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11. Kapitel
Im »Fuhrmann«

Um genau zu verstehen, was im Gasthof vorgegangen war, muß man auf den Augenblick zurückgreifen, wo Mr. Marvel zuerst von Mr. Huxters Fenster aus gesehen wurde.

Zur selben Zeit waren Mr. Cuß und Mr. Bunting im Gastzimmer. Sie besprachen ernsthaft die seltsamen Ereignisse des Morgens und untersuchten mit Mr. Halls Erlaubnis die Habseligkeiten des Unsichtbaren aufs gründlichste. Jaffers hatte sich von seinem Sturz teilweise erholt und war unter der Obhut teilnehmender Freunde nach Hause geschafft worden. Mrs. Hall hatte die verstreuten Kleidungsstücke des Fremden weggeräumt und die Stube in Ordnung gebracht. Und bei dem Tische am Fenster, wo der Fremde gewöhnlich gearbeitet hatte, war Mr. Cuß sofort auf drei dicke, handgeschriebene Bücher mit der Aufschrift »Tagebuch« gestoßen.

»Tagebuch!« sagte Mr. Cuß, die drei Bücher auf den Tisch legend. »Nun, etwas werden wir jedenfalls daraus erfahren.« Der Pfarrer hatte die Hände auf den Tisch gestützt.

»Tagebuch,« wiederholte Mr. Cuß und setzte sich nieder. Hierauf legte er zwei Bücher übereinander, um das dritte darauf zu stützen und öffnete dieses. »Hm! – Kein Name auf dem ersten Blatt. Teufel! Nichts als Chiffren und Zahlen.«

Der Pfarrer trat zu ihm und blickte über seine Schultern ins Buch.

Sehr enttäuscht wendete Mr. Cuß die Seiten um. »Da soll gleich ...! Es ist alles in Geheimschrift abgefaßt, Bunting.«

»Keine Figuren?« fragte Mr. Bunting. »Keine Zeichnung, die irgendein Licht –«

»Sehen Sie selbst,« erwiderte Mr. Cuß. »Mathematische Formeln, dann, nach den Buchstaben zu schließen, Russisch oder eine ähnliche andere Sprache und da wieder Griechisch. Nun das Griechische könnten Sie –«

»Natürlich,« entgegnete Mr. Bunting, nahm seine Brille heraus, reinigte sie sorgfältig und fühlte sich plötzlich sehr unbehaglich – denn, was er von dieser Sprache verstand, war wirklich nicht der Rede wert. »Ja, das Griechische kann uns natürlich einen Schlüssel geben.«

»Ich will Ihnen eine Stelle suchen.«

»Ich möchte doch lieber die einzelnen Bände erst durchsehen,« meinte Mr. Bunting, noch immer seine Augengläser reibend. »Erst müssen wir einen allgemeinen Eindruck gewinnen, wissen Sie, und dann können wir ja einen Schlüssel suchen.«

Er hustete, setzte die Brille auf, rückte sie umständlich zurecht, hustete wieder und wünschte im stillen, daß sich etwas ereignen möchte, um die unvermeidlich scheinende Blamage von ihm abzuwenden. Dann nahm er nachlässig den Band auf, den ihm Mr. Cuß voll Ungeduld hinreichte. Und dann ereignete sich wirklich etwas.

Die Tür öffnete sich plötzlich.

Beide Männer fuhren empor, schauten sich um und waren sichtlich erleichtert, als sie ein rotfleckiges Gesicht unter einem schäbigen Zylinder gewahrten. »Schankzimmer?« fragte das Gesicht, sie anglotzend.

»Nein,« sagten die beiden Herren zugleich.

»Drüben auf der andern Seite, mein Lieber,« fuhr Mr. Bunting fort. »Und schließen Sie gefälligst die Tür,« setzte Mr. Cuß gereizt hinzu.

»Schon recht,« sagte der Eindringling mit tiefer Stimme, die von der Heiserkeit der ersten Frage seltsam abstach. »Schon gut,« wiederholte er dann mit der früheren Stimme. »Aus dem Weg!« und er verschwand und schloß die Tür hinter sich.

»Wahrscheinlich ein Matrose,« sagte Mr. Bunting. »Das sind komische Burschen. ›Aus dem Weg!‹ sagte er. Vermutlich ein seemännischer Ausdruck, der sich auf sein Fortgehen bezog.«

»Wohl möglich,« erwiderte Mr. Cuß. »Meine Nerven sind heute in einem schrecklichen Zustand. Ich fuhr förmlich zusammen, als sich die Tür so öffnete.«

Mr. Bunting lächelte, als ob er selbst nicht auch zusammengefahren wäre. »Und jetzt,« sagte er mit einem Seufzer, »zu den Büchern!«

»Einen Augenblick,« sagte Mr. Cuß, ging auf die Tür zu und drehte den Schlüssel um. »Jetzt sind wir wohl vor jeder Störung sicher.«

Jemand nieste, als er diese Worte sprach.

»Eines ist unbestreitbar,« sagte Mr. Bunting, seinen Stuhl neben denjenigen Mr. Cuß' ziehend. »Es haben sich in den letzten Tagen in Iping äußerst merkwürdige Dinge ereignet. Ich kann natürlich an diese lächerliche Geschichte von einem unsichtbaren Menschen nicht glauben –«

»Sie ist unglaublich,« meinte Mr. Cuß, »unglaublich. Aber Tatsache ist, daß ich in seinen Ärmel hineinsah. Ganz tief hinein –«

»Aber sind Sie Ihrer Sache auch ganz sicher? ... Nehmen wir zum Beispiel einen Spiegel an .... Sinnestäuschungen lassen sich so leicht hervorbringen. Ich weiß nicht, ob Sie jemals einen wirklich guten Taschenspieler gesehen haben –«

»Ich will nicht widerstreiten,« sagte Mr. Cuß. »Über diesen Punkt haben wir mehr als genug disputiert, dächte ich. Aber hier haben wir jetzt die Bücher ... Ah! dies zum Beispiel halte ich für Griechisch! Wenigstens sind es griechische Buchstaben.«

Er deutete auf die Mitte der Seite. Mr. Bunting errötete leicht, beugte sich nieder und machte sich scheinbar an seiner Brille zu schaffen. Mit dem Griechisch des kleinen Mannes war es nicht weit her, und doch war er fest überzeugt, daß jedes Mitglied der Gemeinde an seine Kenntnis griechischer und hebräischer Urtexte glaubte. Und jetzt – sollte er beichten? Sollte er flunkern? Plötzlich fühlte er etwas Fremdes an seinem Halse. Er suchte den Kopf zu bewegen und traf ein starres Hindernis.

Er empfand einen eigentümlichen Schmerz – den Griff einer schweren, muskulösen Hand, welche sein Kinn mit unwiderstehlicher Gewalt auf den Tisch niederdrückte. »Rührt euch nicht, ihr kleinen Kerle,« flüsterte eine Stimme, »sonst schlage ich euch beiden die Schädel ein!«

Er blickte Mr. Cuß an, dessen Gesicht sich dicht neben dem seinigen befand, und sah in dessen Mienen den Widerschein seiner eigenen angstvollen Bestürzung.

»Es tut mir leid, daß ich so grob mit Ihnen umspringen muß,« sagte die Stimme. »Aber es geht nicht anders.«

»Seit wann ist es erlaubt, in den privaten Aufzeichnungen eines Forschers herumzustöbern?« fuhr die Stimme fort und zwei Köpfe berührten gleichzeitig die Tischplatte und vier Reihen Zähne schlugen laut aneinander.

»Seit wann dringt man in die Privatzimmer eines unglücklichen Menschen ein?« Und der Stoß wiederholte sich.

»Wo hat man meine Kleider hingetan?«

»Hören Sie,« fuhr die Stimme weiter fort, »die Fenster sind geschlossen und den Schlüssel habe ich von der Tür abgezogen. Ich bin ein ziemlich starker Mensch und habe die Feuerzange bei der Hand – überdies bin ich unsichtbar. Es ist zweifellos, daß ich Sie beide erschlagen und selbst ganz leicht entwischen könnte, wenn das meine Absicht wäre – begreifen Sie das? Gut! Wenn ich Sie verschone, wollen Sie mir versprechen, keine Dummheiten zu machen und zu tun, was ich verlange?«

Der Pfarrer und der Doktor sahen einander an, und der letztere verzog das Gesicht. »Ja,« sagte Mr. Bunting, und der Doktor wiederholte: »ja«. Dann ließ der Druck auf ihren Nacken nach, der Doktor und der Pfarrer richteten sich mit hochroten Gesichtern auf und schüttelten die Köpfe.

»Bitte, bleiben Sie sitzen,« sagte der Unsichtbare. »Sehen Sie, hier ist die Feuerzange.«

»Als ich in dieses Zimmer kam,« fuhr er fort, nachdem er seinen beiden Gästen die Feuerzange unter die Nase gehalten hatte, »war ich nicht darauf gefaßt, jemanden darin zu finden. Hingegen erwartete ich, außer meinen Aufzeichnungen auch meine Kleider zu sehen. Wo sind sie? Nein – stehen Sie nicht auf. Ich sehe, daß sie fort sind. Nun sind die Tage zwar warm genug, daß ein unsichtbarer Mensch nackt herumgehen kann, die Nächte jedoch sind ziemlich kühl. Ich brauche Kleider – und andere notwendige Dinge. Auch diese drei Bücher muß ich wieder haben.«


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