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Ulrike macht Bilanz

Der Akt der Vorstellung Eduard Melanders im Hause Mylius wurde von Ulrike so vorbereitet, als handle sichs um den Empfang eines Prinzen aus königlichem Geblüt.

Sie hatte viel von ihm erzählt, Wahres und Erdichtetes, und jedermann neugierig zu machen verstanden. Sie selbst war nicht frei von Lampenfieber, und als er angemeldet wurde, errötete sie und ging ihm mit klopfendem Puls entgegen.

Er war seiner Wirkung sicher. Er brauchte nur zu lächeln, und alle ringsum lächelten ebenfalls. Die Art, wie er für sich einnahm, die heitere Überlegenheit, dann wieder schelmisch-bescheidene Unterordnung im Wechselgespräch bewies Geist und Takt. Dazu die anmutige Manier, das lange Oval des völlig bartlosen Gesichts, der gelblichblasse, wie Bernstein schimmernde Teint, der träumerische, bisweilen spöttisch aufleuchtende Blick; dies alles frappierte. Die ihm entgegenftrömende Sympathie schien er abwehren zu wollen, und er hatte dann eine Miene, die etwa sagte: man zeichnet mich unverdient aus; wirklich, ihr guten Menschen, ich bin mir keines Vorzugs bewußt. Das verlieh seinem Auftreten eine gewisse noble Schüchternheit, durch die er auch die Mißtrauischen gewann.

Er war zum Menschenfänger geboren und hatte gar nicht nötig, die menschlichen Schwächen erst sorgfältig zu studieren.

Esther war noch nicht fünf Minuten mit ihm im selben Raum, als sie schon ein merklich verwandeltes Wesen an den Tag legte. In auffallender, fast unziemlicher Weise ließ sie die Augen nicht von ihm, fuhr zusammen und erbleichte, wenn er sie anredete, und nachdem er gegangen war, stürzte sie in ihr Zimmer und brach in Tränen aus. Ulrike war ihr gefolgt und sah es. Sie sprach kein Wort und zuckte nur die Achseln. Sie gestand sich, daß sie sie solcher Leidenschaftlichkeit nicht für fähig gehalten hatte.

Anfangs kam er selten, dann häufiger, schließlich, mit Ulrikes Einverständnis, jeden zweiten oder dritten Tag. Bald zeigte es sich, daß wie Esther so auch Aimee dem bestrickenden Bann verfiel, und daß insbesondere Lothar sich mit einer Glut und Heftigkeit an ihn schloß, die beängstigend war.

Das kann gut werden, dachte Ulrike, deren Absicht es nicht war, Verwirrungen solcher Art zu begünstigen, jetzt, wo sie nur darauf bedacht sein mußte, legitime Ordnung zu schaffen. Sie hatte mehrere Unterredungen mit Melander, aber das Ergebnis war jedesmal ein beiderseitiges Gelächter. Die Welt war doch gar zu verrückt, darüber waren sie eines Sinnes; es war nicht anders möglich, als sich über sie luftig zu machen. Das taten sie nach Kräften und leerten einander ihr Herz aus über das Theater, in dem Narren spielten und Narren zuschauten. Und da das Entzücken über Melander unter den Freunden des Hauses einstimmig war, drängte Ulrike ihre Besorgnis zurück und begnügte sich mit Ermahnungen, die ernst zu nehmen und zu befolgen er sich den Anschein gab.

Eine Zeitlang waren Pillersdorf und Althann schier unzertrennlich von ihm. Lothar war der vierte im Verein, und wenn sie ihn zuerst auch ungern in ihrer Mitte duldeten, seine große Jugend erschien ihnen anstößig, so erzwang er sich doch Geltung schon durch die ungestüme Hartnäckigkeit, mit der er Melanders Nähe suchte. Da dieser tagsüber zu beschäftigt war, um ihnen auch nur eine Stunde widmen zu können, verbrachten sie die Nächte mit ihm, und Melander, der kein Spielverderber sein wollte und überdies neben brennendem Ehrgeiz auch eine längst nicht gestillte Gier nach den edlen wie nach den niedrigen Genüssen des Lebens in sich trug, konnte manchmal kaum einen kurzen Morgenschlaf finden. Dies beeinträchtigte weder seine Spannkraft noch seine Arbeitsleistung; er war aus Stahl. Pillersdorf aber, ein einfacher Landjunker, jung verheiratet, hatte nicht dieselbe Ausdauer; er verfiel sichtlich und hatte Gewissenskämpfe zu bestehen, indes der vierzigjährige Althann, ruiniert wie Ferry Lex, von zerrütteter Gesundheit zudem, sich dem ausschweifenden Treiben mit einer Sachlichkeit überließ, als erfülle er amtliche Pflichten. Er hegte Hoffnungen auf Aimée, die von Ulrike genährt, von Melander ironisch abgetan wurden. Wollte er sich selbst den Weg offen halten? Es war unwahrscheinlich, denn er liebte seine Freiheit und dachte gering von der Ehe. Oder glich er nur dem Fresser, der die Hand nach allen Schüsseln streckt, während er dem genügsamen Nachbar nicht einmal den Anblick der Speisekarte gönnt? Über ihn zu urteilen war schwer. In seinem Verhältnis zu Menschen lag ein ebenso treuherziger wie unverschämter Eigennutz; er behandelte sie wie die Teile eines Wasserrades, die er zusammensetzte, damit sie das Korn in seiner Mühle mahlten. In aller Gutmütigkeit konnte er zu einem Krüppel sprechen: »Ach, Bester, da ist mir mein Butterbrot zum Fenster hinuntergefallen, hol es mir doch« und sich dann äußerst verwundert, ja gerührt zeigen, wenn er auf seine lahmen Füße wies.

Er bemerkte es nicht, wenn Leute Krücken hatten. Er bemerkte es auch nicht, wenn sie gerade nicht aufgelegt waren, ihm sein Butterbrot zu holen. Er glaubte so inbrünstig an sich, daß er das hinuntergefallene Butterbrot für würdig hielt, das allgemeine Interesse zu beschäftigen, und er war entrüstet, wenn andere anders darüber dachten. Dabei war er so abhängig von der Meinung der Welt, daß es ihn bis zur Krankhaftigkeit verstimmte, wenn er hörte, jemand habe sich mißliebig oder bloß zweifelnd über ihn ausgesprochen. Er mußte alle haben; alle mußten für ihn sein; um den verachtetsten Dummkopf zu werben war ihm der Mühe wert, und der geargwöhnte Tadel des letzten Schreibers in der Bank machte ihn unruhig und feig.

Lothar blickte zu ihm empor wie zu einem Gott. Sprach Melander, so verstummte ihm die Welt. Ein Wink Melanders, und alles an ihm fragte, lauschte, harrte. Allen bisherigen Freunden und Halbfreunden hatte er den Laufpaß gegeben, und nichts und niemand war mehr für ihn vorhanden außer diesem Mann, der sein erster Gedanke und sein zweites Wort war. Ohne es recht zu wissen, ahmte er seinen Gang nach, seine Haltung, sein Idiom, sein Lachen und Lächeln und war doch nicht sein Affe, sondern der hingegebene Jünger und das weiche Wachs. Wurde in seiner Gegenwart Melanders Name genannt, so stockte ihm der Atem. Hatte er ihn einen Tag nicht gesehen, so schickte er den Diener zu ihm oder ging selbst in seine unfern gelegene Wohnung, um auf ihn zu warten, wenn er nicht zu Hause war. Einmal, als Melander auf einer Soiree beim Unterrichtsminister war, überfiel ihn solche Sehnsucht, daß er um elf Uhr abends zum Ministerpalais eilte und trotz Sturm und Regen bis halb drei Uhr nachts unter Kutschern und Lakaien am Tor stehen blieb, nur um seiner ansichtig zu werden, wenn er herunterkam. Ganz kindlich gestand er ihm später, er habe sich darauf gefreut, ihn von weitem anzublicken und sich auszudenken, wie es wäre, wenn er ihn nicht kenne und nicht mit ihm verkehren dürfe.

Er kaufte die teuersten Blumen und schickte sie ihm. Bücher, seltene Ausgaben und illustrierte Werke, Stiche und Radierungen mit merkwürdigem Geschmack ausgewählt. Hierdurch setzte er Melander in Verlegenheit und er bat ihn, es zu unterlassen; aber wenn er ihm ernstlich zürnte, brach die erschreckende Wildheit von Lothars Natur hervor; er konnte toben wie ein Rasender und den um soviel älteren Freund mit Vorwürfen und Anklagen überschütten.

Als er mit der wachsenden Schärfe der Sinne, die ihm eigen war, die Gewißheit erhielt, daß seine beiden Schwestern eine Teilnahme an Melander zu erkennen gaben, wie sie sie noch gegen keinen Mann bezeigt, und daß auch Melander die beiden, vornehmlich Aimée, durchaus nicht gleichgültig betrachtete, wurde er von quälender Eifersucht gepackt. Während eines Gesprächs, bei dem er Ulrike auszuholen versuchte, umklammerte er plötzlich deren Arm und sagte drohend: »Das darf nicht sein, hörst du!« Ulrike schüttelte ihn ab und antwortete unwirsch: »Was? was darf nicht sein?« Er stampfte mit dem Fuß auf und vermochte nur mit heiserer Stimme hervorzustoßen: »Das, hörst du, das!« Ulrike machte ein nachdenkliches Gesicht und sagte: »Ich glaube, kalte Bäder sind für diesen Zustand sehr zu empfehlen.«

Möglicherweise wäre ihr seine Erregung beachtenswerter erschienen, hätte sie nicht in diesen Tagen Ferry Lex den Kopf zurechtsetzen müssen, der sich über Esthers Benehmen bei ihr beklagte und Eduard Melander beschuldigte, daß er ihm Esther abwendig zu machen suche. Ulrike leugnete es ziemlich betreten und versprach, das Mißverständnis aufzuklären. Sie hatte auch vor, ein entschiedenes Wort mit Esther zu reden, vergaß es aber wieder, da gleich hernach Pillersdorf kam, dessen Vertraute sie geworden war, und der sie von allen Phasen des Zerwürfnisses mit seiner jungen Frau unterrichtete. Sie hörte ihn an und hielt dafür, daß in den meisten Streitpunkten das Recht auf seiner Seite sei. So gern Ulrike Ehebande knüpfte, so sicher war es, daß die festesten sich unter ihren Händen lockerten und lösten.

Lothar aber wurde von seiner sonderbaren Eifersucht getrieben, sich an Melander selbst zu wenden und ihn ohne Rückhalt zu fragen. Es paßte Eduard Melander, erstaunt zu sein. Die aufgewühlte Woge zu glätten, wie er leicht gekonnt hätte, war ihm in diesem Augenblick nicht bequem. Was er erwiderte, waren unbestimmte Redensarten und Tadel, der nur außen die Farbe des Tadels hatte, im Kern aber geschmeicheltes Machtbewußtsein trug. Herrschaft über einen Knaben war Herrschaft über die anbetende Jugend, Beginn eines Siegeszuges, wie ihn die Volkstribunen träumen. Man hatte die Jugend, also hatte man die Welt. Die Erwägung, ob die Stunde nicht schon unwiederbringlich versäumt war, wo dieser Enthusiasmus zu menschlicher Förderung und sittlicher Kraft gelenkt werden konnte, statt in das heiße Chaos der Triebnatur, statt in die Schlammfurche zu versinken, erhob sich nicht, weil die papierenen Blumen, mit denen der Triumphbogen bekränzt war, viel zu viel Ähnlichkeit mit echten hatten; und sie hingen auch schon zu lange da.

Er pflügte dem verwirrten jungen Menschen mit den Fingern durch das Haar, schob ihm den Kopf zurück, sah ihm lächelnd in die Augen und sagte: »Keine Dummheiten, Freund.«

Es geschah nun, daß Lothar am andern Nachmittag, wie es häufig vorkam, in Melanders Wohnung auf ihn wartete. Zerstreut und unlustig blätterte er in Zeitschriften und Büchern, dann ging er zum Schreibtisch und betrachtete nicht minder unlustig den Wust von Briefen und Papieren. Melander war achtlos und ließ auch Briefe heiklen Inhalts oft unverwahrt liegen; deshalb richtete Lothar sein Augenmerk kaum darauf. Da fiel sein Blick auf ein Kuvert, und im Nu veränderte sich der Ausdruck seines Gesichts. Er kannte die Handschrift; es waren Esthers Schriftzüge. Er riß den Brief aus dem Umschlag und las ihn. Ein ziemlich rätselhaft gefaßtes Schreiben; es konnte viel bedeuten, es konnte nichts bedeuten; es konnte alles enthalten, es konnte für eine konventionelle Mitteilung passieren; nicht einmal eine Anrede stand auf dem Blatt. Für Lothar war es die gefürchtete Entdeckung. Er zerknüllte den Brief und schob ihn in die Tasche. Unsinnige Worte vor sich hinmurmelnd stürzte er fort.

Ungefähr um die gleiche Zeit hatte Ulrike eine Unterredung mit Aimée, und zwar wegen Althann. Sie fragte sie ohne Umschweife, ob sie den Baron Althann zum Gatten nehmen würde. Er seinerseits scheine die seriösesten Absichten zu haben. Schon einige Male habe er ihr zu verstehen gegeben, erstens wie unendlich sympathisch ihm Aimée sei, zweitens daß er das einsame und hauslose Leben satt habe. Auch sei es der Wunsch seines alten Vaters, daß er heirate. Was Aimée dazu meine? fragte Ulrike mit hoher Stirnfalte.

Aimée sah vor sich nieder. »Nun ja, warum nicht?« sagte sie; »warum nicht Bodo Althann? Er ist so gut wie irgendein andrer.« Dabei kraute sie zärtlich ihr weißes Windspiel am Hals. »Nicht wahr, Flock«, sprach sie zu ihm, »der oder ein andrer, es ist uns ganz egal.«

»Geschwind seid ihr große Damen geworden, das muß man sagen«, antwortete Ulrike gereizt; »der oder ein anderer; was soll denn das heißen?«

Sie wurden durch den Diener unterbrochen, der den Vizekonsul meldete; er habe Fräulein Ulrike dringend zu sprechen. Ulrike ging in den Salon, wo Nanette den Teetisch richtete. Franz Woytich hatte die Wartezeit benutzt, um mit ihr zu scherzen. Er teilte der Schwester mit, er sei eben beim Hofrat gewesen, und der Alte habe geäußert, er werde im Lauf des Nachmittags Ulrike aufsuchen; in einer diskreten Angelegenheit, habe er mit Kinnreiben hinzugefügt. Er, Franz, habe sich verpflichtet gefühlt, Ulrike hiervon in Kenntnis zu setzen; was Erfreuliches könne ja von der Seite nicht kommen.

Ulrike schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Herrgott, richtig«, rief sie; »die Frist! der Termin ist ja abgelaufen! das haben wir rein verschwitzt. Er will sein Geld. Er hat uns nämlich, wie wir noch am Hungertuch genagt haben, ein paar tausend Gulden vorgeschossen«, fügte sie erläuternd hinzu. »Aber warum er bloß so lang gewartet hat. Da steckt was dahinter.«

»Nichts Gutes«, lachte der Vizekonsul. »Doch weil du gerade von Geld sprichst, Ulrike«, wandte er sich zutraulich an die Schwester, »könntest du mir mit vierhundert Gulden unter die Arme greifen? Ich habe Spielverluste gehabt und bin augenblicklich blank.«

»Vierhundert Gulden?« machte Ulrike unwillig erstaunt; »mein Lieber, du scheinst mich für eine mexikanische Plantagenbesitzerin zu halten. Verdienst du denn nichts? Ich weiß überhaupt nicht, wovon du lebst. Wovon lebst du eigentlich?«

»Man schlägt sich so durch«, erwiderte der Vizekonsul gelassen; »es findet sich immer etwas. Außerdem wirft ja auch mein Posten eine Kleinigkeit ab. Wenigstens was man für Trinkgelder braucht.«

»Du solltest heiraten«, sagte Ulrike versonnen. »Heirate in eine feste Rente. Eine Mitgift hält doch nicht lange vor bei dir. Ich werde dir was verschaffen. Ich bin nun schon in dem Betrieb drin, da gehts in einem.«

»Um nichts in der Welt«, wehrte der Vizekonsul ab. »Wir Woytichs sind nicht für die Ehe gemacht. Würdest denn du mit einem wildfremden Menschen auf Lebenszeit in eine Mietswohnung ziehn? Auf großen Stil kann ich keinen Anspruch machen, und für den kleinen dank ich ergebenst. Drei Zimmer mit Küche; Säuglingsgeplärr; Sonntagnachmittags-Arm-in-Arm-Spaziergang mit Bratenrock und Zylinder; Zwiebelduft und Teppichklopfen, nein, danke. Lieber nach Cayenne.«

Ulrike lachte. »Es ist wahr, wir Woytichs haben keine Eignung für kleine Verhältnisse«, gab sie zu; »trotzdem sind wir kleine Leute. Wir wollen nur hoch hinaus und haben den Sinn fürs Hohe. Aber man muß auch was dazu tun. Was mich betrifft, ich ackere mein Feld. Ohne Mühe kein Preis.«

»Gewiß, kluge Ulrike. So nannten wir dich ja schon als Kind. Die kluge Ulrike. Du warst immer unsere Vorsehung. Ohne Mühe kein Preis, gewiß. Und redlich währt am längsten. Und Handwerk hat einen goldenen Boden. Und heute rot, morgen tot. Und was ähnliche goldene Worte fürs Volk sind. Wie stehts also mit der Anleihe?«

»Will mirs überlegen«, antwortete Ulrike; »komm morgen. Zweihundert kann ich dir vielleicht geben.«

Der Hofrat schickte seine Karte herein und erschien alsbald hager und etwas gebückt auf der Schwelle. Ulrike begrüßte ihn freundlich und ließ den Tee servieren. Nachdem sich Franz Woytich mit respektvoller Hast empfohlen hatte, setzte der Alte Ulrike auseinander, daß er für das laufende Halbjahr neuerdings zehn Prozent zu fordern habe; im Schuldschein stehe nichts davon, daß es sich um einen jährlichen Zinsfuß von zehn Prozent handle. Sehr im Gegenteil; es sei klar und deutlich zu lesen: Herr Hofrat Woytich erhält für das nach sechs Monaten rückzahlbare Darlehen eine Zinsvergütung von zehn Prozent.

Er zog das Dokument aus der Tasche und hielt es Ulrike vor Augen, wobei er sorgfältig darauf achtete, daß sie es nicht anrührte oder gar ihm zu entreißen versuchte.

Ulrike war wütend. Sie schlug mit der Hand auf den Tisch. »Sie hätten uns mahnen müssen, bevor der Termin um war, Onkel Klemens«, sagte sie; »wir haben es vergessen, denn wir haben größere Sorgen, und nun ziehen Sie Profit daraus. Wir brauchen Ihr Geld längst nicht mehr.«

»Das scheint mir allerdings so«, gab der Hofrat zurück, und seine wasserfahlen Augen schweiften andächtig durch den Raum; »das ist ja eine fürstliche Pracht, ein sehenswerter Anblick. Was aber nicht hindert, daß ich meine Rechte geltend machen muß. Neue sechs Monate, neue Prozente. Warum ärgert das meine in Geldsachen sonst so verständige Nichte?«

»Weil es gottverbotener Wucher ist, Onkel Klemens«, brauste Ulrike auf. »Zwanzig Prozent! Kein Jud getraut sich sowas. Das geht gegen das Strafgesetz. Das tu ich nicht. Da opponier ich.«

Der Hofrat führte die Teetasse an die schlaffen Lippen, nahm ein Stück Backwerk, zerbrach es schmatzend zwischen den zahnlosen Kinnladen und heftete von Zeit zu Zeit einen hämischen Blick auf Ulrike. »Strafgesetz«, brummelte er endlich mürrisch, wischte sich den Mund und faltete die Hände, »wer redet unter Blutsverwandten von Strafgesetz. Damals hast du gewinselt und mir das Blaue vom Himmel herunter versprochen, heute paßt es dir, zu opponieren und vom Strafgesetz zu faseln. Deine Herrschaft wird sich hüten, wegen solcher Lumperei von zweitausend Gulden einen Skandal vom Zaun zu brechen.«

»Ich habe keine Herrschaft, Onkel Klemens, merken Sie sich das«, wies ihn Ulrike giftig zurecht.

»So? Ach so. Dann bist du wohl selber die Herrschaft hier? Nun, da hast dus wirklich weit gebracht. Ich habs immer prophezeit: die Ulrike, die wirds weit bringen. Um so erbärmlicher, deinem alten Onkel, der mit einem Fuß im Grabe steht, wegen zweitausend Gulden ein Maul anzuhängen. Aber so gehts. Auf Dank soll man nicht zählen.«

Während Ulrike sich mißgelaunt erhob und zum Fenster trat, um den Fall zu bedenken, nahm der Hofrat verstohlen eine Handvoll Backwerk und schob es schnell in die Hintertasche seines Gehrocks. Er wollte der Smirczinska etwas von den seltenen Köstlichkeiten mitbringen und außerdem ein paar Stücke auf sein Nachttischchen legen.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Onkel Klemens«, sagte Ulrike und drehte sich um. »Sie lassen mir von den zweitausend Gulden den fünften Teil ab. Ich hab mir das Mittlergeld redlich verdient. Weigern Sie sich, so mags drauf ankommen. Willigen Sie ein, so bring ich Ihnen morgen die sechzehnhundert Gulden und wir reden nicht weiter drüber.«

Der Hofrat zog seine Horndose heraus und schnupfte. »Da haben sie jetzt wieder ein neues Schulgesetz im Parlament eingebracht«, raunzte er; »Stänkereien, nichts wie Stänkereien. Ein Richelieu wär nötig, ein Innozenz. Die Daumschrauben fehlen, meine Gute, der Spielberg fehlt. Ich habs ihnen immer gesagt: wie wollt ihr ohne Spielberg regieren? bei uns ohne Spielberg regieren? Aber nein, da schlottern sie schon, wenn einer von den Hetzern und Ketzern bloß ins Tintenfaß spuckt. Pressefreiheit! Das ists, was uns zugrunde richtet. Königgrätz war ihnen nicht genug, sie brauchen noch ein zweites Austerlitz oder eine Kommunardenschlacht nach geschätztem Pariser Muster. Es wird ein Ende mit Schrecken nehmen, das sag ich, ein heilloses Ende.«

»Nun, Onkel Klemens?« fragte Ulrike, die mit verschränkten Armen vor ihm stand.

»Erst bringt die Regierung das Volk auf den Hund, dann das Volk die Regierung. So gehts. Und die Jugend hat keine Religion mehr und die Geistlichkeit keine Gewalt.« Er seufzte. »Den fünften Teil?« sprach er in demselben raunzigen Ton weiter; »das ist ja ein viel größerer Wucher als der, den du mir vorwirfst. Aber wir wollen sehen, wir wollen sehen. Und gibt es dann keine weiteren Verdrießlichkeiten? keine neuen Stänkereien? Na schön, auch recht. Dick hast dus hinter den Ohren, faustdick. Wie lange wirds dauern, wirst du wieder nächtlicherweile an mein Bett geschlichen kommen und die Schlüssel stibitzen und doch wieder Verdrießlichkeiten und Stänkereien anstiften. Wie war das doch damals? Er hatte sich erhoben und stieß ihr mit einem meckernden Laut den dürren Zeigefinger unter das Kinn. »Wie hast du doch gesagt? Hier wird nicht geträumt … was? Prächtig, Ulrikerl, prächtig. Halte dich nur dran. Nicht träumen. Immer die Augen offen. Immer auf dem Qui vive. Zehn Prozent für mich, zwanzig Prozent für dich, das heiß ich wahrhaftig nicht träumen.«

Er wird ein wenig schwachsinnig, der gute Onkel Klemens, dachte Ulrike, während sie ihn hinausbegleitete. Als sie zurückkehrte, vernahm sie vom andern Flügel des Hauses her gellende Schreie. Die Tür von Esthers Zimmer war offen. Aimée stürzte ihr entgegen und rief: »Schnell, Ulrike, um Gottes willen!«

In der Mitte des Raumes stand Lothar über Esther gebeugt, die er auf den Teppich geschleudert hatte. Seine Hände waren in ihre Haare verwühlt, und halbirre Worte sprudelten aus seinem Mund. Ulrike packte ihn. »Willst du augenblicklich loslassen, du Wüterich!« herrschte sie ihn an.

Er wankte gegen die Wand. »Ulrike«, stammelte er, »Ulrike.«

Ruf aller dieser ohnmächtigen, wollerischen, gierigen und verwirrten Seelen: Ulrike. »Nun, was gibts? Was treibst du da mit deiner Schwester?« zürnte Ulrike; »schämst du dich nicht? muß man dich bändigen wie einen Betrunkenen?«

Lothar streckte die Arme gegen die am Boden Liegende aus, deren Oberkörper unter der Fülle des gelben Haares begraben war. »Sie soll nur nicht ihr Gesicht zeigen«, keuchte er, »sie weiß warum. Sie soll keinem Menschen in die Augen sehn. Und alle sollt ihrs wissen. Da!« Er griff in die Tasche, zog den zerknüllten Brief hervor und warf ihn hin. »An Eduard schreibt sie. Briefe schreibt sie ihm. Bietet sich ihm an. Daß ihrs nur alle wißt. Ist seine Geliebte wahrscheinlich. Daß ihrs nur wißt. Die ganze Welt solls erfahren. Dafür will ich schon sorgen.«

Esther richtete sich mit einem Ruck zum Sitzen empor und sagte dumpf und drohend: »Schafft das gemeine Tier hinaus, den Dieb, der die Briefe seiner Freunde stiehlt.« Sie war leichenblaß.

Da schritt Aimée auf sie zu, blickte mit kalter Verachtung auf sie nieder und sagte: »Rechtfertige dich lieber. Ist es wahr, was er spricht? Antworte, du ehrloses Ding«, brach sie erbittert aus, »oder ich speie dir ins Gesicht vor Ekel.«

»Sie wirds nicht wagen zu leugnen«, schrie Lothar und lachte schrill; »kannst es ja schwarz auf weiß lesen. Lies es doch!«

Aimée bückte sich nach dem Brief, aber Esther ergriff ihn blitzschnell und warf ihn in das Feuer des offenen Kamins. Mit einem Aufschrei kniete Aimée auf die Fliesen vor dem Kamin und langte in die Flammen, um sich des Papiers zu bemächtigen. Esther stand auf, schaute den Bruder, dann die Schwester an und sprach: »Was seid ihr denn für Menschen? Was redet ihr? Was tut ihr?«

»Bequem, die gekränkte Unschuld zu spielen, wenn man eine Anklage nicht widerlegen kann«, rief ihr Aimée feindselig zu, und Lothar brach abermals in das häßliche Gelächter aus.

»Du verschwindest auf der Stelle aus diesem Zimmer«, wandte sich Ulrike mit hocherhobenem Kopf an ihn. »Keine Antwort will ich hören, sonst bekommst dus mit mir zu tun. Auch gehst du keinen Schritt aus dem Haus, sondern wartest bei dir drüben auf mich. Und du, Aimée, marsch, hinaus mit dir ebenfalls. Mit Esther spreche ich und niemand anders. Da seht«, unterbrach sie sich spöttisch, »eure Schwester Josephe wundert sich schon das Schwarze aus den Augen.«

Josephe war auf der Schwelle erschienen und schweigende Zeugin des ganzen Auftritts geworden. Sie begriff nichts; was sich vor ihr abspielte, war wie ein böser Traum. Sie sah Ulrike an, tief und lange, staunend und traurig. Dann ging sie still wieder weg.

Als Ulrike mit Esther allein war, schloß sie die Tür, ging auf sie zu und legte die linke Hand schwer auf ihre Schulter. »Hör mich an, liebes Kind«, sagte sie ruhig und kalt, »du wirst mit deinem Ferry Lex ins Bett gehen. Über die nötigen Zeremonien vorher laß dir keine grauen Haare wachsen. Wo anders hin aber wirf deine schönen Augen nicht, denn der«, sie stach mit dem Daumen der Rechten bedeutungsvoll über ihre Achsel, »der gehört vorläufig mir. Verstehst du?«

Esther blickte sie schweigend an und zitterte. Dann senkte sie den Kopf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Deswegen bleiben wir aber die besten Freunde«, sagte Ulrike; »es muß nur Klarheit herrschen zwischen den Menschen.«

Sie ging zu Aimée. Die Unterhaltung mit ihr dauerte nicht viel länger und hatte die gleiche niederschmetternde Wirkung. Im Lakonismus bestand Ulrikes wahre Kraft; der Wortüberfluß diente ihr nur dazu, sich zu verstecken. Mit Lothar verfuhr sie glimpflicher. Als sie sich zu ihm setzte und vernünftig mit ihm redete, begann er zu schluchzen. Er sagte, er könne nicht begreifen, was in ihm vorgehe, am liebsten ginge er in ein Land, wo ihn keiner kenne. Doch wenn er dann denke, daß er Eduard Melander nicht mehr sehen dürfe, erscheine ihm das ganze Leben freudlos. Ulrike möge ihm doch erklären, was das sei, ob es etwas Schlechtes, etwas Verwerfliches sei, ob sie ihn verachte, ob sie ihm helfen könne.

Ulrike antwortete, sie wolle es versuchen. Er dürfe vor allem sich selber nicht fallen lassen. Das mit dem fremden Land sei keine üble Idee, darüber müßten sie noch sprechen. Inzwischen möge er zusehen, des rebellischen Geistes Herr zu werden, und sie wolle auch Melander bitten, daß er ihm darin beistehe. So beruhigte und tröstete sie ihn. Sie nannte das: die Menschen schneuzen.

Dann war sie müde. Es war ein bewegter Tag gewesen. Zum Glück wurden am Abend keine Gäste erwartet. Nach dem Essen erstattete sie noch Christine den gewohnten Bericht; um zehn Uhr zog sie sich zurück und ließ zu Mylius hinaufsagen, der nach ihr verlangt hatte, sie sei unpäßlich.

In ihrem schönen und geräumigen Zimmer setzte sie sich aufatmend in den Lehnstuhl, schob den kleinen Schirm mit japanischen Stickereien vor die Lampe, drückte den Kopf in das Polster, schloß die Augen und gab sich ihren Gedanken hin. Von Zeit zu Zeit warf sie ein Holzscheit in den Ofen, denn es war kalt draußen, und das Feuer erhöhte das Gefühl der Geborgenheit.

Wenn einmal die zwei Racker an den Mann gebracht sind, wird mehr Ruhe im Haus sein, überlegte sie; der Bub kann auch nicht ewig hier herumsielen, das fühlt er selber, und dann muß man für die Josephe eine geeignete Partie finden. Damit braucht man nicht allzulange zu warten; sie wird siebzehn, und je früher man die tugendhafte Heilige los wird, je besser. Der gute Mylius wird schließlich und endlich den Weg alles Fleisches gehn; möge er hundert Jahre alt werden, aber er verfällt zusehends. Dann hab ich mit Christine allein zu tun, und dann … sie lächelte.

Der Blick, den sie in die Vergangenheit richtete, bereitete ihr nicht minderes Vergnügen als der in die Zukunft. Ich habe den Alten auf der ganzen Linie geschlagen. Ich habe Anastasia bei mir und sie hat zu essen und hat zu leben; ich habe Franz ans Haus attachiert, und wenn Severin aus Bosnien kommt, wird er auch ein Plätzchen am Tisch finden. Ich habe einiges zurückgelegt, einiges erworben, und mit der Plackerei hats ein Ende.

Sie hatte Lust, das im Geist gezogene Ergebnis durch den Augenschein zu bekräftigen. Sie erhob sich, nahm die Schlüssel aus der Ledertasche, die an ihrem Gürtel hing, und sperrte den Schrank auf, dann die Kommoden, dann die bemalte Truhe, die am schmalen Ende des Bettes stand. Im Schrank waren die Kleider verwahrt, die ihr Christine geschenkt; ein schwarzseidenes Gesellschaftskostüm mit Spitzenfichu; ein kostbares weißes Ballkleid, plissiert und mit Pailletten; zwei Straßenkleider, ein englisches Kostüm, ein Astrachanpelz, zwei Wintermäntel und ein Frühjahrsmantel; die Hüte, die Schirme, die Schuhe, alles neu, alles von feinster Machart. In den Kommodenladen befand sich die Wäsche; Spitzenhemden mit dem gestickten Namen Ulrike und farbigen Bändern, Spitzenhöschen, Blusen, Taschentücher, Strümpfe durch die ganze Farbenskala; ein indischer Schal, den ihr Aimée zum Geburtstag gekauft; sieben Meter Atlas und neunzehn Meter Battist Linon; eine Brüsseler und eine Valencienner Spitze, letztere vier Ellen lang.

Sodann entnahm sie der Truhe einen Fächer aus braunem Schildpatt mit weißen Straußfedern, Geschenk von Lothar; einen zweiten Fächer aus Elfenbein mit Goldintarsia und Altwiener Malerei, Geschenk von Mylius für aufopfernde Pflege; ferner einen Ring mit einer großen, von Rauten umrahmten Perle und ein goldenes Armband, darstellend eine mehrfach gewundene Schlange, deren Augen zwei Saphire bildeten: Geschenk von Ferry Lex; ein kleines, aber sublim angeordnetes Diadem, Geburtstagsgeschenk von Esther. Zuletzt kam das Sparkassenbuch. Sie schlug es auf. Es lautete auf die Summe von dreizehntausendachthundert Gulden. Es lag eine Aufstellung dabei, aus welchen Posten diese Endsumme zusammengeflossen war, Zeugnis der Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit. Zum Beispiel: Renumeration des Möbelfabrikanten und des Möbelhändlers; Provision bei Einkäufen; von der Vermögensverwaltung des Herzogs von Chamfort erhaltene Provision; von Christine aufgezwungene Vergütung; Taschengeld; und so weiter in langer Folge.

Die Menschen wollten ihr wohl. Man verstand ihre Dienste zu schätzen. Man war zur Einsicht ihrer Nützlichkeit gekommen und hatte sich entschloffen, sie schadlos zu halten. Sie leistete Ersprießliches. Sie gönnte sich keine Rast. Sie war von morgens früh bis abends spät auf den Beinen. Ohne sie wäre das Uhrwerk ins Stocken geraten. Sie diente den Menschen mit Augen, Mund und Hand, mit dem Herzen wie mit den Füßen, mit dem Verstand wie mit dem Leibe. Erkenntlichkeit durfte sie fordern, und wenn der greifbare Ertrag für die abgelaufene Frist auch nicht gering zu heißen war, so hoffte sie doch, daß er in Bälde weit beträchtlicher werden würde.

Sie verschloß alle Gegenstände wieder, holte eine Flasche Chateau Lafite und ein Glas aus einem Mahagonischrein, entkorkte sie, schenkte das Glas voll und nippte mit kennerischem Bedacht. Hierauf setzte sie sich wieder in den Sessel, zündete eine Zigarette an und schaute mit heiterer Ruhe den Rauchwölkchen nach.


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