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Ich lag in schwerem Schlaf, als mich Doris weckte:
»Komm hinunter zu Mama, Theo – sie wartet auf dich.«
Nur mit Mühe konnte ich mich der Lähmung entwinden, die mich in der Sekunde befallen, da ich mich auf mein Sofa geworfen hatte, Gott weiß wann. Es war ein Doppelschlaf gewissermaßen, in dem sich die flüchtige Siesta des Tages um die versäumte Nachtruhe quälend verdichtete.
»Was ist denn los«, fuhr ich auf, »ist irgendwas geschehen?«
Auch Doris sah sehr erschöpft aus und hatte schwarze Ringe unter den Augen.
»Nichts Arges, Gott sei Dank«, sagte sie, »man hat angerufen, daß sich Phili den Fuß verstaucht hat – Papa ist schon losgefahren, um ihn abzuholen.«
Ich kam langsam zu mir, warf die Decke ab und setzte mich auf: »Den Fuß verstaucht? – Wo? – Oben auf dem Kroatenkogel?«
»Nein, denk dir, Theo – nicht einmal oben, sondern beim Wegmacherhaus, wo die Serpentine beginnt, sie sind gerade heruntergelaufen vom Berg, wahrscheinlich im Galopp, die blöden Buben.«
»Und der wollt' heute auf den Schröckenspitz kraxeln«, gähnte ich. »Wäre er lieber ins Bett gekraxelt.«
Ich sah im Zimmer umher. Vor meinen Augen lag's wie rötliche Dämmerung. Meine Gedanken waren klebrig und kamen nicht vom Fleck. Ich wußte nicht, ob's noch Vormittag war oder schon gegen Abend. Wie es ein Schwindelgefühl im Raume gibt, so auch eines in der Zeit, wenn man nämlich nicht weiß, auf welchem Punkt ihres Ablaufs man sich gerade befindet. Von diesem Zeitschwindel drehte sich mir der Kopf.
»Hilf mir, Doris – ich hab' mich blödgeschlafen. – Wieviel Uhr haben wir?«
Sie reichte mir die Hände, um mir aufzuhelfen. Diese mageren Mädchenhände, schön und langgefiedert wie die ihrer Mutter, waren eiskalt vor Übermüdung:
»Es ist schon vier. – Also mach schnell, Theo, Mama ist ziemlich unruhig.«
Livia ging im großen Wohnzimmer auf und ab. Sie war heute in ein städtisches Kostüm gekleidet, als sei sie jeden Augenblick bereit, den Aufenthalt in Grafenegg abzubrechen.
»Zu dumm«, rief sie mir zu, »daß wir grad heut diese fremden Leute im Haus haben! – Jetzt aber weiß ich, warum mir euer Fest die ganze Zeit so suspekt gewesen ist!«
Noch immer halb gelähmt, warf ich mich in einen Fauteuil und glotzte sie aus schmerzenden Augen unaufmerksam an. Ich spürte eine Lidrandentzündung.
»Ich bitte dich, Livia«, meinte ich ziemlich gleichgültig, »ein verstauchter Fuß, eine gezerrte Sehne, das ist in drei, vier Tagen wieder gut, die Lappalie. – Was wirst du tun, wenn Phili, dieser große Mensch, einmal nicht mehr bei euch lebt, sondern irgendwo in einer fremden Stadt, und er wird vielleicht wirklich krank sein und du hast nicht einmal eine Ahnung.« Livia blieb am Fenster stehen und preßte ihre rechte Hand gegen die Scheibe:
»Ob du's glaubst oder nicht, Theo, ich mach' mir Vorwürfe, daß ich Phili von der großen Partie zurückgehalten hab' heut früh. Wirklich, ich mach' mir schwere Vorwürfe. Auf dem Schröckenspitz wäre nichts passiert, ich weiß nicht, warum ich das weiß, aber Gift könnt' ich nehmen drauf. Nein, auf diesem lächerlichen Spaziergang hat's ihn erwischt, grad dort und nirgends anders. Seit Tagen schon hab' ich's geahnt, daß etwas schiefgehen wird.«
Ich angelte in verschiedenen Schachteln und Dosen nach einer Zigarette. Nirgends war eine zu finden. Enttäuscht und enerviert brummte ich:
»Meine liebe Livia, ich bemerk' an dir zum erstenmal im Leben mütterliche Übertriebenheiten.«
Ihr Gesicht war ein wenig gedunsen, gröber als sonst und gelblich. Sie sah mich hart und böse an: »Du hast es leicht, nicht übertrieben zu sein, ein beziehungsloser Mensch wie du.«
Ich hielt diese scharfe, aber nicht ungerechte Charakteristik ihrem Nervenzustand zugute. Auch freute ich mich, in meiner Tasche eine verkrüppelte Zigarette gefunden zu haben, die ich mit dem Gefühl großer Erleichterung jetzt ansteckte.
»Wenn du es für nötig hältst, Livia«, sagte ich, »werd' ich den Arzt in Liezen anrufen und ihn sofort herbestellen.«
Ihre bissige Bemerkung, in der so viele Obertöne der persönlichsten Kritik mitschwangen, schien sie zu gereuen. Sie nahm meine Hand zwischen die ihren und streichelte sie.
»Ja, bitte, sei lieb, Theo, und ruf Liezen an. – Wenn der Doktor kommt, wird's eine Beruhigung sein für mich.«
Argans Besitzung lag weit außerhalb der Ortschaft Grafenegg. Alles fürs Haus Nötige wurde zumeist aus Liezen bezogen, der nah gelegenen kleinen Bezirksstadt. Dort lebte auch der Kreisarzt Dr. Kohlfuß, ein älterer Herr, der bei Einheimischen und Sommergästen ziemlich beliebt war. In all diesen Jahren hatte er das Haus in Grafenegg nicht öfter als fünf- oder sechsmal betreten. Zwei von diesen Visiten aber hatten mir gegolten. Ich bin nämlich im Gegensatz zu den leichtsinnigen Argans ein ziemlicher Hypochonder. Dr. Kohlfuß war nicht zu Hause. Zehn Minuten später läutete ich abermals bei ihm an. Er war noch immer nicht heimgekehrt. Es wurde mir aber mitgeteilt, daß inzwischen ein anderer dringender Anruf erfolgt sei, und zwar aus unserer Gegend, man könne mir nicht genau sagen woher. Man suche jetzt den Herrn Doktor in der Stadt. Sobald man ihn aufgetrieben habe, werde er unverzüglich im Auto nach Grafenegg kommen. Die Nachricht von diesem zweiten und dringenden Anruf machte mich stutzig. Ich sagte aber Livia und Doris nichts davon, als ich wieder ins Wohnzimmer trat.
Dort hatten sich mittlerweile die Gäste zum Tee versammelt. Man konnte Livia nicht die geringste Unruhe anmerken. Sie tat nicht einmal des Unfalls Erwähnung. Freundlich schenkte sie die Tassen voll, bot Butter und Toast an und führte die Unterhaltung, als habe sie keinen einzigen Nebengedanken. Jene übertriebene Sorge von vorhin schien gänzlich von ihr gewichen zu sein. Die Unterhaltung freilich war welk und schleppend. Der Enthusiasmus unserer Festnacht lag mit den Aschenresten und Zigarettenstummeln auf dem Mist des Gewesenen. Der große Lacher hatte sich in einen kleinen Stummen verwandelt, der den wurstigen Gesprächen mit emsigem, aber verständnislosem Augenblinzeln folgte. Die Schönheit von gestern war nun eine verdrossene Abgeblühtheit von vorgestern. Da half kein Spiegel und Lippenstift mehr, wenn er auch doppelt so häufig gezückt wurde wie während der strahlenden Festnacht. Das lang befreundete Ehepaar saß grau und trübsinnig herum und war vollauf damit beschäftigt, ein gegenseitig ansteckendes Gähnduett erschrocken zu unterdrücken. Der witzige Kopf mit dem Tick hatte seinen Witz verloren, seinen Tick behalten. Nur manchmal platzte eine matte Pointe, zu deren Lieferung er sich verpflichtet fühlte, wie eine fade Wasserblase in der Windstille des Gesprächs. Die Luft im Zimmer war stickig und grau wie wir selbst. Auf allen Möbeln schien dicker Staub der Müdigkeit zu liegen. Seit Stunden grollten ferne Gewitter am Himmel ratlos umher. Sie hatten nicht Kraft und Jugend genug, um auszubrechen.
Als endlich im Parktor das Auto vernehmbar wurde, stand Livia auf und lächelte:
»Ich muß die Herrschaften bitten, mich für ein paar Minuten zu entschuldigen.«
Die Herrschaften saßen bewegungslos im Kreis, die dämmrigen Wände im Rücken. Sie schienen nicht ganz plastisch zu sein, sondern bildeten eine Art von Halbrelief. Auch Doris und ich lächelten angestrengt zur Entschuldigung und folgten Livia.
Als wir Philipp aus dem Wagen hoben, merkte ich erst, daß er bewußtlos war. Sein Mund stand offen, und die Zunge war ein wenig vorgetreten. Das abgebrannte sommerliche Gesicht des Jünglings hatte die gute Farbe behalten. Nur die geschlossenen Lider waren bläulich beschattet. Leopold sah weit kränker aus als der Bewußtlose. Der Schweiß lief ihm in Bächen von der Stirne. Sein Hemd war zum Auswringen naß, und er keuchte. Wir trugen Philipp in sein Zimmer, kleideten ihn aus, legten ihn ins Bett. An seinem noch kindlich weißen und reinen Körper war nirgends die leiseste Schürfung, Prellung oder Verfärbung zu entdecken. Ich fragte einen seiner Freunde, der mitgekommen war, Benno hieß er, wie und was da um Himmels willen geschehen sei.
»Ich weiß es selbst nicht«, gestand mit verlorenen Augen und weinerlicher Stimme der völlig Niedergedonnerte, »wir haben einen Wettlauf gemacht, den Berg hinunter. – Phili hat sich den ganzen Tag wie ein Irrsinniger benommen. Er war uns voran und lachte und schrie in einem fort. – Wie wir um die letzte Ecke kommen, beim Wegwächter, seh' ich, daß er ausrutscht, hintenüber, wie auf Glatteis, und die Böschung hinabkugelt, vielleicht drei Meter weit, sicher nicht mehr – es ist ja eine ganz sanfte Böschung, Sie werden sie kennen, gemähte Wiese, kein Baum, keine Wurzel, kein Stein, ein kleines Kind kann sich dort nichts tun. – Der Phili aber bleibt liegen. Wir meinen, es ist einer seiner dummen Späße heut und werfen mit Tannenzapfen nach ihm. Dann gehn wir sogar weiter, weil wir glauben, er hat sich da wieder etwas Verrücktes ausgedacht, um uns zu bluffen. – Erst viel später kommen wir zurück und sehen, daß er noch immer dort liegt, und erschrecken und laufen hin und schütteln ihn und merken, daß er nicht bei sich ist. – Und er ist auch nicht zu sich gekommen seither. – Wenn man denkt, ein Weg, so glatt und so breit wie eine Autobahn. – Da bin ich sofort in die nächste Villa gerannt und hab' Herrn Argan angerufen. Hoffentlich ist's nicht gefährlich.«
Auch ich dachte noch eine gute Weile, es könne nichts Gefährliches sein. Livia verschüttete ganze Flaschen von scharfen Essenzen und Toilettenwässern, mit denen sie Gesicht und Brust Philipps einrieb. Auch Teta brachte verschiedene ihrer Absude und Hausmittel. Ein wilder, beklemmender Geruch verbreitete sich in dem knabenhaften Zimmerchen mit dem weißen Schreibtisch, dem Bücherbord und den vielen Musikinstrumenten des Tausendkünstlers. Ich stieß das Fenster auf. Nichts brachte den Besinnungslosen ins Leben zurück. Nur manchmal öffnete sich sein Mund schnappend weit, und die Brust hob und senkte sich schnell.
Endlich kam Dr. Josef Kohlfuß in seinem zerlemperten Wägelchen angerattert. Er schickte alle aus dem Zimmer, auch Livia und Leopold. Nur mir zwinkerte er, zu bleiben. Eine kurze Untersuchung. Ein paar Blicke und leichte Griffe. Der alte Arzt mit seinem vertrauenerweckenden Doktorenspitzbart, er, der selbst einen schwerkranken Eindruck machte, schien bereits alles zu wissen. Seine durchfurchte Miene ließ mich erstarren. Ich wagte kaum, eine Frage zu stellen:
»Wenn ein junger Mensch beim Laufen stolpert und hinfällt – was kann da Schlimmes geschehen sein, lieber Doktor?«
»Wir müssen das Bett von der Wand abschieben«, erwiderte Kohlfuß.
»Eine so lange Ohnmacht. Mit neunzehn Jahren. Wahrscheinlich Gehirnerschütterung, wie?« tastete ich.
»Helfen Sie«, befahl der Arzt. »Er muß ganz glatt gelegt werden. – Fassen Sie ihn unter dem Rücken. Mit beiden Händen, bitte. Äußerst vorsichtig, hören Sie? – So ...«
Mit großer Zartheit schob er die rechte Hand unter Philipps Schädel, wie man es bei Säuglingen tut, und zog mit einem schnellen Ruck die Kopfkissen fort, die er auf den Boden warf. »Und Ihre Diagnose, Herr Doktor Kohlfuß«, flüsterte ich ganz erfroren.
Er sah mich eine Weile lang geistesabwesend an. Dann zog er aus seiner Hosentasche eine vernickelte Büchse. Und während er eine der Ampullen absägte und die Spritze zu füllen begann, murmelte er nicht zu mir, sondern ins Leere:
»Verletzung der Schädelbasis.«
Dieses Wort durchfuhr mich bis unter die Haarwurzeln, als hätte ich eine Hochspannungsleitung berührt:
»Aber das ist – das ist doch etwas sehr Ernstes«, sagte ich.
»Das will ich meinen, mein lieber Herr«, sagte er.
»Hoffnungslos?« entrang es sich mir kaum hörbar.
Das Antlitz des Arztes wurde immer durchfurchter. Er flüsterte in die Luft: »Wenn man ihn mit dem Rettungswagen nach Liezen ins Spital bringen könnt'. – Aber ich hab' dazu den Mut nicht. – Die leiseste Bewegung ...«
»Hoffnungslos?« fragte ich noch einmal tonlos.
Er suchte in seiner Nickelbüchse nach einem anderen Medikament. Die Brille hoch in die Stirn geschoben, brummte er:
»Es wär' jedenfalls gut, wenn Sie, als Freund des Hauses, mit der Familie ...«
»Das ist ja so vollkommen unfaßbar – das geht ja nicht. – Auf der glatten Straße hingefallen – er muß doch zu retten sein, Doktor.«
Kohlfuß gab keine Antwort. Er stach die Injektionsnadel ein. Dann legte er den Kopf auf die Brust Philipps, um Herz und Atmung zu prüfen. Nach ein paar Minuten erhob er sich ächzend und warf einige Hieroglyphen auf einen Zettel, den er mir reichte:
»Wir werden zwei Bomben Sauerstoff brauchen – das Atemzentrum ist nicht in Ordnung. Jemand muß möglichst schnell nach Liezen fahren. Der Apotheker soll die Sachen da mitschicken. Hoffentlich hat er sie vorrätig. Lassen Sie mir alles, was es hier im Haus an Siphons gibt, heraufschicken – ich muß mir die Kohlensäure selbst fabrizieren.«
»Ich brauche deinen Wagen«, sagte ich nachher zu Leopold, »es ist verschiedenes aus der Apotheke zu besorgen.«
Leopold nickte nur, ohne den Blick von mir zu wenden. Keiner sagte etwas. Unten baten mich die ganz und gar erloschenen Gäste, ich möchte sie im Auto nach Liezen mitnehmen. Sie wollten unauffällig verschwinden und dem Hause nicht mehr zur Last liegen nach diesem schrecklichen Zwischenfall. Gemäß einem unverbrüchlichen Naturgesetz floh alles vor dem Unglück. Auch ich floh. Als unter meinem Fingerdruck der Motor ansprang und ich mechanisch den Wagen durchs Tor lenkte, erkannte ich, daß ich es bewußt vermieden hatte, Bichler oder Benno nach Liezen zu senden, um nur für eine Weile mich von dem Druck zu befreien, der auf Grafenegg lastete. Es war eine niedrige Schwäche, die mir nicht verborgen blieb. Und schlimmer noch: Eine leise, aber gemeine Stimme meldete sich in einem verrufenen Winkel meines Bewußtseins. Es ist der Sohn deiner Freunde. Aber es ist nicht dein Sohn. Freu dich, daß du allein stehst in der Welt, du ewiger Gast. Das Unglück zielt an dir vorbei. –
Ich hatte lang in der Apotheke zu warten. Die Sauerstoffbomben mußten erst im Hospital des Städtchens entliehen werden. Als ich zurückfuhr, stürzte die aufsteigende Straße in einen späten und unaufgeräumten Himmel hinein, in dem sich giftgrüne Tümpel unter Wolken von eigentümlicher Sublimatfärbung öffneten. Doris winkte mir schon in der Einfahrt zu.
»Gott sei Dank, Theo! Phili ist zu sich gekommen. Er hat gesprochen. Jetzt schläft er.«
Mir war's, als ob ein Eisenring um meine Brust zerspränge, und ich könnte nun das erste Mal seit Stunden wieder ausreichend Luft schöpfen.
»Was hat er gesprochen?« rief ich überlaut.
»Er erinnert sich an nichts – er weiß nicht, daß er hingefallen ist. Er ist ganz lustig und ziemlich aufgeregt und spricht immerfort vom Großen Priel und daß er in ein paar Tagen mit Benno und den anderen unbedingt die schwierige Partie nachholen will.«
Philipps Stube lag neben dem Schlafzimmer Livias. Dort fand ich Leopold und sie. Der Kranke, der jetzt schlief, sollte auf Wunsch des Arztes nicht durch die Anwesenheit seiner Eltern erregt werden. Wir sprachen gedämpft. Leopold packte meinen Arm mit beiden Händen und preßte ihn:
»Wenn das an uns vorübergeht, Theo, wenn das vorübergeht – dann will ich dankbar sein für jede weitere Lebensstunde und nichts, nichts mehr als selbstverständlich hinnehmen.«
»Nicht von Dankbarkeit reden, sondern schweigen«, sagte Livia. Sie, deren Gesicht mir vor wenigen Stunden noch aufgedunsen und gealtert erschienen war, sah nun aus wie ein junges Mädchen. Ihre Augen glänzten fiebrisch. Ihre Haut war gestrafft und wie von einem frischen Wind gerötet. Wir saßen nun und schwiegen atemlos, bis es ganz dunkel wurde. Jede verflossene Minute erschien nun als ein dem Tode abgejagter Zeitgewinn.
Die raschen Schritte des Arztes, welche jäh die Stille unterbrachen, sagten alles. Ich hörte, wie er sich bemühte, die schweren Sauerstoffbomben aus dem Gang ins Zimmer zu rollen. Wir liefen ihm zu Hilfe. Philipps Gesicht hatte sich entsetzlich verändert. Der weit aufgerissene Mund schnappte kraftlos nach Luft. Die Augen waren verdreht, die plötzlich abgemagerten Hände in die Decke verkrampft. Manchmal entrangen sich seiner Kehle Silben und Worte, die wir nicht verstanden. Schon lag zwischen ihm und uns der letzte Abgrund. Endlich rauschte der Sauerstoff in die Glasmaske, die Kohlfuß dem Erstickenden vorhielt. Nichts wirkte mehr. Zu spät. Der Gleichgewichtspunkt der Lebenswaage war überschritten. Unerbittlich senkte sich die Schale. Wir konnten nichts anderes mehr tun, als dem Sterben dieses jungen Menschen machtlos zuschauen wie einem gesetzmäßig abrollenden Naturvorgang, von dem auch die Nächsten ausgeschlossen waren. Allzulange währte dieses krampfige Entgleiten, diese harte, rastlose Wegesmüh, voll Bergen und Tälern, dieser schwierige Aufstieg, bevor die letzte Schutzhütte erreicht ist. Livia hatte sich zu ihrem Sohn hingekniet. Kein Laut kam über ihren Mund. Sie sah ihn mit einer leidenschaftlich hingegebenen Aufmerksamkeit an, die mächtiger war als jeder Schmerz. Das Sichaufbäumen und die Zuckungen des Bergsteigers, der rettungslos zwischen den Felswänden hängt, wurden immer seltener. Der Körper streckte sich in der Agonie, in den Geburtswehen des Todes. Mit ungeheurer Schärfe trat der Augenblick des Endes in Erscheinung. Sinnfällig ohnegleichen war die messerscharfe Grenze zwischen Etwas und Nichts.
Die Muskeln am ganzen Körper schmerzten mich. Denn wie das Morgenwerden heut früh, so hatte ich jetzt mit aller Kraft dieses lange Sterben mitgeleistet. Livia erhob sich und ging an uns vorbei aus dem Zimmer. Der viel weichmütigere Leopold aber begann Klagendes vor sich hinzulallen. Ich erkannte den Satz:
»Ich bin nämlich so furchtbar gern auf der Welt ...«
Ein Toter lag im Haus. Wir aber gingen zu Tisch wie alle Abende. Es flossen der Tränen nur wenig in diesen Stunden. Livia saß aufrecht und starr. Ihr Gesicht war noch immer sehr rot und ganz straff. Ich mußte an die Gesichter von Studenten denken, die mit der gleichen gestrafften und betäubten Röte auf den Wangen die Prüfungssäle verlassen. Jede Einzelheit dieses Abends hat sich mir unvergeßlich eingestanzt. Ich sehe, wie das auftragende Mädchen auf Zehenspitzen von einem zum andern ging und die Schüsseln reichte. Ich sehe, wie der alte Kohlfuß heißhungrig auf die Speisen starrte, sich den Teller füllte, die Brille in die Stirn schob und rücksichtslos drauflos löffelte und gabelte. Wie ein Schwerarbeiter, der sich durch harte Anstrengung sein Mahl verdient hat und nicht um der guten Sitte willen dazu verhalten werden kann, den Nahbeteiligten eine überflüssige Komödie vorzuspielen. Ich sehe auch noch, wie Livia den Teller des Arztes scharf beobachtete und wie sie, als dieser geleert war, dem Mädchen winkte, damit es noch einmal dem tragischen Gaste die Schüssel reiche. Um den Eindruck seines wilden Appetits ein wenig zu mildern, seufzte Kohlfuß tief auf und nickte philosophisch vor sich hin, ehe er sich ein zweites Mal ausgiebig bediente. Dieser furchtbare Abend in Grafenegg war ausgefüllt von einer Menge bedeutungsloser Gebärden und Redensarten, die sich alle abspielten wie hinter dickem Glas. Wohl war der Schmerz schon irgendwo in Bildung begriffen. Da er aber zu den entzündlichen Schmerzen zählte und nur langsam das Blut von allen Seiten in seinen Mittelpunkt versammelte, würde er noch lange brauchen, um in seiner vollen Reife dazusein. Und dann, dieser noch unreife Schmerz mußte sich ja auf das ganze Leben einer Mutter verteilen; das setzte ein allmähliches Wachstum voraus ohne rasche Verausgabungen. Noch war Schmerz nicht an der Reihe, sondern als sein Vorläufer und Herold ein dumpfes, vielgeschichtetes Erstaunen. Von diesem Erstaunen waren wir voll bis zum Rand. Keiner von uns, auch Livia nicht, besaß die Fähigkeit, Philipps Tod einzuholen. Wir trotteten ihm hilflos nach mit unserem abgerackerten Bewußtsein. Jeder erlag immer wieder derselben Gedankenfolge: Wie ist das nur? Nehmen wir an, es sei einige Stunden früher, es sei Mittag oder heut morgen fünf Uhr, da wir alle noch so lustig zusammensaßen! Ich schließ' die Augen, und schon sitzen wir bei unserem famosen Frühstück nach der durchzechten Nacht, und nichts ist geschehen. – Wie ist das nur? Eine glatte Promenade. Philipp rutscht aus und purzelt über den Abhang. Ist es nicht ein Spaß? Wird er nicht sofort aufstehen, nachdem er uns lange genug durch seine Verstellungskunst erschreckt hat? –
So erlagen wir alle anstatt dem wirklichen Schmerze einem verwunderten fragereichen Vorschmerz, der nichts anderes war als das aufgestörte Gewohnheitswesen in uns, das vor der Mühsal einer furchtbaren Veränderung zurückzuckte.
Im Laufe dieses Abends geschah es einmal, daß ich glaubte, jenes dicke Glas, hinter dem ich lebte, habe eine Stichflamme durchgeschmolzen. Ein jähes, heftiges Gefühl für Livia zwang mich, sie in die Arme zu schließen und meine Wange an die ihre zu lehnen. Sie aber brach nicht, wie ich's ersehnt hatte, in Tränen aus, sondern blieb kalt und abweisend bei dieser Liebkosung. Beschämt zog ich mich zurück und spürte, daß meine Wallung nicht ganz echt, nicht ganz selbstlos und angemessen gewesen und den ungeheuren Ernst ihrer Erstarrung verletzt hatte. Rätselhaft war mir Livia in dieser trockenen Wahrhaftigkeit ihrer Haltung. Es wirkte beinahe wie Gefühllosigkeit. Leopold hingegen benahm sich viel weniger ruhevoll und gefaßt als sie. Er bewies ein großes Anlehnungsbedürfnis an mich. Hier und da schluchzte er kurz auf, er fing sich aber sofort, als fürchte er, mit seinem intermittierenden Jammer der Größe dieser Stunden nicht gewachsen zu sein. Er lief immer wieder hinaus und kam nach wenigen Sekunden zurück in zielloser Verwirrtheit.
Gegen zehn Uhr nahm mich Dr. Kohlfuß zur Seite:
»Einige traurige Notwendigkeiten müssen leider noch heute abend erledigt werden«, flüsterte er makaber, aber sachgemäß. »Ich schlage vor, daß Sie mich nach Liezen begleiten. – Belästigen wir Herrn Argan nicht mit diesen Dingen.«
Ich empfand wieder das gewisse Erleichterungsgefühl, als ich Leopolds Wagen aus der Garage holte, um dem Doktor nachzufahren. Im Augenblick aber, wo ich einsteigen wollte, trat mir Doris in den Weg:
»Theo, verlaß uns nicht, heut in der Nacht!«
»Ich bin spätestens in einer Stunde zurück, Doris – Dr. Kohlfuß und ich haben noch einiges zu tun.«
»Und du wirst nicht auf und davon gehen, Theo – du auch?«
»Mein Gott, Doris, was hältst du von mir? – Ich werd' euch nie verlassen, nie ...«
Sie haschte nach meiner Hand und drückte sie an ihre Brust.
»Weißt du, ich fürcht' mich so sehr, mit den Eltern allein zu sein heut nacht. – Und dann fürcht' ich mich ...«
Ich näherte mein Gesicht dem schmalen ihren, das mir in der Dunkelheit ganz bleich und abgezehrt erschien. Geweint aber hatte sie ebensowenig wie ihre Mutter:
»Wovor fürchtest du dich, Doris – sag mir alles.«
Ihr Gesicht wich zurück: »Muß ich dir erst alles sagen, wirklich, Theo?« Es fiel mir nicht leicht, den Namen des Toten auszusprechen: »Fürchtest du dich wegen Phili?«
Das Mädchen antwortete nicht sogleich, sondern kämpfte sichtbar um den Ausdruck:
»Du kannst dir doch denken, wie das ist, daß ich ihn nie mehr wiedersehn werd', und ob das so ist ...«
Ich strich ihr übers Haar, das sich sehr trocken und elektrisch anfühlte:
»Schau da hinauf in die Milchstraße, Doris«, sagte ich, aber es war mir gar nicht wohl bei dieser salbungsvollen Allgemeinheit. »Das ist eine so fabelhaft sinnvolle Ordnung, nicht wahr. – Wenn du aber Phili nicht wiedersehn könntest, dann gäb's keinen Sinn und keine Ordnung, die es doch gibt.«
»Ich find' deine Milchstraße nur grauenvoll«, schüttelte sich Doris. »Ich will gar nicht hinaufschaun, denn sie macht nur unglücklich und hilft keinem Menschen. – Und was du da gesagt hast, Theo, das steht in jedem Schullesebuch für die reifere Jugend, das glaub' ich schon längst nicht mehr. – Es ist nicht die Wahrheit, es ist wie eine vorbereitete Kamillensalbe.«
Ein paar dicke Sternschnuppen des Leoniden-Schwarms gingen mit langen Feuerstrichen nieder. Aber auch sie überzeugten die kleine Doris nicht:
»Also fahr los, Theo«, sagte sie, »und vergiß, daß ich dich mit meinen Dummheiten aufgehalten hab'.«
Um elf Uhr war ich bereits zurück. Alle Fenster des Hauses erstrahlten hell. Man hätte wirklich meinen können, es sei gestern, unser Fest werde gerade gefeiert, und das Grausam-Wirkliche sei nur ein Traumrest meines schweren Nachmittagsschlafes. Doris hatte eigenhändig in allen Zimmern des Hauses bis hinauf in den Bodenraum Licht eingeschaltet und damit diesen Festesglanz, der seine grellgrünen Flecken auf das Trauerschwarz der Baumwipfel malte. Livia hingegen saß am Bette des Toten und starrte ihn unverwandt an, als wolle sie sich vollsaugen mit seinem Bild, um ihr ferneres Leben auszukommen damit. Sie hatte die Absicht, sich von Philipp nicht fortzurühren, nicht heute und nicht morgen, solange man ihr ihn noch ließ. Gegen Mitternacht aber erlitt sie einen Ohnmachtsanfall. Darauf duldete sie es willenlos, daß wir sie zu Bette brachten. Sie schlief sofort ein, unfähig, mit dem fassungslosen Staunen in sich anders fertig zu werden. Ihr Gesicht war auch noch im Schlaf straff und rosig und mädchenhaft. Ich zwang Leopold dazu, ein wenig mit mir im Park auf und ab zu spazieren.
»Ich sollte oben sein«, wiederholte er unablässig, »ich sollte bei meinem Sohn die Totenwache halten – es ist meine Pflicht.«
»Das ist gar nicht deine Pflicht«, wehrte ich ab. »Deine Pflicht ist es, dich auszuschlafen und Kraft für die nächsten Tage zu sammeln.« Ärgerlich ließ er meinen Arm fahren und versteifte sich eigensinnig:
»Nein, nein – natürlich ist das meine Pflicht. – Was verstehst du davon, du, ein Phantast, der nie ein Kind gehabt hat? – Ich sollte ... Aber ich kann's nicht, ich schwör' dir's, ich kann's und kann's nicht!«
Mit Absicht fragte ich nicht: Warum? Er aber begann eifrig zu erklären und sich anzuklagen:
»Es ist eine Gemeinheit, Theo, aber ich halt's oben nicht aus. Ich kann ihn nicht ansehen. – Nicht, weil er mein Kind ist, sondern weil er nicht mein Kind ist. Begreifst du das, Theo? – Der dort oben ist nicht mein Kind, er ist ein Fremder. – So fremd, so fremd, so todfremd, und das drückt mir das Herz ab, daß mein eigner Junge so fremd ist, so todfremd. – Ein paar Stunden haben genügt, daß er mich nicht mehr erkennt und daß ich ihn nicht mehr erkenn'. – Und das ist der sinnlose Tod, diese niederträchtige hundsföttische Entfremdung. – Und noch heut am Morgen hab' ich mir zugeschworen, Phili muß weg aus diesem tristen Land, hier hat er keine Zukunft, ein genialer Bursche wie er, und ich wollt' ihn nächstens nach England schicken, obwohl die Kosten eines englischen College weiß Gott nicht leicht erschwinglich sind für mich. – Und jetzt schau her, Theo, zwischen Mittag und Mitternacht ist er ein Fremder geworden, ein Todfremder, und ich kann ihn nicht ansehen, es ist mir sogar sehr unangenehm, ihn anzusehen, und am liebsten würd' ich selbst nach England fahren oder Gott weiß wohin, nur fort von hier, fort von Livia und euch allen und besoffen in einer Bar sitzen.«
Ich muß gestehen, daß mir die Fluchtgedanken von Philipps eigenem Vater moralisch wohltaten, bewiesen sie doch, daß auch die meinigen einer allgemeinen menschlichen Schwäche entsprachen und nicht einer persönlichen Niedertracht.
»Komm, Leopold«, sagte ich, »trinken wir eine Kleinigkeit.«
Er ließ sich von mir auf die Terrasse führen. Ich brachte die Whiskyflasche. Auf einen Zug leerte er das bis oben gefüllte Glas. Nach dem zweiten Vollglas puren Branntweins bekam er unruhig funkelnde Augen, nicht die freudig glänzenden wie sonst. Er hob die Fäuste hoch und schrie verletzend laut in diese Nacht, die seinen Toten umschlossen hielt:
»Weißt du, warum wir modernen Menschen so gottverdammt sind? – Mit dem Leben kommen wir alle glänzend aus, ekelhaft glänzend – mit dem Gegenteil dort oben im Zimmer aber kommen wir nicht aus, lieber Theo, keiner von uns, keiner!«
Ich schenkte ihm noch einmal das Glas voll. Er trank es wieder auf einen Zug. Dann war ihm leichter. Er lallte schon:
»Ich kann sie nicht lernen ... Die Aufgabe dort im Zimmer oben ... Ich kann nicht ...«
Ich brachte ihn in sein Schlafzimmer, half ihm beim Auskleiden und wartete, bis er lag. Die Whiskyflasche stellte ich auf den Nachttisch. Ehe ich aber ging, sagte ich leise:
»Du kannst ruhig sein, Poldi. Ich selbst werd' bei Phili wachen in dieser Nacht.«
Er deutete eine Kußhand an. Diese Gebärde des von Schmerz und Whisky trunkenen Kavaliers rührte mich eigentümlich. Er murmelte schon im Einschlafen:
»Ja, ich weiß, Theo, du bist mein alter Freund, mein einziger Freund! – Dank' dir auch schön.« –
Man hatte das Zimmer des Toten reich mit Blumen geschmückt, hauptsächlich mit tiefblauem langstengligem Enzian, der in Krügen und Vasen umherstand. Der Duft der letzten Zyklamen mischte sich mit dem Geruch der Essenzen und Medikamente, der nicht weichen wollte. Zu Seiten des Bettes hatten fürsorgende Hände Kerzen in dreiteiligen Silberleuchtern aufgestellt. Der Körper lag hoch gebettet, Livias schönes großes Amethystkreuz auf der Brust. Es war die Stunde, in der sich die Gesichter der Toten zuspitzen und zu einem absonderlichen, oft höhnischen Lächeln verzerren. Auch Philipp schien hinter diesem Lächeln eine seiner gewunden feierlichen Spaß- und Spottreden zu verhalten, nur auf schrecklich übertriebene und unwiderrufliche Art. Das böse Lächeln war steckengeblieben, die gute Wahrheit darunter aber fortgezogen worden. Ich verstand, daß der eigene Vater dieses kaustische Gesicht nicht hatte ansehen können. Auch ich wandte mich ab. Da erst gewahrte ich Teta, die am offenen Fenster saß, im schwarzen Festkleid und mit der weißen Krause wie gestern. Sie hatte ein kleines Gebetbuch im Schoße liegen und hielt den Rosenkranz zwischen den Fingern.
»Gehn Sie nur schlafen, Fräul'n Teta«, flüsterte ich, »bis sechs Uhr früh übernehm' ich die Wache.«
Sie schüttelte ernst den Kopf.
»Das ist nichts für den gnä' Herrn, wenn ich bittlich sein darf. Leg' der gnä' Herr sich nur gleich hin. Mir tut es nichts, beim jungen Herrn aufzubleiben dahier bis in die Früh – ich hab' ja schon geschlafen.«
Da Teta trotz meiner neuerlichen Bitte nicht weichen wollte, zog auch ich mir einen Stuhl ans Fenster und setzte mich ihr still gegenüber. Sie ließ sich nicht stören, nahm ihre verbuckelte Stahlbrille vor die Augen und fing mit bewegten Lippen zu lesen an. Man konnte sehen, wie langsam und umständlich sie las. Der Vollmond rückte in merklicher Fahrt über den Himmel. Eine Weile lang verhüllte ihn Gewölk. In dieser Lichtpause ließ eine Wiesenschnarre in nächster Nähe, wahrscheinlich aus der großen Blutbuche, ihren widerwärtigen, Leid weissagenden Ratschenlaut ertönen. Teta warf einen Blick auf den Toten, als prüfe sie, ob alles in Ordnung sei, dann las sie weiter in ihrem Gebetbuch, langsam mit den Blicken jede einzelne Zeile einerntend. Ich sah heimlich auf die Uhr. Die Zeit schien immer auf demselben Fleck zu kleben. Eine Weile noch kämpfte ich mit meiner Müdigkeit. Dann aber trug mich ein unwiderstehlicher Schlaf davon, und ich wußte nicht mehr, was geschehen war und wo ich mich befand.
Als ich aus dieser guten Verlorenheit auffuhr, hatte der hartnäckige Mond wieder Besitz vom Himmel ergriffen. Ich brauchte einige Zeit, um zurückzufinden. Mein erster Blick fiel auf die beinernen Grate des Großen Priel. Teta wechselte gerade eine heruntergebrannte Kerze aus. Da erst merkte ich, daß mich ein sonderbarer Laut geweckt hatte. Es war ein langes wimmerndes Heulen in verschiedenen Tonlagen, das, einer antiken Klage ähnlich, schamlos durchs Fenster drang. Ich erkannte zuerst nicht die tierische Herkunft dieser Töne:
»Der Burschl«, sagte Teta, »mit Erlaubnis – er weint um den jungen Herrn.«
»Er wird die Herrschaften wecken«, entgegnete ich ärgerlich. Sie schenkte dieser Befürchtung keine Aufmerksamkeit, sondern erklärte stolz: »Ja, so ein Hundl weiß alles. Er weiß und sieht alles, der Burschl.«
»Die Tiere haben eine stärkere Wittrung als wir Menschen«, belehrte ich sie grob. Teta aber ließ sich von meiner Wissenschaft nicht aus dem Konzept bringen.
»Der Burschl hat sehr viele Gefühle und Gedanken, oje, wenn ich bittlich sein darf – den kenn' ich genau, gnä' Herr, den Burschl, den kenn' ich.«
In diesem Augenblick geschah vom Bette des Toten her ein heller Klang. Ich schrak zusammen. Das Amethystkreuz war von der Decke heruntergerutscht und zu Boden gefallen. Mit dem Leichnam mußte eine Veränderung vorgegangen sein, denn das höhnische Lächeln war gewichen, und ein hübsches wächsern leeres Puppengesicht lag auf dem Kissen. Nun war Philipp kein Mensch mehr, sondern eine weggeworfene Sache, eine flüchtig modellierte Figur aus dem Panoptikum, der schaurige Inbegriff aller Gleichgültigkeit. Teta hob das Kreuz auf und legte es sanft auf die Brust des Toten. Dabei hörte ich sie seufzen: »Ich möcht' nicht so sterben wie der arme junge Herr dahier.«
Überrascht sah ich sie an:
»Was wollen Sie damit sagen, Fräul'n Teta?«
Sie saß wieder am Fenster, den Kopf übers Büchlein gesenkt: »Ich möcht' mich mit Erlaubnis bitte nicht unterstehen, etwas zu sagen – ich bin ein altes dummes Weib.«
Jetzt verstand ich sie. Mit ihrem Seufzer hatte sie bittere Kritik an der Familie Argan geübt, an uns allen. Hätte nicht der Pfarrer von Grafenegg rechtzeitig herbeigeholt werden müssen, damit er Philipps Seele mit den heilsamen Gnadenmitteln versehe und sie wohlausgerüstet auf den Weg bringe? Waren das liebevolle Eltern, die ihren einzigen Sohn ohne jede Hilfe und ohne jede Tröstung in den unwiderruflich endgültigen Abschnitt seines Lebens entließen? Mir selbst fielen Shakespeares Worte ein: »Noch ungespeist in seiner Sünden Maienblüte ...« Da erfaßte mich ein plötzlicher Groll gegen Teta:
»Der Herrgott hat den Phili zu sich genommen, ohne daß er etwas gemerkt hat. Er wollte in den nächsten Tagen eine Partie ins Tote Gebirge machen, davon hat er gesprochen bis zuletzt. Ich tät' gern so ahnungslos sterben einmal wie unser lieber Phili dahier, Fräul'n Teta.«
Ihre hellen Augen sahen mich eine Weile lang forschend und nicht ohne verwunderte Strenge an. Sie sagte kein Wort mehr. Unter meinem leichten Ärger aber empfand ich, daß ich in dem kurzen Kampfe soeben eine Niederlage erlitten hatte. Leopolds bitterer Ausruf über uns »moderne« Menschen fiel mir ein. Die einzige weit und breit, die »mit dem Tode auskam«, war Teta. Nur für sie stand er in der Ordnung des Ganzen sinnvoll an seinem Platz. Sie allein blieb ihm gegenüber in Form. Wir moderne Menschen aber waren angesichts des größten Ereignisses in unserem Leben wahrhaftig nicht in Form. Wir standen dem Angelpunkt alles irdischen Geschehens haltlos, unordentlich, verschlampt, unsicher, schattenhaft, passiv und feig gegenüber. Wer verhielt sich zur Frage aller Fragen geistiger, wir, die sogenannten Intellektuellen, die im Tode nur die Verwesung anerkannten, oder diese einfältige Köchin, die in ihm die bedenkenswerteste Stufe eines klaren und leuchtenden Weltenbaues sah? Ihre Vorstellungen von dieser lichten Architektur nannten wir kindlich und primitiv, wir aber, wir hatten nicht einmal kindliche und primitive Vorstellungen in uns, sondern das geistige Garnichts wie die Tiere. Wir klammerten uns mit ausgelöschten Seelen an überlieferte Gebräuche aus gedankenreicherer Zeit, um unsere Toten nicht sang- und klanglos einscharren zu müssen, wie sie und wir es verdient hätten.
Solche Erkenntnisse peinigten mich schärfer als je während der langen Totenwache. Wann würde endlich der Tag kommen, an dem auch wir moderne Menschen, nicht mehr zur spitzfindigen Geistlosigkeit verurteilt, uns endlich einordnen könnten ohne Vorbehalt und überhebliche Nebengedanken in einen klar leuchtenden Weltenbau, der von unten bis oben reicht? Wie fühlte ich mich krank, verzweifelt und ohne Ausweg! Was stand uns noch bevor? Welche Strafen wird dieser furchtbare geistige Mangel noch über uns verhängen? Teta hatte sich hinausgeschlichen, um mir ein Glas Wein zu bringen. Dann aber sprachen wir nichts mehr bis zum Morgengrauen.
Wir hatten Philipp auf den einsamen Dorfkirchhof von Grafenegg zur letzten Ruhe gebracht. Was waren das aber für zwei angestopfte Tage, die uns noch immer nicht zum Vollbewußtsein des Geschehens kommen ließen! Sie glichen ebenfalls einem gedrängten Fest, wenn auch einem schleppenden und gravitätischen, bei dem kein lautes Wort fiel und dichtes Schweigen oder Geflüster das Haus erfüllte. Die große Beliebtheit der Argans zeigte sich ein letztes Mal. Der Tod des einzigen Sohnes hatte auch jene Freunde, die mittlerweile kalt und gleichgültig geworden waren, mit lauter Stimme herbeigerufen. Sie eilten herbei aus Wien, aus Salzburg, aus Böhmen, aus Ungarn, ja sogar aus Deutschland und Italien. Nicht nur das Haus war voll bis unters Dach, sondern auch die beiden kleinen Hotels von Grafenegg. Unser Speisetisch war an diesen Tagen so lang ausgezogen wie am siebzehnten August, denn an die dreißig Menschen fanden sich zu jeder Mahlzeit ein. Und es war gut so. Wenn Livia auch selbst nicht zu Tisch erschien, so mußte sie doch für die vielen Gäste vorsorgen und die Ordnung im Haus aufrechterhalten. Sie tat es mit aller Umsicht von ihrem Schlafzimmer aus, wo sie nur die Allernächsten empfing. Zwischen den Toten und uns schob sich wohltätig dieses Getriebe, die fremden und halbfremden Gesichter all der Verwandten, Bekannten und Freunde, diese betrübten Seufzer und billigen Trostworte, dieses Immer-wieder-Fragen und Immer-wieder-Erzählen, das die lastende Zeit vorwärts trieb. Die Trauernden wurden dadurch immer wieder in ihrem Streben aufgehalten, den Tod Philipps einzuholen. Das Gewächs des Schmerzes konnte sich nicht weiterentwickeln. Nur an das unaufhörliche Aufstaunen und plötzliche Bestürztsein hatte man sich schon ziemlich gewöhnt.
Dann aber war's mit einemmal vorbei und das Haus grausam leerer als vorher, denn der Lebendigste fehlte. In unserer Erinnerung übertrieben wir natürlich noch die Lebendigkeit Philipps. Leopold hatte seine Musikinstrumente forträumen lassen. Er war es auch, der den Befehl zur sofortigen Abreise gab. Ich entschloß mich, meine Freunde in die Stadt zu begleiten und bei ihnen eine Zeitlang zu wohnen. Ich tat's nicht nur, um sie nicht allein zu lassen, sondern auch um mich nicht allein zu lassen. Für die nächsten Wochen konnte ich ja an keine Arbeit mehr denken und am allerwenigsten an Arbeit in Grafenegg.
Der Streifwagen, der unser Gepäck zur Bahn bringen sollte, war auf vier Uhr nachmittags bestellt. Wir selbst aber hatten die Absicht, mit dem Auto bis nach Leoben zu fahren und dort in den Schnellzug einzusteigen. Teta sollte als einzige von der Dienerschaft in unserem Wagen mitgenommen werden. Da es schon gegen Mittag ging, hatten wir alle Hände voll zu tun, um unsere Sachen in Ordnung zu bringen. Während ich Wäsche und Anzüge in die beiden Handtaschen warf und von all meinen Schriften nur den abscheulichen Quälgeist des neuen Buches darauflegte, empfand ich in mir plötzlich eine deutliche Mahnung, den großen Koffer hervorzuziehen und meinen ganzen im Laufe der Jahre hier angehäuften Besitz an Büchern, Manuskripten und sonstigen Dingen einzupacken und in die Stadt zu schicken. Diese grundlose Regung verwunderte mich selbst so sehr, daß ich eine ganze Weile lang mit Strümpfen und Hemden in der Hand untätig dastand und vor mich hinstarrte, ohne etwas zu sehen. – Wie? War das Haus in Grafenegg ein sinkendes Schiff? Und war ich etwa eine Ratte? Ich warf meinem großen Koffer, der seit vielen Jahren schon in einer Ecke des Zimmers verstaubte, einen verächtlichen Blick zu.
Ein Gespräch mit Doris aber belehrte mich, daß ich in diesem Hause nicht der einzige war, der an völligen Auszug dachte. Die Tür ihres Zimmers stand weit offen. Da trat ich ein. Seit dem Tode Philipps empfand ich ein großes Bedürfnis, dem anderen Kinde doppelt meine alte Zärtlichkeit zu beweisen. Auch Doris war mit Kofferpacken beschäftigt. Sie hatte all ihre Kästen und Schubladen weit aufgerissen. Aus einer dieser Laden quoll in bunter Unordnung verschollenes Kinderspielzeug hervor: eine Menge kleiner und größerer Puppen, die Einrichtung eines winzigen Kaufmannsladens, die Geräte einer Puppenküche, ein Prachtherd vor allem mit Kochlöchern und Bratröhren, den ich ihr einst geschenkt hatte, ein kleines Indianerkostüm mit der dazugehörigen Ausrüstung, ein Rokokofrack, den die Zwölfjährige einst bei einem Theaterstück getragen hatte, das wir zur Feier des siebzehnten Augusts aufführten. Dies und noch anderes mehr.
»Verzeih, Doris«, meldete ich mich, »ein großes Mädel bist du, achtzehn, nicht wahr. – Und da wühlst du als Erwachsene in den Reliquien deiner Kindheit?«
Sie wandte mir im Knien den schmalen dunklen Kopf zu:
»Ich wühle nicht in Reliquien, sondern ich rüste ab. – Ich will alles Zeug von hier heroben in die Stadt mitnehmen oder fortwerfen.« – Diese Lebensbilanz eines so jungen Geschöpfes verwunderte mich:
»Das versteh' ich nicht recht, Doris«, sagte ich. »Hier in Grafenegg ist doch das Haus deiner Kindheit. Laß diese Reliquien doch da. Damit du sie immer wiederfindest, sooft du zurückkommst. Später werden sie dir vielleicht Spaß machen.«
Sie zog, ohne mich anzusehen, aus der Tiefe der Lade ein Luftgewehr und ein Segelschiffchen hervor. Sie sprach stockend, als sei sie nicht ganz bei der Sache:
»Kann man denn wissen, Theo, ob man zurückkommt? – Nicht einmal vom Kroatenkogel kommt man unbedingt zurück, wenn man auch nur neunzehn ist. – Muß ich das einem bemoosten Philosophen wie dir erst erzählen?«
Ziemlich grimmig unterstrich ich meine Überzeugung:
»Ich komm' bestimmt zurück, Doris, denn anderswo als bei euch kann ich nicht arbeiten.«
Das Segelschiffchen in der Hand, sah sie mich mit einem langen kritischen Blick an. Es war beinahe Livias Blick:
»Seit dem Achtzehnten ist alles anders geworden – ganz anders. Da muß man mit allen Dummheiten Schluß machen. Vergessene Sachen hab' ich nicht gern. Wir werden auch nie mehr so schön zusammen blödeln wie früher.«
Blödeln hatten es die Kinder genannt, wenn ich mich zu ihnen setzte, phantastisch dummes Zeug plapperte, Worte verdrehte, sinnlose Schüttelreime ersann und geläufig mit Sprachen paradierte, die es nicht gab. Sie liebten dieses Blödeln sehr und eiferten mir darin nach. Es war unser kindisches Geheimnis, das wir sogar vor Leopold und Livia verbargen. Noch in diesem Sommer hatten wir uns darin gemessen.
»Im Blödeln werd' ich immer ein Klassiker bleiben«, sagte ich, »das versprech' ich dir.«
Sie stand auf und nahm mich bei der Hand.
»Komm, Theo, setz dich zu mir aufs Bett. – Jetzt muß ich dir noch einmal etwas ganz Blödes schnell vorblödeln. – Paß gut auf!«
Wir saßen nebeneinander. Ihre Hand war diesmal nicht kalt wie sonst. Sie preßte die meine und ließ sie nicht los. Um ihren Mund zuckte es:
»Also hör! Der achtzehnte August, was, meinst du, ist dieser achtzehnte August neunzehnhundertsechsunddreißig? – Er ist ein kleines Stationsgebäude wie das in Grafenegg, siehst du's, mit zwei Rabatten davor, brennende Blumen, eine Bank, eine Lampisterie usw., und die kleine Klingel geht ununterbrochen. – Dort steht Phili jetzt und für alle Zeit. Vielleicht ist er sogar der Stationsvorstand. Wir aber steigen in den Zug ein und winken ihm, er winkt auch, sehr würdevoll, du kennst ihn ja, er winkt mit dem Befehlsstab. Die Lokomotive pfeift, der Zug fährt schon, wir winken, winken – Philipp aber steht dort und steht und wird immer kleiner. Wir sehen ihn noch eine ganze Weile vor seiner Station, die ›achtzehnter August neunzehnhundertsechsunddreißig‹ heißt. – Wir aber stehen am Fenster des letzten Waggons, und hinter uns versinken die Schienen im Boden und verschwinden, und wir bemerken es gar nicht. – Verstehst du, Theo, was diese kleine Station ist? – Und Phili kann sich ja aus dem achtzehnten August nicht mehr wegrühren, und wir können doch in diesen achtzehnten August nie wieder zurückfahren, und so werden wir nie, nie mehr zusammenkommen, daran kann auch der sogenannte Himmel nichts ändern.«
Sie hatte dieses Märchen in dem kindischen Singsang erzählt, den wir bei unseren Spielen bevorzugten. Ich aber brachte kein so schönes Märchen zustande, sondern nur eine etwas scholastische Antwort, um ihrem Unglauben zu widerstreiten: »Das ist sehr hübsch geblödelt, Doris, aber doch nur geblödelt. – Dein Stationshäusl mit dem lieben Phili steht an dem Schienenstrang der Zeit. Um aber den Tod richtig zu verstehen, müssen wir uns eine Welt außerhalb der Zeit vorstellen.«
»Ach du blöder Klassiker!« sagte sie und sah mich sonderbar erschrocken an. Dann aber wimmerte sie plötzlich auf, und ihr tränenüberströmtes Gesicht fiel gegen meine Schulter. Ich streichelte ihre Hände und preßte sie an meine Lippen. Lange saßen wir so.
Ein paar Stunden später standen wir fröstelnd ums Auto herum, wir vier, Livia, Doris, Leopold und ich. Bei größeren Fahrten hatte meist Philipp den Wagen gelenkt. Heut sah der behäbige und ungeschickte Leopold nach, ob die Pneus in Ordnung waren und ob Herr Bichler den Kühler für die anstrengende Bergfahrt mit genügend Wasser versorgt habe. Es regnete und stürmte. Eine verfrühte Herbstkälte war über Nacht eingebrochen. Das Tote Gebirge trug wieder seine Schneeschals und -hauben, die es nicht mehr loswerden würde bis zum nächsten Sommer. Leopold zog die Handschuhe an. Er schwankte im Stehen, obwohl er sich seit jener Nacht, was den Whisky anbetrifft, streng kasteit hatte.
»Also los! – Worauf warten wir noch?« drängte er ungeduldig.
Livia sah ihn an, ohne eine Miene ihres blassen Gesichtes zu verziehen, das gemmenhaft durchscheinender war als je. Dieses schöne, sonst so belebte Gesicht war ganz unbeweglich geworden seit drei Tagen. Nie aber war mir die Gestalt meiner Freundin höher, unnahbarer, ja abweisender erschienen. Sie trug einen dunklen Mantel, aber sonst keine Trauer. Ihre ganze Erscheinung war wie in Schatten gehüllt.
»Da fragst du noch?« entgegnete sie ihrem Mann. »Ist es nicht jedes Jahr dieselbe Geschichte bei der Abreise? – Wer läßt auf sich warten? – Die wichtigste Person und größte Egoistin im Haus natürlich.«
»Einsteigen!« rief Leopold und setzte sich mit einem bösen Ruck ans Steuerrad. »Doris, lauf zur Teta und sag ihr, daß wir ohne sie abfahren, wenn sie nicht in zwei Minuten gestellt ist!«
Doris weigerte sich, den Auftrag zu übernehmen: »Ich werd' mich hüten, Fräul'n Teta zu stören, beim herzzerreißenden Abschied vom Herrn Gemahl vielleicht. – Ihr werdet noch staunen, wenn sie als Weihnachtsmann daherkommt.«
»Gut hat's jeder, der keinen gern hat«, sagte Livia.
Leopold gab wütende Lärmzeichen. Ich aber umfaßte das Haus noch einmal mit einem raschen Blick. – Auf nächstes Jahr also, dachte ich. Wir werden wohl alle schon im Mai hier sein wollen. – Philipp wartet ja auf seiner Station. – Als Leopold bereits unwiderruflich den Motor anspringen ließ, kam Teta keuchend angewackelt. Sie glich wirklich dem beladenen Weihnachtsmann. Unterm Arm trug sie ihr schönes Heiligenbild. In jeder Hand schleppte sie einen Korb. Ihr Rücken war unter der Last eines schweren Rucksacks gebeugt, aus dem ein gewaltiger Blumenbuschen sowie allerlei Kräuterzeug hervorlugte und der Zitherkasten sich abzeichnete. Der frommen Magd aber folgte gehorsam, mit verschnürten Pappschachteln und Paketen, ihr Erzfeind, der freidenkende Volksgenosse Bichler. Es war klar, Teta hatte »abgerüstet« und ihre Kammer völlig geräumt, als sei sie dessen gewiß, daß es für sie keine Rückkehr mehr gebe hierher.
»Bitt' um Verzeihung die gnä' Herrschaft«, ächzte sie, »aber es war viel Plag diesmal. Ich hab' große Ordnung gemacht mit Erlaubnis. Und der arme Burschl hat so viel geweint.«
Während Bichler den Rucksack und das andere Gelumpe mit vielsagendem Grinsen im Auto verstaute, blickten alle böse vor sich hin, und niemand sprach ein Wort. Teta nahm auf dem Rücksitz Platz. Wolf heulte jäh auf, und man konnte es hören, wie er an der Kette riß und verzweifelt stieg und tanzte. Der Regen schlug an die Scheiben des geschlossenen Wagens, der auf die schlechte Bezirksstraße hinausknirschte. Es war fast ganz dunkel bei uns. Nur draußen im Regen leuchteten die wohlbekannten Sträucher und Königskerzen am Wege in heller, aber krankhafter Farbigkeit. Auf dieser Fahrt habe ich Teta das letzte Mal mit meinen körperlichen Augen gesehen.
Wie unerforscht ist die allgültige Erscheinung, die man das Gesetz der Serie nennt! Man begegnet einem Menschen, den man jahrelang nicht gesehen hat, dreimal an ein und demselben Tage. Innerhalb weniger Stunden drängen sich die tollsten Zufälle zusammen, für deren Eingreifen ein ganzes Leben nicht lang genug erschien. Dann spüren wir mit überbelichteter Klarheit, was das für ein dummes Wort ist: Zufall. Genügt es aber, von einem unbekannten Naturgesetz zu sprechen, demselben etwa, das den Lauf der Roulettekugel lenkt? – Wären nicht eher Begriffe am Platz wie Vorsehung, Vorherbestimmung oder höchster Ratschluß? – Oft freilich gibt sich die Serie mit solch lächerlichen Kleinigkeiten ab, daß man diese pathetischen Begriffe nur ungern bemühen möchte. Sollte es etwa auch mit jenem höchsten Ratschluß zusammenhängen, daß man sich an einem einzigen Vormittag in den Finger schneidet, eine Sehne zerrt und einen Span einzieht? Wer weiß es? Dann wieder sieht man, wie dieses Gesetz oder diese Vorherbestimmung einen Menschen, eine Familie, eine ganze Gruppe aus dem Humus der Masse heraushebt, um ihre Macht an den schrecklich Ausgezeichneten zu beweisen. Niemand versteht dann, warum dieser Mensch oder jene Familie durch eine ausgeklügelte Kette von aufeinanderfolgenden Schicksalsschlägen niedergeworfen wird.
Ich habe den Verdacht, daß an dem Unglück der Argans nicht irgendein blindes, uns unbekanntes Naturgesetz die Schuld trug, sondern die Rache des Zeitgeistes, der seinerseits das wachsamste Polizeiorgan der göttlichen Vorsehung ist. Ich meine darunter den merkwürdigsten und schrecklichsten aller Despoten, der es bewirkt, daß die Menschen einer bestimmten Epoche wie auf plötzlichen Befehl verstockt sind, erbittert, der Finsternis zu- und dem Lichte abgewandt. Wie alle Tyrannen, so duldet auch unser Zeitgeist nichts weniger als freie Seelen und unabhängige Geister. Er krönt denjenigen, welcher ihn am sklavischsten ausdrückt, und zermalmt die, welche ihm am reinsten widersprechen. Da er seinen Auftrag erfüllen muß, kann er Refraktäre und Non-Konformisten nicht gebrauchen, die sich ihm in den Weg stellen und die ihn aufhalten. So tritt in mancher Geschichtsphase das paradoxe Geheimnis zutage, daß Gott selbst nicht will, daß Gott sei. Wehe dann den Frommen und den Mystikern, die ihn fühlen und verkünden. Sie scheinen dadurch sündig zu werden an seinen Absichten. Ebenso gibt es Läufte, in denen Glück und Freudigkeit ein Verstoß gegen jenes Polizeiorgan sind. In unserer wohl strafweise zum lärmenden Mißvergnügen verurteilten Zeit müssen Menschen aus dem Wege geräumt werden, die glücklich und freudig sind aus sich selbst. Zu glücklich, zu freudig waren die Argans, meine Freunde, aus eigener Machtvollkommenheit. Sie mußten deshalb aus dem Weg geräumt werden. –
Während ich diese Zeilen auf eine Papierserviette kritzle, sitze ich am Boulevard Montparnasse vor dem Café Coupole und blinzle ins unerschöpfliche Vorüberfluten. Vor mir steht ein Glas Pernod, grünlich-milchig. Ich habe die Papierserviette mit obigem Gedankenschaum vollgeschmiert, weil ich die Sätze nicht finden konnte, die knapp und dürr genug wären, um das Notwendige zu erzählen. Jetzt aber bin ich wieder nach Hause gegangen in mein kleines Hotel und sitze am Schreibtisch und blicke durchs Fenster in einen trostlosen Hof. Ich beiße die Zähne zusammen.
Nach unserer Rückkehr in die Stadt wohnte ich noch zwei Wochen lang bei Livia und Leopold. Dann aber sah ich, daß meine Anwesenheit dort keinen Zweck hatte. Mit Doris' Worten – alles war anders geworden. Ich zog in ein Hietzinger Hotel und machte mich wieder an die Arbeit, die ich aber ebensowenig wie in Grafenegg zum Abschluß bringen konnte. Im November erkrankte Doris an einer Grippe, die anfangs sehr harmlos zu sein schien. Wir wußten nicht, daß um diese Zeit eine Epidemie in Wien umging, die von den Behörden geheimgehalten wurde. Die furchtbare Krankheit heißt Encephalitis lethargica. Sie ist im allgemeinen unheilbar, aber nicht tödlich; sie zerstört meist das Bewußtsein und die Lebenskraft des von ihr Befallenen. Doris wurde ihr Opfer. Ich schweige von dem Anblick, den das herrliche Geschöpf, das ich so sehr liebe, nach wenigen Monaten mir bot. Ich schweige auch von dem qualvollen Selbstbetrug, in dem sich Livia und Leopold wiegten. Auch ich mußte heucheln, daß ich von der völligen Genesung des Kindes fest überzeugt sei. Übrigens ertappe ich mich in der letzten Zeit selbst immer wieder bei diesem blinden Glauben. Es kann ja nicht sein, daß ein Wesen wie Doris für ewig zerstört sein soll. Zu Beginn des neuen Jahres 1937 lösten meine Freunde ihren Hausstand auf, um in der Nähe der Heilanstalt zu leben, in der ihre Tochter untergebracht war. Sie entließen auch Teta.
Im späten Frühjahr folgte ich der Einladung eines Schulkameraden nach Amerika. Meine Landsleute drüben beschworen mich, in ein Land nicht wieder zurückzukehren, das ihrer Meinung nach verloren und dem Teufel ausgeliefert war. Ich ließ mich überreden und blieb bis über den Winter in New York. Mit schlechtem Gewissen. Dann aber zog es mich mächtig heim, vor allem Livias wegen, die so viel zu tragen hatte. In Paris überraschte mich der freche Raub Österreichs.
In den ersten Tagen schon war Leopold Argan als erklärter Feind der Räuber verhaftet, gemartert und ins Gefängnis geworfen worden. Später wurde er in eines jener Lager verschleppt, die für immer eine unauslöschliche Schmach des deutschen Namens bleiben werden. Man hat ihn bis heute, wo ich diese knappen Zeilen höchst ungern und gepeinigt niederschreibe, noch nicht freigelassen. Ich habe alles Menschenmögliche versucht, aber es gibt keine Macht, die ihm helfen kann und will. Er lebt. Leidensgenossen von ihm, die mehr Glück hatten und weniger der infernalischen Rachsucht ausgeliefert waren als ein hoher Staatsbeamter, haben mir hier in Paris erzählt, daß Leopold sein Schicksal mit erstaunlicher Kraft und unbeirrbarer Würde trage, er sei zwar gänzlich abgemagert, aber vorläufig noch gesund und widerstandsfähig. Er soll beim Straßenbau und im Steinbruch beschäftigt sein. Stelle ich mir ihn in dieser Lage vor, den großmütigen, heiteren Künstler und Genießer, dann wird mir schwarz vor den Augen. Ich sehe ihn, wie ich ihn nach Philipps Tod zu Bett gebracht habe und er mir mit einer rührenden Kavaliersgebärde eine Kußhand zuwirft. Mit dieser Kußhand hat er Abschied genommen von seinem schönen Leben. – Von Livia habe ich seit jenen Märztagen nichts mehr gehört. Als Leopolds Frau muß sie es vermeiden, einem Verfemten wie mir Briefe in die Verbannung zu schreiben. Wie es Doris gegenwärtig geht, kann ich daher nicht erfahren. Meine Gedanken sind immer bei ihnen. Bei Livia, Leopold und Doris. Nun aber muß ich mich verabschieden, von ihnen und auch von mir. –
Denn ich lenke den Blick zurück auf Teta, die ich stets als einen Teil des Hauses Argan empfinden werde, wo ich auf meiner ungeordneten Lebensfahrt nicht nur Unterschlupf, sondern Heimat gefunden habe. Wenn ich bei Teta bleibe, so scheint es mir, daß ich hier in der Fremde mit meiner Heimat verbunden bin. Sie hat nun gerade ihr Zimmerchen in der Stadtwohnung der Familie Argan geräumt. Das Heiligenbild trägt sie wieder unterm Arm. Sie steigt die Treppen herab. Ohne sich umzublicken.