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18. Kapitel
Der Unsichtbare schläft

So krank und erschöpft der Unsichtbare auch war, genügte ihm dennoch Kemps Wort nicht, daß seine Freiheit gewahrt bleiben sollte. Er untersuchte die beiden Fenster des Schlafzimmers und öffnete die Läden, um sich davon zu überzeugen, daß ein Rückzug auf diesem Wege, wie Kemp behauptete, möglich sei. Die Nacht war ruhig und still, und der neue Mond stand hoch über der Düne. Dann untersuchte er die Schlösser der Schlafzimmertüren und vergewisserte sich, daß auch diese ihm und seiner Freiheit Schutz boten. Endlich erklärte er sich befriedigt. Er stand am Kamin, und Kemp hörte ihn gähnen.

»Es tut mir leid,« sagte der Unsichtbare, »daß ich Ihnen heute nicht alles erzählen kann, was ich getan habe. Aber ich bin erschöpft. Es ist phantastisch, gewiß. Es ist sogar entsetzlich! Aber glauben Sie mir, Kemp, trotz Ihrer Beweisführung von heute morgen ist es möglich. Ich habe eine Entdeckung gemacht. Ich wollte sie für mich behalten. Es geht aber nicht. Ich muß einen Helfer haben. Und Sie – wir werden Dinge ausführen –. Aber morgen. Jetzt, Kemp, habe ich das Gefühl, als ob ich schlafen müsse – – oder sterben.«

Kemp stand in der Mitte des Zimmers und starrte auf das kopflose Gewand. »Ich muß Sie wohl verlassen,« sagte er. »Es ist – unglaublich. Noch ein solches Erlebnis, das meine Berechnungen so über den Haufen wirft – und ich würde verrückt werden. Aber es ist Wirklichkeit! Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Nur mir ›Gute Nacht!‹ sagen,« erwiderte Griffin. »Gute Nacht!« sagte Kemp und schüttelte eine unsichtbare Hand. Dann ging er seitwärts zur Tür.

Plötzlich folgte ihm der Schlafrock hastig. »Verstehen Sie mich wohl,« sagte der Schlafrock, »machen Sie keinen Versuch, mich zu belästigen oder zu fangen – sonst –«

Kemp wechselte ein wenig die Farbe. »Ich denke, Sie haben mein Wort!« sagte er.

Er schloß die Tür leise hinter sich und sofort wurde der Schlüssel hinter ihm umgedreht. Während er dann noch mit dem Ausdruck dumpfer Verblüffung stehenblieb, hörte er, wie sich rasche Schritte der Tür zum Ankleidezimmer näherten, und wie auch diese verschlossen wurde. Er strich sich mit der Hand über die Brauen. »Träume ich? Ist die Welt verrückt geworden, oder bin ich es?«

Er lachte und legte die Hand an die verriegelte Tür. »Durch eine lächerliche Sinnestäuschung aus meinem eigenen Schlafzimmer vertrieben!« murmelte er.

Er ging zur Treppe, wandte sich um und starrte auf die verschlossene Tür. »Es ist Tatsache,« sprach er zu sich. Dann legte er die Hand an seinen leicht verletzten Nacken. »Unleugbare Tatsache!«

Er schüttelte hoffnungslos den Kopf, wendete sich um und ging hinunter.

Im Speisezimmer zündete er die Lampe an, nahm eine Zigarre und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Von Zeit zu Zeit sprach er mit sich selbst.

»Unsichtbar!« sagte er.

»Gibt es ein unsichtbares Tier? ... Im Meer – gewiß. Tausende – Millionen. Alle Larvae, alle die kleinen Nauplii und Tornarias, alle die mikroskopischen Dinge. Im Meere gibt es mehr unsichtbare als sichtbare Dinge. Ich habe früher niemals daran gedacht ... Und auch in den Teichen! All die kleinen Infusorien, die darin leben – farblose, durchsichtige Gallerte! ... Aber in der Luft! Nein!

Es kann nicht sein.

Aber schließlich – warum nicht?

Wenn ein Mensch aus Glas wäre, bliebe er doch noch sichtbar.«

Er dachte angestrengt nach. Drei Zigarren hatten sich als weiße Asche auf den Teppich gelagert, bevor er wieder sprach. Und dann war es nur ein Ausruf. Er wandte sich ab, schritt aus dem Zimmer und ging in sein kleines Sprechzimmer, wo er das Gas anzündete. Es war ein kleiner Raum, denn Dr. Kemp lebte nicht von seiner Praxis, und die Tageszeitungen waren dort aufbewahrt. Das Morgenblatt war nachlässig geöffnet und beiseite geworfen worden. Er hob es auf, blätterte um und las den Bericht über die »seltsamen Ereignisse in Iping«, welche der Matrose in Port Stowe Marvel so mühsam vorbuchstabiert hatte. Kemp überflog rasch den Artikel.

»Vermummt!« sagte er. »Maskiert!« »Er verbarg es!« »Niemand scheint eine Ahnung von seinem Unglück gehabt zu haben!« »Was zum Teufel hat er eigentlich vor?«

Er ließ die Zeitung sinken und sein Auge schweifte suchend umher. »Ah!« sagte er und nahm die »St. James-Gazette« auf, die noch zusammengefaltet dalag, wie man sie am Abend gebracht hatte. »Jetzt werden wir die Wahrheit erfahren.« Er riß das Blatt auf. Ein paar Spalten fielen ihm in die Augen. »Ein ganzes Dorf in Sussex verrückt geworden!« war die Aufschrift.

»Großer Gott!« sagte Kemp, eifrig einen unglaublichen Bericht über die Ereignisse des denkwürdigen Nachmittags in Iping, wie sie schon geschildert wurden, durchfliegend. Auf der zweiten Seite war der Bericht aus dem Morgenblatte abgedruckt.

Er las ihn zum zweitenmal. »Lief um sich stoßend und schlagend durch die Straßen. Jaffers besinnungslos. Mr. Huxter – heftige Schmerzen – noch unfähig zu beschreiben, was er sah. Peinliche Beschämung – der Pfarrer. Eine Frau vor Schreck krank. Eingeschlagene Fensterscheiben. Die ganze merkwürdige Geschichte wahrscheinlich eine Ente, zu gut, um nicht abgedruckt zu werden – cum grano

Er ließ das Blatt sinken und starrte vor sich ins Leere. »Wahrscheinlich eine Ente!«

Er griff wieder nach dem Blatt und las die ganze Geschichte noch einmal.

»Aber, was ist das mit dem Landstreicher? Warum zum Teufel jagte er einem Landstreicher nach?«

Plötzlich ließ er sich auf den Operationsdivan niederfallen.

»Er ist nicht nur unsichtbar,« sagte er, »sondern verrückt. Mordmanie! ...«

Als die Morgendämmerung ihre bleichen Schatten mit dem Lampenlicht und dem Zigarrendampf vermischte, ging Kemp noch immer im Eßzimmer auf und ab und suchte das Unglaubliche zu fassen.

Er war zu erregt, um zu schlafen. Die Dienstboten, welche schläfrig herunterkamen und ihn unten überraschten, waren der Ansicht, daß er sich überarbeitet habe. Er gab ihnen den außergewöhnlichen, aber nicht mißzuverstehenden Befehl, ein Frühstück für zwei Personen in sein Studierzimmer zu bringen und das Erdgeschoß dann nicht mehr zu verlassen. Dann fuhr er fort, das Speisezimmer zu durchmessen, bis das Morgenblatt kam. Das hatte viel zu sagen und wenig zu berichten; nur eine Bestätigung der am Abend vorher gebrachten Neuigkeiten und einen sehr schlecht geschriebenen Artikel über ein anderes merkwürdiges Ereignis in Port Burdock. Dies gab Kemp einen Begriff von den Vorgängen in »den lustigen Cricketern« und den Namen Marvels. »Vierundzwanzig Stunden lang hat er mich bei sich behalten,« bezeugte Marvel. Gewisse kleine Ergänzungen waren der Ipinger Geschichte hinzugefügt, besonders das Durchschneiden der Telegraphendrähte. Aber nichts von alledem warf ein Licht auf die Beziehungen zwischen dem Unsichtbaren und dem Landstreicher – denn Mr. Marvel hatte weder über die drei Bücher, noch über das Geld, welches er bei sich trug, ein Wort verlauten lassen. Der ungläubige Ton war verschwunden, und eine Schar von Reportern und Nachrichtenjägern hatte sich in Bewegung gesetzt, um die Sache klarzulegen.

Kemp las jede Zeile des Berichts und schickte dann das Hausmädchen mit dem Auftrag fort, ihm alle Morgenzeitungen zu bringen, deren sie habhaft werden konnte. Auch diese verschlang er.

»Er ist unsichtbar!« sagte er. »Und in allem, was man darüber liest, etwas Wildes, das an Wahnsinn grenzt. Was er zu tun imstande wäre! Was er zu tun imstande wäre! Und droben ist er frei wie die Luft. Was soll ich nur tun? Wäre es zum Beispiel ein Wortbruch, wenn ich – – – Nein.«

Er ging zu einem kleinen, unordentlichen Pult in der Ecke und begann eine Karte zu schreiben. Halbfertig, zerriß er sie wieder und schrieb eine andere. Dann überlas er die Zeilen und überlegte noch einmal. Endlich nahm er einen Briefumschlag und adressierte ihn an »Herrn Oberst Adye, Port Burdock.«

Während Kemp schrieb, war der Unsichtbare erwacht. Er war in übler Laune und Kemp, der gespannt auf jeden Ton horchte, hörte ihn durch das Schlafzimmer eilen. Dann wurde ein Stuhl umgeworfen und das Waschbecken zerschmettert. Kemp eilte nach oben und pochte ungestüm.


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