Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Gefunden und verloren.

Wir müssen uns nun wieder einmal nach unserer Eva umsehen. Konrad Gieten am Venn hatte eine kleine Ackerwirtschaft. Er war ein kleiner untersetzter Mann, schon stark in den Fünfzigern, der den ganzen Tag unermüdlich arbeitete und Haus und Hof versah. Von Natur aus gutmütig, hatte er nur den Fehler, wie so viele Bauern, etwas eigen und hartköpfig zu sein, sodaß es schwer war, ihn von einer vorgefaßten Meinung abzubringen. Er hatte nur einen Sohn, der 15 Jahre alt war und bisher in Gladbach die Klosterschule besucht hatte. Seitdem die Hessen in der Stadt waren, hörte der Schulbesuch auf, und Georg mußte zu Hause bleiben, jedoch studierte er für sich fleißig weiter, und an der Eva hatte er eine gelehrige und aufmerksame Schülerin bekommen. Konrad meinte zwar, es sei Unsinn, daß Mädchen lesen und schreiben lernen, wenn die nur die Hausarbeiten verständen, das wäre genug. Mechthilde und auch die Mutter Georgs waren jedoch anderer Ansicht und sahen es gerne, wenn das Mädchen sich neben den häuslichen Verrichtungen noch tüchtig im Lesen und Schreiben übte, und Eva machte denn auch Fortschritte. Wegen Jakob, Vit und den Anderen war man in steter Unruhe, da jede Nachricht von ihnen fehlte. Mechthilde vergoß manche Träne um ihre Lieben, von denen sie nicht einmal wußte, ob sie noch lebten. Die Hessen waren auf ihren Streifereien noch nicht bis nach Venn gekommen, deshalb wohnten sie dort ziemlich ruhig und fühlten sich vorläufig sicher. Eva hatte sich körperlich sehr gut entwickelt und war ein schmuckes Mädchen geworden, zwar schmächtig, aber sie war recht gesund, und ihre schwarzen Äuglein lachten munter in die Welt hinein. Sie wußte jetzt auch, was Frohsinn und Freude war, seit sie Mechthilde Mutter nannte. Beide waren aber auch einander zugetan wie Mutter und Kind. Die Arbeiten im Hause und beim Vieh verrichteten sie zusammen. Abends, wenn die Frauen am schnurrenden Spinnrade saßen, wurde nach altem Brauche der Rosenkranz gebetet und nach demselben begann der Unterricht. Georg kramte dann seine Weisheit aus, und wenn er Eva die Buchstaben und Worte lehrte, diese aber oft ganz verkehrte Antworten auf seine Fragen gab und ihren Lehrer bisweilen auslachte, lachten die andern mit und sogar die Magd Stina kicherte dazwischen, bis der ernste Konrad Ruhe gebot und die Eva ermahnte, aufmerksam zu sein, sonst würde er dazwischen fahren. Wenn dagegen an gewissen Abenden allerlei Ulk und Kurzweil getrieben wurde, oder eine alte Muhme aus der Nachbarschaft herüber kam, die gar wundersame Geschichten zu erzählen wußte –, dann wurden alle und besonders unsere Eva nicht müde zuzuhören. So verlief ein Tag wie der andere in stiller Einförmigkeit.


Den Hauptmann van Este in Gladbach hatten wir verlassen, als er das Schriftstück unter der Bank gefunden hatte, das ihn außer Fassung gebracht und so hoffnungsfreudig gestimmt hatte. Auf seinen Wunsch war Vit Tempel sofort zu ihm gekommen, und der Hauptmann sagte: »Hört Herr Tempel, ich finde hier ein Pergament, das mich in nicht geringe Aufregung versetzt. Vor zehn Jahren habe ich unter rätselhaften Umständen mein Töchterchen verloren. Ich habe dasselbe als tot betrauert, aber nie so recht an seinen Tod glauben können. Diese Aufzeichnungen bestärken mich darin und fast möchte ich annehmen, daß ich hier wichtige Mitteilungen über mein totgeglaubtes Kind in Händen habe. Zweifelhaft ist mir die Geschichte, daß mein Kind ertrunken sein soll, wie gesagt, immer gewesen. Könnt Ihr mir Auskunft geben, so helft mir. Was wißt Ihr von dem Mädchen, das hier in dem Hause gewesen sein muß?«

»Nur sehr wenig« erwiderte Vit Tempel, »denn ich war zu der Zeit, als das Kind gefunden wurde, nicht hier. Ich habe aber gehört, daß der Schwiegersohn des Vit eines Abends ein Mädchen von 14 bis 15 Jahren aus der Gegend von Gangelt, welches er dort im Walde gefunden hatte, mit nach Hause gebracht hat. Das Kind soll seiner Pflegemutter entlaufen sein, weil es von dem Sohne derselben mißhandelt wurde.

»Wie hieß das Mädchen?« fragte der Hauptmann gespannt.

»Eva, weiter weiß ich nichts.«

»Richtig. Es heißt hier ausdrücklich,« bemerkte der Hauptmann, aus das Pergament deutend, »daß ein Kind mit Namen Eva gefunden worden ist, welches vermutlich aus Flandern stammt und dort geraubt worden ist. Das Kind hat sich erinnert, daß es in einem schönen Hause wohnte und daß es, als es seine Tauben gefüttert habe, von einem Manne ergriffen, geknebelt und fortgebracht worden sei. Dieser habe es zu einer alten Frau gebracht die aber häufig ihre Wohnung habe wechseln müssen, weil sie öfters von der Behörde verfolgt wurde. Vieles daran stimmt mit meinem Kinde überein, besonders auch das Alter, aber wo mag das Kind jetzt sein?«

»Das kann ich nicht sagen. Vit hatte es liebevoll aufgenommen und gehalten, als ob es sein eigenes Kind gewesen wäre. Er hat auch Nachforschungen angestellt, die aber durch den Krieg unterbrochen wurden. Ehe der Feind hier einzog, hat er seine Tochter und Eva in Sicherheit gebracht, aber wohin sie gebracht wurden, das ist mir nicht bekannt, jedenfalls nicht sehr weit von hier.«

»Ich muß morgen nach Dahlen, wo auch eine hessische Besatzung liegt und von da nach Dülken, Süchteln und Kempen.« »Ich werde jedoch zwei zuverlässige Leute hier lassen, und es werden sich wohl auch brave Bürger bereit finden, um draußen nach dem Kinde zu forschen. Hier habt Ihr zehn Goldstücke, sparet nichts. Erkundigt Euch und schafft das Mädchen hierher, ach, wie glücklich wäre ich, wenn ich mein Kind wiederfinden würde! Aber wer konnte das Kind geraubt haben? Wer war mein Feind? Wer hatte ein Interesse daran, mir mein Kind zu nehmen? Ich weiß es nicht. Mit dem Kinde verlor ich die treue Gattin und den einzigen Sohn. O Gott, was habe ich damals gelitten!« seufzte van Este leise, wie wenn er zu sich selbst spräche. »Wie hat mein Herz geblutet als mich dieser dreifache Verlust getroffen!« Und nun schickst Du mir einen Hoffnungsstrahl und läßt mich eine Spur finden, die vielleicht zu meinem Kinde führt – –!«

»Beruhigt Euch, Herr,« sagte Vit Tempel. »Was ich tun kann, soll geschehen, und ich zweifle nicht, wenn Ihr zurückkehrt, daß das Kind hier ist.«

»Habt Ihr das Kind häufig gesehen?«

»Gewiß, es ist ein schlankes, schwarzäugiges Mädchen. Auf einer Hand – ich weiß jedoch nicht, auf welcher – hat es eine Brandnarbe.«

»Sie ist's, sie ist's! Es ist kein Zweifel!« rief der Hauptmann freudig aus. »Die Narbe rührt vom heißen Tee her, mit dem sie sich verbrannte. O Gott, ich danke dir! Nach jahrelangem Suchen und Forschen endlich ein Lebenszeichen. Ma chere petite Marie, du bist es! Werde ich dich nun wiedersehen? Mein armes Kind, was magst du erduldet haben! Verzeiht einem armen Vater diesen Gefühlserguß, lieber Freund,« sagte er, die Hand Vit Tempels ergreifend. »Die Freude, mein Kind wiederzusehen, ist zu groß: laßt mich diese Tränen weinen!«

»Ich nehme teil an Eurer Freude und hoffe, daß ich das Kind bald dem Vater zuführen kann.«

»Sorgt, daß ihm kein Haar gekrümmt wird, Ich werde Euch die weitgehendsten Vollmachten hinterlassen; wehe dem, der sie nicht respektiert!«

Es wurde abgesprochen, daß zwei Soldaten von den Franzosen, welche mit van Este gekommen waren, zurückbleiben sollten, und Tempel wollte am andern Tage sogleich mit den Nachforschungen beginnen. Der Hauptmann begleitete Tempel bis an die Türe, verabschiedete sich von ihm und versuchte zu schlafen. Jedoch es gelang ihm nicht. Er warf sich auf dem Lager hin und her und dachte nur an sein Kind, am Morgen teilte er den beiden zurückbleibenden Soldaten das Nötige mit und versprach ihnen eine gute Belohnung, wenn sie sein Kind herbeischaffen würden. Sie sollten jedoch darüber schweigen, was es für ein Bewandtnis mit diesem Mädchen habe, denn er fürchtete, wenn das bekannt würde, könnte ihm jemand einen neuen Streich spielen. Der Hauptmann ritt mit den übrigen vier Soldaten auf Dahlen zu. Den Offizier Hermann hatte er am Tage vorher mit einem wichtigen Auftrag nach Süchteln und Krefeld geschickt. Nach seiner Rückkehr sollte dieser auf ihn warten. In sechs bis sieben Tagen wollte der Hauptmann wieder in Gladbach sein. Vit Tempel hatte unter der Hand bei der Bürgerschaft Erkundigungen eingezogen und gehört, daß Mechthilde und Eva sich wahrscheinlich am Venn bei der Nichte Mechthildens aufhielten. Nachmittags bestellte er einige Bürger, die die Franzosen nach Venn führen sollten, um in den Häusern und Höfen nachzufragen. Die Soldaten hatten ihre Uniformen ausgezogen und trugen Bürgerkleidung.

Am Abend dieses Tages, als Eva und Georg außer dem Hause waren und auf einem kleinen Teiche, welcher im Sommer als Flachsgrube diente, die Eisbahn schleiften, stürzte Georg auf einmal atemlos ins Haus und rief: »Um Gottes willen! Eva ist von fünf Männern mitgenommen worden! Sie haben sie ergriffen, auf einen Karren geworfen und sind davongejagt.«

Alle sprangen auf und liefen hinaus wobei sie Georg mit Fragen bestürmten: »Wer war es denn? Waren es Soldaten?"

»Nein,« sagte der Junge, »es waren fünf starke, junge Männer. Vor den Karren waren zwei Pferde gespannt, die wie der Wind davonsausten, als die Eva darauf war.«

»Ach, das arme Kind,« jammerten Mechthilde und Margareth, Konrads Frau. Konrad meinte ärgerlich: »Die Kinder hören ja auch nicht und mußten immer am Abend hinaus, – nun ist das Unglück geschehen! Da weiß ich keinen Rat.«

»Na, was ist denn los hier?« fragte plötzlich eine bekannte Stimme, welche unserm Vit Gilles angehörte, der jetzt auf die Gruppe zutrat.

»Ach, Vater,« rief Mechthilde aus, »kommst du endlich? Denke dir: Unsere Eva ist eben unten an der » Flachsrut« Flachsrut, (Flachsröste, -rotte) Eine Grube, worin Flachs eingeweicht wurde. geraubt worden!«

»Was, geraubt?« rief Vit. »Wer hat sie geraubt? Die Hessen?«

»Nein,« sagte Konrad, »es wären Bürgersleute, meinte unser Georg.«

»Ach was, Bürgersleute, – als ob die Mädchen raubten! verkappte Hessen waren es, die nicht den Mut hatten, ihre Uniformen anzulegen. Welchen Weg haben sie eingeschlagen, Junge?«

»Den Fahrweg auf Gladbach zu.«

»Dann ist keine Zeit zu verlieren,« sagte Vit. »Ein Donnerwetter soll die Kerls holen, wenn mir einer dem Kinde ein Haar krümmt!« Damit wollte er fort.

»Aber, Vater,« sagte Mechthilde, »willst du nicht mit ins Haus kommen?«

»Nein,« erwiderte Vit bestimmt, allen die Hand reichend, »ich will wissen, wo das Mädchen geblieben ist und habe deshalb keine Zeit zu verlieren. Gott befohlen! Ich komme in den nächsten Tagen und sage Bescheid, ob ich etwas erfahren habe.«

»Wie? Vater, du willst wieder in die Stadt?« fragte Mechtilde erschrocken und suchte ihn zurückzuhalten. Sie dachte an all das Schreckliche, das ihr Vater jüngst in Gladbach erlebt hatte.

»Ich muß hinein; ich weiß aber andere Wege als durch die Tore, sodaß man mich nicht erwischen wird, also lebt wohl, ich habe Eile.« Damit schritt er von dannen.

Die drei Bürger und die Soldaten hatten, wie wir schon wissen, die Eva gefunden, und da die Soldaten fürchteten, Schwierigkeiten mit den Leuten zu bekommen, glaubten diese nichts Besseres zu tun, als sich des Mädchens gewaltsam zu bemächtigen und damit das Weite zu suchen. Eva wunderte sich nicht wenig, als sie in Vits Haus gebracht und ihr dort gesagt wurde, sie solle sich in ihr gewohntes Zimmer begeben; sie brauche sich vor nichts zu fürchten, denn es werde ihr kein Haar gekrümmt werden. Sie setzte sich auf einen Stuhl und erholte sich nach und nach von ihrer ausgestandenen Angst. Auf der Straße hatte sie überall hessische Soldaten gesehen, welche ihre rohen Späße machten, und der Lärm ihres wüsten Treibens drang bis auf ihr Zimmerchen. Im Hause selbst war alles ruhig. Es schien, als ob die Leute, die sie gebracht, zur Ruhe gegangen wären. Eva konnte nicht begreifen, was man von ihr wollte. Zwar hatte man ihr gesagt, die Leute handelten im Auftrage eines mächtigen Herrn, der es gut mit ihr meine und ihr Bestes wolle. Ein anderes Leben sollte für sie beginnen ... »Aber wer mag er sein?« fragte sie sich selbst. »Und wenn er nichts Böses will – warum läßt er mich dann mit Gewalt entführen?! O Gott, wer weiß, was mir noch bevorsteht ...?!« Sie versank in trübes Sinnen. Ihr ganzes Leben mit den vielen Leiden und wenigen Freuden zog an ihrem Geiste vorüber und plötzlich brach sie in heftiges Weinen aus. Denn wieder klang ihr der Refrain eines Liedes in den Ohren, das sie neulich von einem fahrenden Sänger gehört und das sie so ergriffen hatte:

Ich bin das arme Findelkind
Das seine Eltern nie gekannt ...
Die Menschen alle fremd mir sind
Und fremd ist mir dies Land.

Ja, ein Findelkind war sie, ein Findelkind und eine Fremde – trotzdem sie so gute Leute gefunden, die sich ihrer angenommen und die alles getan hatten, um sie ihr trauriges Schicksal vergessen zu lassen! Wo stammte sie her? Wer waren ihre Eltern? Auf einmal glaubte Eva ein leises Klopfen an der Türe zu vernehmen. Sie lauschte, gab aber keine Antwort. Jetzt hörte sie deutlich die Worte:

»Eva, mache auf. Kennst du mich denn nicht?« Freudig sprang sie auf, lief an die Türe und fragte leise: »Bist du es, Großvater?«

»Jawohl, Kind, mach auf!« klang es zurück.

Eva öffnete die Türe und flog in des Großvaters Arme. Dann sagte sie lauter, als es diesem lieb war: »Gott sei Dank, Großvater, daß du da bist. Rette mich aus den Händen meiner Verfolger!«

»Ei, Kind, du weinst? Nun, so schlimm wird die Sache wohl nicht sein. Erzähle mir einmal, wie die Entführung vor sich ging.«

Eva berichtete alles getreulich.

»So,« sagte Vit. »Also ein Mächtiger interessiert sich für dich? Hm, sollte das Leßlin nicht sein –? Freilich, wer sonst? Dieser Schurke ist zu allem fähig! Aber dann soll ihn der Teufel holen!«

Vit ging in der Stube erregt auf und ab. Plötzlich blieb er vor Eva stehen, ergriff ihre Hände und sagte mit gedämpfter Stimme: »Nur keine Angst, Kind, ich will schon sorgen, daß sein Plan zu Nichte wird. Höre, was ich ausgedacht, um dich zu retten:

Wir müssen suchen, diesen »mächtigen Herrn« hinters Licht zu führen und ihm gleichfalls einen Streich zu spielen. Zwar könnte ich dich heute Nacht einfach mitnehmen und durch den unterirdischen Gang aus der Stadt bringen – was vielleicht gelingen würde, wenn das Glück uns günstig wäre und wir auf keine Wache stießen – aber, ich habe es anders vor, damit du auch in Zukunft vor deinen Verfolgern sicher bist. Sieh' dieses Fläschchen! Es enthält ein starkes Betäubungsmittel. Davon nimmst du einige Tropfen in einem Glas Wasser und du wirst in einen todesähnlichen Zustand verfallen. Dann wird man dich für tot halten und mir wird es ein Leichtes sein, dich aus der Stadt zu schaffen. Draußen wirst du dann wieder zum Bewußtsein kommen.«

Eva sah den Alten etwas ängstlich und zweifelnd an. »Aber, Großvater – –!«

»Ja, Kind,« sagte dieser, indem er beruhigend über Evas Scheitel strich, »das ist das einzige Mittel, um dich den Klauen dieses Unholds zu entreißen und vor weiteren Nachstellungen zu schützen! Im Übrigen sei ohne Sorge: ich bin meiner Sache sicher. Dein Leben kommt nicht dabei in Gefahr, denn das Mittel ist unschädlich. Vertraue nur auf mich und den lieben Gott, der das Weitere dazu tun wird. Verschließe jetzt, nachdem ich fortgegangen bin, die Tür, und lege dich, wenn du den Schlaftrunk genommen, sofort zu Bett. Gute Nacht, mein Kind und auf baldiges Wiedersehen!«

»Gute Nacht, Großvater. Gehe aber nicht zu weit fort.«

»Wenn du erwachst, bin ich bei dir.«

Vit entfernte sich und begab sich, im Schatten der Häuser vorsichtig dahinschleichend, zur Münsterkirche, öffnete eine kleine Türe und trat in die Krypta Krypta. Die Gruft auch Kluft genannt, in der Münsterkirche., von wo aus ein unterirdischer Gang ihn wieder ins Freie führte. Er schritt dann seinem Nachtquartier zu, welches er vorläufig am Gen-Holt aufgeschlagen hatte. Dort wohnte er beim alten Hannes. »Der verdammte Leßlin!« fluchte er unterwegs, »schickt da seine Kerls und läßt mir das Mädchen rauben! Na warte, Bursche, wir rechnen noch einmal zusammen ab. Du wirst mir doch wohl einmal in die Finger fallen – aber dann gnade dir Gott! Allerdings könnte es auch umgekehrt gehen,« murmelte er leise, »und in diesem Falle – hätte ich nicht zu lachen! Wer weiß, ob ich dann noch einmal mit dem Leben davon komme?«

Am andern Morgen kam Vit Tempel zu den beiden Franzosen und fragte nach den nähern Umständen; er habe gestern abend schon vernommen, daß sie das Mädchen gefunden hätten.

Einer erzählte den ganzen Vorgang.

»Das war nicht recht,« sagte Tempel, »Ihr hättet nicht so über das Kind herfallen sollen. Ihr konntet Euch ja mit den Leuten verständigen. Es war genug, wenn wir wußten, wo das Mädchen war, der Hauptmann konnte es dann selbst holen.«

»Es ist nun einmal geschehen,« meinte der Soldat, »und wir glaubten, so recht gehandelt zu haben.«

»Ist das Mädchen heute Morgen nicht zum Vorschein gekommen?« fragte Tempel.

Die beiden Soldaten verneinten dieses.

»Gut, dann gehe ich nach Hause und hole meine Frau hierher, die soll das Kind verständigen und beruhigen.« Nach kurzer Zeit kam Tempel mit seiner Frau zurück. Diese begab sich gleich zu Evas Schlafzimmer.

Nach einer Weile kam sie zurück und sagte: »Ich kann klopfen und rufen, wie ich will, ich bekomme keine Antwort. Kommt doch einmal mit hinauf.«

Tempel und die beiden Soldaten gingen hinauf, pochten an die Kammertüre und riefen laut Evas Namen, bekamen aber ebenfalls keine Antwort. »Das kann nichts nützen,« sagte ein Soldat und trat mit dem Fuße gegen die Türe, so daß diese aus den Angeln flog. Frau Tempel trat an das Bett, wo Eva schlief und ergriff ihren Arm, jedoch kaum hatte sie diesen berührt, als sie ihn losließ und rief: »Um Gotteswillen – was ist das? Das Kind ist tot, schon eiskalt! Sollte der Schreck das arme Kind getötet haben!«

»Wie! Nicht möglich! Tot!« riefen alle durcheinander. Eva lag stumm und regungslos da. Der Tod mußte schmerzlos gewesen sein, denn sie lag so friedlich da, als ob sie schliefe. Nur die Kälte des Körpers und die eingetretene Totenstarre bewiesen, daß das Leben entflohen war.

»Der arme Hauptmann van Este!« seufzte Tempel.

»Und die arme Mechthilde, die das Kind mehr liebte, als eine Mutter ihr Kind lieben kann!« klagte Frau Tempel. »Wie wird sie den Schlag ertragen?!«

»Wahrscheinlich hat ein Herzschlag infolge der Aufregung ihrem jungen Leben ein Ende gemacht,« bemerkte Tempel und fuhr dann gegen seine Frau gewendet fort: »Lene, du mußt dich um die Tote bekümmern, es ist deine Pflicht.«

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich in der Stadt die Nachricht, daß die Eva in Vits Haus als Leiche gefunden worden sei. Am andern Tage kam der Schreiner Laumen mit einem prächtigen Sarge, und Eva wurde in der abgeschlossenen Krypta der Münsterkirche, die ganz von der Kirche abgesondert war, der damaligen Sitte gemäß, aufgebahrt, weil sie keine Angehörigen in der Stadt hatte. Dort sollte sie stehen bleiben, bis der Hauptmann van Este zurückkam, damit er wenigstens die Leiche seines Kindes noch sehen könnte. In der Krypta herrschte jedoch ein so starker Modergeruch, daß Tempel anordnete, den Sarg zu schließen, weil er befürchtete, die Leiche könne zu früh verwesen. Als nach sieben Tagen der Hauptmann noch immer nicht zurück war, wurde Eva feierlich begraben. Eine große Menge Bürger folgten der Bahre, und in der Münsterkirche fand ein feierliches Totenamt statt. Der Leichenzug sowohl wie die Totenfeier in der Kirche wurden nicht gestört, da der Oberst Leßlin es nicht wagte, Vit Tempel, welcher die Vollmacht des Hauptmanns van Este vorgezeigt hatte, irgendwie zu behelligen. Nach Beendigung der Trauerfeier kehrten die Bürger an ihre Arbeit zurück und bedauerten allgemein den armen Vit, welcher selbst vogelfrei war und nun auch noch den Tod seines Pflegekindes zu beklagen hatte. Tempel hatte vor dem Weihertore, wie abgesprochen war, eine Notiz in einen Baum gesteckt, welche Vit dort finden sollte. Dieselbe war aber nach einigen Tagen noch nicht abgeholt, ein Zeichen, daß Vit noch nicht in der Nähe war. Nach mehreren Tagen kamen abends fünf Reiter durch das Mardertor herein, die sich als französische Soldaten auswiesen und alsbald Einlaß erhielten. Es war unser Hauptmann van Este, der von Dülken kam und sofort über den Markt zu der Wohnung Tempels sprengte. Er schwang sich vom Pferde, reichte dem vor die Tür getretenen Tempel die Hand und sagte:

»Nun, Freund Tempel, habt Ihr gute Nachrichten?«

»Nachrichten habe ich schon,« erwiderte der Angeredete ernst, »aber leider keine guten. Doch kommt herein, wir können das hier nicht gut besprechen!«

Sie traten ins Stübchen, und Tempel berichtete den Hergang. Als van Este hörte, daß das Kind gestorben sei, sprang er auf und rief: »Wie, tot, wirklich tot? Oh ciel! wie ist das möglich! Ist sie schon begraben?«

»Ja, wir konnten mit der Beerdigung nicht länger warten.«

»Also gefunden und verloren!« rief van Este. »Doch ich muß die Leiche sehen. Ich will doch wenigstens wissen, ob es mein Kind war. Kommt, helft mir, Freund, ruft den Totengräber, er soll das Grab diesen Abend noch öffnen!«

Sie gingen an dem Hause Vits vorbei, und der Hauptmann befahl einem Soldaten, sein Pferd, das bei Tempel an der Türe stehe, zu versorgen. Als sie zum Totengräber Steppkes kamen, der schon zur Ruhe gegangen und auch zu schwach war, um das Grab zu öffnen, bat dieser, Tempel möge zum Nachbar Tillmann gehen, derselbe könne sich bei ihm das Werkzeug und eine Laterne holen. Das erste Grab rechts sei dasjenige, worin das Mädchen liege. Tillmann war gleich bereit, nahm Werkzeug und Laterne und die drei begaben sich zum Friedhofe, wo auch sofort an dem ersten Grabe angefangen wurde. Nachdem eine Menge Erde entfernt war, sagte der Hauptmann: »Das scheint ein Doppelgrab zu sein, es ist so sehr breit für einen Sarg.«

»Ganz recht, es ist ein Doppelgrab, worin zwei Särge stehen,« antwortete Tillmann, »denn an demselben Tage wurde auch ein Mädchen vom alten Källkes begraben. Dieses war von den Soldaten mißhandelt worden und an den Folgen gestorben, Ich weiß nun nicht, ob die Eva in dem ersten Sarge oder in dem zweiten liegt, und darum, Herr Tempel, seid Ihr wohl so freundlich und ruft den Meister Laumen, der den Sarg angefertigt hat, der wird uns schon Bescheid geben können.«

»Das will ich sofort besorgen,« sagte Tempel und entfernte sich. Er kam auch gleich mit dem Meister Laumen zurück.

»Ja, meine Herren,« sagte Meister Laumen, »die Särge habe ich beide gemacht und sie sind fast gleich, ich weiß nur nicht genau zu sagen, wer in diesem oder in jenem liegt, jedoch kann ich beide leicht öffnen, ich habe Werkzeug mitgebracht. Ich könnte auch den Schuster Källkes holen, aber der alte Mann liegt krank darnieder.«

»Es ist nicht nötig,« sagte der Hauptmann, »wir werden jetzt schon allein fertig werden.«

Die Nacht war stürmisch. Am Himmel jagten dunkle Wolken dahin. Der Wind wehte kalt und rüttelte an der Bedachung der Kirche. Vom Turme rief ein Käuzchen sein unheimliches Gekrächze herab. Die Männer fröstelten und hüllten sich fester in ihre Mäntel.

»So, hier bin ich auf dem ersten Sarg,« rief Tillmann aus der Grube heraus, »wir können diesen schon öffnen.« Dabei stieß er mit dem Spaten auf das Holz des Sarges.

Nachdem Tillmann aus dem Grabe gestiegen, löste Meister Laumen den Deckel des Sarges, und Tempel reichte ihm die Laterne, die er gehalten hatte. Da nun das Licht der Laterne in den Sarg fiel und die oben Stehenden nicht genug sehen konnten, so wurde der Deckel neben den Sarg gestellt, und die Männer sprangen in das Grab, nur der Hauptmann blieb oben. Die drei Männer traten an die Seite und beleuchteten die Tote; ihr Gesicht war nicht mehr zu erkennen, es bot einen schrecklichen Anblick der Verwesung dar. Sie bückten sich über die Leiche, und ein Schaudern überkam die sonst so beherzten Leute.

»Könnt ihr die Tote erkennen?« fragte erwartungsvoll der Hauptmann, »Ist es meine Tochter?«

Tempel schüttelte den Kopf. »Die ist nicht mehr wiederzuerkennen,« antworte er.

»Ist es meine Tochter nicht?« fragte der Hauptmann wieder.

»Hier liegen die Hände,« sagte Tempel, »kommt herunter, Herr Hauptmann, ich steige aus dem Grabe.«

Der Hauptmann sprang in das Grab und betrachtete die Leiche. »Das ist meine Tochter nicht!« erklärte er bestimmt.

»Hier an der linken Hand fehlt das Brandmal. Es ist umsonst, es ist meine Tochter nicht. Wir müssen den andern Sarg auch freilegen. Allons, ans Werk, Leute!«

Jetzt begannen die beiden Leute wieder, nachdem der Sarg geschlossen war, die Erde auszuschaufeln. Die Grabscheite knirschten an den Schollen, und nach einer halben Stunde war auch der zweite Sarg freigelegt. Die beiden Männer wischten sich den Schweiß von der Stirne, und dann begann Meister Laumen den Sarg zu öffnen. Der Hauptmann sprang in das Grab und leuchtete in den Sarg hinein. »Was ist das?« rief er voll Entsetzen, »der Sarg ist ja leer!«

Die Männer standen wie versteinert da.

»Das geht nicht mit rechten Dingen zu,« sagte Tempel.

Als sie den Sarg näher untersuchten, fanden sie einzelne Palmblättchen und ein großes Stück von einem eichenen Balken.

»Da ist ein Bubenstück geschehen! Wer konnte die Leiche stehlen, und warum wurde sie gestohlen? Ach, mit der freudigsten Hoffnung kehrte ich zurück und finde anstatt meines lebenden nicht einmal mein totes Kind wieder! »Ist es nicht, als ob das Schicksal meiner spotten und mich verhöhnen wollte!« klagte der Hauptmann.

»Ich bin ratlos, Herr Hauptmann,« sagte Tempel. »Weiß nicht, was wir jetzt noch tun könnten.«

»Wir wollen den Sarg zumachen und das Grab wieder füllen,« sagte der Hauptmann, indem er aus dem Grabe stieg. Der Sarg wurde geschlossen und die Grube wieder zugeschaufelt.

»Hier, Leute, habt Ihr Euren Lohn,« sagte der Hauptmann, indem er Tillmann und Laumen ein Goldstück reichte, »Ich danke Euch, und bitte Euch, über die Sache vorläufig zu schweigen.« Beide versprachen, reinen Mund zu halten. Der Hauptmann und Tempel schritten darauf dem Markte zu.

»Wahrscheinlich ist die Leiche gestohlen worden, ehe der Sarg in die Erde gesenkt wurde,« sagte der Hauptmann.

»Das ist wohl sicher,« erwiderte Vit Tempel, »denn ich glaube nicht, daß das Grab schon einmal geöffnet worden ist.«

»Hier stehen wir vor einem Rätsel. Aber war das Mädchen auch wirklich tot?"

»Ohne Zweifel, ich habe sie gesehen, wie sie im Sarge lag, und habe auch den Sarg schließen lassen.«

»Und die Leiche, die Ihr gesehen habt, hatte jenes Brandmal an der linken Hand?«

»Ja, ich habe noch besonders darauf geachtet.«

Der Hauptmann machte eine verzweifelte Gebärde. »Wir wollen nach Hause gehen,« sagte er mit müder, tonloser Stimme, ich weiß vorläufig nichts mehr zu machen. – Gute Nacht, Bürger Tempel, und vielen Dank!«

»Gute Nacht, Herr Hauptmann.« Vit Tempel schritt seiner Wohnung zu.

Der Hauptmann sowohl wie Tempel waren noch lange wach und zermarterten ihr Hirn, um das geheimnisvolle Dunkel zu durchdringen, das sich wieder um das Findelkind und dessen Verbleib verdichtet hatte.


 << zurück weiter >>