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Josephe

Die gemeinsame Stube, die Ulrike und Josephe innehatten, brachte sie in jedem Sinn einander näher.

Bisher war Josephe gewohnt gewesen, der Mutter über alles Rechenschaft abzulegen, was sie gedacht und getan, über Bücher, die sie gelesen, Begegnungen, die sie gehabt, Vorsätze, die sie gefaßt, Geschehnisse, von denen sie gehört. Sie zeigte sich hierin von einer unschuldigen und selbstverständlichen Mitteilsamkeit, und was sie vorbrachte, war das Unmittelbare, aus dem Quell geschöpft, ehe er sich an der Oberfläche verbreitert. Begriff und Wort waren verschwistert; das Empfinden drängte zum Licht und verlangte seine Grenze und seine Form.

Seit sie die Mutter nicht mehr bereit fand, alle freie Zeit, die ihnen gemeinsam blieb, mit ihr zu teilen, weil Ulrike mit ihrer ganzen Unbekümmertheit dazwischentrat, war sie in ein kälteres Klima versetzt, und der freudigste Auftrieb ihres Wesens hatte kein rechtes Ziel mehr. Bevor Ulrike ins Haus gekommen, war es oft geschehen, wenn die abziehenden Beschäftigungen des Tages sie einander ferngehalten hatten, daß sich Christine noch spät am Abend an Iosephes Bett niedergelassen und die Mitternacht sie noch in Gespräche vertieft gefunden hatte. Das entbehrte Josephe jetzt.

Es lag Ulrike daran, die Art der Beziehung zwischen Mutter und Tochter von beiden Seiten her zu ergründen, um sie von beiden Seiten her zu lockern. Sie erkannte, daß ihr Wort auf Christine nicht dauernd zu wirken vermochte, wenn Josephes Wort dagegen stand, und daß sie sich Josephes bemächtigen mußte, wenn sie Christine halten wollte. Schwieriges Beginnen, namentlich im Hinblick auf Josephes spröden Charakter. Wo war die Vorsichtige und klar Urteilende zu fassen? Mit grober Schmeichelei, nicht einmal mit feiner, und dem Honig, mit dem man die andern fing, konnte man da nicht viel ausrichten.

Die Liebe Josephes zur Mutter hatte etwas Unbehagliches für Ulrike. Sie befand sich nicht wohl dabei, es war ihr zumute wie einem eingefleischten Skeptiker, der gezwungen wird, täglich dem Hochamt beizuwohnen und fromme Mienen zu zeigen. Der mystisch-religiöse Zug in dem Verhältnis, der insbesondere bei Josephe hervortrat, erweckte ihren stärksten Widerwillen, auch als sie erfuhr, wie tief das Gefühl wurzelte und wie weit es zurückreichte.

In einer Nacht hatten sie sehr lange geplaudert. Das Licht war ausgelöscht, jede lag in ihrem Bett, und Josephe, die je munterer und aufgeschlossener wurde, je mehr die Stunde vorrückte, konnte kein Ende finden mit Fragen und Erinnerungen. Ulrike lenkte sie geschickt dort hin wo sie sie haben wollte, und Josephe erzählte folgendes.

Sie war als achtjähriges Kind in schwerem Diphtheritisfieber gelegen. Ein zweijähriges Brüderchen, verzärtelter Liebling der Mutter, war den Tag vorher an derselben Krankheit gestorben. Sie wußte es mit jenem halben Wissen, das der umdämmerte Geist noch besitzt; sie hatte das fassungslose Weinen der Mutter gehört; sie hatte fremde Leute im Haus mehr gespürt als wahrgenommen, und was sonst noch in ihre Empfindung drang, war Trauer, Dunkelheit, Vernichtung und Abschied. Sie lag also da und niemand war im Zimmer. Im Winkel knisterte ein trübes Öllicht. Da öffnete sich leise die Tür, so schien es, und mit geisterhaftem Gang, weißgewandet, weiß im Gesicht, von der blonden Haarkrone schwer belastet, trat die Mutter an ihr Bett und trug, wunderlich zu sehen, im Arm den gestern gestorbenen Knaben, den Liebling ihrer späten Jahre, und säugte ihn, wunderlicher noch, an ihrer Brust. Obgleich kein Leben mehr in dem Kinde war, hing es doch mit seinen Lippen an der Mutterbrust, und es kam Josephe vor, als tränke es ein anderes höheres, unvergleichlich freudigeres Leben daraus, das mit seinem Hiersein und sogar mit der Liebesfülle, die es hatte genießen dürfen, nichts mehr gemein hatte. Sie streckte die Arme aus, um das Brüderchen zu sich zu nehmen; die Mutter senkte den Kopf und gab ihr das Kind und sprach: verbirgs in dir und schließ es fest in dich hinein. Deutlich verstand sie diese Worte, und da hatte sie auf einmal eine gewaltige Vorstellung von der Mutter; etwas so Erhabenes und Feierliches lag in dem bloßen Gefühl: Mutter, so des Dankes über alle Maßen Würdiges und dem Unbegreiflichen Zugehöriges, daß dies ihr Inneres mit völlig neuem Leben füllte, mit neuer Zuversicht und Entschlossenheit. Sie wußte nun, daß sie genesen würde, und wollte es auch, aber was sie in jener Nacht erschaut und erfahren, blieb als unversehrbares Bild in ihrem Gemüt.

Ulrike schnitt im Finstern eine Grimasse. Das war ihr alles zu hoch und klang nach Überspanntheit und nach Traktätchen, wie sie dort im Norden, wo sie gewesen, üblich waren. Doch wie ging das zu: diese Josephe machte im allgemeinen einen ziemlich nüchternen und verständigen Eindruck; es schien, daß sich die Nüchternheit an irgendeinem Punkt überschlug; bei den Myliusschen wußte man nie, wie man dran war; oder daß die Phantasie, von einer besonderen Beschaffenheit, in einer harten Schale lag, die erst von einer Leidenschaft gesprengt würde. Das konnte man sich zunutze machen.

Auch dies erzählte Josephe: In ihrem zwölften Jahr war sie einmal allein zu Hause, da hörte sie furchtbares Schreien aus der Kammer der Magd. Sie eilte hinzu und war Zeugin einer Geburt. In dem auch bei Tag finstern Verschlag brannte eine Kerze; deren Schein beleuchtete den zuckenden Schoß, der einen Klumpen blutigen Fleisches aus sich herausstieß: neues Leben. Sie begriff ohne Schrecken, fast auch ohne Mitleid; das Geheimnis blieb bestehen, doch geriet sie in abgründiges Denken. Mit andern Augen sah sie die Mutter an, mit andern auch sich selbst; wie wenn sie ein schmerzlich Abgespaltenes wäre und jene der Stamm; wie wenn sie durch ihre Existenz einen Raub verübt hätte, Blutraub, Seelenraub; wie wenn ihr Ich- und Selbstsein eine unbeglichene Schuld wäre und das göttlich-düstere Wunder, welches Mutterschoß hieß, auf die letzte Erhöhung und Verehrung noch zu harren hätte.

»Über solche Dinge spintisiert man nicht«, erklärte Ulrike mit einer bei ihr sonderbaren Regung von Prüderie; »darin unterscheidet sich ein Weib nicht von der Kuh im Stall, und unser Herrgott hat es wohlweislich so eingerichtet, daß wir ihm nicht in seine Apotheke gucken können. Wenn er die Fensterläden versperrt und den Riegel vor die Tür schiebt, wird er schon wissen warum.«

»Gott ist aber kein Apotheker«, antwortete Josephe, und man hörte ihrer Stimme an, daß sie lächelte, »er ist vielleicht ein Uhrmacher.«

»Ein Uhrmacher? Wieso?«

»Ich weiß nicht recht. Ich denk mir ihn so. Der liebste Mann auf der Welt ist mir der Uhrmacher. Er sitzt so ernst und so geduldig und schaut sorgenvoll durch seine Lupe auf die Rädchen.«

»Geduldig, ganz recht«, pflichtete Ulrike bei, »geduldig muß man sein mit den Menschen, das stimmt.«

Bei andern dieser nächtlichen Gespräche war es wieder Josephes unstillbares Verlangen nach Wahrheit, nach Aufschluß über Menschen und menschliches Treiben, das Ulrike in Verlegenheit setzte. Sonst hatte sie sich wohl damit an die Mutter gewendet, jetzt floß das volle Herz gegen Ulrike über. Was wußte sie nicht alles anzuführen: das nichtige Geschwätz eines gesellschaftlich höher Stehenden, das andächtig hingenommen, die Brutalität gegen eine dienende Kreatur, die von niemand gerügt wurde; die Nachsicht, die der Reiche, die Härte und Geringschätzung, die der Arme erfuhr; all das zweierlei Maß und Gewicht; die lügnerische Solidarität der Standesinteressen; die Phrasen, in die sich Unvermögen und böser Wille hüllten; die frech verteidigten Privilegien des Schädlings; die schnöde Vergewaltigung des Rechts, die gebilligt wurde, sofern ihr nur die Macht zur Seite war; die Schamlosigkeit, mit der jedermann die öffentlich gepriesenen Ideale für seine Person verleugnete, wenn ihm der kleinste Vorteil dafür winkte; daß man einem ins Gesicht schön tat, um ihn, sobald er den Rücken gekehrt, zu schmähen. Warum dem so sei, begehrte Josephe zu wissen, dringlich, auf Beispiele hinweisend. Was Menschen äußerten und was sie taten erregte ihre brennendste Teilnahme, und die unscheinbarsten Züge, die flüchtigsten Beobachtungen blieben in ihrem Gedächtnis haften.

Ulrike, ungern zur Antwort verhalten, griff zu Redensarten. Sie entschuldigte dies und jenes mit dem Brauch, mit der Notwendigkeit der Unterordnung, der Mangelhaftigkeit der Institutionen, dem vorgezeichneten Schicksal. Josephe ließ es nicht gelten; den Brauch nicht, der Heuchelei und Lüge freispricht, die Unterordnung nicht, die zur Knechtschaft verdammt, die schlechten Einrichtungen nicht, die es den Mächtigen leicht machen, das Elend der Bedrückten zu übersehen. Ihre Einwände und Feststellungen hatten die beharrliche Logik der vollkommenen inneren Unbestechlichkeit. Es gab Augenblicke, wo sie sich förmlich an Ulrike klammerte, an deren Erfahrung und Gefühl; sie forderte Licht, Beschwichtigung, Gehör. Sie berief sich auf die Religion, echte Protestantin, die sie war, und die Lehre, in ihrer Umwelt zu totem Buchstaben erstarrt, lebte in ihrer Brust als feuriger Stoff.

Aus Unterhaltungen mit Christine wußte Ulrike, daß gerade dieses Ungestüm, diese geistige Inbrunst es verhütet hatte, daß Christine vom Alltag zermürbt und verdüstert wurde. Es erfrischte sie, es verjüngte sie, es gab ihr Mut, Ausdauer und Festigkeit. Doch immer nur unter Josephes unmittelbarem Einfluß, unter dem Zauber ihrer Nähe, ihrer Berührung, ihres Blicks, ihres zarten und unermüdlichen Werbens.

Ihr aber, Ulrike, war das ganze Fragen, Wollen, Deuten, Grübeln und Forschen Josephes im höchsten Grade unbequem. Die Lebensauffassung des jungen Mädchens lief ihrer innersten Natur zuwider, und nur mit großer Selbstbeherrschung vermochte sie sich zu aufmerksamem Zuhören und einigermaßen entsprechender Erwiderung. Es wurde ihr aber von Mal zu Mal schwerer. Lästiger Querkopf, dachte sie; was stochert sie beständig in den fertig gekochten Speisen herum, legt die Worte auf die Goldwage und zermartert sich das Hirn, warum das Gras grün und der Schnee weiß ist, warum der Herr Meier ein schiefes Maul und die Frau Müller Sommersprossen im Gesicht hat? Vorwitziges Getue. Man soll die Sachen auf sich beruhen lassen und nicht in alles die Nase hineinstecken.

Und nicht bloß weil es die beschlossenen Zwecke heischten, sondern aus langsam wachsendem Haß, Wesens- und Herzenshaß, richtete sie ihr Planen und Handeln gegen Josephe. Josephe war die geborene Widersacherin.

Der Verdacht, daß Ulrike darauf hinarbeitete, sie von der Mutter fernzuhalten, kam Josephe gar nicht in den Sinn. Wäre er aufgetaucht, so hätte sie doch keinen Grund gefunden, der Ulrike hätte veranlassen sollen, an dem besten Glück in ihrer beider Leben zu rütteln. Aber sie machte sich Gedanken darüber, daß Ulrike plötzlich so viel Herrschgewalt im Hause hatte, ihre Befugnisse von Tag zu Tag erweiterte und durch unerhörte Neuerungen die Wirtschaft aus dem Geleise hob. Sie machte sich Gedanken darüber, was zwischen Ulrike und dem Vater im Werke war und durch welche Umstände sie die Macht erlangt hatte, daß sie vor ihn hintrat, gleich gegen gleich, und daß er sie zu fürchten schien, er, dessen Wort bisher das allein gefürchtete gewesen war.

So oft sie Ulrike fragte und zur Rede stellte, wich diese aus. Auch in den vertrauten nächtlichen Zwiegesprächen wurde sie abweisend, wenn sich Josephe nur eine Andeutung entschlüpfen ließ. »Ein andermal, es ist noch nicht an der Zeit«, sagte sie; oder: »Das ist nichts für dich, das sind praktische Angelegenheiten«, und verstummte.

Die Auftritte zwischen Ulrike und dem Vater konnten ihr nicht verborgen bleiben. Daß es sich dabei um Geld handelte, unterlag keinem Zweifel, auch nicht die Beziehung dieses Geldhaders zur Mutter, zu den Geschwistern, zu ihr selbst. Es schien, daß Ulrike für sie alle gegen den Vater kämpfte; aber wodurch hatte sie sich das Recht hiezu verschafft, wie konnte sie den Vater in solche Raserei versetzen?

Sich an die Schwestern zu wenden war vergeblich. Sie antworteten nicht einmal. Auch waren sie jetzt den ganzen Tag über unterwegs, oft in Ulrikes Gesellschaft, und wußten sich vor Geheimniskrämerei nicht zu lassen. Lothar zählte nicht. Er schien überaus beschäftigt; er hatte eine Menge neuer Bekanntschaften, mit denen er sich an luxuriösen Orten traf. So blieb nur die Mutter. Da hatte aber Ulrike vorgebaut, indem sie viel Aufhebens von einer nervösen Erschütterung machte, die Christine erlitten habe und sie als äußerst schonungsbedürftig hinstellte. Schon aus Dankbarkeit gegen die treusorgende Freundin also mußte sich Josephe ihren Anordnungen fügen, und um Ulrike ihren Gehorsam zu beweisen, wählte sie für das Beisammensein mit der Mutter die Stunden, in welchen auch jene bei ihr war. Das erregte und flackrige Wesen der Mutter war aber nicht danach angetan, ihre Beklommenheit zu beenden.

An dem Abend, wo die Geschwister im Theater waren, hörte sie vom Zimmer des Vaters her die Stimme Ulrikes fast ununterbrochen auf ihn einreden. Es klang nicht wie Streit, aber als trüge die Luft es ihr zu, hatte sie deutliche Empfindungen von dem, was den Mann bewegte, sah sie förmlich sein von ohnmächtiger Wut verzerrtes Gesicht. Nachdem es wieder still geworden war, trieb sie die Unruhe aus der Kammer, und wie sehr erstaunte sie, Ulrike und den Vater friedlich im Wohnzimmer zu finden, sie zu seinen Füßen zu sehen, im Begriff, ihm die Stiefel auszuziehen. Auf alles war sie gefaßt gewesen, nur darauf nicht, und der Anblick wirkte auch keineswegs als versöhnliches Zeichen auf sie, sondern berührte sie als etwas Unheimliches und Furchterweckendes, sowohl die starre Haltung des Vaters, sein verkniffenes Gesicht mit den hilflos blinzelnden Augen, wie auch Ulrikes dienerinnenhaft ergebene Miene, die gar nicht zu ihrer sonstigen Art paßte. Nach Ulrikes unfreundlichem Zuruf verließ sie das Zimmer wieder, kehrte in ihre Kammer zurück, verließ auch die wieder und beschloß, zur Mutter zu gehen. Sie konnte vom Flur aus durch die Kammer der Schwestern zu ihr gelangen.

Christine lag auf dem Sofa, in einen Winkel gekauert wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Der Blick war Angst und Horchen.

»Mutter, was geschieht eigentlich bei uns?« fragte Josephe mit errungener, doch durchzitterter Ruhe.

»Was schon lange hätte geschehen sollen, mein Kind«, antwortete Christine in die Luft hinein, »wozu wir aber zu schwach und zu feig waren.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte Josephe kopfschüttelnd. »Es kommt mir vor, als hättest du ein Zerwürfnis mit dem Vater. Warum sprichst du dann nicht mit ihm? Warum spricht nur Ulrike mit ihm?«

»Du hast ja gehört«, versetzte Christine wie geistesabwesend; »zu schwach und zu feig. Außerdem wüßte ich wirklich nicht, was ich mit deinem Vater zu sprechen hätte.«

»Mit meinem Vater? Mit deinem Mann«, flüsterte Josephe bestürzt. »Das bist du nicht, die das sagt, Mutter.«

»Doch, Josephe, ich bins, ich und keine andere«, entgegnete Christine; »mein Mann, ja, wenn man will; wenn man es anders will, mein Zuchtmeister. Euer Vater, ja; insofern er euch in die Welt gesetzt hat. Das ist aber auch alles, was er für euch getan hat. Er hat nicht als Freund an mir gehandelt, jetzt erst ists an den Tag gekommen, und deshalb hat er auch keinen Anspruch auf meine Freundschaft mehr. Verzeih meine Bitterkeit, Josephe; das alles ist nichts für deine Ohren; du bist noch ein Kind und hast kein Urteil über so traurige Verhältnisse.«

Josephe sah sie eine Weile fest an. »Ich bin kein Kind mehr«, sagte sie dann, »und wär ichs noch: Kindheit ist eine Last.«

Betroffen von dieser Äußerung streckte Christine beide Arme aus und Josephe beugte sich und zog die Hände der Mutter an die Lippen. »Du sprichst von traurigen Verhältnissen, Mutter«, sagte sie verwundert; »was sind es denn für Verhältnisse? Weshalb darf ich nichts davon wissen? Bin ich denn deines Vertrauens nicht mehr würdig?«

»Ach nein«, versetzte Christine etwas betreten; »Ulrike und ich, wir wollten dich nicht betrüben und dich nicht in den Strudel ziehn, der plötzlich in unserer Familie aufgerissen worden ist. Wir wollten dich so lang wie irgend möglich verschonen. Aber ich glaube selbst, es geht nun nicht länger, und Ulrike wird nichts dagegen haben, wenn ich dich von allem unterrichte.«

Hastig und sprunghaft erzählte sie der regungslos lauschenden Josephe, daß und wie es Ulrike gelungen war, Kenntnis von dem ungeheuren Reichtum des Vaters zu gewinnen. Eine derartige Entdeckung gestalte natürlich das ganze Leben anders; abgesehen davon, daß ihr aus der jahrelangen Verheimlichung und gehässigen materiellen Einengung moralische Rechte erwachsen seien, würden durch die bloße Tatsache auch ihre äußerlichen Rechte als Gattin und Mutter auf sichrere Grundlage gestellt. »Was das zu bedeuten hat, kannst du dir ja ungefähr denken«, schloß sie; »uns allen wird zumute sein wie lebendig Begrabenen, die aus der Gruft steigen.«

Josephe, den Kopf gesenkt, antwortete lange nichts. Dann begann sie stockend: »Ich verstehe dich nicht, Mutter. Alles, was du sagst, ist mir rätselhaft. Du sagst, Vater sei ungeheuer reich, und er hätte seinen Reichtum verheimlicht. Ist denn das nicht sein gutes Recht? Mit dem, was er durch seine Arbeit, sein Wissen und seinen Fleiß erworben hat, kann er doch machen, was er will, kommt mir vor. Vielleicht hat er triftige Gründe gehabt, seinen Besitz zu verschweigen. Hast du ihn darum gefragt? Du müßtest ihn doch jedenfalls erst hören. Darf man ihm denn aus der Hand winden, was so ausschließlich und unbestreitbar das Seine ist? Materielle Einengung, sagst du. Haben wir denn Entbehrungen gelitten, Mutter? hat uns gehungert? haben wir gefroren? so, wie die Armen frieren, meine ich. Haben wir kein Obdach gehabt, keine Kleider, keine Schuhe? Wie kannst du also von Einengung reden; du weißt doch, wie viele Menschen verzweifelt um das Brot kämpfen, wie viel da draußen an Leben, genau so kostbares Leben wie unseres, jeden Tag zugrunde geht. Natürlich, es war nicht leicht für dich. Die Sorgen haben dich nie verlassen, und du hast dich demütigen müssen um des elenden Geldes willen; aber waren es schließlich nicht doch geringe Sorgen und kleine Demütigungen, und ist es nicht sündhaft, wenn man sich darüber ernstlich beklagt? Du bist der Ansicht, daß der Mann, der Vater, in demselben Verhältnis zu geben und auszuteilen hat, in dem er besitzt und verdient; daß die Angehörigen von seinem Reichtum wissen sollen, damit sie sich keinen Wunsch zu versagen brauchen. Der Ansicht bin ich nicht, Mutter. Ich finde, daß wir keine andern Rechte haben, als er uns zugesteht. Belehre mich doch, wenn du es anders glaubst.«

Christine schaute die Tochter überrascht an. Sie preßte die verflochtenen Finger hart unter das Kinn und schloß die Augen. »Wie selbstgerecht, Josephe«, rief sie plötzlich, »wie selbstgerecht du bist!«

»Wirklich, Mutter?« fragte Josephe erschrocken; »wieso denn? belehre mich doch.«

»Erwäge einmal das eine«, fuhr Christine beherrscht fort, »erwäge einmal: wie würdest du über einen Menschen urteilen, mit dem du dich auf Gedeih und Verderb zur Kameradschaft fürs Leben verbunden hast, und der dein Teil Plage, deine wenn auch noch so bescheidene Beisteuer zur Existenz mit Mißtrauen und Hinterhältigkeit belohnt? Nimm an, du lebst treulich an seiner Seite, verwaltest sein Gut, hast dafür allerdings dein Auskommen, sehnst dich aber, sehnst dir das Herz aus dem Leibe nach … sagen wir nach einem Stück buntem Stoff. Sagen wir, daß du mit ihm in der Einsamkeit haust, daß er alles getan hat, dich von den Menschen abzuschließen, damit keine Verführungen an dich herantreten, damit du auf ihn und sein Heim beschränkt bleibst und daß du dich dem auch ohne Murren unterwirfst. Nur sehnst du dich nach jenem Stück buntem Stoff. Er weiß, daß du dich danach sehnst, aber er behauptet, er könne es dir nicht geben. Du leidest; es mag ein törichtes Leiden sein, aber du leidest; es gibt auch Entbehrungen des Auges, der Seele, der Phantasie, und die sind manchmal härter als die des Magens. Endlich entsagst du mit der Zeit, überzeugst dich, daß es nicht sein kann; da fügt es der Zufall, daß du in einem Versteck, das er sich heimlich angelegt, ganze Berge von diesem bunten Stoff findest, von dem ein Weniges genügt hätte, dich glücklich zu machen, und den er, der Kamerad, dein Weg- und Schicksalsgenosse, in aller Stille aufgespeichert hat, bloß um ihn zu haben, begreifst du? um zu haben, um nicht geben zu müssen, um nicht froh machen zu müssen. Was wirst du tun? was wirst du denken? wie muß dir dabei ums Herz sein?«

»Ich weiß es nicht, Mutter«, brachte Josephe kaum vernehmlich hervor; »etwas ist trügerisch in deinem Gleichnis, aber ich kann nicht ergründen, was.« Ohne Unterlaß fühlte sie eine fremde Art in der Mutter, einen Ton, der nicht ganz mit dem übereinstimmte, den sie kannte und liebte, und es fehlte ihr die Kraft zur Entgegnung.

»Trügerisch?« fragte Christine verletzt, »was sollte daran trügerisch sein? Du kannst es nicht ergründen, weil nichts zu ergründen da ist. Die Wahrheit liegt auf der flachen Hand. Ich habe lange genug den Sturmbock abgegeben, lange genug den Sparapparat. Mein Leben ist dabei draufgegangen. Ich bin eine Frau und bin doch keine Frau, verstehst du? Ich habe fünf Kinder geboren, und damit ist alles gesagt, was ich als Frau gewesen bin. Wärme, Zuspruch, Behütung, Liebe: als Frau hab ich nichts davon erlebt. Schließ dich nicht puritanisch zu, Josephe, du weißt mehr von mir als alle andern. Einundfünfzig Jahre bin ich alt, und schau«, sie zog mit schmerzlich-eiligen Bewegungen die Nadeln aus ihrem Haar und ließ es auf die Schultern fallen, »mein Haar ist noch nicht grau. Es heißt, daß die innerlich Unverbrauchten lange nicht grau werden. Alles andere an mir ist alt, Josephe. Alt bin ich und müde. Aber den bunten Stoff, siehst du, den will ich nicht missen, noch jetzt. Ich muß ein wenig Sonne haben; mich verlangt danach, frohe Gesichter um mich zu sehen; mich dürstet nach Lichterschein und daß ein bißchen Schönheit und freier Geist um mich blüht. In meiner Jugend wars ein Traum: Feste zu feiern, Freude zu spenden; Menschen, unbeschwert von der groben Notdurft, kommen zu Gast. Die Vorfahren hattens gelebt, ich kam zu spät. Es ist alles dürftig und welk um mich gewesen, klein und gierig und häßlich und knickerig und fröstlich; ohne dich hätts mich zerbrochen, da hast dus; und nun mußt du doch, du, Josephe, mich fassen können.«

Sie sank auf das Polster zurück und kehrte das Gesicht zur Wand. Josephe bückte sich und hauchte einen Kuß auf ihre Schläfe. »Ich wills versuchen, Mutter«, sagte sie liebreich; »zürn mir nicht, es ist ja alles so neu und sonderbar.«

Aufblickend zuckte sie zusammen; Ulrike war eingetreten. Sie betrachtete Mutter und Tochter verdutzt. »Ist wer gestorben?« fragte sie kratzbürstig; »fast könnte man glauben, es wär ein Toter im Haus.« Sie wußte sofort, was vorgegangen war.

Josephe schaute sie groß an. Sie setzte sich auf den Stuhl, faltete die Hände und sagte: »Die Mutter hat mir alles erzählt, Ulrike. Es war ja Zeit. Warum sollte nur ich allein nichts wissen.«

»Nun, und wie hat das Fräulein Josephe es aufzunehmen geruht?« erkundigte sich Ulrike spitz und unzufrieden. »Es scheint, sie sieht unsere große Veränderung nicht mit günstigen Augen an. Das Reichsein macht ihr am Ende gar keine Freude. Oder doch?«

»Reich sein«, sagte Josephe vor sich hin, »bedeutet dir das wirklich was, Ulrike? Ist es so viel für dich? Was ists denn?«

»Das fragt sie!« rief Ulrike und drückte ihre Hände an die Wangen, »das fragt sie! Denk dir, du liegst unter einem Aprikosenbaum und der süße Saft träufelt dir in den Mund. Du mußt nicht einmal einen Finger ausstrecken, um zu pflücken, es träufelt und träufelt, und du hast den Mund voll Frische und Süßigkeit. Oder denk dir, du bist umgeben von hunderttausend dienstfertigen Wichtelmännchen, die dir jeden Wunsch erfüllen, eh du ihn noch ausgesprochen hast, schneller noch als die Geister von Aladdins Wunderlampe, denk dirs aus, und du brauchst nicht mehr zu fragen.«

»Also das richtige Schlaraffenland«, warf Josephe lächelnd ein; »aber Schlaraffenland ist nicht gerade das, was ich mir wünsche.«

»Nenns Schlaraffenland, nenns, wie du willst«, antwortete Ulrike, die sich immer mehr in Feuer redete; »jedenfalls hast du den Schlüssel, der alle Türen sperrt, und die Zauberformel, die alle Rücken beugt. Die Welt behängt sich mit Fahnen für dich; man streut dir Rosen auf den Weg; wo du hinkommst, ist Musik und Freude und Lachen; überall wirst du anerkannt, überall wird dir gehuldigt, und der ausgemachteste Griesgram und Menschenfeind gibt sich Mühe, dir zu gefallen. Verachtest du das vielleicht? Findest du die Menschheit ansonsten so gefällig und zuspringlich? Ists angenehmer, durch ein Jammertal zu wandeln und mit Jammergestalten zu seufzen als durch ein Paradies, auch wenn das Paradies manchmal nicht ganz waschecht ist? Aber eures, das soll herrlicher werden, als ihrs träumen könnt, das Gelobte Land soll es werden, wo Milch und Honig fließt, und ich bins, die euch hineinführt, ich, Ulrike, die euch bei der Hand nimmt und zu euch spricht ›Jetzt atmet, jetzt genießt.‹«

»Genießen, das ist auch so ein Wort«, sagte Josephe, die je verstimmter wurde, je mehr Ulrike sich enthusiasmierte; »es ist wie mit dem süßen Aprikosensaft, glaub ich; es dauert nicht lang, und der Gaumen verlangt Bitteres.«

»Wie altklug, wie methusalemsklug«, spottete Ulrike; »sagen Sie ihr doch, Frau Christine, daß viele ihr Bitteres schon bis zur Neige gekostet haben. Und wer wird dich abhalten, meine Liebe, dein Herz dorthin zu tragen, wo sie an den Wassern sitzen und weinen, die Trübsalbeladenen? Vergiß nicht, daß dich der Reichtum frei macht und daß die Schafsköpfe, die von Genügsamkeit und Kartoffelsuppe schwärmen, nicht einen einzigen Hungrigen damit satt machen und nicht einem einzigen von denen, die mit ihrer Gotteskraft im Dreck verkommen, nur zu einem freien Aufblick verhelfen können. Hast du das überlegt, du Neunmalgescheite?«

Wieder sah Josephe sie groß an, aber diesmal mit hellerem Blick.

Ulrike erhob sich. »Es ist halb elf, deine Mutter sollte schon längst im Bett sein«, sagte sie, legte den Arm um Josephe und begleitete sie hinaus.

Josephe war entwaffnet. Es war eine siegende Gewalt in Ulrike, gegen die man sich nicht wehren konnte. Unerschrocken stürmte sie auf alles los, was ihr im Wege war, auf die Wolken im Gemüt der andern, um sie mit einem Wehen ihres kräftigen Atems fortzublasen, auf die Hindernisse, die ihr Fuß beim Schreiten fand, um sie beiseite zu schleudern. Ihr Lachen steckte an, ihr Wort belebte, ihre Bieg- und Schmiegsamkeit beschäftigte und entzückte, ihre derb-furchtlose Offenheit zerstreute Bedenken, und so kam es, daß Josephe eine unklare Beschämung empfand, als sie mit ihr die Kammer betrat und ihr die Hand reichte, denn Ulrike wollte noch einmal zu Christine hinüber.

»Aber das sollst du wissen, Ulrike«, sagte sie leise, als Ulrike schon die Klinke gefaßt hielt, »wenn der Vater euch alle gegen sich hat, werde ich auf seiner Seite sein.«

Ulrikes Blick verfinsterte sich, aber sie erwiderte nichts. Als sie draußen war, murmelte sie vor sich hin: »Wir wollens abwarten, Schatz, es wird sich zeigen, was wir für dich tun können.« In Christines Zimmer machte sie sich angelegentlich zu schaffen, indem sie die Vorhänge zuzog, Decken zusammenfaltete und auf Stühle legte, den Leuchter auf den Nachttisch stellte, eine Karaffe mit Wasser füllte, Hantierungen, die sie bei sich spöttisch »nach dem Rechten sehen« nannte. Dann blieb sie vor dem Spiegel stehn, zupfte an ihrer Frisur herum und sagte mit tiefem, kurzem Auflachen: »Jetzt haben wir ihn.«

Da Christine sich gespannt aufrichtete, beeilte sie sich hinzuzufügen: »Nicht als ob er was versprochen oder sich schon zu einer Erklärung herbeigelassen hätte. So weit sind wir noch nicht. Einstweilen spürt er nur unsern entschlossenen Willen und verkriecht sich in seine letzten Verschanzungen. Und aus denen müssen wir ihn vertreiben.«

»Wenn es nur mit Güte und Überredung gelingt, Ulrike«, sagte Christine; »nichts ist ärger als diese Katastrophenstimmung im Hause. Es reibt mich auf.«

»Selbstverständlich mit Güte und Überredung«, antwortete Ulrike verdrossen; »ich bin von früh bis abends gut und tue nichts anderes als überreden. Meine eigene Stimme ist mir schon fad. Aber Sie haben recht, um so mehr, als wir darauf angewiesen sind, daß er bald klein beigibt. Mit den achtzehntausend Gulden können wir keine Sprünge machen, und er muß unbedingt in die große Kasse greifen, damit Schwung in die Geschichte kommt. Und nun gute Nacht, Teuerste, schlafen Sie wohl.«

Christine hielt ihre Hand. »Ich hoffe, Sie lassen uns nicht im Stich«, sagte sie; »und wenn Sie mich bloß der Möglichkeit berauben, meine Dankesschuld abzutragen, die ja schon begonnen hat, als ich Sie zum ersten Male sah, wär es schlimm genug.«

»Reden Sie mir nicht von Dank«, versetzte Ulrike mit Ungeduld. »Dank ist Bezahlung. Ulrike läßt sich nicht bezahlen. Sie ist von Kopf bis zu Fuß unbezahlbar.«

Christine lachte und Ulrike stimmte fröhlich mit ein.

Wenige Minuten später stand sie, die Kerzenflamme mit der Hand schirmend, am Bett der schlummernden Josephe. Sie sog Luft in die Lunge, dehnte die Brust aus, beugte sich etwas zurück und lächelte wie ein Mensch, der seinen Tag gut angewendet hat. Während sie sich langsam entkleidete, warf sie wieder einen Blick in den Spiegel, nickte sich anerkennend, doch ein wenig von oben herab, zu, dann legte sie sich hin, faltete die Hände über dem schöngeformten Busen und gähnte behaglich. Draußen ging die Flurtür, die Schwestern und Lothar kamen vom Theater. Sie sagte in den Abklang des Gähnens hinein: »Die Matratze taugt nichts, ich muß mich morgen nach einem anständigen Bett umsehn.«

Sie fand keinen Schlaf, und es war nicht die schlechte Matratze allein, die sie wachhielt. Es war der Gedanke an Josephe und die Furcht, daß ihr Josephe bei dem Werk, das so verheißungsvolle Fortschritte machte, in den Arm fallen könnte. Lange starrte sie mit zusammengezogenen Brauen in die Dunkelheit; endlich war sie über den Weg, den sie gehen mußte, im klaren.

Josephe kam ihr entgegen. Am andern Tag begehrte sie von Ulrike zu wissen, was sie mit ihrer Andeutung von Hilfe gemeint habe, die der Reiche zu leisten vermöge. Ulrike verbreitete sich zuerst nur allgemein über das Thema, ließ aber durchblicken, daß sie etwas Besonderes auf dem Herzen habe. Es gäbe gar vielerlei Elend in der Welt, sagte sie, und das ärgste sei dort zu finden, wo man sein Gewissen nicht einfach dadurch erleichtern könne, daß man in die Tasche greife und ein paar Taler auf den Tisch werfe. Nicht mit Geld sei da zu helfen, sondern mit Arbeit, mit hingebender Tätigkeit und indem man seine Tage opfere, seine Zeit. Wer anders aber könne Zeit opfern als der Reiche? Der Arme habe für sich selber nicht genug.

Da Josephe um nähere Erklärung drängte, erzählte Ulrike, sie habe, wenn sie müßig und sorgenvoll am Fenster ihrer Mansarde in der Dorotheergasse gesessen sei, oft in die Hofzimmer des gegenüberliegenden Hauses geschaut, und was sie dort gesehen, habe sie jedesmal so stark angegriffen, daß ihr die Tränen in die Augen geschossen seien. Lauter blinde Menschen; blinde Männer, blinde Weiber, blinde Greise und Jünglinge, Matronen und junge Mädchen, wohl an zwanzig Personen. Wie Schattengestalten hätten sie sich bewegt und als ob sie gar nicht aus Fleisch und Blut bestünden, eigentümlich leise zumeist, manchmal aber, indem sie einander schrille Worte zuwarfen oder in gellendes Gelächter ausbrachen. Oft auch habe man Weinen gehört, Schreien und Zanken, und das habe wie aus der Unterwelt geklungen, aus einem Reich der Verdammten. Das Schrecklichste jedoch seien die Augen gewesen, diese farblose Gallerte, die aus Mangel an Funktion geschlossenen Lider und damit verbunden der Ausdruck der Erloschenheit in den Zügen, das leere Tasten der Hände, das suchende Schreiten der Füße. Sie habe sich dann erkundigt und man hatte ihr gesagt, es sei ein privates Institut, von einem wohlhabenden Manne gegründet, einem Doktor Ritter, der in einer einzigen Woche seine Frau und seine sechs Kinder an der Cholera verloren hatte. Immer und immer wieder habe es sie ans Fenster gezogen, aber weil ihr das fremde Zuschauen wie von einem Zirkusplatz aus häßlich und unwürdig erschienen sei, habe sie sich eines Tages entschlossen und sei hinübergegangen, von dem dumpfen Verlangen getrieben, etwas zu tun, etwas zu leisten, denn unter diesen Kreaturen ohne Licht, und seien es auch tausend, sei ein einziger Sehender ein allmächtiger Gott. Doch bei ihren eigenen bedrohten und armseligen Umständen, die sie mit ewiger Angst ums Brot und um die Leibesblöße erfüllten, was hätte sie da viel wirken sollen?

Wer aber solcher Sorgen enthoben sei, der könne ein wahrer Himmelsbote sein; von der einfachen Handreichung und Führung bei den Ausgängen bis zu der schwierigen und am heißesten bedankten Arbeit, ihnen Lektüre zu beschaffen, sei ein weites Feld für barmherzige Hilfe.

»Lektüre? können sie denn lesen?« fragte Josephe erstaunt. Da erklärte ihr Ulrike die Braillesche Blindenschrift; wie durch ein System erhabener Zeichen alles Gedruckte und nur Sichtbare in ein Spürbares übertragen werde; der Blinde taste es ab, und seine Fingerspitzen verwandelten sich gleichsam in Augen.

Josephe dachte nach, und es war unschwer zu merken, daß das Vernommene in ihr gärte. Am andern Morgen schon bat sie Ulrike, mit ihr in die Anstalt zu gehen. Ulrike hatte darauf nur gewartet und war sofort bereit. Und wie sie ebenfalls erwartet hatte, die kleine Welt der Blinden machte auf Josephes von solchen Erfahrungen noch unberührten Geist einen gewaltigen Eindruck. Ohne langes Besinnen bot sie ihre Dienste an, ging am selben Nachmittag wieder hin, blieb bis zum Abend, erörterte stundenlang in der Nacht mit Ulrike die Aufgaben, die ihr erwuchsen, und die innige Überzeugung, daß es das Nützliche und Rechte war, was sie tat, und einen verächtlichen Zustand von Trägheit und Unwissenheit beendete, hielt sie in einem beständig flammenden Eifer. In neuer Dankbarkeit auch gegen Ulrike und in Bewunderung für sie, die so gut Bescheid wußte in den verworrenen und dunklen Gassen des Lebens.

Es war vorauszusehen, daß sie sich alsbald mit der Blindenschrift beschäftigen würde, da diese Tätigkeit die höchsten Anforderungen an Geduld, Genauigkeit und Fleiß stellte. Alle Anstalten dieser Art warben hauptsächlich um Hilfskräfte für die Bibliothek ihrer Pfleglinge, und so gewann auch der Vorsteher des Ritterschen Instituts Josephe dafür. Wenige Stunden der Unterweisung genügten, daß sie sich an selbständige Arbeit wagen konnte; eines Tages wurde die metallne Tafel nebst allem Zubehör ins Haus gebracht. Josephe rückte den Tisch ans Fenster, breitete ihr Handwerkszeug aus, und von der Minute an war die Welt nicht mehr für sie vorhanden.

Kein Interesse mehr als dieses; kein anderes Ziel; was auch um sie gesprochen wurde, sie hörte es nicht; sieben, acht, ja neun Stunden des Tages, nicht selten auch am Abend noch saß sie mit dem Griffel in der Hand und bohrte ihn buchstabenformend in die kleinen Gitter der Tafel. Sie hatte Schillers »Don Carlos« gewählt; anfangs war sie froh, wenn sie fünfzig Verse täglich übertragen hatte, nach und nach wurden es hundert bis hundertzwanzig. Aber ihre Wangen verloren die Farbe, ihre Finger bekamen Beulen und die Augen rote Ränder.

Ulrike mahnte und zankte vergeblich. Zu sich selber sagte sie befriedigt: die ist versorgt und aufgehoben. Die Bedenken und Ängste, die sie gegen Christine äußerte, waren die reine Komödie. Hatte Christine zuerst dem Tun Josephes ihre Billigung nicht versagt, so erschreckte sie nun die Leidenschaftlichkeit darin; Ulrike bestärkte sie in ihren Befürchtungen und legte ihr nahe, daß nur ein strenges mütterliches Verbot die Gefahren abwenden könne. Hierzu konnte sich Christine nicht bringen; sie war eines entschiedenen Wortes nicht mächtig, wenn Josephes Augen so ernst und forschend auf ihr ruhten; sie versuchte es mit Bitten, ja schließlich mit Tränen; aber als Josephe schwach wurde und zur Nachgiebigkeit geneigt, schüttelte Ulrike ironisch den Kopf und machte, als sie unter sich waren, spöttische Bemerkungen über wohlbehütete Fräuleins, die alles mit großen Vorsätzen und übertriebenem Kräfteaufwand begännen und beim ersten Hindernis mutlos die Flinte ins Korn würfen. Da entgegnete Josephe erglühend: »Das darfst du nicht sagen, Ulrike, das ist unrecht«, und verdoppelte womöglich ihre Anstrengungen.

»Töricht von dir, hier im Haus zu arbeiten, wos jetzt drunter und drüber zugeht«, sagte Ulrike; »warum richtest du dir deine Werkstatt nicht im Institut ein? Ein stiller Winkel findet sich dort gewiß. Da kontrolliert dich niemand und stört dich niemand, außerdem wird man dich auch nicht den ganzen Tag bei der nervenmörderischen Maschine sitzen lassen. Es gibt noch anderes zu tun; du kannst den Blinden vorlesen, kannst sie auf ihren Spaziergängen begleiten und lebst dich menschlich mit ihnen ein. Dagegen wird auch deine Mutter nichts zu erinnern haben.«

Josephe befolgte den Rat. Sie verließ nun am Morgen das Haus und kehrte oft erst spät am Abend zurück. Wenn sich Christine nach ihr erkundigte oder über ihre Abwesenheit Befremden und Sorge äußerte, sagte Ulrike: »Kümmern Sie sich nicht um sie. Am besten, man läßt sie austoben. Eines Tages wird ihr die ganze Geschichte langweilig werden, und sie wird wieder das sanfte Haustöchterchen sein wie vorher.«

Aber von Weile zu Weile, als trotz der Vorhersage die Wandlung ausblieb, schoß sie kleine vergiftete Pfeile gegen das arglose Herz Christines ab, sprach abfällig über den Selbständigkeitsrappel Josephes, ihren Mangel an Familiensinn und die falschen Ideen von Freiheit, die wie in so vielen Köpfen auch in ihrem Unheil angerichtet hätten.

Christine wurde traurig und hatte ein Gefühl des Verlustes. Da sie übermäßig viel Zeit hatte, Ulrike erlaubte ihr nicht die geringste Handreichung im Haus, verfiel sie ihren Gedanken wehrlos. Ulrike fand aber, daß dies nicht eben das Wünschenswerte war, und das Mittel, durch welches sie sie daran verhinderte, war so einfach wie unfehlbar. Sie hatte bald bemerkt, daß mit der neugewonnenen Muße auch die Lust zu geistiger Betätigung wieder in Christine erwachte; diesen Umstand nutzte sie aus, um Christines einsame Stunden zu füllen. Sie kaufte Bücher über Bücher; jeden Tag brachte sie ein Paket. Christine griff begierig nach der Nahrung, die sie seit ihren Mädchenjahren hatte entbehren müssen. Sie fing an zu lesen und hörte eigentlich nicht mehr auf. Sie las die Abende, die halben, die ganzen Nächte durch und sank in einen narkotischen Rausch, der ihr nach und nach alle Wirklichkeit verschleierte.


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