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Mit Befriedigung nahm Elisabeth wahr, daß Fanny nicht mehr das geringste Verlangen nach ihren einsamen Spaziergängen äußerte. Sie wußte freilich, daß sie der Baronin versprochen hatte, sich nicht allein vom Hause zu entfernen, und war ihrer Ehrenhaftigkeit sicher. Doch war ein neuer Anlaß zur Wachsamkeit vorhanden, seit die Woytich in Eckern gewesen war; hatte doch Kasimir behauptet, sie am Abend des großen Gewitters in der Nähe des Herrenhauses gesehen zu haben. Elisabeth beschloß, auf der Hut zu sein, und nie ging sie mit Fanny ins Freie, ohne mit ihren kurzsichtigen Augen die Landschaft zu durchspähen.
Fanny machte sich anfangs über ihren ängstlichen Eifer lustig, wie sie selten die Gelegenheit versäumte, die komischen Schwächen ihrer Betreuerin melodisch zu belachen. Sie mußte sich immerfort wundern über diese großen Leute, die sogenannten Erwachsenen, die sich so steif bewegten, so viele ernsthafte Dinge sagten, sich über alles mögliche ärgerten, und was ihnen vor der Nase lag, nicht sahen. Sie wußte besser als Elisabeth, wohin man hätte schauen müssen, um sich in acht zu nehmen, und weil es ihr wie ein Betrug erschien, daß sie darüber schwieg, hörte sie auch auf, Elisabeth zu verspotten. Es nützt einem Kind nichts, gescheiter zu sein als die großen Leute; sie fühlen sich dann in ihrer Ehre gekränkt; man will sie aber nicht kränken, diese hilflosen und in manchem Betracht so überheblichen Wesen, und man will sie auch nicht beschämen.
Aber es gab noch andere Gründe, die Fanny zur Zurückhaltung bestimmten. Es geht nicht an zu schwatzen, wenn Drohungen an den Bruch des Schweigens geknüpft sind. Es wäre feig. Man muß es mit sich selbst abmachen; man hatte zu zeigen, daß man Verstand besaß und nicht gleich zu den Machthabern lief, um sich zu beschweren.
Der zweite Grund war der, daß sie die Abreise der Baronin schmerzte. Es war mehr ein dunkles Gefühl als ein Bewußtsein. Sie begriff natürlich: die Machthaber hatten unaufschiebbare Geschäfte; selten hatten sie Zeit; selten waren sie auf die wichtigen Dinge bedacht, immer nur auf solche, von denen sie sich in ihrer Verblendung einbildeten, daß sie wichtig seien. Nun, so mochten sie dafür bestraft werden und sehen, wo sie mit ihren Wichtigkeiten blieben. Fanny nährte eine kleine wunde Rachsucht heimlich in ihrem Busen. Sie hatte sich so angeschlossen an die Frau; sie liebte es, wenn sie bei ihr sitzen konnte, und man sprach gefällig miteinander; sie sah gern in die großen Augen der Frau, sich dabei fragend, weshalb sie so traurig seien; sie legte gern ihre Hand in die weiche kühle Hand der Frau; es war, wie wenn man in ein wohliges Versteck flüchtet und plötzlich vor Verfolgungen geborgen ist; eS war angenehm, der sanften, langsamen Stimme zu lauschen, angenehm, zu denken: Frau Baronin; fast als wäre es das zärtlichste Wort der Sprache. Warum ging also die Frau fort? Wäre man kindischer gewesen, als man glücklicherweise war, man hätte weinen können. Aber man wollte nicht weinen.
So ließ sie nichts von dem verlauten, was zwischen ihr und Anastasia geschah; sie verriet nicht einmal deren häufige Anwesenheit in der Gärtnerwohnung. Elisabeth fiel es nicht ein, Fannys Besuche bei Pohls zu beargwöhnen oder zu beeinträchtigen; die lahme Rosine war ein gutartiges und freundliches Geschöpf, auch der Baronin war sie lieb, und die Entfernung, die Fanny zurückzulegen hatte, betrug nur einige hundert Meter. Ungehindert konnte also Anastasia ihre Pläne verfolgen und ihr Netz auswerfen. Ein grobmaschiges Netz, ohne Zweifel; plump verfertigt, plump bedient; aber vielleicht wäre das geschickteste und feinste minder geeignet gewesen, gerade dieses Opfer zu umstricken. Stumpfe Werkzeuge erweisen sich oftmals brauchbar, wo schärfere Instrumente versagen würden.
Es war ein leichtes, das Kind beiseite zu ziehen. Die Pohl war in der Küche, der Gärtner bei seiner Arbeit. Es war ein leichtes, Fanny einzuschüchtern und sie glauben zu machen, daß ihre Verschwiegenheit von hoher Bedeutung sei. Es erregte Lust in Anastasia, wenn das Kind sie mit bestürzten Augen groß anschaute und die Bewegungen des Innern sich verräterisch an Mund und Wangen meldeten. Es war eine Genugtuung, wenn Fanny wiederkam und wiederkam, magisch gezogen wie ein Tierchen, das die Hand betrachten muß, die nach ihm greift. Ganz in Ordnung, daß sie ein wenig geduckt wird, sagte sich Anastasia, erfüllt von dem wesenlosen Neid der Kleinbürgerin; es geht ihr zu gut dahier; immer Hopsassa und Trallala; nicht notwendig, daß es ihr so gut geht.
Kunde von Ulrike, Kunde von Evelyn. Das war der Anfang. Die alte Ulrike grämt sich über den Undank, der ihr widerfahren, die arme Evelyn härmt sich wegen der treulosen Gespielin. Fanny hatte für dies letztere nur ein Achselzucken als Antwort; geriet sie auch in Unruhe über die Botschaft, so verachtete sie sie doch. Sie wußte wohl zu unterscheiden zwischen dem Märchen, in das man sich träumend selber hineinspinnt, und der Lüge, in deren Gebrauch diese großen Leute so wenig Scham und Zartsinn bewiesen.
Jedesmal verflocht sich die angenehm wehmütige Mahnung mit der schlimmen, zu Beginn zumindest. Ulrike und Evelyn, es war wie eines, obschon man sich fragen mußte, wie es kam, daß zwei solche Ungleichartigkeiten vergesellschaftet waren. Das hatte zur Folge, daß Evelyn in Fannys Achtung sank und in ihrem Herzen an Boden verlor, etwa wie jemand, der sich einer hinterlistigen Handlung schuldig gemacht hat. Sie wollte nicht mehr an die berückende Erscheinung denken, wenn sie nur in diesem Bündnis zu denken war. Das Bild umflorte sich und wurde trüb, so daß der Geist es abwies, auch in müßiger Stunde, in träumender Stunde, und es begab sich dabei das Befremdliche, daß Fanny erst mit verfließender Zeit und im Zurückschauen zur Empfindung des schaurigen Unbehagens gelangte, die sie in Ulrikes Nähe verspürt. Es war eine Abneigung, die sie sich nicht zugestanden und in angeborener Höflichkeit des Gemüts zu verhehlen bestrebt gewesen war. Erst jetzt überfröstelte es sie, wenn sie sich die Stunden in die Erinnerung rief, die sie mit Ulrike verbracht; erst jetzt stockte ihr der Atem, wenn sie sich der schnarrenden Stimme entsann, sich das Greinen und Raunzen, Blöken, Schmatzen und Tätscheln vorstellte, und die Heftigkeit des Tuns und Redens und das geheimnisvoll Einsame und Häßliche, das an ihr und um sie war. Je mehr die Gestalt Josephes mit ihrem innigsten Gefühl verschmolz, je eisiger wehte sie der Gedanke an die andre an, und sie ahnte dabei etwas vom feindlichen, ewigen Widerspiel der Elemente, besten Schauplatz auch die Menschenwelt ist.
Nicht zu begreifen, warum nun diese kam, die sich Frau Gentili nannte, so schönklingend, und kein Ende fand mit Übermittlung, Gruß und Fragen. Und dabei blieb es nicht. Sie brachte Gaben von dort: Silbermünzen von Ulrike, alte römische Münzen und einen Mariatheresientaler; dann einen Ring von Evelyns wächserner Hand, in den ein Türkis gefaßt war und der etwas Trauriges für Fanny hatte wie alle sehr alten Dinge. Was sollte sie mit den Münzen und dem Ring? Anastasia gebot ihr, sie zu verstecken. Sie sagte, es erwachse Unheil daraus, wenn jemand von den Geschenken erführe. Es seien zauberische Gegenstände, versicherte sie, jedes sei ein Talisman, Schutz gegen schlechte Träume, gegen den bösen Blick, gegen Armut und Krankheit. Ulrike habe sie alle besprochen; Ulrike habe Macht über die Träume, über die Menschen, über das Schicksal. Fannys Blick umschleierte sich und Anastasia sah, daß sie verstanden hatte, Grauen zu erwecken.
Die fünfzehnjährige Rosine war in mancher Hinsicht wie ein sechsjähriges Kind. Wenn Fanny ihr ein paar farbige Bänder brachte oder ein Schüsselchen selbstgepflückter Erdbeeren, war ihre Freude unbegrenzt. Die größte Freude bereitete ihr aber Fanny mit einer Schachtel voll bunter Steine, die sie noch aus Yverdon hatte. Sie schüttelte sie auf der Decke ihres Lagers aus, ließ sie bedächtig durch die Finger gleiten, und das konnte sie stundenlang tun, auch während Fanny und Anastasia neben ihr saßen. Anastasia konnte dann mit Fanny reden, ohne daß das Mädchen nur hinhörte, und sie versäumte die Gelegenheit mitnichten. Fanny wünschte sich, daß sie eine Schwalbe wäre und durch das Fenster davonzufliegen vermöchte, in die Höhe, in die Bläue des Himmels. Sie mußte aber unbeweglich sitzen und lauschen; und sie mußte kommen, wenn Anastasia da war, denn blieb sie einmal aus, so wuchs die Vorstellung des Schreckens zum Schrecken selbst und Anastasias Raunen von einer gewissen unheimlichen Gewalt, mit welcher Ulrike ausgestattet sei, wurde Wirklichkeit und Gegenwart. Elisabeth fand nach und nach die häufigen Besuche im Gärtnerhaus auffällig und ermunterte Fanny zu Ausflügen. Wie gern hätte Fanny gewollt! Elisabeth sah nicht und verstand nicht Fannys bittend auf sie gerichteten Blick, in den immer dringlicher glänzenden Augen vermochte sie nicht zu lesen. Sie hatte während der Abwesenheit Josephes viel in der Wirtschaft zu tun und war gezwungen, das Kind einen Teil des Tages sich selbst zu überlassen. Sie spürte wohl dumpf, daß etwas mit Fanny geschah, bemerkte die Versunkenheit, die Gespanntheit, die Scheu, die Erregbarkeit, die mangelnde Eßluft; sie schob es auf die schwüle Hitze; dann wieder auf tagelang dauernden Regen, dann darauf, daß die Baronin fort war; sie hatte jetzt Einblick gewonnen, wie sehr das Kind an Josephe hing. Da die Woytich ganz aus dem Gesichtskreis gerückt und von ihr auch nicht weiter die Rede war, glaubte sie von dieser nichts mehr befürchten zu müssen. Sie war eine sanguinische Natur und Erfahrungen überraschten sie stets, ohne daß sie fähig war, Nutzen aus ihnen zu ziehen. Fanny verwunderte sich über Elisabeths Unwissenheit und Ahnungslosigkeit. Auch dies gehörte zu den Rätseln in der Handlungsweise der Machthaber, daß sie immer jammerten, wenn etwas Schlimmes geschehen war, aber sich niemals befleißigten, ihm vorzubeugen und es beizeiten zu erkennen. Sie wunderte sich, daß die Baronin so lange ausblieb, und begann an ihrer Zuneigung zu zweifeln, in der sie sich so geschützt erschienen war. Dadurch fühlte sie sich gelähmt in ihrem Innern, sonst hätte sie sich vielleicht hingesetzt und an die Baronin geschrieben: wenn du mich ein wenig lieb hast, Frau Baronin, so komm bald. Sie erwog es bisweilen in der Stille der Schlafensstunde, aber einmal dünkte ihr ein solcher Schritt zu verwegen, und dann, von Tag zu Tag mehr umstellt, verlor sie im Dunkeln auch diesen Weg.
Von ihrem bösen Instinkt geleitet, der unter dem Druck der Umstände eine hellseherische Kraft erlangte, begann Anastasia eines Tages mit Fanny auf einmal von ihrer Mutter zu sprechen. Das Kind zuckte zusammen wie bei einem Stich in den Rücken. Da wußte Anastasia, daß sie auf der richtigen Fährte war, und alsbald erdichtete sie ein geheimes Einverständnis zwischen Ulrike und Fannys Mutter. Um ihre Geschichte ungestörter entwickeln zu können, zog sie das Kind in die Ofenecke; sie mußte einige Zeit warten, da Frau Pohl kam und sich im Zimmer zu schaffen machte; währenddem ließ Fanny, die bis an den Hals erbleicht war, kein Auge von ihr.
Die Mutter! Wehes Wissen um Niedriges, Würdeloses, Schamloses; nie hatte sie anderes von ihr erfahren als verächtliche Gleichgültigkeit, nörgelnden Tadel, ungerechten Vorwurf, gehässigen Schimpf. Man war ihr im Wege gewesen, man hatte Geld gekostet, Erwartungen, die nur höhnisch angedeutet wurden, nicht gerechtfertigt, man hatte sich als Gegenstand ewigen Zankes und Verdrusses zwischen ihr und dem Vater gefühlt, für den ein Funke schmerzlicher Liebe in ihrer Brust glomm; durch sie war man ausgestoßen worden aus dem Kreis der Obsorge, durch sie verwunschen und verwünscht. Erst seit Fanny in den lichteren Bezirk getreten war, wußte sie es mit Sicherheit; vorher hatte sie sich mit allen Kräften ihrer lichten Natur bloß aufgebäumt dagegen. Sie erinnerte sich des sonderbaren Fröhlichkeitstaumels an jenem Abend, als Elisabeth gekommen war, sie aus der verlassenen Wohnung zu holen. Die Mutter fort! Also die Strafe fort, die Mißbilligung fort, die Schmähung fort, die Kränkung fort, die Finsternis fort. Es hatte wehgetan, mitten im wilden Toben noch, aber es war zugleich, als spürte sie sich selbst nicht mehr, so leicht war ihr ums Herz. Dies geheime Fürchten und Leiden ließ einen verborgenen Kern von Melancholie nie ganz hinschmelzen, wie golden auch die Bahn des Lebens sich breitete.
Anastasia berichtete: wie Fanny ja nun zur Genüge bemerkt habe, herrsche zwischen der Baronin und Ulrike ein uralter Haß. Ein ebenso alter und ebenso unversöhnlicher Haß bestehe zwischen der Baronin und Fannys Mutter. Darüber mehr zu verraten, sei ihr nicht möglich; es habe seine Ursachen, eines Tages werde Fanny sie kennen und verstehen lernen. Als nun Fanny in das Haus der Baronin gekommen und Ulrike es erfahren, habe sie es Fannys Mutter mitgeteilt, deren Aufenthalt ihr bekannt gewesen, wie ihr alles bekannt sei, wovon die meisten Menschen nichts wüßten. Die Mutter sei in hellen Zorn geraten, sei sofort nach Wien zurückgekehrt, um Fanny aus dem Melanderischen Haus zu holen, und habe dann, als sie sie nicht mehr vorgefunden, der Baronin einen bösen Brief geschrieben und verlangt, Fanny solle auf der Stelle zur Ulrike gebracht werden, auf die halte sie große Stücke und außerdem wünsche sie, Fanny bei sich zu haben. Darauf sei die Baronin gleich nach Wien gefahren, um mit Fannys Mutter gütlich zu reden, und dies sei der wahre Grund ihrer Reise. (Hier seufzte Fanny tief auf; es war eine Gloriole um die Baronin, und sie leistete ihr im stillen Abbitte wegen ihrer Zweifel und ihres Grolls.) Die Anstifterin der ganzen Sache sei Ulrike und nur Ulrike, schloß Anastasia düster nickend ihre Erzählung, denn sie habe kein anderes Ziel im Auge, als daß die Baronin ihr Fanny überlasten müsse.
»Warum denn? warum denn?« hauchte Fanny.
»Was fragst du da?« erwiderte Anastasia kichernd, »mußt es doch wissen, du Thaddädl; weil sie dich halt liebhat.«
Dieses Wort, liebhaben, in solchem Zusammenhang, und das Kichern dazu; es wurde Fanny ganz kalt am Leibe. Sie sann und sann, und ahnungsvolle Angst umgitterte ihr Herz. Gegen Abend schlich sie in einen abgelegenen Teil des Parks und vergrub die Münzen und Evelyns Ring so tief in den Boden, wie sie hineingelangen konnte. Als sie fertig war, warf sie die kleine Schaufel weg, die sie mitgenommen hatte, verschränkte die Hände im Nacken, sah mit begierdevollen Blicken auf den Gipfel im Westen, der ihre Phantasie schon so lange entzündet hatte, und sagte aus tiefer Brust: »O Berg! o Berg!«
Inzwischen war Ulrike immer ungeduldiger geworden, und mit einer Wut, die etwas Irres hatte, forderte sie von Anastasia, daß deren Bemühungen und Laufereien endlich ein Ergebnis zeitigten. Sie müsse das Menschlein sehen, müsse mit ihm reden, das daure ihr zu lang, für so viel Umstände habe sie nicht Zeit, dafür gebe sie nicht einmal einen Löffelstiel, geschweige denn ein ganzes Silberservice. Jeden Tag müsse sie das Menschlein sehen, einmal wenigstens jeden Tag, sie habe ein Anrecht darauf, ein natürliches Anrecht sogar. Sie wolle es dieser hölzern-stolzen Josephe schon eintränken, wer die Woytich sei, falls sie es vergessen haben sollte, und wer sie einst gewesen sei, falls sie nicht die Gewogenheit haben sollte, sich zu erinnern. Sie möge sich nur erinnern, daß der selige Freiherr, wie er als verhungertes Studentlein nach Wien gekommen, ihr Liebhaber gewesen, ihre Kreatur gewesen, und wenn er irgendwem seine Freiherrnschaft und sein Geld und sein Ansehn zu verdanken gehabt, so sei das sie, sie, sie, Ulrike Woytich, und niemand sonst auf der Welt.
So schäumte sie und hatte alle Gewalt über sich verloren. Kalt und entschlossen sagte Anastasia, wenn sie ihr das versprochene Silber heute noch gebe, werde sie sie morgen mit der Fanny zusammenbringen, und zwar werde sie es in der Weise einrichten, daß sie Fanny unter dem Vorwand, sie habe ihr eine wichtige Neuigkeit mitzuteilen, in das gute Zimmer der Pohls locken werde; Ulrike solle schon vorher am Haus sein, und wenn Anastasia zum Fenster trete und an die Scheibe klopfe, sei das ein Zeichen, daß Ulrike hereinkommen solle. Ulrike erkundigte sich aufgeregt, ob das Menschlein auf jeden Fall zugegen sein werde; Anastasia antwortete, da sei kein Zweifel möglich, und sie durfte ja auch ihrer Sache gewiß sein, denn für das in die äußerste Bangigkeit versetzte Kind gab es kein Entrinnen mehr. Fanny wollte hören, immer Neues hören, selbst wenn ihr dabei das Herz verging.
Die Schwestern verhandelten noch eine Weile und schließlich mußte Ulrike in die Forderung willigen; unter vielem Stöhnen und Seufzen und nach letzten Versuchen, eine Frist zu gewinnen, schleppte sie das schwere Behältnis herbei und öffnete es. Anastasia war von dem strahlenden Anblick geblendet; in ihrer überschwenglichen Freude küßte sie der finster starrenden Ulrike die Hand und brachte den Schatz sogleich in Sicherheit.
Fanny träumte in dieser Nacht von Spinnen. Unzählige gelbe Spinnen waren in einen Knäuel verbissen, und sie wußte mit Trauer und Ekel, daß es der Haß war, der das greuliche Unwesen hervorrief. Haß: das Wort hatte einen furchtbaren Sinn erhalten, seit Anastasia es ausgesprochen, ja es war seitdem erst vorhanden. Menschen haßten einander: unbegreiflich! dann war es ja viel schwerer zu leben, als sie geglaubt; was konnte es fruchten, daß man bisweilen glücklich war, wenn es Haß gab? Im Verfolg des Traumes erschienen zwei Gestalten in beständigem Wechsel, zwei, die eins waren: die Mutter; aber sie hatte Ulrikes Gesicht; Ulrike; aber sie hatte das Gesicht der Mutter. Alles war vertauscht, fern und nah, außen und innen, Gehorsam und Trotz, Erinnerung und Ahnung, Welt und Gefühl von ihr, alles war ineinandergewühlt wie die gelben Spinnen.
Als Elisabeth am Morgen mit der Schokolade an Fannys Bett trat, stutzte sie und fragte, ob ihr etwas fehle. Die morgendliche perlende Heiterkeit des Kindes, die sie so oft entzückt hatte, war einem müden Sinnen gewichen. Die Augen waren umrändert. Fanny sagte, ihr fehle nichts. Sie erhob sich, wusch sich, kleidete sich an; draußen leuchtete die Sonne, der Hahn krähte, die Amsel rief sehnsüchtig, die Linde duftete, in der Natur war etwas gelassen Festliches, aber es war weit weg für Fanny, sie konnte es nicht sehen und spüren. Sie berührte das Frühstück kaum, auch mittags nippte sie nur von den Speisen, Elisabeth beobachtete sie mit Sorge und fragte wieder und wieder. Nach Tisch stand sie lange am Brunnentrog vor der Remise und schaute den gefangenen Forellen zu, die schwer und dumm in dem Bottich durcheinanderschwammen. Dann ging sie ins Gärtnerhaus, von ihrer unbesieglichen Unruhe getrieben, von ihrem Traum befehligt, vom Wachen gewarnt, zwischen quälender Neugier und quälender Abwehr schwankend.
An der Rückseite des Pohlschen Hauses, durch eine Johannisbeerhecke gegen Blicke geschützt, ging Ulrike auf und ab wie ein Soldat auf Posten. Die Kopfbedeckung war auf den Scheitel zurückgeglitten; es war die mit der Hahnenfeder; die Haare flatterten im leichten Wind struppig um das leidenschaftlich-verwühlte Gesicht, die Hände griffen an ihrer Gewandung herab, bald da-, bald dorthin. Sie wartete schon ziemlich lange; schon zweifelte sie mit Wut, ob man die Verabredung halten werde, und grübelte fieberhaft darüber nach, was sie tun, was sie sagen sollte, wenn sie vor dem Kinde stand. Das anfänglich Beabsichtigte und nach allen Richtungen Erwogene hielt nicht Stich; den Betrug aufdecken, die unlauteren Machenschaften der Josephe entschleiern, das ging nicht an, das war zweischneidig; denn erfuhr das Kind, daß die Baronin seine Großmutter war, so entstand die Gefahr, daß eine Bindung und Verpflichtung sich erst geltend machte, die man bis zur Stunde von Fanny aus nicht zu fürchten gebraucht. Am besten, nichts zu denken und nichts zu überlegen und sich dem Augenblick anzuvertrauen. Im Grunde war es so, daß Ulrike durchaus nicht wußte, was zu geschehen hatte, was aus diesem von ihr mit einer Art von Raserei herbeigewünschten Beisammensein erfolgen sollte und warum sie es herbeigewünscht hatte. Trieb; unbekannt wohin gerichteter, brodelnder, lichtloser Trieb.
Da wurde ans Fenster gepocht. Sie ging durch den engen Flur, Anastasia schob sie über eine Schwelle und verschwand. Vor ihr stand Fanny, starrte sie mit aufgeriffenen Augen an und zitterte wie Espenlaub. Die goldenen Haare hingen rings um Haupt und Schultern bis auf die Hüften herab, und die stumme Bestürzung gab dem Gesicht einen so edel-hilflosen Ausdruck, daß Ulrike ein Schwindelgefühl verspürte und zum erstenmal gleichsam feurig-erschreckt die wahre Beschaffenheit von dem erahnte, was in ihr vorging und wovon sie erfüllt war. »Na grüß Gott, du Krispingerl, grüß Gott!« rief sie mit heiserer Stimme und breitete die Arme aus; »ist das die Manier, wie man eine gute alte Freundin traktiert? Heimliche Zusammenkünfte muß man mit dir Narrenfrack veranstalten, damit man dich nur zu sehen kriegt? schämst du dich nicht, du Racker, du elendiger? gleich kommst her und gibst mir einen Kuß! Na, wirds bald? wirds bald?«
Fanny rührte sich nicht. Und es geschah das Grausige, daß Ulrike Woytich, siebenundsechzig Jahre alt geworden, ohne je geweint zu haben, in Tränen ausbrach. Die Tränen flossen aus ihren Jet-Augen über die braunen, verrunzelten Wangen, und unartikulierte Laute im Mund würgend, taumelte sie auf Fanny zu, schloß sie in die Arme wie in einen Schraubstock, und als sie den zarten jungen Körper umfaßte, all diesen leibgewordenen Duft und Glanz, kam eine Besessenheit über sie, die wie Mordlust war, ein Zärtlichkeitsrausch, der an Wahnsinn grenzte. Sie fiel auf die Knie, strich mit den Händen ungezählte Male über das golden-seidene Haar, fletschte die Lippen und stammelte, bettelte, fluchte, und der Speichel rann aus den Mundwinkeln, und in ihrer Brust schrie es unaufhörlich: haben! haben! haben! dieses Grundwort ihrer Sprache, ihres Daseins, das sie nun in ihrer Tobsucht und Erbitterung ahnungsvoll auf den Gipfel seines Sinnes trieb.
Es gab nichts, in keinem Angst-Traum, in keiner nächtigen Phantasie an der Wende des Bewußtseins, das an Fannys Entsetzen auch nur hingereicht hätte. Zuerst faltete sie beschwörend und abwehrend die Hände. Dann wimmerte sie leise und suchte sich der Umschlingung zu entziehen. Alles, von dem erschreckenden Weinen der Frau angefangen bis zu der Körpernähe; der Tabak- und Modergeruch ihres Kleids, der heiße, unreine Atem, die verzerrten Züge, die unverständlichen, drohenden, geifernden, kosenden Worte, alles war so schauerlich, daß ihr die Seele erstarb und eine gelblich gefleckte Schwärze um sie war, als sie die Augen zumachte. Wie in einem offenbarenden Blitz begriff sie, daß die Geschichte mit der Mutter eine Lügengeschichte war; aber dann war das Leibhafte, Schall und Bild und Ertastetes und Ertastetwerden um so höllisch-gräßlicher. Sie schrie nicht, sie erlag; es kam ein fiebriges Verlangen über sie, an die Oberfläche zu kommen: als ob sie unter Wasser sei. Dies verzehnfachte ihre Kraft; sie entwand sich mit einem Aufseufzen des ganzen Körpers, weiß im Gesicht wie mit Kreide überstrichen. Und während Ulrike noch auf dem Boden kniete und plappernd vor sich hinsagte: »Ich hab Schmuck für dich, Edelsteine hab ich für dich, hab sie dir mitgebracht, wart doch nur, in meiner Tasche sind sie, hör doch zu, Grasaffe, deine Milliönchen will ich dir retten, bleib doch da, bleib doch da …« war Fanny schon in jagender, flammender Eile aus dem Zimmer entflohen.
Sie lief, lief, lief. Das Entsetzen trug sie wie Sturm. Gegen den Wald rennend wie ein Reh, sah sie Bauern auf der Wiese mähen. Sie wechselte im Lauf die Richtung. Da tauchten Touristen auf, und sie kehrte um. Nach einer Zeit sah sie das Eckernhaus dicht vor sich. Sie war im Kreis gelaufen. Ohne bemerkt zu werden, huschte sie ins Tor, die Stiege hinan, auf den Dachboden. Sie warf sich auf einen Strohsack im Winkel, mit dem Gesicht nach unten. Das rasende Herz erstickte sie beinahe mit seinem Pochen. Der Luftraum heulte mit der Stimme der Alten, die Gewänder an der Haut fühlten sich an wie feuchte Spinnweben, die Lider brannten, die Schultern preßten sich eng, als stäke man in einer Tonne, alles zitterte und bebte an ihr und in ihr und kalte kurze Schauer zuckten über den Nacken. Gestern noch, vor einer Stunde noch, was für ein liebenswertes Leben war es gewesen, trotz allem noch gesättigt mit heimlichen Freuden und mancherlei guten Erwartungen; nun wars anders, und die Welt lag da wie ein toter Fisch. Das Entsetzen wollte nicht mehr vergehn, die Scham nicht weichen, messerscharf bohrte es in der Brust, jeder Gedanke war Abscheu und Angst. Sie schluchzte in das Stroh hinein, das Schluchzen verfuhr mit ihrem kleinen Körper wie mit einem Gummiball; sie biß in ihr Haar, sie sehnte sich mit aller Macht ihrer Seele nach einem nie mehr auffindbaren Versteck, der Kummer, den sie empfand, trug Menschen und Tiere, Traum und Spiel von ihr weg und ließ sie zurück in vollkommener Einsamkeit und in Schuld und im Gefühl des Vergewaltigtseins und in unaussprechlicher Furcht.
Die Strohhalme, die aus dem groben Stoff ragten, stachen sie, und sie legte sich auf den Rücken. Lange Zeit lag sie so und rührte sich nicht, da fiel ihr Blick durch das Dachfenster am Ende des Raums gerade auf den Berg, ihren Berg, der im Sonnenglast zum Himmel wuchs und wie das bärtige Gesicht eines Greises von erhabener Schönheit und göttlich-ungeheurer Form anzusehen war. Ihr Auge blieb dort haften, und der Aufruhr im Innern milderte sich. Sie dachte sich aus, daß der Berg sie gnädig und leutselig aufnehmen würde, wenn es keinen andern Weg mehr für sie gab; daß sie nur zu ihm gehen und ihm ihr Herzleid zu klagen brauchte, und er würde ihr eine seiner verborgenen Wunderhöhlen öffnen, darin konnte sie verzaubert leben, prinzessinnenhaft, um zu den Menschen erst dann wieder zurückzukehren, wenn das Entsetzliche nicht mehr zu fürchten war, wer weiß, in wie viel hundert Jahren. Bis auf seinen obersten Grat wollte sie steigen, dem geheimnisvollen Geist zunächst, der ihn bewohnte, da war man in Sicherheit. Und so durchdrungen war sie von der freundlichen Gesinnung des Berges, daß ihr Gemüt sofort eines Teils seiner Last entledigt war, obschon die Vorstellung traurig machte, daß sie von der Baronin würde scheiden müssen.
Auf einmal hörte sie leise Musik, herrliche Töne, die vom Hause unten zu ihr drangen. Sie richtete sich empor und lauschte. Die Klänge wurden immer schöner, immer süßer. Auf Zehen schritt sie zur Bodentür, da vernahm sie es stärker. Von einer seltsamen frommen Neugier unwiderstehlich gezogen, ging sie Stufe um Stufe hinab, den Flur entlang, blieb an Valerians Türe stehen, lauschte trunken, mit einem trunkenen Cherubslächeln, denn dergleichen hatte sie nie gehört, öffnete die Tür wie bewußtlos, trat ein, schloß die Tür ohne Laut und verharrte still, mit dem trunkenen Lächeln auf den Lippen.
Valerian hatte ihr den Rücken zugekehrt. Die Fenster waren geschlossen, die Rolläden der Hitze wegen herabgelassen, so herrschte eine etwas dumpfe Nachmittagsdämmerung in dem Raum. Auf dem Teppich war eine riesige Himmelskarte ausgebreitet, daneben waren Bücher gestapelt, und auf der Karte lag ein Zirkel und ein Winkelmaß. Bei einer Drehung des Kopfes gewahrte Valerian das Kind an der Tür und brach das Spiel jäh ab. Den Bogen in der Rechten sinken lassend, die Geige in der Linken, ging er auf Fanny zu und schaute sie finster an. »Wer hat Ihnen erlaubt, hier einzudringen, mein Fräulein Fanny?« fragte er streng. Und mißbilligend fügte er hinzu: »Sie sehen übrigens zerzaust genug aus. Wo haben Sie denn gesteckt? Und verweint, mir scheint gar, verweint. Weshalb denn verweint?«
Fanny senkte beschämt den Kopf und schwieg. Wenn er doch wieder spielen wollte, dachte sie innerlich mit einer Inbrunst, als hinge alles künftige Glück davon ab, daß der Wunsch sich erfüllte: wenn er doch wieder spielen wollte!
Aber de Groot legte das Instrument auf den Tisch, pfiff leise vor sich hin und kauerte sich auf den Teppich nieder. »Es besteht freilich vieler Grund zum Weinen«, sagte er, indem er den Zirkel nahm und die Nadel auf einen Punkt der Karte spießte, »vieler und ausreichender Grund. Aber sehen Sie, mein Kind, dahier ist eine Welt«, er deutete auf die Karte, »bei deren Erforschung der Mensch zu wohltätigem Staunen hingerissen wird, und Staunen, merken Sie sich das, Staunen ist ein Allheilmittel. Zwei Dinge gibt es, die uns vor der Verzweiflung bewahren: den Sternenhimmel und die Kunst.«
Seine skurrile Redeweise rief in Fanny lediglich Unruhe hervor. Sie verstand nicht, was er sagte. Sie wußte nicht, daß er, zornig über die Störung und Belauschung, seinen Ärger in gravitätisch-gallige Wendungen kleidete, nicht milder gestimmt dadurch, daß ein Kind die Schuldige war. Und Fanny dachte mit gleicher Inbrunst: lieber Gott, mache, daß er wieder spielt, das soll dann ein Zeichen für mich sein, daß alles wieder gut wird.
»Kommen Sie her, Fanny«, befahl Valerian. Sie trat gehorsam an den Rand der Karte wie an das Ufer eines blauen Sees. »Da ist ein Sternbild: die Lyra«, sagte er; »und da ist ein Sternbild: Cygnus, der Schwan. Nachbarn, wie Sie sehen. Und wenn sie Arm in Arm über das Firmament wandelten, die beiden, das Funkeln in den Augen des Schwans und das Blitzen in den Saiten der Lyra ist durch eine Millionenkette von Jahren voneinander geschieden. Die Sonnen da und die Sonnen dort sind keine Brudersonnen, der Ruf und Strahl von einem zum andern stirbt in der Eisnacht der Unendlichkeit. Verstanden? Nein? Schade. Sehen Sie mich hier liegen? Ich bedecke den ganzen Himmel von der Virgo bis zur Andromeda und zu den Fischen. Ein Wurm breitet sich über das Universum und glaubt es zu besitzen.« Er lachte dröhnend und schüttelte die Mähne.
Fanny blickte ihn flehentlich an, und sie beugte sogar ihre Knie ein wenig, als sie mit leiser Stimme sagte: »Bitte, bitte, spiel doch noch etwas auf deiner Geige, bitte, bitte.«
Er erhob sich, plötzlich ernst geworden, sah Fanny verwundert an, und als er antworten wollte, wurde an der Tür geklopft. Elisabeth öffnete und stürzte mit einem Aufschrei zu Fanny. »Da bist du ja, da bist du ja, Gott sei Dank!« rief sie mit einer ihr sonst fremden Exaltation; »seit drei Stunden bin ich in der schrecklichsten Angst.« Fanny stand mit gesenktem Kopf. Valerian räusperte sich, und seine peinlich berührte Miene gewahrend, bat ihn Elisabeth mit zahllosen verwirrten Worten um Entschuldigung. Dann wandte sie sich wieder Fanny zu, um sie auszufragen, dann abermals de Groot, um zu erzählen, was sie erlebt.
Gegen fünf Uhr war sie zu Pohls gegangen, weil sie Fanny abholen und mit ihr einen Wagen für die Frau Baronin bestellen wollte; die Frau Baronin habe nachmittags telephoniert, daß sie um neun Uhr ankommen werde. Fanny sei nicht bei Pohls gewesen. Der Gärtner, der eben Kaffee trank, sagte ganz harmlos, sie sei wahrscheinlich mit dem Fräulein Woytich fortgegangen. Was, ums Himmelswillen, das Fräulein Woytich hier bei euch? hatte Elisabeth ausgerufen. Der Gärtner wunderte sich über ihre Aufregung und bestätigte, daß er die Woytich kurz vor vier Uhr draußen gesehen und sich gedacht habe, sie warte auf ihre Schwester. Bei dieser Gelegenheit erfuhr also Elisabeth zu ihrem Kummer und Schrecken von Anastasias regelmäßigen Besuchen. Sie überschüttete das Ehepaar mit Vorwürfen, vermochte ihnen aber nichts zu erklären und ließ die Leute fassungslos zurück, um Fanny zu suchen. Sie irrte auf dem Gut herum, dann rief sie im Haus nach ihr, eilte durch sämtliche Zimmer und entschloß sich endlich in ihrer Angst, ins Ried zu laufen. Es war halb sieben, als sie dort ankam. Unten im Garten war Frau Gentili beschäftigt, ein Beet umzugraben. Elisabeth, dem Umsinken nah, fragt nach Fanny. Anastasia, schnippisch, doch sichtbar voll schlechten Gewissens, erwidert, hier sei keine Fanny. Auf einmal wird oben ein Fenster aufgeriffen, der Kopf der Woytich erscheint, und in der Hand schwenkt sie ein Stück Papier. Sie ist nicht fähig, einen Laut aus der Kehle zu würgen. Man sieht ihr an, daß sie alle Besinnung verloren hat. Elisabeth sagt sich, es muß eine Depesche sein; der Telegraphenbote ist zugleich mit ihr selbst in die Villa gegangen. Da schreit auch schon die Woytich mit einer Stimme, als wolle sie Tote aufwecken: Dein Philipp hat sich umgebracht! Anastasia läßt die Schaufel aus der Hand fallen und ist versteinert. Elisabeth steht da und weiß nicht, was beginnen. Nach einer Weile läuft die Magd aus dem Haus und ruft Anastasia zu: »Das Fräulein Ulrike fährt heut Nacht noch nach Wien, und Sie fahren doch natürlich mit. Also machen Sie schnell. Hab mirs immer gedacht, daß es mit dem Philipp kein gutes Ende nimmt. Da haben wir die Bescherung.« Frau Gentili wankt ins Haus, Elisabeth wendet sich an die Magd und beschwört sie, ihr zu sagen, ob sie nichts von Fanny wisse, ob Fanny vielleicht oben sei. Die Person zuckt die Achseln und entgegnet barsch, während vom Zimmer ein unheimliches Geheul herunterdringt, das fehle ihr noch; wenn die, sie gebrauchte einen rohen Ausdruck, sich noch länger dahier mausig gemacht hätte, wärs ihr übel ergangen; mit fremder Leute Kinder wolle man nichts zu tun haben, und eigene besitze man glücklicherweise nicht. Da war Elisabeth verzweifelt zurückgekehrt. »Wie ich herübergekommen bin, das weiß ich nicht«, schloß sie und drückte Fanny in die Arme, »und da Herr de Groots Zimmer das einzige war, wo ich nicht nachgeschaut, hab ichs gewagt, anzuklopfen.«
Die ganze Zeit über hatte Valerian nicht seine Blicke von Fanny abzuwenden vermocht. Er konnte sich nicht Rechenschaft darüber geben, was ihn an dem Gesicht faszinierte. Selten hatte er Bewegungen des Gemüts so wundersam beredt sich auf einem Antlitz spiegeln gesehen. Bei der Erzählung von den Worten der Magd: »Das Fräulein Ulrike fährt heut Nacht noch nach Wien« ging ein Leuchten von Glück über ihre Züge, das ihn ergriff wie eine bezwingende Melodie. Es war eine vollkommene Verwandlung in dem Gesicht; das rätselhafte Widerspiel zwischen der Kunde von einem jähen Tod und dieser seltsam unschuldigen Freude gab ihm zu denken, ohne daß er gerade Lust verspürte, sich durch Fragen Aufschluß zu verschaffen; das war nicht seine Art.
Beim Abendessen berichtete Elisabeth noch eine Menge Einzelheiten über ihr Abenteuer, und ihre Geschwätzigkeit ermüdete de Groot. Namentlich über das Wesen und Betragen der Magd verbreitete sie sich ausführlich und sagte, ein so böses Weib sei ihr noch nie vor Augen gekommen, sie habe sich gefürchtet wie vor einer richtigen Hexe.
»Ich denke, da schießen Sie wohl weit übers Ziel«, bemerkte Exzellenz Herbst, »die meisten sogenannten bösen Menschen sind nur dumm, ganz einfach dumm.«
De Groot sagte: »Wenn das ein Milderungsgrund sein soll, so ist es ein vernichtender, Exzellenz. Immerhin sprechen Sie von einer Majestät. Ehrfurcht, Ehrfurcht! Platz für Ihre Majestät, die Dummheit, mächtigste aller Potentaten! Gegen diese Herrscherin hat noch niemand einen Krieg gewonnen, die hält uns alle in Knechtschaft und Steuer, und sie kümmert sich den Teufel drum, ob wir da Musik machen oder die Bahn eines Kometen errechnen oder die Tiefen des Ozeans erforschen oder die Brüder Karamasow schreiben; sie zerquetscht uns wie Fliegen, wenn wir zu lästig werden mit diesen Sachen und grinst ruppig, wenn wirs uns sauer werden lassen, sofern sie überhaupt von uns Notiz nimmt, was schon eine Besonderheit ist. Ihr Wohl, Exzellenz, Ihr Wohl, mein Fräulein Fanny.« Er erhob sein Glas.
Nach beendeter Mahlzeit bot er Fanny ritterlich den Arm und verließ mit ihr das Zimmer. Sie lachte froh zu ihm empor. Sie sah sehr vornehm aus in ihrem zitronengelben Musselinkleidchen, das den stengelzarten Hals frei ließ, und bewegte sich mit sanftem Abstand. Es schien Valerian, daß sie in der letzten Zeit sanfter geworden sei.
Sie gingen auf der kiesbestreuten Terrasse vor dem Haus auf und ab. An einem metallenen Ständer brannte eine elektrische Lampe. Es war einer jener Tage gewesen voll schwül drohenden Ansichhaltens der Natur, das im Flug der Vögel wie in der Form der Wolken sich verkündet und zu Entladungen zu drängen scheint wie die Gase in einem überhitzten Kessel. In der Tat berichteten die Salinenarbeiter, die vom Berg kamen, Fannys Berg, daß der ganze Südgipfel des Massivs in den Nachmittagsstunden zusammengebrochen sei und sich als unübersehbare Steinlawine das Tal hinunter gegen den Fluß Bahn geschaffen habe, Wälder wie Grashalme knickend und unter sich begrabend. Die Leute sagten, die Erscheinung habe ihre Ursache vielleicht darin, daß während der letzten Regengüsse die alten römischen Stollen im Innern des Berges eingestürzt seien und so das darauf ruhende Felsengeschiebe seiner Stützen beraubt habe.
Dieser Vorgang war auch die Ursache des dumpfen Rollens, das Valerian und Fanny von Zeit zu Zeit aus der Ferne vernahmen, und das ganz anders wie Donner klang. Denn der Berg war noch nicht zur Ruhe gekommen. Mehrmals blieben sie stehen und lauschten. Valerian, nach den ersten aufschimmerden Sternen blickend, meinte, der Himmel umzöge sich, und die übergroße Stille unten deute auf heftige Strömungen oben. Plötzlich gab Fanny einen leisen Schmerzensruf von sich; Valerian fragte, was ihr sei, da lachte sie vor sich hin und antwortete: »Mein Schatten hat sich am Baum gestoßen.« De Groot legte beide Hände auf ihre Schultern und schaute sie erstaunt an, ohne etwas zu sagen. Und da ihre Augen wieder jenen flehentlichen Strahl zu ihm sandten, jenes dringliche Bitten, das mißzuverstehen ihm unmöglich war, schüttelte er den Kopf wie jemand, der ungern nachgibt, aber keinen andern Weg sieht als nachzugeben. Er führte sie hinauf in sein Arbeitszimmer, hieß sie sich still in eine Ecke setzen, nahm Geige und Bogen aus dem Kasten und fing in der Dunkelheit zu spielen an.
Fanny, das Kinn auf der Brust, die Hände im Schoß, war zum Bilde geworden; lautlos saß sie da, ein lichter Fleck im dunkeln Raum. Jetzt muß alles wieder gut werden, dachte sie beseligt.
Draußen im Korridor hatten sich sämtliche Bewohner des Hauses versammelt. Auch Josephe, die eben aus dem Wagen gestiegen war, stand trotz ihrer Müdigkeit mitten unter ihnen und hörte zu.
Und wie er vor einem Menschenalter als Kind einem Greis vorgespielt, so spielte er jetzt als alternder Mann einem Kinde vor. Die Wiederkehr stand vielleicht in den Sternen geschrieben, darum hatte er sich gefügt.