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In der Schafherde lebte ein alter Bock. Er war nicht liebenswürdig gewesen, als er jung war, und er glaubte nun das Recht zu haben, noch viel weniger liebenswürdig zu sein, da er alt geworden. Um seines Alters willen mußte die ganze Herde sich ihm beugen. Einzig gegen die jungen Schäfchen war er freundlich, und die hätten es lieber gehabt, wenn er weniger artig gewesen wäre. Dies fanden auch die jungen Böcke. »Das Recht des Alters« nannte es der Schafbock, wenn er an den Lämmern herumschnüffelte.
Er hatte aber noch andre Eigenschaften.
Meistens erzählte er lange, langweilige Geschichten, und vergaß im Laufe der Erzählung das Ende. Er fing dann von vorne an und erzählte die Geschichte noch einmal. Aber dann passierte es ihm leicht, daß er die Pointe einer andern Erzählung dieser anfügte. Das merkten aber nur die andern, er selbst nie.
Man sah es ihm immer an, wenn er erzählen wollte, er hatte dann einen matten, in sich gekehrten Blick. Wer ihn bemerkte, nahm Reißaus. Nur die ganz Jungen nicht, die sahen nie, was ihnen drohte; noch nicht einmal merkten sie es, wenn der Alte sie zu sich rief.
»Laßt euch einmal erzählen, wie zu meiner Zeit die Alten behandelt wurden,« sagte er dann, und die Helden seiner Geschichten wurden jedesmal tugendhafter, und die Böcklein, die zuhörten, kamen sich jedesmal gemeiner vor, wenn sie sich mit den Altersgenossen des alten Schafbockes verglichen. Aber wieder nur die ganz Jungen.
Die andern kannten die Form, nach der dir schönen, moralischen Lügen geprägt wurden.
Der alte Bock hatte aber nicht nur Belehrendes zu erzählen. Stand er unter den Schafen, so ging es nach einer andern Melodie, und hatte er sich gar an die Jungen herangeschlichen, so hörte er überhaupt mit Erzählen auf, und die Lämmlein mußten sich von ihm lecken lassen, so sehr ihnen vor seinen kahlen Stellen im Pelz und seinen roten Augen ekelte.
»Denkt, ich sei euer Großvater, meine Lämmchen,« sagte er. Aber das dachten sie nicht und sprangen bei der ersten Gelegenheit davon.
Der alte Schafbock hörte nicht mehr gut, deshalb mußte jedes Wort, das in seiner Gegenwart gesprochen wurde, wiederholt werden, auch das gleichgültigste.
»Das ist das Recht des Alters,« behauptete er auch da. Zudem nahm er alles übel, und die Jungen mußten um Verzeihung bitten, wenn sie es schon nicht böse gemeint hatten.
»Das ist die Pflicht der Jugend,« sagte er. Er hatte auch ein schlechtes Gedächtnis und wiederholte fortwährend dasselbe. Wenn den andern die Geduld ausging, und sie über ihn weg zusammen redeten, wurde er wütend.
»Nie wäre so etwas zu meiner Zeit möglich gewesen,« schrie er. »Die heutige Jugend ist entartet, der Respekt vor dem Alter ist tot!«
»Warum soll man eigentlich gerade vor dem Alter Respekt haben?« fragte ein kräftiges Böcklein.
»Warum? Warum?« Der Alte schnappte nach Luft. Er erstickte fast vor Zorn. Er schnaufte und nieste und schäumte und bespritzte die Umstehenden. Aber als er fertig war, fand er doch keine Antwort.
»Darum!« mähte er endlich heiser. »Ich verlange Respekt von euch, das ist mein Recht! Ihr habt zu schweigen, wenn ich rede, ihr habt zuzuhören, wenn ich erzähle, ihr habt stillzuhalten, wenn ich euch liebkose. Ihr habt mir nicht zu widersprechen, wenn ich etwas behaupte, und ihr habt mich zu ehren und zu lieben und zu achten.« Erschöpft schwieg er.
»Warum?« fragten sie wieder. »Wir wollen wissen warum!«
»Weil ich alt bin!« Der alte Schafbock ging seinem Stalle zu, um zu schlafen.
»Wenn er freundlich wäre,« sagten die Schafe, »wir wollten ihm gerne helfen und ihm dienen!«
»Wenn er würdevoll wäre,« sagten die jungen Böcklein, »wir wollten ihm gerne gehorchen.«
»Wenn er weise wäre,« sagten die alten Schafe, »wir hörten gerne seine Lehren. Aber er ist nur alt. Hat er darum ein Recht auf unser aller Wohlbehagen?«
»Nein,« schrien alle, »er hat keines! Wir wollen ausziehen und uns belehren über die Rechte des Alters.« Die ganze Schafherde ging über Land.
Sie fanden ein altes Pferd auf der Weide. Still und ruhig graste es. Sprangen unerfahrene, junge Pferde zu nahe an den Fluß, so hielt es sie auf. Den Füllen wehrte es die Fliegen. Wollten die Pferde in wildem Jagen ihre Glieder üben, so stand es beiseite, und freute sich der tollen Sprünge und gedachte dabei der eigenen Jugend. Und die jungen Pferde suchten die saftigsten Kräuter und führten das alte Pferd dorthin. Sie rieben sich schmeichelnd an ihm und scherzten mit ihm. Sie liebten es, denn es freute sich ihrer Jugend.
»Hat das alte Pferd von seinen Rechten gesprochen?« fragte der Leiter der Schafherde.
»Kein Wort!« riefen alle. Darauf fanden sie einen rissigen, uralten Baum. Hohl war sein Stamm, und dürre Äste ragten traurig zum Himmel auf. Aber fröhlicher Efeu war am Stamme in die Höhe geklettert und schmiegte sich schmeichelnd an die Eiche.
»Kann der Baum den Efeu zwingen, ihn zu schmücken, darum weil er alt ist?« fragte der Leitbock die Herde.
»Niemals,« antworteten die Tiere.
Am Bache lag ein alter, grauer Stein. Er lag mitten im Flußbett und störte den Lauf des Bächleins. Aber er hatte sich mit grünem Moos bedeckt, er hatte seine scharfen Kanten und Ecken vom lustigen Wässerlein abschleifen lassen und hörte freundlich auf sein Murmeln und Plätschern, und freute sich des munteren Gefährten, der sein Alter erheiterte.
»Warum kräuselt sich der Bach so gerne um den alten Stein?« fragte der Bock die Herde.
»Weil der Alte ihn nicht hemmt!« rief die Herde.
»So brauchen wir nicht weiter zu ziehen,« sagte der Bock. »Wir wissen nun, was wir wissen wollten.« Und sie zogen heimwärts bis zu ihrer Weide, wo der alte Bock mürrisch an der Sonne lag und schalt, daß man ihn so lange allein gelassen.
»Ich habe ein Recht, zu verlangen, daß man bei mir bleibe,« rief er und stieß die Nahestehenden mit den Hörnern.
»Fort mit dir,« schrie nun die ganze Herde. »Du hast kein Recht auf uns, nur weil du alt bist! Gehe zu Pferd, Baum und Stein und lerne von ihnen, wie man sich Liebe erwirbt.« Und sie ließen den Bock stehen und rannten leichtfüßig hinauf in die Berge, in die Sonne, zu duftendem Tymian und Vergißmeinnicht.