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Ich wandele am Meeresstrande von Bombay. In wunderbar schlanker Linie schwingt sich der große Bogen der Küste, um jenseits der silberglänzenden Fläche der Backbay in den Hügelzug von Malabar-Hill überzugehen. Lebhaft erinnert dieser ferne Stadtteil an die Bilder italienischer Gestade. Aus dem dunklen Grün seiner Gärten leuchten dichtgedrängt und übereinander emporsteigend die üppigen Villen der reichen Einwohner von Bombay herüber; jener, meist dem Stamm der Parsi angehörigen Geldaristokratie, die zu den begütertsten der Erde zählt. Auf dem diesseitigen Ufer der Backbay begleitet uns die prachtvolle Flucht der großartigen öffentlichen Paläste, in denen die Weltmacht Englands hier an der Schwelle ihres indischen Reiches einen königlichen Ausdruck findet. Durch die weiten Parkflächen davor gleiten lautlos auf Gummirädern die kostbaren Gespanne der »guten Gesellschaft«, die hier die Abendkühle der Meerbrise aufsucht, fauchen die Kraftwagen und rollen die langen Züge der Bombay-Baroda- und Central-India-Bahn. All das übergossen von der Glut der langsam zum Meeresspiegel hinabsteigenden Sonne. Auf dem breiten weißen Sandstrand selbst, wo die langen glänzenden Wogen fächerförmig vorwärtsschießen und sich wieder zurückziehen, wandeln Scharen von betenden, die Natur anbetenden Parsen. Sie sind in Röcke europäischen Schnitts gekleidet, tragen jedoch die eigenartige Parsikappe aus dunklem Glanzstoff auf dem Kopfe. Ruhigen Schrittes kommen sie über die Kaitreppen herabgestiegen bis zum Rande der Flut. Hier beugen sie sich nieder, berühren mit den flachen Händen die Oberfläche der nächsten Welle und netzen sich damit das Antlitz. Sie küssen dann, nach verschiedenen Himmelsrichtungen sich niederwerfend, die Erde. Hierauf erheben sie sich, um eine heilige Schnur abzuknüpfen, die sie um den Leib tragen: sie ziehen sie durch die Hand, messen sie ab wie eine Art Rosenkranz und binden sie schließlich unter religiösen Formeln wieder um. Endlich stehen sie oder sitzen sie auf den Ufersteinen noch lange, im Anschauen des melodisch rauschenden Meeres und der Sonne, halblaut Gebete vor sich hinmurmelnd und anscheinend völlig versenkt in das All der Natur. Auch Frauen sind zuweilen darunter, in die wundervollen langen Schleiergewänder ihrer Tracht gehüllt. Oft ist diese von einem tiefleuchtenden Rot. so daß sie wie brennende Feuerpunkte in der Landschaft stehen. Es ist ein Schönheitsglanz in diesem allabendlichen Gemälde des Strandes von Bombay, wie er uns auf der Erde nur selten begegnet.
Aber auch diesem strahlenden Bilde ist ein Hintergrund des Todes, des Vergehens beigefügt, von seltsamem Ernst, ja in seinen Formen so fremdartig für unser Gefühl, daß er für manche Gemüter den Gipfel des Entsetzens und Abscheus vorstellt.
Unser Blick folgt dem langsamen Kreisen einiger Geier, die hoch in den Lüften über die Backbay hinüberziehen. Dort, jenseits der Bucht, auf der höchsten Höhe des Höhenzuges, verborgen von dem Grün der Wipfel, aber, wie jeder weiß, unmittelbar inmitten der üppigsten Gärten und Villen, liegen die »Türme des Schweigens«, das letzte Ziel der irdischen Wanderung der Parsen und wohl die sonderbarste Grabstätte der Welt.
Die Parsen sind Nachkommen alter Einwanderer aus Persien, die nach der Zerstörung des Sassanidenreiches mohammedanischen Glaubensverfolgungen in ihrer Heimat entflohen und, im zehnten Jahrhundert etwa, nach Indien kamen. Ihre Hauptmasse lebt jetzt in und um Bombay, und obwohl in der Dreihundert-Millionen-Menge der indischen Bevölkerung nur ein verschwindender Bruchteil (ungefähr 100 000 nach der letzten Zählung), haben sie es durch ihre Klugheit und ihren Geschäftsgeist zu einer hohen Bedeutung in der indischen Welt gebracht. Durch Handel mit Europa und neuerdings auch durch einheimische Industrie sind viele von ihnen in den Besitz außerordentlicher Reichtümer gekommen. Die Zahl der Bombayer Parsi-Millionäre ist groß. Ihr Einfluß in der Stadtverwaltung ist nahezu ausschlaggebend. Sie ahmen seit langem europäische Lebensgewohnheiten nach; sie bauen sich große Landhäuser europäischen Stils, haben die kostbarsten Automobile, ihre Frauen machen Konversation in Französisch und Englisch und spielen Klavier; ihr Sinn für Wohltätigkeit und ihre Opferwilligkeit für gemeinnützige Zwecke hat Bombay, das sie gewissermaßen als ihre Stadt ansehen, mit zahllosen Stiftungen ausgestattet und mit Bauten und Denkmälern geschmückt. Daneben aber haben sie doch ihre alte, aus Persien mitgebrachte Religion und religiöse Sitte bis auf den heutigen Tag bewahrt.
Diese Religion geht in gerader Linie auf den uralten Naturdienst Zarathustras zurück und prägt sich aus in einer Verehrung der Elemente, insbesondere des heiligsten, des Feuers. Sie beten es an in der Gestalt der Sonne, aber auch der irdischen Flamme. Noch heute soll auf einem Altar des Haupttempels in Bombay dasselbe heilige Feuer brennen, das ihre Vorväter einst vor tausend Jahren aus der Heimat mitgebracht haben und an dem alle andern Tempelfeuer entzündet werden. Priester hüten und nähren es in einem unterirdischen Raume unter Hymnengesang und Verbrennung von Weihrauch.
Merkwürdig rein und edel erscheinen uns heute fast alle äußeren Formen, in denen diese Religion uns entgegentritt. Und höchste Reinheit des Empfindens ist eigentlich auch der Grundgedanke, der zu der für unser unvorbereitetes Gefühl so schauerlichen Bestattungsart ihrer Toten führt; zu jenen Mysterien, die sich hinter den Mauern der »Türme des Schweigens« vollziehen.
Für die Überzeugung des Parsi ist nur die Seele des Menschen von wirklicher Bedeutung, der Körper nach dem Tode eine wertlose Hülle, deren Auflösungsprozeß eine widerwärtige Häßlichkeit ist. Bestattet man diesen vergehenden Körper im Boden, so befleckt man damit das reine Element der Erde; wirft man ihn ins Meer oder in den Fluß, so geschieht das gleiche mit dem Wasser; überließe man ihn der Verwesung unter freiem Himmel, abgesehen davon, daß derartiges gesundheitlich sich von selber verbietet, so würde das Element der Luft damit entweiht werden. Verbrennt man ihn, wie es die Mehrzahl der Bewohner Indiens tut, so würde man vollends das heilige Feuer besudeln. So sind die Parsen auf den Gedanken gekommen, ihn – den Geiern zum Fraß vorzuwerfen. Die berühmten »Türme des Schweigens« sind die den Vorgang selbst dem menschlichen Blick entziehenden Stätten, wo die Körper der Dahingeschiedenen diesen seltsamen Totengräbern ausgesetzt werden.
In etwa halbstündiger Fahrt bringt uns ein Kutschwagen aus dem europäischen Geschäftsviertel der Stadt nordwärts um die Bai herum an den Fuß von Malabar-Hill. Hier steigt eine gutgehaltene Straße, die Gibbs-Road, rasch empor und entrollt uns nach links, nach Osten, in immer reicherer Schönheit das wahrhaft wundervolle Bild der leuchtenden Meeresbucht und der riesigen Stadt dahinter, während im Westen die dichte Laubflut tropischer Gärten den Weg begleitet. Jetzt öffnet sich innerhalb dieser letzteren zu unserer Rechten ein breites Gittertor, an dessen Pfeilern angeschrieben steht: » Parsee only admitted« (Nur Parsi zugelassen). Wir haben uns jedoch eine Erlaubniskarte besorgt, und so rollt unser Wagen ungehindert hindurch.
Staunend sehen wir uns aus der menschenbelebten Stadt plötzlich hineinversetzt in die Einsamkeit eines halbwilden Parks, den große, dichtwipflige Bäume beschatten. Eine hohe Felswand aus mächtigem Blockgetrümmer steigt ernst vor uns empor. Üppiges Schlinggewächs hängt daran hernieder, einzelne Palmen, tiefgrüne Mangos und Feigenbäume mit phantastisch wirren, wie aus Stricken zusammengedrehten Stämmen sind malerisch zwischen dem Gefels verteilt, und auf der von hier unersteiglichen Höhe werden Mauern und weiße Gebäude sichtbar. An einem Wärterhause hält unser Wagen; wir müssen ihn verlassen und gelangen nun, von dem Wächter geleitet, an den Fuß einer breiten, weißgetünchten Freitreppe, die zwischen zwei Reihen blühender Topfgewächse aufwärts leitet. Sie führt zu einem neuen Toreingang von weißer Farbe empor, dem Zutritt zur Hochfläche, auf der die Türme liegen. Schon der wilde Felsenpark unten gemahnt an die Phantastik einer tropischen Opernausstattung; hier, wenn man so allein – der Wächter bleibt unten zurück – auf der stillen, weißen Treppe emporsteigt, in dem vollen Gefühl des Sonderbaren, das uns erwartet, ist es vollends, als würde man von unsichtbaren Mächten stufenweise in die Geheimnisse einer freimaurerisch-feierlichen Tempelstätte eingeführt.
Oben am Torbogen empfängt uns, aus einem dahintergelegenen Hause tretend, ein schneeweiß gekleideter Parsi mit stummem Gruß. Er ist nun unser Führer. Zunächst zeigt er uns am Wege einen niedrigen, weißgetünchten Steinpfeiler, in dem ein kleiner eiserner Sicherheitsschrank eingemauert ist. Dieser enthält die Schlüssel der »Türme des Schweigens«. Dann schreiten wir auf verschlungenen, von blühenden Blumen eingefaßten Gartenwegen über die Hochfläche, die abseits von diesen Wegen eine dichte Wildnis von Bäumen und Sträuchern ist. Regellos in dieser Wildnis verteilt liegen die Türme. Sie sind so niedrig, daß nirgendwo von der Stadt aus etwas von ihnen zu sehen ist; der höchste ist kaum höher als acht Meter. Ihnen näher zu treten als auf dreißig Schritt ist durch Tafeln untersagt. Es sind eigentlich weniger Türme, als flache, kreisrunde, weißgetünchte Wälle, gleichsam riesige, oben offene Opferschalen, in denen die Körper den Geiern dargeboten und so in den großen Kreislauf der Materie zurückgeleitet werden. Sie haben nur eine einzige, etwas über dem Boden erhabene und streng verschlossen gehaltene Tür. Auf den Bäumen rings um sie und auf ihrem Mauerrande hocken in Mengen die großen schwarzen Geier mit ihren nackten Hälsen in starrer Unbeweglichkeit.
Einer Bestattung selbst darf der Nichtparsi nicht beiwohnen, doch der Führer erklärt uns den Vorgang. Wem der Körper des Verstorbenen aus der Stadt zum Eingang des Felsengartens gebracht ist, wird er auf eine Bahre gelegt und von vier Leuten, die man Nasr-Salar oder die »Träger des Todes« nennt, die Treppe hinaufgebracht. An die Bahre schließt sich, weiß gekleidet, zu zwei und zweien, der Zug der Leidtragenden an. Aber noch vor ihnen, unmittelbar hinter der Bahre, sieht man zwei langbärtige Männer einherschreiten. Das sind die einzigen, die das Innere des Turmes betreten dürfen, um den Körper dort niederzulegen. Ihr Geschäft erbt sich vom Vater auf den Sohn fort und schließt sie aus von der sonstigen menschlichen Gesellschaft. Auch sie aber müssen, wenn ihr Amt vollzogen und der Turm wieder geschlossen ist, ihre nur bei dieser Gelegenheit getragenen Kleider wechseln und eine feierliche Reinigung vornehmen.
Trotz dieser Unnahbarkeit der »Türme des Schweigens« wissen wir ganz genau, wie es in ihnen aussieht. An einem großen Modell, das in einem Hause gezeigt wird und vor einem Menschenalter zur Belehrung des Prinzen von Wales, des späteren Königs Eduard VII., hergestellt wurde, erläutert uns der Führer ihre Einrichtung. Das Innere ist eine von der Umwallung etwas überragte Plattform, die sich flach trichterförmig nach der Mitte zu senkt. Das Zentrum ist eingenommen von einem offenen, senkrechten, zylindrischen Schacht, ähnlich einem Brunnen. Der Bereich der Plattform zeigt einen dreifachen Kranz flacher, viereckiger Vertiefungen, die sich ringförmig um die Brunnenöffnung herumordnen und bei dem äußersten Ring am größten, bei dem innersten am kleinsten sind. Die Vertiefungen der äußersten Reihe sind die Plätze für die verstorbenen Männer, die der mittleren für die Frauen, die der innersten für die Kinder. Sobald der Leichnam – völlig nackt – auf seine Stelle gelegt ist und die Männer den Turm wieder verlassen haben, stürzen sich die Geier darauf, und binnen einer halben Stunde ist nur noch das sauber präparierte Skelett vorhanden. Luft und tropische Sonne trocknen dieses schnell, so daß es, wenn nach einiger Zeit die Totenwächter kommen, um es mittels bestimmter Werkzeuge aus den Vertiefungen zu nehmen und in den Schacht im Innern zu werfen, schon fast von selbst zu Staub zerfällt. In der Tiefe des Mittelschachtes schlummern dann die letzten irdischen Reste der Parsen; arm und reich mischen sich hier, wie Zarathustra es gewollt, ohne Unterschied im Tode; die Seele aber ist längst zu lichten Gefilden emporgestiegen.
Fünf solcher Türme von verschiedener Größe zählt man in diesem Wildgarten. Alle sind sie unterschiedlos im Gebrauch für Angehörige der Gemeinde; nur einer von ihnen, der älteste und kleinste, ist, ein merkwürdiges Vorrecht, im Besitz einer einzigen Familie. Ebensowenig, wie man sie von außen her gewahrt, sieht man auch von ihrem Park aus irgend etwas von der Außenwelt. Vollkommen losgelöst sind wir hier oben von dieser; nur der blendende Himmel spannt sich über uns.
Der Gedanke an dies einstige Schicksal seines Körpers hat für den lebenden Parsen nichts Schreckhaftes. Und wenn wir unbefangen urteilen, müssen wir uns sagen, daß die Vorstellung von dem unsichtbaren Beseitigungsvorgang hinter jenen weißgrauen Mauerringen in Wahrheit nicht soviel widriger ist als die, die wir uns von dem unserer eigenen Erdbestattung in den verborgenen Tiefen des Bodens folgenden Auflösungsprozeß machen müssen. Ich jedenfalls konnte mich, zwischen den großen brennenden Blumen in diesem stillen Garten umherwandelnd, dem Eindruck einer mächtigen, wenn auch fremden und wilden Poesie nicht entziehen, und ich bewahre noch heute die weiße Rose, die mir der weißgewandete Führer dort zum Abschied von einem der Büsche brach.