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Derweil hatte Ulrike Woytich unten im Gartensalon in einem der bequemen Fauteuils Platz genommen, nicht ohne einiges Ächzen, denn der lange Weg in der Sonnenhitze hatte sie angestrengt. Zuerst war sie rings um das Haus herumgegangen, hatte keinen dienstbaren Geist gefunden und laut zu schimpfen begonnen. Hiedurch hatte sie das Mißfallen des Hundes erregt, der aus der Remise hervorschoß, es war ein mutiger schwarzbrauner Dobermann, und sie tadelnd anbellte. Natürlicherweise versetzte sie dies in Zorn, und sie hatte sich eine gute Zeit mit dem Hund herumgestritten und auf ihn eingeschimpft, bis die Jungfer erschien und das Tier verscheuchte. Ulrike hatte sich unterdes in den offenstehenden Salon verfügt, und als die Jungfer ihr folgte, sagte sie: »Mein hübsches Kind, bringen Sie mir vor allem ein Glas Wasser und ein Butterbrot, sonst habt ihr im Handumdrehn eine Leiche im Haus.«
»Wen darf ich melden?« forschte die Jungfer steif, ohne Miene zu machen, den eigentümlichen Befehl auszuführen.
»Erst schaffen Sie herbei, was ich verlangt habe«, zeterte Ulrike, »dann melden Sie der Frau Baronin, daß das Fräulein Woytich da ist.«
Die Eingeschüchterte verschwand, und in der Tat kam nach einigen Minuten eine zweite Dienerin mit einer Platte, auf der sich ein Glas Wasser und ein Stückchen Bäckerei befand. Zugleich aber erschien die Jungfer wieder und richtete die Worte Josephes aus. Dies beirrte Ulrike einstweilen nicht im mindesten. Sie trank das Glas in einem Zuge leer und knabberte an dem Backwerk mit dem Vergnügen eines Menschen, dem solcher Genuß seit Jahren versagt war. Angetan war sie mit einer alten Mantille, einem ehemaligen Staatsstück, das jedoch mit seinen rostig angelaufenen Pailletten und sonstigem überflüssigem Behängsel aller Mode Hohn sprach. Auf dem Kopf saß ihr ein sonderbares Zwitterding, ein Gemächte aus Stahldraht, versehen mit mehrfarbigem Aufputz und Metallspangen. Die Jungfer stand vor ihr und betrachtete sie unfreundlich. Ulrike hatte auf den überbrachten Bescheid nichts geantwortet; sie wollte offenbar Zeit gewinnen. Da wurden Schritte laut, ein Schatten fiel auf die Schwelle, und im weißen Leinenanzug, schlank, bedächtig, eine Zigarette zwischen den Lippen, trat Valerian ein. Er hatte nur durchgehen gewollt, es war der kürzeste Weg in seine Räume, blieb aber stehen, als er den fremden Gast gewahrte, und verbeugte sich höflich-kühl. Sofort erhob sich Ulrike mit allen Zeichen ehrerbietiger Freude. »Herr de Groot, wenn ich nicht irre«, sagte sie, auf ihn zutretend. Er verbeugte sich abermals, nicht minder höflich und kühl. Die Jungfer ging zögernd, und Ulrike überschüttete nun de Groot mit einem Schwall von Worten, dem dieser unbeweglich lauschte: sie habe natürlich von der Anwesenheit des berühmten Mannes auf Eckern gehört; das Ereignis habe ja in der ganzen Gegend Aufsehen gemacht; sie selbst als glühende Verehrerin der Musik, o eingefleischte Musiknärrin dürfe man sagen, sei sie doch im Verlauf ihres langen Lebens mit allen Koryphäen des Klaviers, der Geige, des Orchesters und der Partitur bekannt geworden, sie selbst rechne es sich als besondere Auszeichnung an, den gefeierten Künstler von Angesicht zu Angesicht begrüßen zu können.
»Mit wem genieße ich den Vorzug?« fragte Valerian eisig.
Sie nannte ihren Namen, und aus einem Verziehen seiner Stirn und einem Ruck seines Hauptes schloß sie, daß er unterrichtet war. Er räumte es auch mit einer verbindlichen Wendung ein. Er bat sie, Platz zu nehmen und setzte sich, etwas ratlos, ihr gegenüber. Die Unterhaltung, die nun begann, war zuerst durchaus einseitig; de Groot beschränkte sich darauf zu nicken, eine abwehrende oder beifällige Miene zu zeigen, nach und nach jedoch fand er sich belustigt und lachte einige Male laut auf. Sie hatte mit ihrer Findigkeit, nachdem sie dies und jenes Thema flüchtig berührt und wieder fallen gelassen, ein Gebiet der gemeinsamen Interessen gefunden, indem sie an einen Namen anknüpfte, der ihm bekannt war, dann zu einem andern, einem dritten überging und im Nu jenes gesellschaftliche Fangnetz ausgeworfen hatte, dem sich niemand, der in der Welt gelebt, entziehen kann. Sie brauchte nur ihre Erinnerungen aufzufrischen und ihre Kenntnis von Verwandtschaften, Freundschaften, Vetternschaften und allerlei sonstigen Verflechtungen zu entfalten. Eine maliziöse Bemerkung da, ein boshafter Seitenhieb dort, eine zweideutige Anspielung jetzt, eine unmißverständliche Derbheit dann, und das schmackhafteste Ragout war fertig. Sie war in ihrem Element. Sie hatte nichts vergessen. Es war freilich nur das Gerümpel von ehegestern, aber es tat seine Dienste noch; mit verstaubten Dingen umzugehen war sie gewöhnt. Sie las an seinen Augen ab, wie weit sie sich wagen konnte, und wo sie Gefahr lief, mit Skeletten zu klappern statt leibhaftige Menschen Spießruten laufen zu lassen, lenkte sie im rechten Moment wieder ein und war doppelt witzig, gleißnerisch und offenherzig.
Trotz seiner Erheiterung konnte sich Valerian in die Situation nicht schicken. Er betrachtete die schlottrige Gestalt, das welke Gesicht, den unwahrscheinlichen Aufzug, das Mienenspiel mit seinen Blitzen von Geist und Niedertracht und Schlauheit auf der Oberfläche und einem unnennbaren Etwas von düsterer Wut und Unruhe dahinter; die klapprigen Zähne dann, die zufahrenden Gebärden: es war wie ein Spuk, häßlich, komisch und furchtbar zugleich. Plötzlich stieg ihr Bild aus der fernen Vergangenheit empor; längst war es ausgetilgt gewesen, aber auf einmal sah er sie, und seltsam, nicht die von damals, sondern schon alt und morsch und grotesk; es lag ihm auf der Zunge zu sagen: Entsinnen Sie sich noch des Knaben in der Dorotheergasse, Ulrike Woytich? und sich an ihrer Bestürzung zu weiden. Aber das dünkte ihn seiner nicht würdig und er ließ es; dafür spürte er einen immer heftiger werdenden körperlichen Widerwillen, der sich bis in die Fingerspitzen und in die Zehen verbreitete.
Er fragte sich, was sie hergeführt haben mochte und worauf sie wartete. Daß sie so lange sitzen blieb und daß Josephe nicht kam, wunderte ihn. Doch wenn er sich vorstellte, daß Josephe hier eintrat und mit ihr reden sollte, war es nicht weniger zum Verwundern. Indessen machte er ihr Komplimente über ihren lebhaften Tatsachensinn, wie er sich ausdrückte, und über ihr jugendliches Feuer. Sie seufzte und erwiderte, das sei nur ein bißchen bengalisches Licht, Überbleibsel; leider habe man abgewirtschaftet. Er versicherte, daß sie es mit einem Dutzend Männer in der Vollblüte aufnehmen könne. Sie gluckste frivol und meinte, ehedem hätte sie sich ganz wacker gehalten, auch gegen ein Dutzend. Er sagte, es sei keineswegs zu ihrem Schaden gewesen und bot ihr eine Zigarette an. Sie gab seufzend zurück, indem sie die Zigarette anzündete, man habe seine liebe Plage gehabt. Aber hoffentlich, tröstete er unverschämt, habe sie nicht versäumt, die Vorratskammern zu füllen. »Es geht an«, antwortete sie und schlug ein Bein über das andre; »was wollen Sie, verehrter Maestro«, fügte sie mit einem frechen Schmunzeln hinzu, » ce que vient de la flûte, s'en retourne au tambour.«
Darüber lachten sie beide und Valerians grausender Widerwille wuchs ins Unerträgliche, während Ulrike sich nun des Ausführlicheren über ihr mitleidwürdiges Los erging, in einer Gegend lebendig begraben zu sein, wo die Katzen einander gute Nacht sagten, unter einer Bevölkerung, die dem Teufel zu schlecht sei. Lauter Gauner, Trunkenbolde und arbeitsscheue Herumtreiber; kein Bauer bestelle ordentlich sein Feld, kein Krämer verkaufe seine Ware unter fünfhundert Prozent wucherischem Nutzen; kein Professionist verstehe mehr etwas vom Handwerk und vom Material; wenn sie einen nicht ausplündern könnten, wollten sie auch nichts leisten; aller Verdienst wandre ins Wirtshaus; bei den Kindern fange die Verderbnis an und die Alten führen mit Schanden in die Grube; kurz, das apokalyptische Entsetzen.
Valerian verlor die Geduld und erhob sich, da stand Ulrike gleichfalls auf und warf beiläufig hin, wie wenn nicht eben dies der ganze Zweck ihres Kommens und Wartens gewesen wäre: »Jetzt will ich noch meiner kleinen Fanny guten Tag sagen, da die Baronin nicht die Gnade hat, mich zu empfangen. Vielleicht sind Sie so gütig, teurer Maestro, und schicken mir das Kind auf einen Augenblick, nur auf einen Augenblick.«
Valerian verabschiedete sich zeremoniös und ging. Er traf im Korridor Elisabeth und teilte ihr Ulrikes Begehren mit. Elisabeth riß erschrocken die Augen auf und stürzte zu Josephe. Diese hatte nur ein verächtliches Lächeln als Antwort, und schließlich erhielt die Jungfer den Befehl, Fräulein Woytich zu sagen, Fanny sei mit der Baronin ausgegangen, und sie im übrigen auf eine ihr passende Manier vor die Tür zu setzen. Ulrike starrte der Botin ins Gesicht und fauchte wütend: »An der Lüge sollst du ersticken, mein Kätzchen«; dann packte sie ihren Stock und trottete davon. Auf dem Gartenweg drehte sie sich um und rief zurück: »Ihr werdet noch von mir hören dahier, verlaßt euch drauf.«
Sie schlug die Richtung gegen Riednau ein. Sie wollte nicht nach Hause; der Grund war ihr nicht klar. Während des Gehens murmelte sie beständig vor sich hin. Sie ging bald auf der linken, bald auf der rechten Seite des Pfades, so daß sie, von weitem gesehen, den Eindruck einer Berauschten machte. Einmal blieb sie stehen und gellte einen italienischen Fluch in den Wald hinein. Warum gerade italienisch, darüber war sie sich nicht klar. Einem alten Bauern, der sie grüßte, dankte sie nicht. Sie verlor ihr Taschentuch, einen groben blauen Perkalfetzen, und merkte es nicht. Sie stolperte über eine Wurzel und unterbrach sich nicht in ihrem Gemurmel.
In Riednau trat sie in das Tannenwirtshaus, ließ sich in der leeren, kellerig riechenden Stube in einem Winkel nieder und bestellte einen Kornschnaps und Briefpapier. »Soll ich mit den Fingern schreiben, du Latsch?« schnauzte sie die Bauerndirne an, als sie das Papier ohne Tinte und Feder brachte.
Sie schrieb mit ihrer großzügigen, faserigen, schiefen Schrift: »An die Baronin Melander, hochgeboren. Falls der süße Engel Fanny wie um sein Namensrecht so auch um sein Vermögensrecht kommen sollte …« Sie hielt inne, zerriß das Papier und begann auf einem neuen Bogen von neuem: »An die Freifrau von Melander, hochgeboren. Es ist dem süßen Engel Fanny in meinem Hause nichts zuleide geschehen und hat auch nach dieser Richtung keine Gefahr bestanden, als höchstens eine wünschenswerte Aufklärung über gewisse Rechte, die …« Abermals zerriß sie den Bogen, fletschte erbittert die Lippen, kaute am Federhalter, bestellte schreiend ein zweites Glas Schnaps und fing nach einiger Überlegung zum drittenmal an: »Hochgeborne Freifrau! Der süße Engel Fanny ist aus eigener freier Wahl in meiner Behausung erschienen. Es ist ihr dort nichts zuleide, sondern alles zuliebe geschehen. Das seltene Kind des unschuldigen Vergnügens an der Puppe berauben, halte ich für mindestens ebenso grausam wie gewisse andere Entziehungen, für die leichtlich von befugter Stelle aus Rechenschaft verlangt werden könnte. Gibt es doch Vormünder und Vormundschaftsgerichte. Da ich weder mit einer ansteckenden Krankheit behaftet bin, noch mein bescheidenes Heim als ein Ort des Lasters gelten kann, fordere ich von Ihrer Billigkeit, den Hinweis auf einst geleistete treue Dienste nicht vergessend, was aber in dieser Welt des Undanks vergeblich sein dürfte, daß das Kind Fanny Heinroth, recte Fanny Melander, wieder wie vordem zu ihrer mütterlichen und wohlgeneigten Freundin komme, als welche in achtungsvoller Ergebenheit zeichnet: Ulrike Woytich.«
Dies schien befriedigend. Sie verschloß den Brief, zahlte und brach auf. Wirt, Wirtin, Schankbursch und Kellnerin schauten ihr feixend nach. Auf der Dorfstraße heuerte sie einen Knaben und gebot ihm, den Brief nach Eckern zu tragen, wofür sie ihm einen unkenntlich zusammengeknitterten Geldschein in die Hand drückte.
Es war Abend. Sie hätte längst zu Hause sein sollen. Sie ging auch jetzt wieder in eine andre Richtung. Es war ein Seitenpfad nach Eckern. Sie war schon müde, aber es trieb sie eben auf diesem Weg vorwärts. Was wollte sie auf diesem Weg? Sie wußte es nicht. Es war eine dumpfe Raserei in ihr, eine kochende dumpfe Gewalt. Die trieb sie auf den Weg nach Eckern. Sie stellte sich vor, daß sie Fanny sehen könnte, wenn sie in die Nähe des Eckerngutes gelangte. Schön; was war aber damit getan, daß sie Fanny sah? Sie wußte es nicht. Sie hatte nur den kochenden dumpfen Willen.
Auf der ersten Hügelhöhe angekommen, es waren zwei, die sie zu überschreiten hatte, gewahrte sie, daß ein Gewitter am Himmel stand. Schwarzblaues Gewölk wälzte sich dick und tückisch vom Westen herauf, unten von düsterm Scharlach umsäumt, oben von gelbroten Blitzen blinzelnd durchbrochen. Die Buchen rauschten, die Fichten klirrten, der Wind strich wie aus einem heißen Schacht. Ulrike stutzte, sah sich um, ging weiter. Nach einer Viertelstunde leuchtete das Herrenhaus von Eckern durch die Büsche. Da murrte auch schon der Donner. Einige Fenster waren erhellt. Ulrike näherte sich. Schwere Tropfen fielen. Sie suchte Schutz unter einer breitausladenden Linde. Ihre Gestalt konnte von der Finsternis nicht unterschieden werden.
Welches mochte das Fenster sein, hinter dem Fanny war? Was mochte Fanny tun und wer mochte bei ihr sein? ob sie sich vor dem Gewitter fürchtete? ob sie an die alte Ulrike dachte? Weswegen aber sollte sie an die alte Ulrike denken? Was galt die alte Ulrike vor ihrer blütenweißen Jugend, vor ihrem frohen Lachen, vor ihren frohen Augen? Ein Nichts, ein hingeblasenes Nichts von einem Gedanken. Aber du Racker, bist du nicht der Alten um den Hals gefallen und hast sie abgeküßt? diese alten, ledernen, schrumpflichen Backen abgeküßt? War das etwa Verstellung gar? Und das bettelnde Gezwitscher des Stimmchens, und Tante Ulrike hin, Tante Ulrike her, und Händefalten und süßes Augenverdrehn: Verstellung? Das gibt es nicht, das kann nicht sein, das kann man sich nicht ausdenken, komm herunter und sag mirs ins Gesicht, du Strolchin, du lüderliches Maulwerk, du boshafter Ramsamper …
Diese letzten Worte schrie sie in den Donner hinein. Da es wie mit Kübeln schüttete, wurde sie alsbald naß bis auf die Haut. Die Mantille, der Hut, der Rock, die Strümpfe, das Hemd, alles war naß. Sie schaute zu den Fenstern empor und verdeckte die Augen, wenn die Blitze aufzündeten, und fuhr zusammen, wenn die Donnerschläge fielen wie aus einer Gigantendreschtenne, und zitterte wie vor Nässe so auch vor maßlosem Haß gegen alle Insassen dieses Hauses mit Ausnahme des einen Wesens, dem sie, so wähnte sie und hiefür glaubte sie sich beamtet, die Millionen der Familie Melander retten wollte.
Von anderm wußte sie nicht oder versteckte sichs in unsinniger Angst. Es ging ein Rütteln durch ihre Wurzeln bis in die obersten Gehirnfasern und in der Mitte barst etwas wie ein Gefäß, das überm Feuer springt, aber sie wollte nichts davon verstehen. Ein ausgelebtes Leben, ein bis auf die Nagelprobe leergesoffenes Leben, was sollen da noch für Tränke kredenzt werden, da liegen die Scherben, was sollte da noch kommen? Blinde werden nicht sehend, auf Stein wächst keine Frucht, nur ein Bild von durchdringender Lieblichkeit, überweltlich fremd, spottete der nüchternen Gewöhnung.
In Unwetter und grell durchzuckter Schwärze suchte sie endlich den Heimweg. Kreszenz kam ihr mit der Laterne bis zur Höhe vor Riednau entgegen. Sie bekreuzigte sich bei ihrem Anblick und warf den mitgebrachten Lodenmantel über sie. Es war halb elf. Anastasia stand jammernd am Tor. Ulrike gab auf keine Fragen Bescheid. Sie stapfte in ihr Schlafzimmer, entledigte sich keuchend der triefenden Gewänder und erschien alsbald in einem grauen Schlafrock in der Wohnstube. Heißhungrig schlang sie eine aufgewärmte Mahlzeit hinunter. Da sie stumm blieb, zog sich Anastasia beleidigt zurück. »Kriech du nur auch in dein Nest«, knurrte sie Kreszenz an, und als sie allein war, setzte sie sich an den Schreibtisch.
Auf einen Quartbogen schrieb sie folgende Worte: »Im Falle meines Ablebens vermache ich der Fanny Heinroth, recte Melander, mein gesamtes Barvermögen und gesamtes Mobiliar sowie mein Haus in Riednau auf dem Ried unter zwei Bedingungen: erstens daß sie von seiten ihrer Großmutter, der Freifrau Josephe von Melander, in alle ihre gebührenden Rechte eingesetzt, und zweitens, daß sie nicht nur nicht verhindert, sondern angehalten wird, zu mir zu kommen, so oft mir ihre Gesellschaft erwünscht ist. Gegeben im Ried, bei voller Geistesklarheit, den siebenundzwanzigsten Juni 1921, Ulrike Woytich.«
Dieses Dokument wollte sie am andern Tag abschriftlich nach Eckern schicken. Da würden sie sich wohl nicht länger sträuben. Da würden sie kirre werden. Eine solche Lockspeise konnten sie nicht zurückweisen. Da würden sie kommen und sich hoch bedanken und ihre kostbare Fanny mit liebsamer Geschwindigkeit bringen. Während sie noch auf das Geschriebene niederschaute, fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu und sie schlief ein. Das Unheil wollte, daß Anastasia, die doch ein wenig beunruhigt war und außerdem eine Nachricht anzubringen hatte, noch einmal ins Zimmer kam und als sie die Schwester schlafend am Sekretär sitzen sah, sich behutsam näherte. Sie gewahrte das beschriebene Blatt und beugte sich vorsichtig über Ulrikes Schulter; sie las und ein Aufschrei gellte durch den Raum. Ulrike erwachte.
»So also«, stammelte Anastasia und wies mit einer konvulsivischen Armbewegung auf das Blatt, »das ist also der Dank. Das tust du deinen nächsten Blutsverwandten an, du heimtückisches Geschöpf; dafür sitz ich hier wie im Zuchthaus und vertraure mein Leben und muß halb verhungern; dafür gibt dir der arme Philipp den Narren ab. Das ist der Dank. Das ist der Lohn.«
»Pscht«, machte Ulrike verdrießlich, »reg dich nicht auf; das ist ja nur eine Mausefalle. Riechst du den Speck nicht?« Die Anspielung auf Philipp war ihr unbehaglich, und das schlechte Gewissen stimmte sie nachgiebig.
Aber Anastasia war nicht zu beschwichtigen. Hochaufgerichtet, in einer Primadonnenpose, denn alle Woytichs hatten das Großartige, wenn sie gereizt waren, warf sie Ulrike die Sünden vor, die sie an ihr begangen und täglich noch beging, die Kargheit der Nahrung, die ungeheizten oder schlechtgeheizten Zimmer im Herbst und Winter, den Mangel jedes Verkehrs, die Gleichstellung mit der dummen und gemeinen Magd, alle diese Anklagen sprudelte sie erbittert heraus, indes Ulrike gelangweilt zuhörte. »Hättest du mir das Reisegeld gegeben, ich wäre zu unserm Bruder Franz gefahren«, schloß sie halb weinend; »ich könnte ihn doch pflegen und ihm das Sterben erleichtern.«
»Wo du bist, stirbt man nicht leichter, das bilde dir nicht ein«, war die schnöde Antwort; »oder willst du den etwa beerben? Da ist nichts zu erben. Drei Paar Strümpf und ein Dutzend Ordensbänder höchstens. Die Medaillen dazu hat er längst verkitscht. Und den Casanova, richtig, den hat er in allen Ausgaben, dies gibt.«
»Das sieht dir ähnlich, daß du in deiner Herzensroheit nicht einmal vor dem eigenen Bruder halt machst«, sagte Anastasia.
»Faxen«, brummte Ulrike; »steig runter vom Bock. Deklamier, wenn keiner zuhört.«
»Weil ich vorhin von Philipp gesprochen hab«, sagte Anastasia, »er schreibt mir heute. Er schreibt, er kann in diesem Monat nicht zu uns kommen. Die Geschäfte halten ihn fest, schreibt er. Die Geschäfte sind diesmal nicht besonders gut gewesen. Ein Börsenkrach. Einige Firmen sind total ruiniert. Der ganze Brief gefällt mir nicht. Es ist so was Konfuses drin. Er läßt dich übrigens grüßen.«
Ulrike war langsam hinter die Schwester getreten und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Was ist denn das?« fragte sie mit einem grabenden Blick, »seit wann schreibt er denn dir? seit wann nicht mir?«
»Nun, er wird mir wohl auch mal schreiben dürfen«, erwiderte Anastasia patzig.
Ulrike verlangte den Brief. Anastasia zog ihn aus der Tasche und reichte ihn hin. Ulrike las ihn. Las ihn wieder und wieder. Gab ihn zurück und strich über ihre Stirn, die plötzlich feucht geworden war.
»Meinst du, daß da was geschehen ist?« brachte sie gurgelnd hervor; »meinst du, es ist eine Gefahr? Sags offen, nimm dir kein Blatt vor den Mund …«
»Du kannst dich auf Philipp verlassen wie auf dich selber«, sagte Anastasia mit dem Stolz einer Mutter, die von ihrem Sohn nichts weiß, als daß er ihr Sohn ist.
Schwer denkend, ging Ulrike zu Bett in der schweren Nacht. Sie war müde und hatte Angst vor dem Schlaf. Sie war durchschüttert bis ins Innerste und Unterste und grübelte über Börsenbericht und Kontokorrent. Eine fressende Hitze erfüllte sie und sie fror in Mark und Knochen. Ein engelhaftes Antlitz war ihr alles Blut fremdartig aufrührend zugewandt, und sie zitterte um Hab und Gut. Sie langte nach der wunderhaft schwebenden Gestalt, und ihre gierigen Finger hielten Banknoten. Voller Entsetzen erwog sie den möglichen Verlust von Geld, von vergöttertem Geld, und ein zartes Stimmchen lockte spöttisch.
Als es finster war, packte sie ihren Kopf mit beiden Händen und sprach schaurig ruhig: »Bist du denn bei Verstand, Ulrike Woytich?«