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3. Ohne Vorzeichen

Von allen Festnächten des siebzehnten August, die ich auf Grafenegg im Laufe der Jahre mitgefeiert habe, war diese die bewegteste und längste. Jeder von uns fühlte sich angespornt, ich weiß nicht warum, seine Fähigkeit zur geselligen Freude auf das äußerste anzuspannen. Heute kommt's mir vor, als hätte ich jener Nacht des großen Abschieds, schon während ich sie durchlebte, deutlich angespürt, daß all ihre frohe Berauschtheit durch einen krankhaften Stich ins Übertriebene und Gezwungene verzerrt gewesen sei. Das aber mag nur eine nachträglich verdüsternde Korrektur meiner eigenen Erinnerung sein.

Bedenkenswert jedoch ist es, daß Livia am Morgen dieses Siebzehnten mir mit einer blassen und aufrichtig gequälten Miene versetzte, sie habe es satt, für uns noch länger den Narren abzugeben. Heute werde dieses herausfordernde Fest zum unwiderruflich letzten Male gefeiert. Ein hochziffriger Geburtstag wie der ihre sei weiß Gott kein Anlaß für Lampions und Lärm, sondern für nachsichtiges Schweigen. Wenn wir nächstes Jahr wieder unsere blöden Kindereien vorhätten, so sollten wir dafür jeden anderen Tag des Sommers wählen, nur nicht den Siebzehnten. Und sie ließ Philipp, Doris und mich stehen, die wir mit fieberhaftem Eifer die Papierlaternen an den zwischen Bäumen gespannten Schnüren befestigten. Ich erschrak, denn ich kannte Livia zu genau, um nicht zu spüren, daß sie nur so schnell und böse davonging, weil sie ihre Tränen kaum herabzuwürgen vermochte. Ich hatte übrigens als mein Scherflein fürs Festkabarett eine kleine parodistische Szene verfaßt, welche die Kinder spielen sollten und die wir jetzt noch einmal rasch durchprobten.

Es begann wie immer mit einem langen und glorreichen Abendessen, dem Festbeitrage Tetas. Mehr als zwanzig Personen saßen zu Tisch. Außer uns fünf – ich rechne mich als ewigen Gast zum Hause – waren ein paar junge Leute aus dem nachbarlichen Bekanntenkreis der Kinder gekommen und jene gesetzteren Besucher, die Leopold jüngst von der Bahn abgeholt hatte. Ich wunderte mich, unter diesen die alten guten Freunde Argans zu vermissen, dafür aber mehrere neue Gesichter zu finden. Die Erklärung dafür lag nah. Der Mehltau der politischen Entwicklung hatte sich auf alle menschlichen Beziehungen gelegt, und da Leopold eine entschiedene und eindeutige Stellung bezogen hatte, hielten es die Gesinnungsakrobaten, aus denen zu neunundneunzig Teilen alle Volksklassen bestehen, weder für wichtig noch für vorteilhaft, eine lang genossene Freundschaft mit Leuten zu unterstreichen, die eigentlich nie »ernst zu nehmen« gewesen sind. Die Heliotropie des menschlichen Opportunismus trat in ihr Recht. Die Tüchtigen wandten ihre Köpfe der neuen Sonne zu, wenngleich diese noch unterm Horizonte in einem fahlen Zwielicht stand. Zumeist ahnten sie gar nicht, daß sie Verräterei begingen, denn die erwähnte Kopfwendung ist ein ganz natürlicher und kein gesinnungshaft geistiger Vorgang, und der Mensch ist so schwach geboren, daß er jede »Weltanschauung« gläubig anzunehmen willens ist, sofern sie nur zur Herrschaft kommt und ihm sein Futter nicht vermindert. Diese Gattung Mensch würde auch glatt ihre eigenen Kinder abschlachten, wenn's die durch Macht erhärtete und mit Wissenschaft verbrämte Weltanschauung von ihr fordern sollte. Wie leicht war's da, sich von Freunden unauffällig zurückzuziehen!

Was aber die neuen Gesichter anbelangt, so hingen sie mit der großherzigen Wahllosigkeit in Leopolds Natur zusammen. Wenn es spät wurde und er saß beim achten Whisky und die Seele wuchs ihm, da lud er alle ein, die sich in seiner Nähe befanden, wildfremde Leute und manchmal auch die Kellner, die ihn bedienten. Er besaß daher in der Welt so manchen Duzfreund, an dessen Gesicht er sich kaum, an dessen Namen er sich überhaupt nicht erinnerte. Nie ließ er sich jedoch die Unkenntnis anmerken, und wenn ihn einer seiner mysteriösen Duzfreunde irgendwo mit einem kernigen »Hallo, Poldi!« begrüßte, so erwiderte er den Willkomm mit gleicher Wärme und schlug wohl noch dem unbekannten Bruder einer weinselig verschollenen Nacht kameradschaftlich auf die Schulter. Man muß nicht eigens anmerken, daß solche verbrüderungsträchtige Gewohnheiten einem höheren Beamten im Dienste der Diplomatie nicht gut anstanden. Vom Diplomaten fordert man keine offenen Arme, sondern eine snobistisch ausschließende und einschränkende Siebung seines Verkehrs. Kein Wunder, daß Leopolds Karriere durch diese großmütige Wahllosigkeit gelitten hatte, da er und Livia überdies sich noch wehrten, langweilige Gesellschaften zu besuchen oder gar bei sich zu empfangen. Die Argans waren die Argans, keine von der jeweiligen Beleuchtung an die Wand der Zeitumstände geworfenen Schatten, sondern ursprüngliche Menschen, die von ihrem eigenen Lichte lebten. Wie wenige Selbstherrliche dieser Art gibt es, und sie allein haben es nicht nötig, eine Rolle spielen zu wollen, nach Einfluß zu begehren und um Erfolg zu buhlen. Es ist beinahe logisch, daß ein geheimnisvolles Weltschicksal, das überall die Freien, Überragenden und Unbekümmerten zur automatischen Masse einebnen will, gerade den wenigen Selbstherrlichen als seinen Todfeinden auflauert.

Als Leopold vor einigen Tagen in dichtgefülltem Auto mit seinen »Neuerwerbungen« eingetroffen war, hatte Livia mir belustigt zugezwinkert: Was würde daraus entstehen? – Glücklicherweise entstand nichts daraus, was unsere Gemeinschaft störte oder überanstrengte. Neben einem langbefreundeten Ehepaar hatte Leopold einen Schauspieler ohne Namen mitgebracht, eine hübsche Dame mit Namen, einen witzigen Kopf, der an nervösem Gesichtszucken litt, und schließlich ein Männchen in Steirer Rock mit einem kugelrunden Glatzschädel, das einem ländlichen Gemeinderat gleichsah oder einem alt gewordenen Schullehrer. Gerade dieses Männchen aber entpuppte sich als eine glänzende Neuerwerbung. Wir nannten es nur den »großen Lacher«. Als dankbares Publikum in Person besaß der Eingeschrumpfte jene Kunst des Lachens, wie ich sie noch nie angetroffen hatte. Er lachte nach Noten, in allen Stimmlagen, in jeder Taktart, in jedem Tempo, in liegenden Tönen, in raschen Koloraturen und immer unbewußt und aus seiner ganzen Tiefe hervor. So trug er durch seine unvorhergesehene Mitwirkung nicht wenig zum Gelingen unserer Festnacht bei.

Es gehörte zu den guten zwanglosen Bräuchen des Hauses Argan, daß die Getränke nicht erst zum zweiten Gang, sondern schon zur Suppe geschenkt wurden. Doris und Philipp standen vor zwei gewaltigen Terrinen mit Pfirsich- und Waldmeisterbowle und ließen unsere Gläser nicht leer werden. Als man dann endlich bei Mokka, Likör und Whisky hielt, war bereits jeder einzelne des Entzückens voll und willens, das Leben als ein einwandfrei göttliches Geschenk gelten zu lassen. Der Schauspieler brachte sein vorläufig noch namenloses Organ zu schallender Geltung. Der witzige Kopf sprühte unter lebhaften Gesichtszuckungen. Er schien seine Pointen über unser Tischgespräch wie aus einer Zucker- oder besser Pfefferbüchse zu streuen, die er verstohlen bereithielt. Die schöne Frau spiegelte ihr anerkanntes Lächeln teils in allen Blicken und teils in ihrem fleißig zu Rate gezogenen Taschenspiegelchen. Die Jugend schwatzte aufgeregt durcheinander. Und der alte Lacher lachte ohne Unterlaß.

Dann hob Livia die Tafel auf. Man begab sich mit Gläsern und Flaschen in den Park hinterm Haus. Dort waren schon die Stühle für die Zuschauer an die Rampe der großen Terrasse gerückt, welche die Bühne vorstellte. Auf einmal war ein Publikum von ansehnlicher Zahl vorhanden. Die Dienerschaft nämlich hatte in Nachahmung der freien hausherrlichen Sitten ihre Freunde aus der Umgebung zu den Darbietungen eingeladen. Ein sehr großer Vollmond schwebte über unseren bunten Lampions. Zwischen den Wipfeln der Lärchen schimmerten knöchern die Felswände des Toten Gebirges herüber.

Die erste Nummer hatte Leopold selbst übernommen, der gute Kerl, denn der Anfang bedeutet für den Künstler ja stets die größte Überwindung, nicht nur die des Publikums, sondern mehr noch die des eigenen Lampenfiebers. Es war übrigens eine seiner Meisternummern. Er setzte sich an den Flügel, den man auf die Terrasse gerückt hatte, und verlangte, daß man ihm einen modernen Schlager zur »Bearbeitung« aufgebe. Die meisten wählten den Schlager des Jahres, dessen Weise auf die albern zwinkernden Worte gesetzt war:

»Ich bitt' dich, schenk mir dein Foto,
Und wär' es auch noch so klein.«

Leopold Argan verwandelte dieses schieberische Lied wortwörtlich im Handumdrehen in das blockhafte Gedränge einer Bachschen Fuge, in einen passagenumplätscherten Liszt, in ein sich ins Gehör bohrendes Arioso à la Puccini, in ein dämmerfarbenes Wolkengebild Debussys und endlich in die flüchtige Mißklangsgirlande eines unserer verwegensten Neuerer. Sein Anschlag und Akkordgriff waren so mächtig, daß er auch jene überwältigte, die nichts von den Geheimnissen der Musik und damit auch nichts von diesen glänzenden Parodien verstanden. – Nun folgte mein kleines Szenchen. Ich empfand es als den weitaus schwächsten Punkt unseres ganzen Programms. Obzwar ich schon ein wenig berauscht war, schwitzte ich vor Scham und schlechtem Gewissen. Ich war wie erlöst, als Doris drankam. Sie sang, von Livia begleitet, den »Csardás« und die »Frühlingsstimmen« von Johann Strauß. Welche Fortschritte hatte das Mädel in den letzten zwei Jahren gemacht! Selten habe ich eine Stimme gehört, auf die der Begriff »leichter Sopran« so genau zutraf. Sie erkletterte mühelos alle Höhen, spielte übermütig mit halsbrecherischen Staccati und Fiorituren und schwebte angst- und gewichtslos auf den längsten Trillern. Dabei brachte diese Stimme auch den sonderbaren Humor zum Ausdruck, der auf des Mädchens Wesensgrunde lag, eine graziöse, kühle, augenruhige Überlegenheit, deren unheilverkündenden Sinn keiner von uns je bemerkte. Ich hatte geraten, man möge Doris schon im heurigen Jahre nach Mailand schicken, damit ihr Gesang dort den letzten Schliff empfange. Livia, unerbittlich in ihrem Urteil, fand's noch zu früh. O hätte sie das Kind nur für die nächsten Jahre nach Italien geschickt, vielleicht wäre dann ... Doch wozu das? »Hätte« und »wäre« sind die grammatikalischen Formen unserer unfruchtbarsten Reue.

Philipp machte den Ansager. Er setzte mich in Erstaunen, ja fast in Schrecken. So wie heute hatte ich den Jungen noch nie gesehen. Wohl kannte ich sein Temperament und seinen wilden Rhythmus beim Musizieren, zwei Eigenschaften übrigens, die nur eine einzige sind. Im Leben sonst gab sich dieser blonde hochgeschossene Philipp – das Bild eines jungen Menschen – gesetzt, aufmerksam und beinahe gemessen. In seiner Sprechweise bevorzugte er ein eigentümlich trockenes Pathos, in dem er ideelle Gegenstände in platte Worte kleidete, wie zum Beispiel: »Ich werde demnächst ein Lied oder eine Sonate anfertigen«, und umgekehrt Alltägliches in künstlerische Begriffe hob: »Fräul'n Teta ist heute erzürnt und hat daher den Apfelstrudel ohne Rosinen nach a-Moll moduliert.« Hinter diesen Fexereien verbarg sich bei Philipp, ebenso wie hinter der stillen Ironie seiner Schwester, irgend etwas, was er nicht preisgeben wollte. Mich sprach er manchmal am Morgen in dritter Person an: »Haben einen hinreichend guten Schlaf absolviert heute?« Es konnte so geschehen, daß er mich ganze Tage lang nicht direkt anredete. Ich ging oft mit ihm spazieren, und wir unterhielten uns wie Leute, die sich seit Unzeiten kennen und schätzen und im großen und ganzen dieselben Ansichten haben. Er hörte mir dann wohlwollend zu und bat sogar in dieser oder jener Sache um meine Belehrung. Viel öfters aber geschah es, daß sich Philipp als mein Beschützer fühlte und mir herzlich den Arm um die Schulter legte, denn ich war etwas kleiner als er. Er schien sich in mir eines hilfsbedürftigen Wesens zu erbarmen, das noch aus einer sehr ungeschickten Vorwelt stammte und dessen Schritte man lenken mußte. Trotz seiner Anhänglichkeit aber bekam ich nicht ein einziges Mal das Gefühl, ihn wirklich aufgeschlossen zu haben. Ich schob's auf das Lebensgesetz, das die Generationen unerbittlich voneinander trennt, und gar in dieser Zeit, wo ein Jahrzehnt wahrscheinlich dem Jahrhundert einer sanfteren Epoche in seiner Schrittweite entspricht. So viel aber verstand ich manchmal, daß in Philipp etwas Zügelloses am Werke sein mußte, das er mittels seiner gewundenen Redeweise verhüllte, um nicht aus der Rolle der modernen Trockenheit und Sachlichkeit zu fallen.

In dieser Nacht trat das Zügellose in Philipp klar hervor, freilich in den Formen seiner glänzenden Begabung. Er war, ohne einen wirklichen Rausch zu haben, wie außer sich von tollstem Lebensdrang. Sein schönes Gesicht ließ die würdige Maske fallen und gab endlich der Flamme Raum. Unnachahmlich spielte er den eifrigen Conferencier eines Vorstadt-Varietés. Ohne daß er sich im geringsten darauf vorbereitet hatte, strömten ihm, während er die Mitwirkenden vorführte und einbegleitete, die Einfälle zu; er überbot sich an glänzenden Improvisationen, an komischen Wortfolgen, an grellen Beobachtungen. Der Schauspieler sperrte nur so den Mund auf, der Vorlacher bog sich und machte alle übrigen zu Nachlachern. Eine der Nummern war Herrn Bichler anvertraut, der den Wunsch geäußert hatte, sich als Zauberkünstler produzieren zu dürfen. Er radebrechte mit der ihm eigenen abschätzigen Steifheit und lauernden Kränkbarkeit ein paar der üblichsten Kartenkunststücke. Ob sie nun gelangen oder nicht, er beendete sie jedesmal mit dem stolzen »Voilà« der echten Artisten, worauf er die Hände ausbreitete und sich verbeugte. Philipp gab seinen Gehilfen, einen verhungerten, bekümmerten Jüngling, der mit angstvollen Augen die Arbeit seines unfähigen Meisters verfolgt, jede Sekunde gewärtig, daß etwas schmachvoll mißlingen muß und die faulen Äpfel sogleich fliegen werden. Es war wirklich ergreifend. Dann kündigte er sein eignes Auftreten als »Argan-Sinfonie-Jazzband« an. Das gekoppelte Schlagwerk einer Jazzmusik wurde hereingeschoben, dessen große Trommel und Becken mittels eines Pedals zu spielen waren. Philipp setzte sich davor, in der Rechten ein Saxophon, auf dem Schoß eine Stopftrompete und die Ziehharmonika neben sich. Leopold half am Klavier. Dann ging die Hölle los. Man hätte meinen können, eine ganz große Negerbande sei entfesselt. Die Trommel pochte unaufhörlich. Das Becken gellte. Einmal knautschte das Saxophon sein Mißbehagen in die Nacht. Dann löste es die Trompete mit keifendem Schimpf ab. Und dazwischen schnauften noch die Akkorde der Ziehharmonika. Wir starrten überwältigt, daß ein einzelner dieses rhythmische Toben und Quäken einer Jazzband zustande bringe. Auf Philipps hin und her gepeitschtem Gesicht aber malte sich ein fassungsloser Fanatismus ab, von dessen Vorhandenheit ich trotz alles Musizierens bisher nichts geahnt hatte. Da geschah es, daß mich jener Schreck erfaßte. Seine Nummer aber war noch nicht das Hauptstück. Das kam erst, als er wieder als Ansager vortrat und mit tiefem Ernste verkündete:

»Als nächstes, meine Damen und Herren, bringen wir Ihnen eine Künstlerin, die Sie alle kennen und schätzen. Sie wird ein liebliches Volkslied zum besten geben und sich dabei selbst begleiten. Es ist uns nur unter den größten Opfern und nach langwierigen Verhandlungen, die sich schon zu zerschlagen drohten, endlich gelungen, die Meisterin zur Mitwirkung an unserer Festakademie zu bewegen. Ich muß mich mit meiner Conference beeilen, denn die Sängerin – eine zweite Garbo an Scheu und Empfindsamkeit – wird draußen von zwei Mitgliedern festgehalten, damit sie nicht davonlaufe und kontraktbrüchig werde.«

Philipp neigte sich vor und flüsterte:

»Ich möcht' Sie noch auf einen besonderen Reiz der kommenden musikalischen Nummer aufmerksam machen. Die Künstlerin in ihrer charakteristischen Eigenwilligkeit spielt und singt ohne Vorzeichen, das heißt, sie schaltet die Kreuzchen und B der verschiedenen Tonarten geflissentlich aus, wodurch sie bestimmte fremdartige Wirkungen erzielt, um die sie mancher moderne Komponist beneiden könnte. Ich bitte die Herrschaften, unsere scheue Attraktion sofort durch donnernden Applaus zu ermuntern und von Fluchtgedanken abzubringen.«

Nach diesen Worten stürzte er ins Haus und kam erst nach einer spannenden Pause zurück, die widerstrebende Teta am Arme führend. Als sie in der Mitte der Terrasse das schon vorbereitete Tischchen erreicht hatte, gab Philipp mit einer ritterlichen Verbeugung die festlich gekleidete Magd frei und legte ihr die Zither mit dem untergeschobenen Notenblatt zurecht. Sie lachte laut und verlegen auf, machte ihren eigenartigen Knicks und murmelte entschuldigend:

»Weil's halt der junge Herr so viel gewünscht haben – tu ich's mit Erlaubnis – und für die gnä' Herrschaft.«

Dann setzte sie sich hin, nestelte ihre Stahlbrille hervor und versenkte sich aufmerksam in das Blatt, während sie ihre knorrig abgearbeiteten Finger zögernd auf die Saiten legte. Und jetzt sang sie. Wenn ich mich recht erinnere, war's das berühmte Lied von Koschat:

»Verlassen, verlassen, verlassen bin i,
Wie ein Stein auf der Straßen ...«

Diesen todtraurigen, herzerweichenden Schmachtfetzen aus einer glücklichen Zeit hatte Teta gewählt. Vermutlich bestand ihr Repertoire nur aus traurigen Stücken. Die harte slawische Aussprache ihres Vortrags aber nahm dem Stück jede Sentimentalität und den Charakter der sich selbst bewinselnden Verlassenheit. Dazu kam noch die Sache mit den fehlenden Vorzeichen. Während ihres musikalischen Selbstunterrichtes waren Teta Sinn und Zweck der Halbtöne verborgen geblieben, die auf den Saiten der Zither durch Griffe eigens erzeugt werden müssen. Ich hatte anfangs gefürchtet, es würde sehr komisch sein und der Lacher werde sein unwiderstehliches Zeichen geben und die Magd sich verhöhnt fühlen. Schon hatte ich mich über Philipp geärgert, daß er Teta ins Spiel gezogen. Aber es war nicht komisch, sondern, genau nach den Worten des Ansagers, seltsam und fremdartig. Der Lacher und sein Gefolge lachten nicht, sondern schauten mit überraschten Gesichtern drein. Teta sang nicht wie eine alte Frau. Sie hatte die kühle und klare Stimme eines Jungmädchens, ja eines Kindes. Eine dünne, eine strohblonde Stimme, möchte ich sagen. Wenn man die Augen schloß, hätte man meinen können, ein kleines Hirtenmädel auf einer verlorenen Hutweide zu hören. Nein, das stimmt nicht ganz. Ihr Gesang hatte etwas mühsam und unnachgiebig Fortschreitendes, denn die stammelnden Finger hatten ihre liebe Not, die vorgeschriebenen Saiten zu finden. So war das suchende Spiel und der dünne klare Gesang zugleich eine ernste Arbeit, in die Teta versunken schien, als sitze sie ganz allein mit ihrer Zither auf dem Platzl unter den hundertjährigen Linden.

Die zweite Strophe aber war noch nicht zu Ende, als ein heiseres Knurren und Kläffen aus dem Dunkel brach, leidenschaftliches Atmen hörbar wurde und ein struppiger Hundeleib sich durch die Zuschauer schmiegte. Mit einem Satze sprang Burschl auf die Terrasse. Die Zunge hing ihm lang aus dem Rachen. Er schleppte seine Kette nach. War's ein Jungenstreich von Philipp, ein Racheakt Bichlers, oder hatte sich Wolf aus eigener Machtvollkommenheit sehnsüchtig losgerissen, als er die Stimme seiner musikalischen Gefährtin hören mußte, auf die kein anderer ein Anrecht besaß als er? Er murrte eifersüchtig, und der tote Milchopal seiner Augen starrte feindselig ins Publikum, das in Bewegung geraten war.

Teta hatte sich erhoben. Sie schalt:

»Was ist denn, Burschl, Schlimmer? Aber so was! Was willst du dahier? Wart nur! Kusch dich jetzt!«

Daraufhin streckte sich der Wolfshund nicht unzufrieden und recht erwartungsvoll zu ihren Füßen aus. Sie aber machte wieder ihren Knicks, lachte verlegen und sagte: »Bitt' um Verzeihung für das Viecherl – er mag die Kette gar nicht leiden.«

Dann streckte sie die Hand nach der Zither aus, um ihre Darbietung abzubrechen und sich zurückzuziehen. Dies aber verwehrte der donnernde Applaus. Die Leute riefen: »Bis, bis!« »Noch einmal!« – »Wir wollen weiterhören!« Teta zögerte, lachte wieder, warf einen langen Blick auf Livia, dann meinte sie:

»Wenn die gnä' Herrschaft, bitt' schön, befiehlt ...«

Und schon saß sie wieder und erhob ihre klare Jungmädchenstimme, um die dritte Strophe von »Verlassen, verlassen, verlassen bin i« mit derselben arbeitsamen Versunkenheit wie die früheren abzusingen. Ich mußte an ihren Lebensplan denken und begann nun ihr Wesen auch aus diesem konsequenten Gesange zu verstehen. Burschl erwies sich diesmal als großmütiger Nebenbuhler. Er gab der kritischen Versammlung die Ehre und störte nur durch zweimalig kurzes Duettieren das Solo seiner Meisterin.

Nachher trat der Hausherr zu Teta auf die Terrasse und überreichte ihr ein volles Glas mit den Worten:

»Ich dank' Ihnen vielmals, Fräul'n Teta – es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie zum Gelingen unseres Festes so viel beigetragen haben. – Ich trink' auf Ihr Wohl.«

»Aber so was«, sagte Teta, »die gnä' Herrschaft«, und nippte an der Bowle. Philipp reichte ihr den Arm und führte sie die Stufen der Terrasse hinab unter die Gesellschaft. Sie wurde von allen angesprochen und belobt. Inzwischen – Mitternacht war lang vorüber – begannen die jungen Leute zu tanzen. Man zog Teta an einen der kleinen Tische, die im Park aufgestellt waren. Dort saß sie unter uns, trank Kümmel mit kleinen, aber aufmerksamen Schlucken und knabberte an dem Backwerk, das ihr Livia servierte. Sie sprach wenig und nur dann, wenn sie gefragt wurde. Ich versuchte, ein Gespräch anzuknüpfen:

»War's nicht lustig heut abend, unser Fest, Fräul'n Teta?«

»Sehr lustig und sehr unterhaltlich«, sagte sie.

»Und Glück haben wir gehabt mit dem Wetter. – Diese schöne Nacht!« Sie begann ihr bewunderndes Kopfschütteln und holte den Refrain aus der Tiefe:

»Eine Pracht ist das wirklich, diese Nacht.«

Sie trug ein altmodisches schwarzes Magdgewand – vermutlich ein Weihnachtsgeschenk Livias – und auf dem Kopf die weiße Krause, Abzeichen des dienenden Standes, das sie auch heute abend nicht abgelegt hatte; zur Empörung Herrn Bichlers, der in einem braunen Samtrock und mit weißen Seglerschuhen sich produziert hatte. Aufrecht saß sie da, die Hände im Schoß gefaltet, ließ ihre hellen Augen aufmerksam wie eine Schwerhörige im Kreise wandern und lauschte den geistreichen Spaßreden des witzigen Kopfes, als sei es nie zu spät, von Klugen, Gebildeten und Hochgestellten etwas zu lernen. Aus solchem Munde bereicherten auch Worte, die man nicht verstand. Ich aber wußte, daß dieser witzige Kopf ein armes, willenloses Irrlicht war gegenüber der Dienerin, die ihr Leben vorsorglich nach Zeitmaßen baute, zu denen ein auf schnelle Wirkung bedachter Verstand sich gar nicht aufzuschwingen vermag. Jetzt begriff ich auch Livias Klage über die »ewig fremde Person, die man da im Hause hat«. Teta hatte wirklich nicht die geringste Ähnlichkeit mit jenen altgewordenen Hausgeistern, die sich in gutgearteten Familien auflösen wie eine Ingredienz, die ihr ganzes Selbst verlieren, um dafür in einer verlorenen Ecke der Erinnerung eine freundlich bescheidene Grabstätte zu gewinnen. Teta hatte ihr Selbst bewahrt wie ihre Kammer, deren Schlüssel sie niemals steckenließ. Ihre Teilnahme war bedingt und widerrufbar. Vor zwanzig Jahren war sie gekommen. Morgen würde sie wieder gehen, ohne ihr Herz und ihres Lebens Heim eingebüßt zu haben. An den Argans konnte die Schuld für diese stets spürbare Kühle nicht liegen. Hier saß ein lebendiges Beispiel für die große Kunst, das Zeitliche, das Vorübergehende nicht ganz voll zu nehmen, jedenfalls in ihm nicht rettungslos zu versinken. Man mußte zwar innerhalb des Vorübergehenden seine Pflicht erfüllen, da es mit dem Bleibenden in einem unlöslichen Zusammenhange stand. War es aber einmal vorüber, so war's vorüber, und nur man selbst blieb. In dem einzigen Fall von Mutter und Kind mochte das Vorübergehende mit dem Bleibenden sich nahezu berühren. Teta aber war Jungfrau glücklicherweise, und der Neffe war nicht ihr Kind, sondern nur ihr Beauftragter.

Ihre Pflicht jedoch erfüllte sie auch jetzt, indem sie immer wieder zur Herrin hinblickte, ob sie dieser nicht mit irgendeiner Handreichung zu Diensten sein könne. Sie bewies ein erstaunliches Feingefühl, indem sie nur eine gemessene Weile in unserem Kreise absaß, sich dann bescheiden erhob und an Livia wandte: »Ich werd' bittlich sein, nicht weiter stören zu dürfen. – Muß jetzt mit gnädiger Erlaubnis die heißen Würstl herrichten, die Sandwiches und das Bier.«

Man dankte ihr noch einmal und ließ sie gerne ziehen. Denn wir alle sehnten uns nach einem guten frischen Trunk.

 

Ich hatte drei Glas Bier heruntergestürzt und nachher zwei Gläschen Himbeergeist. So leicht und glücklich fühlte ich mich, daß ich das Bedürfnis empfand, eine Weile allein mit mir zu sein, um meine Glücklichkeit bewußt auszukosten. Ich ging in mein Zimmer, machte kein Licht, stieß das Fenster auf und lehnte mich weit hinaus, nur nächtlich atmend und seiend. Der Mond war untergegangen. Das Tote Gebirge mit dem Großen Priel stand als eine fahle Ahnung im Westen. Hingegen wölbte sich die dichtgewobene Milchstraße des August, dieser Brautschleier des Universums, lächerlich klar und nah vor meinen Blicken.

Servus, Milchstraße! Ich teile dir mit, daß es mir außerordentlich gut geht, denn ich weiß, du interessierst dich zweifellos für mein Wohlergehen. Ich weiß auch, daß dich nur billionenstellige Zahlen ausdrücken, und ich bin eine angeheiterte Ameise, um nicht zu sagen Laus. Aber was soll das heißen, groß und klein? Das sind sinnlose Verhältnismaße. Ich muß doch größer sein als du, da deine Billionen Lichtjahre Platz finden in meinem Ameisenblick. Damit wir nicht in Streit geraten über unsere Bedeutung, schlage ich dir eine versöhnliche Formel vor: Du bist in mir aufgehoben, und ich bin in dir aufgehoben. – Ich bin übrigens sehr gut aufgehoben. Die Argans sind meine Freunde. Sie nehmen mich, wie ich bin. Sie verstimmen mich Verstimmbaren beinahe nie. Und dieses Zimmer gehört mir. Es ist mein liebes Zimmer, und niemand darf es mir wegnehmen. Hier arbeit' ich so gut. Und meiner neuen Arbeit hab' ich unbedingt unrecht getan. Livia findet sie sehr aussichtsreich, und mein Verleger schreibt mir, daß er das Manuskript nicht ohne Ungeduld erwarte. Ich muß wirklich verrückt gewesen sein, an diesem glänzenden Stoff zu zweifeln. Morgen setz' ich mich wieder hin. Wir gehn vor Mitte Oktober keinesfalls in die Stadt zurück. Im Oktober ist es am schönsten in Grafenegg. Diese brennende Farbigkeit des Alpenherbstes! Das sind noch sechzig Tage mindestens. Sechzigmal Morgen, Vormittag, Nachmittag, Abend, Nacht. Mir geht's wirklich gut. Schließlich steht man mit fünfundvierzig als Künstler noch am Anfang. Tolstoj ist ein Beispiel dafür, und Goethe natürlich. Die Gegenbeispiele sind allerdings noch zahlreicher, aber man muß das Leben und das Werk eines Menschen als Ganzes betrachten; das relative Alter hängt von der Gesamtzahl der Jahre ab. Auch wenn ich vorsichtig rechne und annehme, daß ich nur fünfundsechzig alt werde – warum soll ich nicht fünfundsechzig alt werden? –, bleiben mir noch zwanzig gute Volljahre. Zwanzig Sommer in Grafenegg. Ich werde künftig schon im April herkommen, damit gewinne ich zwanzig weitere Arbeitsmonate meines Lebens, das sind fast zwei ganze Jahre über die Fünfundsechzig hinaus. Vielleicht aber werde ich dreiundachtzig alt, nicht ganz angenehm für einen Junggesellen, aber Philipp und Doris werden mich gewiß nicht verlassen. Philipp und Doris. Komisch, ich hoffe somit als Schmarotzer an der Kindesliebe einer fremden Nachkommenschaft zu enden.

Ununterbrochen drang die Tanzmusik eines überlauten Grammophons aus dem Garten zu mir herauf. Dazwischen war Philipps helle lachende Stimme, die keinen Widerspruch zu dulden schien, immer wieder zu hören. Er stand gleichsam auf der Kommandobrücke dieser Festnacht. Ich ging auf und ab in meinem lieben dunklen Zimmer. Ich berührte im Vorbeistreifen meine Bücherrücken. Ich sog mich voll an meinen eigenen alternden Geistern, die neben mir auf und ab durchs Zimmer wanderten. Noch einmal stellte ich fest: Es geht mir gut. Zugleich aber erschrak ich ein bißchen über diese so oft wiederholte Feststellung. Die wahre Gesundheit weiß nichts von sich selbst. Dann stieg ich wieder in den Park hinab.

Die Dienerschaft war schlafen gegangen. Der größere Teil der Gäste hatte sich schon zurückgezogen. Gott weiß, wie spät es sein mochte. Die Freunde und Freundinnen der Kinder hielten noch stand. Der Tanz auf der Terrasse ging weiter. Nur die Stimme des Grammophons schien mir schrill vor Müdigkeit geworden zu sein. Ich fand Livia und Leopold an einem Tisch mit dem Lacher, dessen mondhafter Glatzkopf in Dunkel schwebte. Das Männchen hatte den größten Teil seines Schatzes bereits vergeudet. Er lächelte nur mehr verklärt.

»Komm her, Alter«, rief Leopold mir zu, »und trink! So jung sitzen wir nicht wieder beisammen!«

»Er will diese Nacht nicht mehr ins Bett«, lachte Livia, »und er hat ganz recht.« Leopold schenkte mir puren Whisky ein. Sein gutes breites Gesicht war schon tief gebräunt durch die nächtliche Sonne des Alkohols:

»Natürlich hab' ich recht, Theo. – So jung werden wir morgen nicht mehr sein. – Das Alter kommt nämlich nicht, wie diese blöden Ärzte behaupten, tropfenweise, nach und nach, unmerklich, nein, mein Guter, mit einem Schlag kommt's.« – Er hieb die Faust auf den Tisch. – »Wie in Raimunds ›Bauer und Millionär‹, erinnerst du dich: Die Tür fliegt auf, ein kalter Wind weht herein, und ein krächzender gichtischer Mummelgreis in Pelz und Schlapfen tritt auf, das Alter.«

»Brüderlein fein, Brüderlein fein, einmal muß geschieden sein«, sang der Lacher vor sich hin und wiegte seinen Vollmond. Leopold bedeckte plötzlich sein Glas mit der Hand. Es war eine verwehrende Geste.

»Eine der größten Szenen der Weltliteratur ist das«, sagte er, »für mich wenigstens – wie zuerst die Jugend im Ballettröckchen sich verabschiedet und dann das Alter mit dem eingeschneiten Pelz auftritt. Das reicht an Shakespeare. Ein lieber, kindlicher, wienerischer und doch ganz verzwickter Shakespeare. – Und gelebt haben am Ende nur die paar Genies, wie dieser arme Ferdinand Raimund. – Wir andern aber leben nur, um ihre Geschenke zu empfangen. – Prost, Theo.«

Wir tranken und schwiegen.

Plötzlich tauchte Philipp auf:

»Gestatten die Herrschaften?«

Der Vater schob ihm ein Glas hin. Er aber lehnte es ab und blieb stehen:

»Für die Erklärung, die ich abzulegen habe«, begann er mit seiner gewundensten Feierlichkeit, »ist es notwendig, daß ich aufrecht stehe und meine ungetrübte Nüchternheit bekunde. Herr Leopold Argan, Frau Livia Argan, ich hab' euch ein Kompliment zu machen. Es heißt, daß sich niemand seine Eltern aussuchen darf. Schwindel! Ich hab' euch mir ausgesucht, sonst würd' ich nicht ...«

Er machte eine kleine Pause und wurde feuerrot, weil er sich vor uns schämte. Dann aber brach mit voller Kraft das Geständnis aus ihm:

»Ich bin nämlich so furchtbar gern auf der Welt!«

»Das ist wirklich das größte Kompliment, das einer seinen Herren Erzeugern machen kann«, strahlte der Lacher. Leopold aber prüfte eingehend die Flaschenbatterie, die auf dem Tisch stand: »Darauf müssen wir etwas ganz Starkes miteinander trinken, nüchterner alter dummer Bursche.«

Philipp jedoch war schon wieder verschwunden. Das Grammophon, das ein paar Minuten lang Atem geschöpft hatte, heulte von neuem los. Es fiel mir auf, daß Livia nicht mit uns angestoßen hatte, als wir auf die Lebensfreude ihres Sohnes tranken.

Auf einmal war das Dunkel, in dem wir uns sprechend oder schweigend dehnten wie in einem lauen Bad, fliederfarbig geworden. Die Grillen von Grafenegg – nach ihrer Tonstärke zu schließen sehr ansehnliche Bestien – hielten inne wie auf ein Taktzeichen. Die Natur schaltete überdeutlich einen Zwischenakt ein, als brauche sie eine Weile für Umbau und Neustimmung. Diese von einer jähen Kälte begleitete Verwandlungspause dauerte noch an, als die ersten grünlichen Andeutungen die ausblassende Fliederfarbe durchzuckten, der Nachthimmel mit den meisten Sternen zu einem wässerigen Stoff einschmolz und auf den Graten im Westen, wie aus dem Innern des Toten Gebirges gesogen, ein unaussprechlich geistiges Lila hervortrat. Doch bei der nächsten Rückung des morgendlichen Farbenzeigers war der Zwischenakt der Natur zu Ende, und die Vögel setzten ein mit einem Schlag. Es war ein aufbegehrendes, ja ein gemeiner Streit, der da plötzlich losbrach. Die Vögel schienen weniger die nahende Sonne zu grüßen, als empört bei ihren gestrigen Unstimmigkeiten anzuknüpfen, genau dort, wo sie diese abgebrochen hatten. Nach der kosmischen Lähmung durch die Nacht plärrte da in diesem Vogelschrei die ganze Banalität, die niedrige Verschworenheit des Lebens los mit ihrem kleinbürgerlichen Neid und Hader, durch den erst das Ungeheure unserer Existenz im All den Erdenwesen erträglich zu werden scheint. Und Leopold hatte recht. Die großen Verwandlungen geschehen nicht allmählich, sondern mit einem Schlag. Im Gegensatz zu der bekannten Lehrmeinung macht die Natur Sprünge, wo sie nur kann.

Wir aber fühlten uns in den wachsenden Tag hinein sonderbar stolz. Wir hatten ja nicht nur eine Nacht durchzecht, sondern dieses Morgenwerden mit unserer eigenen Natur, mit unserm ganzen Körper tüchtig mitgeleistet. Erschöpft und ausgeruht, still und freudig, gedankenleer und besonnen fand uns die kurze Kälte vor Sonnenaufgang.

»Es ist doch schön«, sagte Livia, »den Morgen wieder einmal auf die Art erlebt zu haben. Wenn man geschlafen hat, ist es nicht dasselbe.«

Sie rief Doris und deren Freundinnen herbei und ging mit ihnen ins Haus, um das Frühstück zu bereiten. Schon nach einer Viertelstunde war der Tisch gedeckt. Heißer, starker Kaffee wurde aufgetragen, Brot und Kuchen, Butter und Honig, Eier und Schinken. Mit Heißhunger stürzten wir uns darauf, denn der verlorene Schlaf wollte durch Speis und Trank ersetzt werden. Der Lacher, der trotz seiner fortgeschrittenen Jahre mit uns standgehalten hatte, war auch ein Lober. Einer Hausfrau wie Livia sei er noch niemals begegnet, erklärte er. »Denkt euch«, sagte Livia, damit das Lob gerecht verteilt sei, »Teta war schon auf und hat bereits alles vorbereitet gehabt.«

Unsere Kaffeetassen waren noch nicht leer, als Philipp die unvermutete Absicht äußerte, sofort aufzubrechen und mit seinen Freunden den Schröckenspitz zu ersteigen. So hieß der nächstgelegene, zum Herrschaftsgebiet des Toten Gebirges gehörige Berggipfel von etwa zweitausenddreihundert Meter Höhe, eine sogenannte »schwierige Partie«, da sie einige ungesicherte Kletterstellen aufwies. Livia sah ihren Sohn flüchtig an:

»Ich hab' immer gemeint, du verabscheust jeden Dilettantismus«, sagte sie. »Was bedeutet das, gnädigste Frau Mama?« sagte er. »Vielleicht kann's dir der Theo erklären.«

Ich wußte, daß Livia nur sehr ungern ein Verbot aussprach, von Leopold ganz zu schweigen. Daher übernahm ich's, ihren Dolmetsch zu machen.

»Deine Mutter meint, daß nur ein Dilettant sich unausgeschlafen und übernächtig an solch einen Aufstieg heranwagt. Die echten Bergsteiger gehn um acht Uhr zu Bett, schonen ihre Glieder und enthalten sich des Alkohols vorher, bekanntlich. Ihr würdet sicher schon beim Bernegger Bauern umkehren müssen und mit einer unnötigen, aber ziemlich verdienten Niederlage nach Hause kommen, wenn ihr uns nicht mit irgendwelchem Berglatein anschmieren wollt.«

»Aber Himmelherrgott«, trotzte Philipp, »ich halt's nicht aus!« Und er wandte sich den jungen Leuten zu:

»Mich reißt es in den Beinen – man muß doch einen Auslauf haben nach unserm Festkabarett, nach solchen Triumphen, nicht wahr, meine Herren?«

»Auslauf, soviel ihr wollt«, mischte sich Leopold ein. »Von hier auf den Kroatenkogel zum Beispiel geht's auch hübsch zwei Stunden hinauf, verwegener Sohn, und oben im Gasthaus bekommt ihr sogar ein ganz gutes Mittagessen. – Die protzige Vitalität dieser neuen Generation ist ekelerregend.«

Philipp legte die Hand aufs Herz und verbeugte sich im Stile des Artisten Bichler:

»Voilà«, machte er, »ein bescheidener, aber weiser Rat. Man sieht, die Kunst der Diplomatie besteht im Kompromiß. – Der Kroatenkogel ist ein träumerischer Abendspaziergang für Fräul'n Teta mit Herrn Gemahl. – Ich bitte zu beachten, daß ich wieder einmal meine hochfliegenden und radikalen Pläne dem romantischen Kleinmut unserer älteren Generation opfere.«

Philipp hatte recht. Auf den Kroatenkogel, einen Waldberg der Umgebung, führte eine breite Promenade, die an jeder Wegkehre mit Ruhebänken für schlendernde Spaziergänger und Naturfreunde geschmückt war. Ich selbst ging zwei- oder dreimal des Jahres die Serpentine bis zu dem beliebten Gasthaus hinauf. Es war wirklich ein Spaziergang für ältere Leute oder gesetzte Seelen, die jedes alpinistischen Ehrgeizes entbehrten. Sogar Herzkranke durften diesen sanften und gepflegten Anstieg wagen.

Nachdem sie noch einige Male auf das Entehrende dieses allzu leichten und niedrigen Zieles hingewiesen hatten, versprachen die jungen Leute die Ersteigung des Schröckenspitz oder, besser noch, des Großen Priel für einige Tage zu verschieben, denn Dilettanten wollten sie sich nicht schimpfen lassen. Dilettant heißt zu deutsch Liebhaber. Der moderne Mensch aber ist kein Liebhaber, sondern ein Zielhaber. Für den Auslauf also mochte der Kroatenkogel genügen. Am frühen Nachmittag wollte man wieder daheim sein.

Philipp winkte uns flüchtig zum Abschied. Dann sprang er in seiner ganzen Länge den andern voran. Wir blickten ihnen nach, wie sie, das Parktor zur Seite lassend, sich über den Zaun schwangen.


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