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Das Wirtshaus »Zu den lustigen Cricketern« liegt gerade am Fuße des Hügels, wo die Trambahnlinien beginnen. Der Wirt stützte seine dicken, roten Arme auf den Schanktisch und sprach mit einem bleichsüchtigen Kutscher über Pferde, während ein schwarzbärtiger, grau gekleideter Mann Brot und Käse aß, Bier trank und sich in stark amerikanischem Akzent mit einem dienstfreien Polizisten unterhielt.
»Was ist das für ein Geschrei?« fragte der Kutscher und suchte über die schmutziggelben Vorhänge hinweg den Abhang zu überblicken. Jemand lief draußen vorbei.
»Vielleicht brennt es,« sagte der Wirt.
Schwere Schritte näherten sich eilends, die Tür wurde aufgerissen und Marvel stürzte in jämmerlicher Verfassung, ohne Hut, mit aufgerissenem Halskragen herein. Er drehte sich sogleich um und versuchte in verzweifelter Anstrengung, die Tür hinter sich zu schließen. Ein Strick hinderte ihn daran.
»Er kommt!« stammelte er vor Entsetzen kreischend. »Er kommt! Der Unsichtbare! Er verfolgt mich! Um Gottes Barmherzigkeit willen! Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
»Schließt die Türen!« sagte der Polizist. »Wer kommt? Was gibt es?« Er ging zur Tür, löste den Strick und die Tür schlug zu. Der Amerikaner schloß die zweite.
»Laßt mich herein!« bat Marvel stammelnd und weinend, wobei er aber die Bücher noch immer fest an sich gedrückt hielt. »Laßt mich herein! Er ist hinter mir. Ich bin ihm durchgegangen. Er hat geschworen, er wird mich töten, und er wird es auch tun!«
»Sie sind in Sicherheit,« sagte der Schwarzbärtige. »Die Tür ist geschlossen. Was soll das alles heißen?«
»Laßt mich da hinein,« stammelte Marvel und schrie laut auf, als plötzlich ein Schlag die verriegelte Tür erdröhnen ließ, dem ein heftiges Klopfen und ein lauter Ruf draußen folgte.
»Hallo!« rief der Polizeimann. »Wer ist da?«
Mr. Marvel machte verzweifelte Versuche, durch Wandverkleidungen, die wie Türen aussahen, zu entkommen. »Er wird mich ermorden! Er hat ein Messer oder sonst eine Waffel Um Gottes willen –!«
»Hierher!« rief der Wirt. »Kommen Sie hierher!« Und er öffnete die Klappe des Schanktisches.
Während die Aufforderung zum Öffnen von draußen wiederholt wurde, stürzte Mr. Marvel hinter den Tisch. »Öffnet nicht!« kreischte er. »Bitte, bitte, öffnet nicht! Wo soll ich mich nur verbergen?«
»Dies ist also der Unsichtbare?« fragte der schwarzbärtige Mann, eine Hand auf dem Rücken haltend. »Höchste Zeit, daß er sich sehen läßt.«
Plötzlich wurde ein Fenster des Wirtshauses eingedrückt und auf der Straße vernahm man lautes Schreien und eiliges Hin- und Herrennen. Der Polizist hatte sich auf einen Stuhl gestellt und brannte vor Neugierde zu sehen, wer bei der Tür war. Jetzt stieg er mit gerunzelter Stirn wieder herunter. »Es ist so!« sagte er. Der Wirt stand vor der Gastzimmertür, die jetzt hinter Mr. Marvel verriegelt wurde, starrte mit großen Augen auf das zerschlagene Fenster und gesellte sich dann zu den andern Männern.
Plötzlich trat Stille ein. »Ich wollte, ich hätte meinen Knüttel,« sagte der Polizist, unentschlossen auf die Tür zugehend. »Sowie wir öffnen, kommt er herein. Da gibt es kein Aufhalten.«
»Beeilen Sie sich mit dem Öffnen nicht zu sehr,« meinte der bleichsüchtige Kutscher ängstlich.
»Ziehen Sie den Riegel zurück,« sagte der Schwarzbärtige, »und wenn er kommt ...« Er brachte einen Revolver, den er in der Hand hielt, zum Vorschein.
»Das geht nicht,« meinte der Polizist, »das wäre Mord!«
»Ich weiß, in welchem Lande ich mich befinde,« sagte der Mann mit dem Bart, »ich will ihn in die Beine schießen. Schieben Sie den Riegel zurück.«
»Nicht, wenn das Zeug hinter mir losgeht,« erklärte der Wirt, durch die Vorhänge spähend.
»Auch recht,« sagte der Bärtige, ging, den Revolver schußbereit, vorwärts und öffnete selbst. Wirt, Kutscher und Polizist sahen ihm gespannt zu.
»Herein!« sagte der Bärtige halblaut, trat einen Schritt zurück und hielt die Waffe schutzbereit hinter sich. Niemand erschien, nichts regte sich. Als fünf Minuten später ein zweiter Kutscher vorsichtig den Kopf hineinsteckte, warteten sie noch immer, während ein angstverzerrtes Gesicht sich im Rahmen der Gastzimmertür zeigte und alle möglichen Anfragen beantworten mußte.
»Sind alle Türen im Hause geschlossen?« fragte Marvel. »Er geht gewiß um das Haus herum und späht eine Gelegenheit aus. Er ist klug und listig wie der Teufel.«
»Großer Gott!« rief der dicke Wirt. »Die Hintertür! Bewacht die Türen dort! Ich sage – –!« Er blickte sich hilflos um. Die Gastzimmertür schlug zu und sie hörten, wie der Schlüssel umgedreht wurde. »Das Haustor und der Hauseingang sind offen. Das Haustor – –«
Er stürzte aus der Schankstube.
Im nächsten Augenblick erschien er wieder mit einem großen Messer in der Hand. »Das Haustor war offen,« sagte er und ließ seine dicke Unterlippe hängen.
»Jetzt kann er im Hause sein,« sagte der erste Kutscher.
»In der Küche ist er nicht,« meinte der Wirt. »Es sind zwei Frauen drinnen und ich habe jeden Zoll breit mit diesem Messer durchsucht. Auch glauben sie nicht, daß er hereingekommen ist. Sie haben nichts bemerkt –«
»Haben Sie das Tor geschlossen?« fragte der erste Kutscher.
»Ich habe wirklich die Kinderschuhe schon ausgetreten,« versetzte der Wirt.
Der Mann mit dem Bart steckte seinen Revolver ein. Im selben Augenblick wurde die Klappe der Schanktür zugeschlagen, die Riegel klirrten, dann schnappte das Schloß mit fürchterlichem Getöse ein und die Gastzimmertür wurde aufgerissen. Sie hörten Marvel wie ein gefangenes Tier quietschen und sprangen über den Schanktisch, um ihm zu Hilfe zu kommen. Der Revolver des Bärtigen knackte und der Spiegel am andern Ende des Schankzimmers fiel in tausend Splittern zu Boden.
Als der Wirt das Zimmer betrat, sah er Marvel in einer sehr sonderbaren Stellung zusammengekrümmt an der Tür, die in den Hof und in die Küche führte, herumarbeiten. Während der Wirt noch zögerte, flog die Tür auf und Marvel wurde in die Küche gezerrt. Man hörte einen Aufschrei und das Klirren von Schüsseln. Marvel, der sich mit aller Kraft gegen die unsichtbare Gewalt sträubte, wurde kopfüber in die Küche gestoßen und die Tür hinter ihm verriegelt.
Der Schutzmann, der versucht hatte, am Wirt vorbeizukommen, stürzte nach; einer der Kutscher folgte. Er umklammerte das Gelenk der unsichtbaren Hand, welche Marvel am Kragen festhielt, bekam einen Schlag ins Gesicht und fiel taumelnd zurück. Die Tür öffnete sich wieder, und Marvel machte verzweifelte Anstrengungen, dahinter Schutz zu finden. Dann packte der Kutscher etwas Festes ...
Die roten Hände des Schankwirts umklammerten etwas Unsichtbares.
»Da ist er!« schrie er.
Mr. Marvel sah sich befreit, glitt rasch zu Boden und versuchte, hinter den Beinen der Kämpfenden wegzukriechen. Der Kampf zog sich um die Türkante herum. Zum ersten Male hörte man die Stimme des Unsichtbaren, der laut aufschrie, als ihm der Polizist auf den Fuß trat. Dann stieß er wilde Rufe aus und seine Fäuste flogen herum wie Dreschflegel. Der Kutscher stöhnte plötzlich auf und wand sich unter einem Stoß, der ihn in den Magen getroffen hatte. Die Tür, die aus der Küche ins Gastzimmer führte, wurde zugeschlagen und deckte Mr. Marvels Rückzug. Die Männer in der Küche sahen plötzlich, daß sie im Leeren herumgriffen und gegen leere Luft ankämpften.
»Wo ist er hingekommen?« schrie der Mann mit dem Bart. »Hinaus?«
»Hierher,« antwortete der Polizist, in den Hof hinaustretend und dann stehenbleibend.
Ein halber Dachziegel wirbelte an seinem Kopf vorbei und zerschmetterte das Geschirr und die Töpfe auf dem Küchentisch.
»Ich werde es ihm schon zeigen!« schrie der Mann mit dem schwarzen Bart, ein eiserner Lauf glänzte über der Schulter des Polizisten und fünf Schüsse wurden in rascher Aufeinanderfolge in der Richtung abgegeben, aus welcher der Ziegel geflogen war. Während er feuerte, hatte der Bärtige die Hand in horizontaler Linie bewegt, so daß die Schüsse in dem engen Hof wie die Speichen eines Rades nebeneinander lagen.
Tiefes Schweigen folgte. »Fünf Patronen,« sagte der Bärtige, »das ist immer das Beste. Fünf Schüsse, darunter ein Treffer. Eine Laterne her! Wir müssen nach seinem Körper tasten.«