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Um eines sehr peinlichen Grundes willen, der sehr bald erklärt werden soll, muß die Erzählung bei diesem Punkt abbrechen. Während sich all das im Gastzimmer begab und Mr. Huxter beobachtete, wie Mr. Marvel ans Tor gelehnt seine Pfeife schmauchte, besprachen ein Dutzend Schritte entfernt Hall und Teddy Henfrey in verworren bestürzter Weise das große Ereignis von Iping.
Plötzlich kam ein heftiger Schlag gegen die Gastzimmertür, ein gellender Schrei, und dann – tiefe Stille.
»Hallo!« rief Teddy Henfrey.
»Hallo!« tönte es zurück.
Es dauerte stets lange, bevor Hall etwas begriff, dann aber war er stets seiner Sache gewiß. »Da ist was nicht in Ordnung,« sagte er, kam hinter dem Schanktisch hervor und näherte sich der Gastzimmertür.
Gespannt horchend taten er und Teddy einige Schritte vorwärts. Sie ließen die Augen herumschweifen. »Da ist was nicht in Ordnung,« wiederholte Hall, und Henfrey nickte beistimmend. Sie spürten einen unangenehmen Chemikaliengeruch in der Luft und vernahmen das Gemurmel eines eilig und mit unterdrückter Stimme geführten Gesprächs.
»Fehlt Ihnen etwas?« fragte Hall, an die Tür klopfend.
Das Geräusch verstummte plötzlich, einen Augenblick blieb alles still, dann wurde das Gespräch im Flüsterton wieder aufgenommen; dann hörte man den Ausruf: »Nein, nein, nur das nicht!« Eine plötzliche Bewegung folgte, das Umstürzen eines Stuhles und ein kurzer Kampf. Dann wieder tiefe Stille.
»Was zum Henker!« sagte Henfrey halblaut.
»Fehlt – Ihnen – etwas?« fragte Hall mit lauter Stimme.
»Ga–ar nichts. Bitte – stö–ren Sie uns nicht!« kamen die Worte des Pfarrers merkwürdig stoßweise zurück.
»Komisch!« sagte Mr. Henfrey.
»Komisch!« wiederholte Mr. Hall.
»›Stören Sie uns nicht‹ rief er doch,« sagte Henfrey.
»Ja, das hörte ich auch,« versetzte Hall.
Sie lauschten weiter. Das Gespräch wurde schnell und halblaut fortgeführt. »Ich kann nicht!« rief Mr. Bunting mit erhobener Stimme. »Ich sage Ihnen, Herr, ich will nicht!«
»Was war das?« frug Henfrey.
»Er will nicht, sagte er,« versetzte Hall. »Er hat doch nicht zu uns gesprochen, was?«
»Schändlich!« sagte Mr. Bunting drinnen.
»Schändlich!« sagte Mr. Henfrey. »Ich hörte es ganz deutlich.«
»Wer spricht jetzt?« fragte der andere.
»Mr. Cuß, glaube ich,« erwiderte Hall. »Hörst du etwas?«
Die beiden schwiegen. Von drinnen ertönten unbestimmte und verworrene Töne.
»Das klingt, wie wenn man das Tischtuch herumwerfen würde,« sagte Hall.
Mrs. Hall erschien hinter dem Schanktisch. Mr. Hall forderte sie durch Gesten zum Schweigen und Näherkommen auf. Hierdurch wurde Mrs. Halls Widerspruchsgeist erregt.
»Warum horchst du da, Hall?« fragte sie. »Hast du an einem so geschäftigen Tage, wie dem heutigen, nichts Besseres zu tun?«
Mr. Hall versuchte durch Grimassen und verschiedene Zeichen alles zu erklären, aber Mrs. Hall bestand auf ihrem Willen. Sie erhob ihre Stimme noch lauter. So schlichen Hall und Henfrey ziemlich beschämt auf den Fußspitzen zum Schanktisch zurück, um die Sache klarzulegen.
Anfangs wollte sie in dem, was die beiden gehört hatten, nichts Auffallendes finden. Dann bestand sie darauf, daß Hall schweigen solle, während Henfrey ihr die Geschichte erzählte. Sie war geneigt, das Ganze für Unsinn zu halten – vielleicht hätten sie bloß mit dem Tisch und den Sesseln gerückt.
»Ich hörte ihn ganz bestimmt ›schändlich‹ sagen,« versicherte Hall.
»Das habe ich auch gehört, Mrs. Hall,« bestätigte Henfrey.
»Was ist Besonderes dabei?« begann Mrs. Hall.
»Pst!« sagte Mr. Teddy Henfrey. »Hörte ich nicht das Fenster gehen?«
»Welches Fenster?« fragte Mrs. Hall.
»Das im Gastzimmer,« erwiderte Henfrey.
Alle lauschten gespannt. Mrs. Halls Blick war geradeaus gerichtet, und ohne etwas zu sehen, blickte sie auf die glänzenden Holzstreifen der Toreinfassung, die weiße, belebte Straße und auf Huxters Auslagefenster, in dem sich die Junisonne spiegelte. Plötzlich öffnete sich die Tür von Huxters Laden, und Huxter selbst erschien, lebhaft gestikulierend, mit erregt funkelnden Augen.
»Hallo!« schrie er. »Haltet den Dieb!« Er lief quer über die Straße auf das Hoftor zu, hinter dem er verschwand.
Zugleich ertönte im Wohnzimmer ein Geräusch, als ob ein Fenster geschlossen würde.
Hall, Henfrey und alle übrigen in der Schankstube stürzten in buntem Durcheinander auf die Straße. Sie sahen jemand schnell um die Ecke nach der Düne zu abbiegen und Mr. Huxter einen komplizierten Luftsprung ausführen, welcher damit endete, daß seine Schultern und sein Gesicht den Erdboden berührten. Verwundert blieben die Leute auf der Straße stehen, dann eilten sie vor.
Mr. Huxter hatte die Besinnung verloren, Henfrey blieb stehen, um die Tatsache festzustellen, während Hall und zwei Arbeiter aus der Schankstube gleichzeitig vorwärts stürzten, wobei sie unverständliche Rufe ausstießen. Sie sahen Mr. Marvel bei der Kirche um die Ecke verschwinden. Hierauf schienen sie zu der unmöglichen Schlußfolgerung gelangt zu sein, daß der Unsichtbare plötzlich sichtbar geworden sei, und begannen ihn sofort zu verfolgen. Aber Hall war kaum ein Dutzend Schritt weit gekommen, als er einen lauten Ruf des Erstaunens ausstieß und kopfüber zur Seite flog, wobei er sich an einen der Arbeiter klammerte und diesen mit sich zu Boden riß. Der zweite Arbeiter kam auf einem Umwege näher, blickte die beiden verwundert an und setzte, als er bemerkte, daß Hall ohne äußere Ursache niedergestürzt sei, seinen Weg fort, um sofort einen Fußtritt zu erhalten, der ihn, wie vorher Huxter, zu einer weiteren Verfolgung unfähig machte. Als dann der erste Arbeiter einen Versuch machte, sich auf die Füße zu stellen, wurde er durch einen Schlag, der kräftig genug gewesen wäre, einen Ochsen zu fällen, beiseite geschleudert.
Im selben Augenblick bogen die Leute, die von der Dorfwiese herbeigeeilt waren, um die Ecke. Als erster erschien der Eigentümer der Kokosnußbude, ein kräftiger Mann in einer blauen Jerseyjacke. Er war nicht wenig verwundert, die Straße bis auf drei Menschen, die sich mit seltsamen Bewegungen am Boden wälzten, leer zu finden. Und dann geschah etwas mit einem seiner Beine, er stürzte nieder und kugelte gerade zur rechten Zeit auf die Seite, um sich in den Beinen seines Bruders und Geschäftsteilhabers zu verfangen, der ihm kopfüber folgte. Und dann kam eine ganze Menge übereifriger Menschen heran, die auf sie trat, über sie fiel und heftig fluchte.
Als Hall mit Henfrey und den beiden Arbeitern aus dem Hause geeilt war, war Mrs. Hall, die durch langjährige Erfahrung Selbstbeherrschung gelernt hatte, in der Schankstube bei der Geldlade zurückgeblieben. Plötzlich öffnete sich die Wohnzimmertür und Mr. Cuß erschien. Er lief, ohne sie anzublicken, die Stufen hinunter, der Straßenbiegung zu. »Haltet ihn!« schrie er; »gebt acht, daß er das Bündel nicht wegwirft! So lange er das Bündel trägt, kann man ihn sehen!«
Er wußte nichts von der Existenz Marvels, denn der Unsichtbare hatte diesem die Bücher und das Bündel im Hof übergeben. Das Antlitz Mr. Cuß' war zornig und entschlossen, aber sein Anzug war sehr mangelhaft – eine Art losen, weißen Kittels, der nur im alten Griechenland einer Musterung standgehalten hätte. »Haltet ihn!« brüllte er. »Er hat meine Hosen! – und die Kleider des Pfarrers, Stück für Stück!«
»Gleich will ich ihm nach!« rief er Henfrey zu, als er an dem am Boden liegenden Huxter vorbeikam; aber als er um die Ecke bog, um sich der Menge anzuschließen, sah man ihn plötzlich in sehr unästhetischer Weise auf der Erde liegen. Jemand kam in voller Hast vorbei und trat ihm schwer auf die Finger. Er schrie auf und versuchte auf die Füße zu kommen. Da wurde er nochmals gestoßen und niedergeworfen und bemerkte endlich, daß die Verfolgung des Unsichtbaren sich in eine Flucht verwandelt hatte. Alles eilte nach dem Dorfe zurück. Während er sich abermals erhob, bekam er eine schallende Ohrfeige, die ihn zum Wanken brachte. Dann trat er den Rückweg nach dem »Fuhrmann« an und sprang dabei über den von aller Welt verlassenen Huxter, der sich jetzt aufgesetzt hatte, hinweg.
Als er die Stufen zum Gasthof halb erstiegen hatte, vernahm er hinter sich einen plötzlichen Wutschrei, der sich von dem Stimmengewirr deutlich unterschied, und einen weithin tönenden Schlag in jemandes Gesicht. Er erkannte die Stimme als diejenige des Unsichtbaren, und sie klang wie die eines Menschen, der durch einen heftigen Schmerz in Wut versetzt wird.
Im nächsten Augenblick war Cuß wieder im Gastzimmer.
»Er kommt zurück, Bunting!« rief er, hineinstürzend. »Retten Sie sich!«
Mr. Bunting stand am Fenster und war eifrig damit beschäftigt, sich so gut als möglich in einen Teppich und die »West-Surrey-Zeitung« einzuhüllen.
»Wer kommt zurück?« rief er, erschreckt auffahrend, so daß sein improvisierter Anzug nahe daran war, ihm zu entgleiten.
»Der Unsichtbare!« erwiderte Cuß und eilte ans Fenster. »Wir sollten lieber von hier fort! Er kämpft wie wahnsinnig! Wie wahnsinnig!«
Im nächsten Augenblick war er bereits im Hof.
»Gütiger Himmel!« sagte Mr. Bunting, zwischen zwei entsetzlichen Alternativen schwankend. Er hörte einen furchtbaren Kampf im Vorhause und sein Entschluß war gefaßt. Er kletterte aus dem Fenster, brachte seine Kleidung so gut wie möglich in Ordnung und floh, so schnell ihn seine kurzen, dicken Beine tragen wollten.
*
Von dem Augenblick an, da der Unsichtbare vor Wut geschrien, und Mr. Bunting seine denkwürdige Flucht durch das Dorf bewerkstelligt hatte, wird es unmöglich, eine zusammenhängende Darstellung der Ereignisse in Iping zu geben. Möglicherweise ging des Unsichtbaren Absicht ursprünglich dahin, Marvels Rückzug mit den Büchern und Kleidern zu decken. Aber seine gute Laune, mit der es niemals weit her war, scheint ihn bei einem Schlage, der ihn zufällig traf, ganz verlassen zu haben, und er begann darauf los zu schlagen und zu stoßen, um des reinen Vergnügens an der Sache willen.
Man denke sich die Straße voll eilender Menschen, zuschmetternder Haustore und dichter Gruppen, die um ein sicheres Versteck kämpften. Man stelle sich vor, wie der Haufen sich auf das aus einem Brette und zwei Stühlen hergestellte Gerüst des alten Fletcher zuwälzte und die Katastrophe, die darauf folgte. Und dann ist der Tumult vorüber. Die Straße mit ihren lustig flatternden Fahnen ist öde und verlassen, bis auf den wild wütenden Unsichtbaren, und bedeckt mit herumkollernden Kokosnüssen, umgestürzten Zelten und den in alle Winde zerstreuten Waren eines Verkäufers von Süßigkeiten. Überall werden Läden geschlossen und Riegel vorgeschoben. Die ganze Ortsbevölkerung ist verschwunden, nirgends sind Menschen zu sehen; nur hie und da kann man hinter den Fenstervorhängen ein ängstlich herausspähendes Auge erblicken.
Der Unsichtbare unterhielt sich noch kurze Zeit damit, alle Fenster im »Fuhrmann« einzuschlagen; dann warf er eine Straßenlaterne in Mrs. Grograms Wohnzimmer. Er muß es gewesen sein, der den Telegraphendraht nach Adderdean unmittelbar hinter Higgins Haus durchschnitt. Und dann verschwand er, dank seiner besonderen Gabe, ganz und gar aus dem Gesichtskreis der Menschen und wurde in Iping weiterhin weder gesehen noch gehört noch gefühlt. Er verschwand vollkommen.
Aber zwei gute Stunden dauerte es, bevor sich ein menschliches Wesen in Iping wieder auf die verödete Straße hinauswagte.