich so feierlich anmutig, wie er gekommen war. Als sie wieder allein waren, sagte Johannes Seydel, der während des hohen Besuches regungslos in einer Ecke gestanden hatte:

»Hätten Sie sich das je träumen lassen, mein liebes Fräulein Linek, daß einmal der Heilige Vater selbst Sie in sein Gebet einschließen wird?«

Teta schüttelte unaufhörlich den Kopf. Träumen lassen? Sie hatte sich's träumen lassen, ihre alten Tage an der Seite des geistlichen Neffen irgendwo in einem kleinen Pfarrhaus zu verbringen. Und das war schon ein übertriebener und allzu hoch gegriffener Traum, der schmachvoll in Brüche gehen mußte. Aus der Tiefe verlorener Zeiten herauf hatte sie stets die große Angst begleitet, sie, die alte Jungfer, werde einmal ganz allein sein in der Stunde des Absterbens und niemanden haben, der sich ihrer erinnert, der sich ihrer erbarmt und der armen Seele die notwendigen Hilfen leistet in der bitteren Spanne zwischen hier und dort. – Jetzt aber! – Wer konnte sich's träumen lassen? Wer konnte es ausdenken? Jede Stunde überhöhte die vergangene durch eine neue unberechenbare Gnade. Der Herrgott selbst schien sich ihr zuliebe an Gunstbeweisen zu überstürzen. Und alles geschah so gleitend, so selbstverständlich, so mir nichts, dir nichts. Der zähe Lebenswunsch der kleinen Dienstmagd hatte sich zu mächtiger Wirksamkeit zusammengeballt und begrub sie jetzt in einer Lawine der Erfüllung. Vor vierzehn Tagen noch ist Teta eine verstörte Frauensperson gewesen, die nicht ein und aus wußte. Vor zwölf Tagen hatte sie den Herrn Kaplan noch nicht gekannt. Seit gestern nacht aber besaß sie einen Geweihten, einen Schutzengel, der ihr allein zugehörte. Der Ahnungslose trug die starke Fessel in der Tasche, die ihn an sie band für immer. Und morgen früh wird der heiligste und göttlichste Mann unter allen Menschen, der himmelhoch über der allerhöchsten gnä' Herrschaft steht, der selbst schon ein Stück Jenseits im Diesseits und fast wie Gott ist, morgen früh wird der Heilige Vater für die perfekte Köchin Teta Linek bei seiner heiligen Morgenmesse beten. Welche unüberwindliche Sicherung gegen alle Gefahren wird ihr damit zuteil. Man kann sogar annehmen, daß durch das päpstliche Gebet für sie das Reinigungsfeuer keine besondere Unannehmlichkeit bedeuten werde. Das lasse sich ein kühner Träumer träumen, das denke sich ein besserer Kopf aus als der ihre. Sie kann nicht. Sie streckt sich aus. Sie gibt sich anheim. Doch gerade jetzt, da sie unter ihrem rasch dahinkreisenden Spintisieren wohlig verdämmern will, überkommt sie ein mächtiger, ein gefährlicher, ein entscheidender Gedanke. Und er lautet: Warum nicht sterben heute noch? Meine rechte Hand ist ja gelähmt. Die Frau Baronin Perera wird mich nicht aufnehmen. Für den Herrn Kaplan werd' ich nichts taugen. Alles, was nach dieser Stunde kommt, wird eine Abschwächung sein und ein Elend.

Teta bemerkte sofort, daß dieser Gedanke nicht den anderen Einfällen und Träumereien gleicht, die ihren Kopf umsummen wie einen Bienenstock. Es ist ein winziges, aber selbständiges und kraftbewußtes Flügelwesen, das jetzt aus dem Bienenstock hervorstößt, einen Augenblick lang über den vielen Blumen im Zimmer schweben bleibt und dann durchs Fenster davonsurrt. Noch könnte sie ihn zurückrufen, den Gedanken. Aber sie ruft ihn nicht zurück, obgleich es ihr leid tut.

Die Vorsehung hat Teta heute Wunschfreiheit verliehen. Die flügelstarke Imme des Gedankens ist schon angelangt, und man empfängt sie unverzüglich, und als hätte man nur auf das Stichwort dieses Wunsches gewartet, ist ihm schon stattgegeben. Man geht an diesem Tage mit der Dienstmagd Linek um wie mit den bevorzugten Sonntags- und Lieblingskindern, die erst dann sterben, wenn ihr innerster Wille darum ansucht. Wieder gerät ein Blutgerinnsel in den Kreislauf und zerreißt ein kleines Gefäß, diesmal in der Lunge. Die Kranke wird durch einen gräßlichen Erstickungsanfall heimgesucht, beugt sich auf und erbricht Blut. Die rasch herbeieilenden Schwestern und Ärzte meinen schon, es gehe zu Ende, denn das Herz vergißt zu schlagen und vibriert nur noch. Sie täuschen sich jedoch über diese eiserne Natur. Der Tod, den sie gemäß der verborgenen Selbstherrlichkeit ihrer Seele durch souveränen Entschluß heranbefahl, hat kein leichtes Spiel mit Teta. Nach einigen Minuten beginnt das Herz wieder regelrecht zu schlagen, wenn auch hundertachtzigmal in der Minute. Ein rascher, wilder Fieberanstieg bis zu den höchsten Graden des Thermometers. Wahrscheinlich bildet sich eine Lungenentzündung. Man quält aber Teta nicht mehr durch langwierige Perkussion.

Mit der emporschießenden Körpertemperatur dringt allerlei eiliges Fiebergesindel in den Raum. In der Maskenleihanstalt des Vergessens hat es auf diese übermütige Stunde gelauert. Wie unglaublich reich ist doch solch eine arme Seele, mag ihr Lebenslauf noch so eintönig und gradlinig gewesen sein wie der Tetas. Es könnte fast scheinen, die arme Seele bringe schon mehr auf die Erde mit, als sie hier dazu erhält. Es wäre im übrigen nicht nötig, dem eindringenden Phantasievolk besondere Aufmerksamkeit zu schenken, käme mit ihm nicht auch Mojmir Linek, der Neffe, ein letztes Mal, um Abschied zu nehmen vom Tantchen, seiner standhaften Wohltäterin.

Der Neffe sitzt an ihrem Bett. Teta weiß übrigens nicht genau, ob sie nicht etwa schandbarerweise auf dem zerwühlten Lotterbett in der »Neuen Welt« liegt. Mojmir trägt eine lange violette Soutane aus purer Seide. Er ist also Priester. Er ist Prälat oder noch etwas Höheres. Er hat es weiter gebracht als der arme Kaplan Johannes. Teta zerquält sich den Kopf, wie das nur möglich ist, daß dieser Lump sogar den Heiligen Vater hereinlegen konnte. Sie ist unsagbar bekümmert, weil dieser Violette – merkwürdig hell, fast lila ist die Farbe – sich durch seine gehauten Praktiken unter die reinsten Diener der Kirche eingeschlichen hat.

»Ich hab' Sie dreifach beschwindelt, liebstes Tantchen«, lächelt der Neffe aus seinen verschwollenen Schlitzaugen, »nur um mich selbst zu strafen. Ich bin nämlich ausgeweiht schon seit zwanzig Jahren, wie Sie sehen können, und Seine Heiligkeit haben mich durch päpstliche Entschließung heut in den Vatikan engagiert. Ich hab' aber auch eine feine Protektion durch mein Tantchen. Und nun hol' ich Sie ab, damit Sie Seiner Heiligkeit und mir die Wirtschaft führen. Stehen Sie auf! Es ist Zeit, das Nachtmahl zu kochen. Viel wird es Sie nicht kosten, vier Hunderter oder fünf Hunderter als Anzahlung.«

»Hab' ich dir nicht gesagt, Neffe«, schreit Teta aus vollem Halse, »daß du nicht kommen sollst und nichts mehr reden und nichts mehr schreiben ...«

Mojmir beugt sich über sie, es ist zum Rasendwerden, und streichelt ihr mit seinen schmutzigen Händen, die aber parfümiert sind und die dunkelroten Nägel der Fleißig-Damen zeigen, liebevoll die Wange:

»Ich bin kein Lügner, Tantchen, das wissen Sie ja schon längst. – Alles ist gebeichtet: Absolvo te, wir können wieder frisch beginnen. – Es ist wahr, ich hab' mein Gelübde gebrochen und ein Verhältnis gehabt, ein einziges, denn ein Mann ist ein Mann. – Aber es war doch ein ehrbares und christliches Verhältnis mit einem Krüppel.«

»Ich bin nicht eifersüchtig auf dich«, wütet Teta. Plötzlich aber erkennt sie, daß der Neffe gar nicht der Neffe ist, sondern der Herr Kaplan. Da überwältigt sie ein ungeheurer Schmerz, der größte ihres Lebens. Denn sie fühlt, daß auch der liebe Johannes Seydel es nicht gut mit ihr meint, sondern sie betrügt, anders und doch genauso wie der Neffe. Was soll sie tun, um dieser entsetzlichen Prüfung zu entkommen?

»Ich bin nicht eifersüchtig auf dich«, schluchzt sie, und unaufhaltsame Tränenströme verwirren alles. Durch ihre Tränen hindurch aber gewahrt Teta, daß der Neffe oder der Herr Kaplan, sie weiß nicht welcher, sich in zwei geistliche Personen geteilt haben. Wer ist Mojmir? Wer ist Johannes? Sie kann's und kann's nicht unterscheiden. Die beiden stürzen aufeinander los, schlagen sich mit Fäusten und taumeln im Ringkampf durch die kleine Kammer, die der unterirdischen Kapelle der heiligen Cäcilia gleicht. Wild flattern die Soutanen in der tiefen Dämmerung. Teta will aus dem Bett herausfahren, um dem Kaplan zu helfen. Sie sitzt schon am Rand. Glücklicherweise aber erfüllt Burschl den Raum mit seinem Gebell und springt an einem der Ringer schrecklich hoch. Das blinde Hundl wird schon wissen, welcher der Richtige ist.

»Los, Burschl, auf den Mann«, brüllt Teta, »auf den Neffen, Burschl!« Und sie beobachtet beinahe freudig diesen leidenschaftlichen Kampf der Männer, der um ihren Besitz ausgefochten wird. Nicht genug kann sie plötzlich haben von diesem Kampf im Dunkel. Erst das aufstrahlende Deckenlicht macht dem Dunkel und dem Duell ein Ende. Johannes Seydel ist Sieger geblieben. Teta aber hat den Neffen und den Zweikampf längst wieder vergessen.

Der Kaplan neigt sich liebevoll über sie. Fern und doch deutlich vernimmt sie seine Stimme:

»Möchten Sie jetzt nicht gerne die heiligen Sakramente empfangen?« fragt er und fügt tröstend hinzu. »Das hat schon vielen Kranken zu rascher Genesung verholfen – auch Ihnen wird's guttun.«

»Ja«, sagte Teta, ganz deutlich und ohne zu lallen, »ja, ja.«

Was dann geschieht, geht linde über sie hinweg wie Sommerwind und Baumschatten über einen, der im Halbschlaf auf einer Wiese ruht. Nur zweierlei tritt etwas klarer in ihr Bewußtsein. Das eine sind gewisse Worte, die der Priester öfters wiederholt: »Ancilla tua ...« Oder: »Ancilla domini, Teta Linek ...« Sie weiß nicht, daß diese lateinischen Wendungen »deine Magd« bedeuten oder »die Magd des Herrn, Teta Linek«. Da sie sich aber namentlich angerufen hört, lächelt sie dienstbeflissen, wie es sich geziemt, wenn die gnä' Herrschaft etwas verlangt. Ihre Vergißmeinnichtaugen sind groß und friedlich geöffnet. Das zweite, das ihr deutlich wird, ist ungemein angenehm. Wie es die sakramentale Handlung vorschreibt, macht der Kaplan dreimal auf jede Fußsohle der Hinscheidenden das Kreuzeszeichen mit dem geweihten Öl. – Viaticum, Wegeslabung heißt dieses Sakrament daher. Teta spürt ein höchst lustvolles Kitzeln auf den Sohlen. Diese Empfindung aber vergeht nicht, sondern ruft eine andere, noch stärkere hervor. Sie glaubt jetzt, ein Kreuz aus goldenem und kühlem Feuer auf jeder ihrer nackten Fußsohlen zu tragen. Wohin sie nun auch gehen muß, des ist sie sicher, sie wird auf ihren eigenen Füßen gehen, die durch das golden und kühl brennende Kreuz gefeit sind.

Teta ist nun versehen, gesichert und in Ordnung, sie weiß es. Was ist jenes Gefühl der bräutlichen Sauberkeit, das sie gestern bei ihrem vorletzten Einschlafen auf dieser Erde empfunden hat, gegen das Bewußtsein der Ordnung jetzt! Mit aufmerksamem Ausdruck liegt Teta regungslos da und wartet. Die Prozedur des Todes könnte nun beginnen. Er aber, der nicht nur ein Leiden ist, sondern auch ein Tun, beginnt erst gegen zehn Uhr nachts. Teta, die Magd, muß erst in gewohnter Bescheidenheit die letzte Schwäche ihres Herzens herandulden.

Wie die Geburt ein schmerzhaftes Geheimnis zwischen Mutter und Kind, so ist das Sterben ein schmerzhaftes Geheimnis zwischen Schöpfer und Geschöpf. Es ist dafür gesorgt, daß wir jenes vergessen müssen und dieses nicht mehr verraten dürfen! Ehe aber die unverratbare Mühsal des Todes anhob, geschah mit Teta etwas, das sich noch zur Not berichten läßt. Es war eine sehr freundliche Verwandlung des eigenen Körpergefühls. Sie meinte, nicht mehr rundlich zu sein und untersetzt und alt. Vor allem, dieses Altsein, diese Runzeln, diese Hängebacken, diese Augensäcke entpuppten sich als eine Art Verzeichnung, die sich auf einmal rasch und wie von selbst berichtigte. Teta hatte das klare Bewußtsein, daß ihr ein dichter Schwall kastanienbraunen Jugendhaares, lose aufgesteckt, in den schmalen Nacken hing. Und da war es Donnerstag, und sie fuhr nach Hause. Sie fuhr nicht allein. Ein Begleiter war bei ihr. Ob's der Herr Kaplan war, das wußte sie nicht. Kann sein, er war's. Kann sein, er war's nicht. Der einzig Richtige war er auf jeden Fall. Wie glatt und kühl fühlte sich ihr Gesicht an. Nur das schöne Haar wurde immer schwerer.

»Also, mit Erlaubnis, das bin ich?« fragte sich Teta verwundert.


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