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10. Kapitel
Mr. Marvels Besuch in Iping

Nachdem sich der erste Schrecken gelegt hatte, begannen die Leute in Iping ihre Meinungen auszutauschen. Der Unglaube erhob plötzlich sein Haupt; zwar nicht sehr sieghaft, aber doch zweifelloser Unglaube. Es ist so leicht, die Existenz eines unsichtbaren Menschen zu leugnen; überdies konnte man diejenigen, welche ihn tatsächlich in Luft aufgehen sehen oder die Kraft seines Armes gefühlt hatten, an den Fingern abzählen. Und augenblicklich fehlte von diesen Zeugen Mr. Wadgers, der sich hinter den Riegeln und Schlössern seines Hauses verschanzt hatte, und Jaffers, welcher besinnungslos im Gastzimmer des »Fuhrmann« lag. Neue und ungewöhnliche Vorkommnisse, die über den Kreis menschlicher Erfahrung hinausgehen, machen oft weniger Eindruck auf das Volk als geringfügige, aber mehr greifbare Ereignisse. Iping war mit Flaggen geschmückt und alle Welt trug Feiertagsstaat. Seit mehr als einem Monat hatte man sich auf den Pfingstmontag gefreut. Am Nachmittag begannen selbst jene, die an den Unsichtbaren glaubten, in der willkürlichen Annahme, daß er den Ort gänzlich verlassen habe, ihren Vergnügungen, wenn auch etwas zerstreut, nachzugehen, und die Skeptiker machten schon Witze über ihn. Aber Skeptiker sowohl als Überzeugte waren den ganzen Tag über in einer bemerkenswert geselligen Stimmung.

Mitten auf Haysmans Wiese stand ein luftiges Zelt, wo Mrs. Bunting und andere Damen Tee bereiteten, während draußen die Kinder aus der Sonntagsschule ein Wettlaufen veranstalteten und unter der lärmenden Führung des Pfarrers und der Misses Cuß und Sackbutt fröhliche Spiele betrieben. Es lag allerdings eine gewisse Unbehaglichkeit in der Luft, aber die meisten Leute waren vernünftig genug, ihre Unruhe, für die sie einen bestimmten Grund nicht hätten angeben können, zu verbergen. Auf der Dorfwiese fand neben der Schaukel und der Kokosnußbude ein schiefgespanntes Seil außerordentlichen Zuspruch seitens der Jugend. Mittels des letzteren wurde man, während man sich an einer schwebenden Handhabe festhielt, pfeilschnell gegen einen am andern Ende befestigten Sack geworfen. Man ging auch viel spazieren, und die Dampforgel eines kleinen Ringelspiels erfüllte die Luft mit durchdringendem Ölgeruch und ebenso durchdringender Musik. Mitglieder des Vereins, die morgens zur Kirche gegangen waren, trugen stolz ihre rot-grünen Abzeichen zur Schau, und die Lustigsten unter ihnen hatten sogar ihre Hüte mit schmalen, hellfarbigen Bändern geziert. Den alten Fletcher, der über Feiertage ganz besondere Ansichten hatte, konnte man durch das jasminumrankte Fenster oder durch die offene Tür hindurch (beides war gleich gut möglich) erblicken, wie er auf einem Brett stand, welches er über zwei Stühle gelegt hatte, und die Decke seines nach der Straße gelegenen Zimmers übertünchte.

Gegen 4 Uhr betrat ein Fremder, der von der Düne herkam, das Dorf. Es war ein kleiner, dicker Mann mit einem auffallend schäbigen Zylinder und er schien sehr außer Atem zu sein. Seine Wangen hingen abwechselnd bald schlaff herunter, bald wurden sie links aufgeblasen. Sein fleckiges Gesicht trug einen Ausdruck von Angst. Er bewegte sich mit einer Art gezwungener Lebhaftigkeit. Bei der Kirche änderte er die Richtung und ging auf den »Fuhrmann« zu. Unter anderen erinnert sich auch der alte Fletcher, ihn gesehen zu haben; und tatsächlich war der alte Herr bei dem Anblick des eigentümlich erregten Fremden so betroffen, daß er einen Teil der Tünche unachtsam aus dem Pinsel in seinen Rockärmel fließen ließ.

Nach Angabe eines der Schaubudenbesitzer schien der Fremde mit sich selbst zu sprechen; auch Mr. Huxter machte dieselbe Beobachtung. Er blieb am Fuße der Stufen, die zum »Fuhrmann« führen, stehen, und schien, wie Mr. Huxter behauptet, vor dem Betreten des Gasthofes einen schweren inneren Kampf zu kämpfen. Endlich stieg er die Stufen hinauf, wendete sich nach links und öffnete die Tür zum Gastzimmer. Mr. Huxter hörte Stimmen aus diesem Raum und aus der Schankstube, die den Mann über seinen Irrtum belehrten.

»Das ist ein Privatzimmer!« sagte Hall, worauf der Fremde verdrossen die Tür schloß und in die Schankstube ging.

Nach Verlauf von wenigen Minuten erschien er wieder, sich mit dem Handrücken über den Mund fahrend und mit einer Miene ruhiger Zufriedenheit, die Mr. Huxter, er wußte nicht warum, unnatürlich vorkam. Er blickte sich rasch nach allen Seiten um, und dann sah ihn Mr. Huxter in sonderbar geheimnisvoller Weise nach dem Tor des Hofes schleichen, auf den das Fenster des Gastzimmers hinausging. Nach kurzem Zögern lehnte sich der Fremde an einen Torpfosten, zog eine kurze Tonpfeife heraus und begann sie zu stopfen. Die Finger zitterten ihm dabei. Er zündete die Pfeife ungeschickt an und begann träge mit verschränkten Armen zu rauchen – eine Haltung, die seine gelegentlichen, schnellen Blicke auf den Hof allerdings Lügen straften.

All dies sah Mr. Huxter durch das Auslagefenster; das sonderbare Benehmen des Mannes veranlaßte ihn auch, seine Beobachtungen fortzusetzen.

Plötzlich richtete sich der Fremde auf und steckte die Pfeife in die Tasche. Dann verschwand er im Hofe. Auf das hin sprang Mr. Huxter, dem es mit einem Male klar wurde, daß er Zeuge eines Diebstahls sei, über den Ladentisch und rannte auf die Straße, um dem Dieb den Weg abzuschneiden. Kaum war er dort angelangt, als sich Mr. Marvel wieder zeigte, den Hut auf der Seite, ein großes Bündel in einem blauen Tischtuche in der einen und drei, wie sich später herausstellte, mit den Hosenträgern des Pfarrers zusammengebundene Bücher in der andern Hand. Sobald er Mr. Huxter sah, stieß er einen Schrei aus, wendete sich nach links und begann zu laufen. »Haltet den Dieb!« schrie Mr. Huxter und eilte ihm nach.

Mr. Huxters Beobachtungen waren deutlich, aber von kurzer Dauer. Er sah den Mann gerade vor sich um die Ecke bei der Kirche biegen und gegen die Straße nach der Düne zu rennen. Er sah die Fahnen und Lustbarkeiten des Dorfes, und nur ein oder zwei Leute wendeten sich nach ihm um. Nochmals brüllte er: »Haltet den Dieb!« und setzte kühn die Verfolgung fort. Kaum war er aber zehn Schritt weitergekommen, als sein Schienbein an irgend etwas Geheimnisvolles anstieß und er nicht länger lief, sondern mit unglaublicher Schnelligkeit durch die Luft flog. Er sah noch, wie sich sein Kopf unheimlich rasch der Erde näherte. Dann schien die Welt in eine Million wirbelnder Lichtflecke zu zerstieben, und »die folgenden Ereignisse interessierten ihn nicht mehr«.


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