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Das Ja

Die Vorteile für Melander lagen auf der Hand, Ulrike wurde nicht müde, es zu betonen: fürstlicher Reichtum; mit dem Reichtum gesicherte Unabhängigkeit für immer und hindernislose Bahn zur sozialen Höhe.

Josephe aber, so erwog Ulrike weiter, konnte sich die Finger lecken, wenn sie Eduard zum Manne bekam. Es war der Glücksfall für sie, das Unerwartete, das große Los. Und man hatte die Wächter vom Hals, die stete stille Inquisition.

Melander blieb bedenklich, obwohl ihm letzten Endes nichts erwünschter sein konnte als diese Heirat. Sie trug ihn mit einem Ruck auf den Gipfel. Sie verlieh ihm eine Macht, wie sie ihm der frechste seiner Träume nicht vorgegaukelt hatte.

Seine Einwände stammten nicht etwa aus dem Gefühl der Verantwortung; solcher Belastungen des Gemüts hatte er sich längst entledigt, und wo er scheinbar innere Pflichten erfüllte, waren es, bei Licht betrachtet, Maßregeln zu seinem Schutz; auch aus der geheimen Scheu stammten sie nicht, die er gegen Josephe hegte und die zu überwinden ihm nicht gelingen wollte. Sie hatten ihre Wurzeln in der Furcht vor Ulrike. Er konnte sich keine Klarheit verschaffen über den Grund, weshalb sie ihn mit Josephe verkuppeln wollte; es war ihm um so unbehaglicher, als er spürte und wußte, wieviel ihr an ihm lag und was er ihr galt. Die zwischen ihnen getroffene schweigende Vereinbarung zur praktischen Ausnützung der Zufälle und Gelegenheiten des Lebens konnte nicht alles erklären; Ulrike war nicht die Frau, die dem höheren Glück des andern zuliebe eine Entsagung auf sich nimmt; Ulrikes Instinkte waren von sehr primitiver Art, sehr irdisch und sehr geradlinig.

Sie führten Gespräche wie zwei Unterhändler bei einer politischen Aktion, und da jeder die Winkelzüge und Vorbehalte des andern schon kannte, ehe sie ausgesprochen oder angedeutet waren, nahmen sie die Miene der Offenheit und des Vertrauens an, während sie einander aufs schärfste bewachten. Mitten in trockenen Erörterungen brach bisweilen Ulrikes brutale Leidenschaftlichkeit hervor, und im Nu wurde die Rechnerin zur Bestie, die ihre Beute nicht aus den Krallen lassen will. Das erschreckte Melander wohl, doch hatte er dann leichteres Spiel; er konnte abwehren oder sich loskaufen, indem er sich für eine stürmische Stunde dem Element überließ. Sie betrachtet mich als ihr Besitzstück, sagte er sich grollend; Josephe ist in ihren Augen so wenig Weib, daß sie keine Gefahr darin erblickt, mich an sie zu fesseln und meine Freiheit durch sie zu vernichten; zugleich aber soll Josephe gedemütigt und geknechtet werden, soll unschädlich gemacht werden als das feindliche Prinzip. Gedemütigt und geknechtet durch mich? stutzte er; also bin ich einer, der über die Menschen kommt wie eine Strafe? Ulrike scheint es zu glauben.

Von dieser Überlegung beunruhigt, hätte Melander wer weiß was darum gegeben, wenn er sich in einer Art Seelenspiegel selbst hätte beschauen und prüfen können. Denn Männer wie er, zweckbeladen und vor lauter Wirklichkeit blind, wissen im eigentlichen Sinne nichts von sich und werden immer nur von den andern überrascht und erkannt. Er fröstelte und suchte nach Josephe; da mußte er auch schon erfahren, daß Josephe ihn mied. Das reizte ihn. Er wollte sich ihr beweisen. Jede Anstrengung schuf eine neue Schranke. Der Widerstand erregte seinen Trotz. Ulrike schürte den Trotz. Ihre ganze Zärtlichkeit verwandte sie darauf, ihn für das Ziel zu entflammen. Es hätte dessen nicht mehr bedurft. Die Frage war nur noch: welcher Weg ist der rascheste und sicherste, Josephe zu gewinnen?

Ulrike ging zunächst daran, Christine günstig zu stimmen. Vorsichtig zog sie Kreis um Kreis, bis sie eines Tages endlich den Plan mit klaren Worten aufdeckte. Christine war entsetzt und wollte nichts davon hören. Der Gedanke, Josephe verlieren zu sollen, war unerträglich, denn der näherliegende, daß sie sie gar nicht mehr besaß, trat nicht an die Oberfläche. Was die Person Melanders anlangte, so fühlte sie sich fremd von ihm berührt; sie fand ihn zu skeptisch, zu weltlich, zu flatterhaft für die ernste Josephe und schließlich auch zu jung. »Das wären Gegengründe genug, wenn die Sache überhaupt zu erwägen wäre«, sagte sie.

Ulrike äußerte sich zu Melander: »Es nützt nichts, du mußt dir Mühe mit der Frau geben. Du mußt sie von dir überzeugen. Gelingt es dir nicht, sie auf unsere Seite zu ziehen, so kommen wir nicht einen Schritt vorwärts.«

Melander sah die Notwendigkeit ein. Er begann damit, daß er Christine Blumen brachte und ihr seine volkswirtschaftlichen Schriften widmete. Er besprach Lebenspläne mit ihr und schilderte ihr seine mühselige und entbehrungsreiche Jugend. Er hatte Töne und Worte für sie, die noch etwas anderes waren als die feinste und überlegteste Form von Schmeichelei; es war der ihm eingeborene Trieb zu erobern, sich in der Seele des Gegenspielers festzusetzen und sie nicht mehr zu verlassen, es sei denn als Sieger. Nicht einmal zu heucheln brauchte er, die Mittel waren ihm jederzeit zur Hand, es gab kein Ansehen der Person dabei, und er gefiel sich selbst, auch wenn er sich vor dem Unwürdigsten entfaltete. »Er hat Geist«, urteilte Christine entzückt, »er hat wirklich Geist.« Geist war ja das große Wort der damaligen Welt. Aber diese Art der Bewunderung hätte nicht hingereicht, ihren Sinn zu wandeln; sie fühlte sich nach und nach durch den Umgang mit ihm tiefer berührt, tiefer als von irgendeinem Menschen zuvor, und es kam etwas ins Schwingen, was sie mit aller Macht zu unterdrücken wünschte, denn es erschien ihr schimpflich und unzukömmlich.

Durfte ihr Herz stocken, wenn sie in sein jugendlich schönes Gesicht schaute? War es ihr erlaubt zu zittern, wenn sie seinen Schritt und seine Stimme vernahm? Die Blässe auf ihren Wangen, wenn er eintrat, das beklommene Lächeln, wenn er ihr die Hand küßte, die bange und glückliche Bereitwilligkeit zu lauschen, das Hingegebensein ans Wort, dieser Glaube, dies Gestaltwerden eines menschlichen Daseins, diese Wiederkehr eines längst ausgeträumten Traumes, dies geisterhafte Erwachen einer nie genützten und nie gelebten Jugend: waren es nicht ebenso viele Spukgebilde und Versündigungen, von der Lächerlichkeit ganz zu schweigen?

So an der vorgesehenen Station angelangt, hielt es Melander für richtig, von seiner Neigung zu Josephe zu sprechen. Hier durfte Christine zuhören. Es war wie ein Ausweg und Erlösung von Scham. Josephe war geliebt und sie, Christine, empfing das Geständnis. Ein süßer Betrug der Phantasie verstrickte sie in eine aufregende Doppelrolle. Sie konnte sich einbilden, daß sie dem Glück Josephes die Wege ebnete, Josephes Zukunft mütterlich sorgend ins Auge faßte, und ließ sich berauschen von dem Klang, der eine verspätete arme Sehnsucht zur Blüte trieb, betören von einem Gefühl, das niemals erfahren und gespürt zu haben, ihr erst jetzt schmerzlich bewußt wurde.

Eine quälende Ratlosigkeit bemächtigte sich ihrer, und sie konnte nicht mehr allein sein. Sie beneidete Josephe glühend, aber während sie sie innerlich in der Glorie aller Tugenden und Seligkeiten erblickte, hatte sie Angst, sie vor sich zu sehen. Sie wünschte, daß der Zustand des Schwankens fortdaure, und haßte sich selbst, ihr Alter, ihre unsinnigen Halluzinationen, ihr leeres Leben. Eines Tages geschah es, daß Melander ihr seine Ansichten über die Ehe entwickelte und im weiteren Verlauf Josephes Eignung zu solch ewig-heiligem Bündnis, Josephes Wesen überhaupt mit einer Beredsamkeit und Innigkeit vor ihr darlegte, die sie bewegte und erschütterte; sie nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und küßte ihn auf die Stirn. Da war eigentlich alles schon gewährt; es blieb nichts mehr zu sagen übrig.

Ulrike sorgte dafür, daß das Feuer nicht erlosch. In halbnächtelangen Unterredungen führte sie Christine auch zur äußeren Entscheidung hin, gegen die sie sich aus schwer erklärlichen Gründen noch immer sträubte. Das Argument des Anfangs, daß Josephe nicht besser wählen konnte, als wenn sie ihn wählte, den Mann der praktischen Tat und kühnen Pionier zukunftsträchtiger Ideen, war eine Selbstverständlichkeit geworden, denn Christine sah ja noch viel mehr in ihm und belächelte insgeheim Ulrikes platte Einschätzung. Sie war zufrieden, wenn Ulrike von ihm sprach. Ulrike wußte allerlei zu erzählen, was Christine durstig in sich aufnahm: bald eine rasche Handlung des Edelmuts, bald einen Beweis seltener Charakterstärke, heute einen Zug stolzer Überlegenheit, morgen ein Beispiel von Selbstbescheidung und Heroismus. Bloß seinen Namen zu hören, war Labsal für Christine; mit dem, was ihn auszeichnete, hatte ihn ihr Vertrauen und ihr Entzücken schon vorher geschmückt.

Josephe war völlig ahnungslos. Sie ging ihre stillen Wege, wich den Menschen aus und mied das lärmende Treiben im Hause. Immer inbrünstiger kehrte sie sich nach innen, und immer gleichgültiger wurde ihr damit, was rings um sie geschah. Am allerunverständlichsten von allen Menschen war ihr die Mutter. Sprudelnd munter inmitten ihrer Gäste; und allein mit sich: verkrochen, wetterwendisch, über schlechte Nächte und ungenügenden Schlaf klagend, wunderlich anspruchsvoll in bezug auf das, was sie Artigkeit und die égards nannte, und vor allem ununterbrochen und in gesteigerter Leidenschaft ihrer Lektüre verfallen.

Josephe konnte stundenlang darüber grübeln. Was es nur sein mag? dachte sie und nahm dies oder jenes Buch selbst zur Hand, um es zu lesen. Sie fand nichts; oder nur Trügerisches; oder etwas, wovon ihr nicht faßlich wurde, daß es Gedanken zu binden und Gefühle zu tragen vermochte; oder wahrhafte Gestalten- und Bilderwelt, die aber ihr Edles verlor, wenn sie nicht abgesondert und als Exempel bestehen blieb.

Wollte sie zur Mutter, so war ihr, als müsse sie sich durch giftiges Gestrüpp zwängen. War sie bei ihr, dem Raume nach, so war die Mutter taub, sie selber stumm. Man sprach nicht, man redete, und keiner hörte den andern.

Manchmal betrachtete sie die Mutter mit bangem Erstaunen: wie wenn sie es gar nicht mehr wirklich wäre; wie wenn eine kunstreich nachgeahmte Christine Mylius ihren Platz eingenommen hätte, eine seelenlose Doppelgängerin. Und in ihrem Kopf setzte sich eine Vorstellung von düsterer Märchenhaftigkeit fest: am Lager der Schlafenden erscheint in jeder Nacht ein koboldisches Wesen, sichtbar und doch nicht sichtbar, saugt aus dem Leibe das warme, das echte Blut, das während des Schlummers sich immer wieder bilden muß, damit das Leben nicht ganz zerfalle, und füllt die Adern mit dem kalten, dem falschen, dem Doppelgängerblut. Wer der Vampyr war und wes Namen er trug, wünschte Josephe wohl zu verschweigen, wie man sich eine schwere Krankheit verschweigt, aber die Wirklichkeit hat einen schamlosen Mund; aus dem gellte er ihr zu allen Stunden entgegen. Märchengedanke auch dies: wie war das Opfer zu erlösen? Und ihr Herz antwortete: durch geduldige, festhaltende, unverzagende Liebe.

Als ihr mitgeteilt wurde, daß Melander wieder in der Stadt sei, und sie sah, daß er auch wieder im Haus verkehrte, machte es keinen besonderen Eindruck auf sie. Es kamen ja viele, und manche mochten darunter sein, denen nicht das beste zuzutrauen war; weshalb gerade an dem einen sich stoßen? Über sein Verbrechen hatte sie milder denken gelernt; daS Leben selbst und das Wissen um den Tag lehrte sie milder denken. Auch daß er an der übernommenen Verpflichtung gegen Tino Waldbauer festhielt, der sich seit einigen Monaten langsam zu erholen begann, stimmte sie versöhnlicher.

Da die Mutter es wünschte, erschien sie zuweilen bei den Abendgesellschaften. Melander zog sie behutsam ins Gespräch. Er suchte Boden zu gewinnen und tastete sich spähend vorwärts. Sie lauschte seinen Worten mit Aufmerksamkeit, blieb aber gemessen und zurückhaltend. Wenn er mit andern redete, beobachtete sie ihn, denn beobachten war ihr zur zweiten Natur geworden. Mit der unbarmherzigen Schärfe des Blicks, der sich hinter ihrem sanften und befangenen Wesen verbarg, stellte sie alsbald drei hervorstechende Eigenschaften an ihm fest, die sie abstießen: eine Eitelkeit, die nicht den leisesten Widerspruch ertrug; Falschheit, die sich des Kleides liebenswürdiger Ironie bediente; und äußerste Herzenskälte.

Ulrike wußte Gelegenheiten zu veranstalten, bei denen er glänzen konnte und in den Mittelpunkt der Teilnahme gerückt wurde: kleine Vorlesungen und Debatten über ein wissenschaftliches Thema. Aber während alle staunten und von Lob und Beifall überflossen, blieb Josephe kühl.

Großen Eifer bewies Ulrike darin, ihr immer wieder zu versichern und an Beispielen zu erläutern, welch entscheidende innere Wandlung in den letzten Monaten mit ihm vorgegangen sei. Josephe hätte es gern geglaubt und forschte nach den Merkmalen, doch nur mit dem Ergebnis, daß ihre Abneigung wuchs. Es gelang Ulrike, unerwartete Begegnungen zwischen ihr und Melander herbeizuführen. Sie entzog sich scheu. Sie erschrak vor seinem Blick. Wenn er ihr die Hand reichte, überkam sie stets eine eigentümliche kurze Lähmung. Sein Lächeln war derart, daß sie manchmal ängstlich an sich herunterschaute, in ungewisser Scham.

Er beklagte sich bei Ulrike über ihr frostiges Benehmen. Ulrike antwortete etwas grimmig: »Geduld. Sie wird schon warm werden. Sie ist eine hart verschlossene Auster. Man muß sie aufhämmern.«

Sie berieten sich, überlegten das Für und Wider, und einige Tage vor Pfingsten hielt Melander in aller Form bei Christine um Josephe an. Christine brach in Tränen aus, dann umarmte sie ihn und sagte, sie zweifle nicht, daß das Schicksal ihn auserlesen habe, ihr geliebtestes Kind glücklich zu machen. Kurz hernach ließ sie Josephe kommen und teilte ihr mit, Professor Melander begehre sie zur Frau; welchen Bescheid sie ihm geben solle. Josephes Augen wurden kreisrund, sie sagte verblüfft lachend: »Aber Mutter« und sprach sogleich von etwas anderm.

Doch war ihr ein Schauer über den Rücken gelaufen.

Wie sonderbar, dachte Christine, sie scheint es nicht zu fassen. Enttäuscht eröffnete sie Ulrike, wie wenig sie ausgerichtet.

Ulrike sagte: »Wenn Sie meinen, daß es damit sein Bewenden haben soll, hat die gute Josephe so unrecht nicht, wenn sie die Wünsche ihrer Mutter in den Wind schlägt.«

»Was soll ich tun?« rief Christine, »ich kann sie nicht zwingen. Man zwingt heutzutage kein Mädchen mehr zur Ehe. Außerdem wissen Sie ja, daß es für Josephe keinen Zwang gibt. Sie hat ihren Kopf und weiß, was sie will.«

»Dann heißt es eben Kopf wider Kopf«, entgegnete Ulrike heiter. »Sie müssen nur auch einen haben, und wenn Sie ihn haben, müssen Sie ihn aufsetzen. Zur Ehe zwingen; mein Gott, das sind so neumodische Flausen, Sie verzeihen schon. Ein wohlgebildeter, angesehener genialer Mann freit um ein mäßig hübsches, mäßig kluges Mädchen, Sie verzeihen schon, aber der Wahrheit die Ehre, das ihm Vermögen zubringt. Er vergöttert sie und verspricht ihr ein Prinzessinnendasein. Sie aber ziert sich und macht sich kostbar, warum? Weil sie die Auszeichnung noch gar nicht zu würdigen versteht, weil ihr der Begriff noch fehlt, daß und wie sehr sie unter Tausenden bevorzugt ist. Man sagt ihr also: meine liebe Tochter, ich lehne die Verantwortung dafür ab, daß du dein Glück mit Füßen trittst; bist du blind, so hab ich die Pflicht, für dich zu sehen, und wünsche und verlange, daß du dich meiner besseren Einsicht fügst. Bisher hast du es nie getan, diesmal gehts um eine zu wichtige Sache, als daß ich dir ohne weiteres den Willen lassen könnte. Kann man da von Zwang reden? Wo ist da Zwang?«

»Gewiß, ich hoffe ja selbst, daß sie Vernunft annehmen wird«, sagte Christine beengt.

»Übrigens, warten wir ab«, schloß Ulrike ihre Philippika; »Eduard wird ihr schreiben. So, wie er zu schreiben weiß, können wir sicher sein, daß es Eindruck auf sie macht. Warten wir ab.«

Melanders Brief war allerdings ein Muster der Stilkunst. Ohne sich zu überschwenglichen Wendungen hinreißen zu lassen, die, wie er richtig vermutete, nur Josephes Argwohn erweckt hätten, sprach er von seinem tiefen Gefühl und seiner bewundernden Ergebenheit. Er wies zurück auf die überstandenen Kämpfe, geistige, seelische und materielle Kämpfe, deutete die ungewöhnlich hochgestellten Aufgaben an, die vor ihm lagen, und beteuerte, daß er sich durch und durch der heiligen Pflicht bewußt sei, die er auf sich nehme, wenn er sich unterfange, sie als Gefährtin an sein wenig beneidenswertes Los zu binden. Doch ziehe ihn zu ihr ein transzendentes Vertrauen; er brauche sie, wie der in Dunkelheit und Wüstenei Verlorene den führenden Engel brauche, und habe er vielleicht auch ihr Herz noch nicht als Anwalt gewonnen, so baue er auf ihren edlen Instinkt und auf die alles klärende und ordnende Zeit. Jedenfalls lege er die Entscheidung über sein Wohl und Wehe getrost in ihre Hände, ein besserer Hort sei nicht dafür zu finden.

In der ersten Bestürzung zerriß Josephe den Brief, so hastig, als verbrenne er ihr die Finger, und warf ihn in den Papierkorb. Nach und nach beruhigte sie sich und anwortete Melander, sie danke ihm für seinen Antrag, aber es läge ihr noch fern, Beschlüsse über ihre Zukunft zu fassen. Sie fühle sich zur Ehe in keinem Punkt geeignet und wolle frei bleiben, da ihr die Freiheit als der beglückendste Teil ihres Lebens erscheine. Sie bitte ihn, sich durch ihre Absage nicht gekränkt zu fühlen, aber nach reiflicher Erwägung aller Umstände könne sie anders nicht handeln.

Melander kam am selben Abend mit dem Brief zu Ulrike und sagte: »Lies.«

Ulrike las, zuckte die Achseln und fragte: »Na und?«

»Danach muß man wohl die Angelegenheit zu den Akten legen«, erwiderte er.

Ulrike warf das Kinn empor. »Ich bin nicht gewohnt, einen Prozeß zu den Akten zu legen, so lange es noch Instanzen gibt, vor denen er gewonnen werden kann«, sprach sie finster. »Und er wird gewonnen, dafür bürg ich dir.«

»Das macht mich neugierig«, versetzte er.

Sie sagte: »Laß mir den Wisch, ich will ihn Christine zeigen.«

Den Brief, den Melander geschrieben hatte, kannte Christine. Er hatte ihn ihr vorgelesen, ehe er ihn an Josephe geschickt, um ihre Billigung zu erringen, und sie war von dem Inhalt ergriffen gewesen. Sie fand, daß ein Herz von Stein durch ihn erweicht werden müßte. Sie dachte an berühmte Liebende und an romantische Bekehrungen aus der Literatur. Geheimnisvoller Neid schlug sie mit Blindheit. Als ihr Ulrike das Antwortschreiben Josephes brachte, war das erste, was sie empfand, eine Regung der Freude, deren sie sich sogleich bis ins Innerste schämte. Dann wallten Verwunderung, Unbehagen, Enttäuschung, Bedauern und das Gefühl, irgendwie beleidigt worden zu sein, in ihr auf, aber sie blieb stumm.

Ulrike tobte indessen. Sie zerpflückte den Brief Silbe für Silbe und erklärte ihn für eine Ausgeburt der Anmaßung und des hohlen Dünkels. Dünkel, das Wort kehrte, leidenschaftlich betont, immer wieder. »Einen Menschen, den der Dünkel frißt, muß man mit Gewalt zur Besinnung bringen«, rief sie aus; »das sind verlorne Geschöpfe, die sich nur auf ihr eigenes Meinen und Wollen berufen und versteifen. Läßt man sie gewähren, so richten sie Unheil über Unheil an und man halst der menschlichen Gesellschaft ein unnützes Mitglied mehr auf.«

Sie verschränkte die Arme und lachte entrüstet. »Da ist immer soviel gefaselt worden von Offenheit und Vertrauen und einzigartiger Liebe zur Mutter und daß das mit Josephe was ganz anderes sei als mit andern gewöhnlichen Menschenkindern. Ich sehe nichts davon. Sehen Sie was davon? Bei der ersten Gelegenheit, wo sie den Beweis liefern soll, wird alles eitel Dunst. Schöne Worte, weiter nichts.«

Christine, die Ellbogen auf die Knie, das Kinn auf die Hände gestützt, sah vor sich nieder. »Weiß sie denn, daß ich die Verbindung wünsche?« fragte sie.

Und ob, antwortete Ulrike; sie habe es ihr deutlich genug zu verstehen gegeben; sie habe ihr begreiflich gemacht, daß ihre Mutter das innigste Interesse habe, sie mit Melander vereinigt zu sehen, daß sie an ihm hänge und ihn liebe wie einen eigenen Sohn und daß sie ihm versprochen habe, alles aufzubieten, um Josephe zu überreden, sein Weib zu werden. Aber das sei bloß gewesen, wie wenn ein Blasebalg geschnarrt habe. Die Verstocktheit des Mädchens habe sie erbittert und sie sei weggegangen.

»Und wie hat Eduard ihren Brief aufgenommen?« fragte Christine beklommen.

»Das ist es ja eben; er ist wie wahnsinnig«, log Ulrike unbekümmert; »ich hätte nie gelaubt, daß etwas auf ihn solchen Eindruck machen könnte. Es hat ihn vernichtet. Er ist krank. Er ist zu Hause und liegt im Bett.«

Christine verfärbte sich. »Rufen Sie Josephe«, sagte sie gepreßt.

Ulrike verließ das Zimmer und kam nach kurzer Weile mit Josephe zurück. »Soll ich gehen?« fragte sie heuchlerisch taktvoll.

»Nein, Ulrike, bleiben Sie«, erwiderte Christine.

Daß die nun beginnende Unterredung in Gegenwart Ulrikes vor sich ging und daß die Mutter es ausdrücklich forderte, öffnete Josephe in schmerzlicher Weise die Augen darüber, was ihrer wartete. Es war ein Keulenschlag gegen ihr Herz. Jedes Wort, das von Christines Lippen fiel, war ein Keulenschlag. Nie hätte sie gedacht, aus diesem Munde Äußerungen von solcher Härte und Kälte hören zu müssen, so bar aller Gerechtigkeit, so sinnlos zermalmend, was einst Kern der Existenz gewesen war. Und die Widersacherin, die Feindin, der Vampyr, mit verschränkten Armen scharfrichterhaft dabeistehend, es war wie ein Traum von der Hölle.

Christine fragte mit niedergeschlagenen Augen, ob sie auf ihrer Weigerung beharre, Eduard Melander zu heiraten.

Kaum vernehmlich antwortete Josephe: »Ist denn das nicht das geringste meiner Rechte, Mutter? Handelt es sich dabei nicht ausschließlich um mich und meine Zukunft?«

Das sei nicht zu bestreiten, sagte Christine mit einem sonderbar fremden Ton in der Stimme; aber die Gründe? welches seien die Gründe?

Ob man einen solchen wesentlichen Entschluß, Schicksalsentschluß begründen müsse, stammelte Josephe, die immer tiefer erbleichte, wie wenn eine Pumpe das Blut aus ihren Wangen zöge. Den wichtigsten Grund habe sie ihm geschrieben, aber es gäbe auch noch andere; von den nennbaren: Verschiedenheit der Religion, Mangel an Sympathie.

Ulrike ließ ein unterdrücktes Lachen hören.

Josephe bezeichnete es als Mangel an Sympathie, weil sie die Mutter, deren Vorliebe für Melander sie nun zu spüren begann, schonen wollte, aber was sie fühlte, seit sie seinen Brief gelesen hatte, war eisiges Grauen. Sie wußte sich selbst nicht zu erklären, woher der schreckliche Widerstand stammte. Was sie von ihm erfahren hatte, genügte ihrer menschenfreundlichen Sinnesart nicht, um ihre Furcht, ihr Entsetzen zu rechtfertigen. Es war etwas Verborgenes, nur zu Ahnendes, und ihm ihr Leben ausliefern zu sollen, von jetzt an bis zum Tode ihm verbunden zu sein und der übrigen Menschheit entwendet: es zu denken, war schon Geschmack des Todes.

Christine sagte ruhig, (Josephe hätte eine körperliche Züchtigung dieser Ruhe vorgezogen), Verschiedenheit der Religion und ob der eine katholisch, der andre protestantisch aufgewachsen sei, könne unter gebildeten Menschen nicht als Kluft betrachtet werden; dergleichen von Josephe zu vernehmen, kränkte sie; man lebe doch in einem aufgeklärten Zeitalter. Der Gott der Guten sei ein Gott für alle; könne der ein Geschöpf verwerfen, weil es sich in einer Form zu ihm bekenne, die der Überheblichkeit eines andern Geschöpfes als Irrtum erscheine? Sei es nicht würdiger und frömmer, Gott durch die Tat zu dienen, durch Gehorsam zum Beispiel, als durch befohlene Konfession? Das sei Pfaffentum und sie hasse alles Pfaffentum.

Es war eine banale Predigt, Zeugnis der bürgerlichen Anschauungen der Zeit und in dem besondern Fall Verlegenheit und Flucht vor einer Wahrheit.

Josephe wurde glühendrot. Ein Aufflammen der Blässe.

Sie streckte die Hände mit aneinandergepreßten Fingerspitzen ein wenig vor und sagte flehend: »Du mißverstehst mich, Mutter. Oder ich habe mich falsch ausgedrückt. Es geht nicht um Verschiedenheit der Religion, nicht um Verschiedenheit des Glaubens, es geht um Glauben und Nichtglauben, um Glauben und Unglauben. Du weißt es, du mußt es wissen.«

Das könne trotzdem nicht den Ausschlag geben, antwortete Christine; die vornehmste Pflicht eines gebildeten Menschen sei Toleranz. »Was den Mangel an Sympathie betrifft, mein Kind«, fuhr sie fort, »so frage dich erst, ob er nicht auf einem Mangel an gutem Willen beruht, auf einem Mangel an Billigkeit und Bescheidenheit. Wenn man einen Mann achtet, und zur Achtung ist hier wahrlich Anlaß genug, kann man ihm auch Freundschaft entgegenbringen. Mehr brauchst du nicht zu geben und mehr hast du nicht zu verlangen. Mehr hab auch ich nicht verlangt in meiner Jugend und nicht mehr bekommen, eher weniger. Bedenk das doch. Eduard ist ja ein so wunderbarer, ein so außerordentlicher Mensch.«

Ulrike nickte zu jedem Wort, bezeugend, es sei ihr aus der Seele gesprochen.

Über Josephes Antlitz hatte sich wieder die vorige tiefe Blässe gebreitet. Erbebend sprach sie vor sich hin: »Ich begreife nicht … ich begreife nicht …«

»Was begreifst du nicht, Kind?« fragte Christine sanft und furchtsam.

Josephe sagte: »Wenn ich mich aber mit Achtung und Freundschaft nicht begnügen will? Nimm an, es sei das. Vielleicht kann ich ihm keine Achtung und Freundschaft schenken, ich, Josephe. Vielleicht können es andre und ich nicht. Nimm an, es sei das.«

»Aber warum denn nicht, warum nicht?« forschte Christine beunruhigt und hätte jetzt gern ohne Ulrikes Gegenwart mit Josephe gesprochen.

Josephe suchte gepeinigt nach Worten. »Ich liebe ihn nicht«, brach sie aus; »ich werde ihn niemals, niemals lieben! Gilt denn das nichts? Was gilt denn dann in der Welt?«

Christine, an Ulrike mit den Blicken hängend wie eine Hypnotisierte am Hypnotiseur, wollte antworten, doch diese kam ihr zuvor. »Lieben! großartig, lieben!« begann sie schneidend und voller Hohn, den Kopf gleich einer Löwin schüttelnd, »darauf hab ich ja nur gewartet. Womit hast du dirs verdient? womit willst du dirs verdienen? Forderst du Liebe? gleich Liebe? verdien sie dir! Wer kriegt sie denn so billig, daß er bloß zu sagen braucht: ich will –? Hab ich vielleicht Liebe genossen, wenn ich sie mir nicht Brocken um Brocken aus dem feurigen Ofen herausgeholt habe? oder wer sonst? Liebe ist ein Schwindelwort, meine gute Josephe. Uns Frauen wird nicht der Rahm von der Milch kredenzt. Wir müssen melken, wir müssen buttern, und wer genäschig das Schleckermäulchen an den Topf hält, bekommt einen Nasenstüber. Es ist hier nicht von Liebe die Rede, sondern von Ehe. Eins hat mit dem andern nichts zu tun. Ehe ist ein Rechtsvertrag zwischen zwei Parteien mit gegenseitigen Garantien. Das Vergnügen dabei ist zweifelhaft. Sticht dich der Hafer, so verschaff dir deine Freuden, wie und wo du kannst, es ist deine Privatsache, du zahlst ja mit deinem Leben drauf. Mein Vater pflegte zu sagen: wer in den Sumpf jagen geht, muß lange Stiefel anziehn. So, das wollt ich nur bemerken, weil wieder einmal von Liebe geschwatzt wird.« Sie ging zornig hin und her und wiederholte gehässig: »Liebe … Liebe.«

Josephe, den Arm auf eine Sessellehne gestützt, blickte zu Boden, dann funkelten ihre Augen, gegen Ulrike gerichtet, in unsäglicher Verachtung auf. »O hätt ich dir nichts zu danken«, flüsterte sie gepeinigt; »hätt ich dich doch nie gesehn! Wär ich doch lieber verkohlt damals, statt daß du gekommen bist, mich zu retten!«

»Josephe!« rief Christine empört.

»Gott möge mir die Sünde vergeben«, sagte Josephe.

»Die reden beständig von Gott, die ihre Bosheit unterm Kopfkissen wärmen«, warf Ulrike giftig hin. »Ich nehms nicht krumm. Ich bin Kummer gewöhnt.«

Es entstand eine Pause. Endlich sagte Ulrike, in der Mitte des Zimmers wuchtend wie eine feindliche Macht, die Bedingungen diktiert: »Was ist also das Ergebnis? was soll dem armen Menschen, der sich vor Ungeduld verzehrt, ausgerichtet werden? Denn das scheint meine liebeshungrige Josephe nicht zu wissen, daß dort«, sie deutete mit dem Zeigefinger pathetisch gegen die Türe, »daß dort Liebe ist, mehr als genug für den Hausbedarf. Dort wartet einer, ders ehrlich meint, ein ganzer Kerl, ein Mann im wahrsten Sinn des Wortes, für den man aber nichts übrig hat als alberne Phrasen. Sprechen Sie, Frau Christine; was soll geschehen?«

Christine zuckte zusammen. Sie erhob sich und Josephes Blick ängstlich vermeidend sagte sie: Überleg dirs noch einmal, Josephe. Ich kann nicht glauben und will nicht glauben, daß du dich den Wünschen deiner Mutter so halsstarrig widersetzt. Ich habe Eduard Melander nicht bloß in meinem, sondern auch in deinem Namen meine Zusage gegeben. Es war vielleicht ein Fehler, aber ich konnte bei gewissenhaftester Prüfung nichts ausfindig machen, was dich hätte abhalten können, mir mit einem freudigen Ja zu antworten. Ich habe mich also ihm gegenüber gebunden. Natürlich verpflichtet dich das noch nicht. Du allein sollst über dein Schicksal bestimmen. Ich wollte Glück für dich schaffen, denn Eduard, das muß ich wohl erwähnen, ist mir ein Freund geworden und ich vertraue ihm grenzenlos. Ich vertraue ihm ja dich an. Das verpflichtet dich noch nicht, wie gesagt. Aber soviel magst du wissen: bleibt dein hartes und unverständiges Nein bestehen, so können wir einander nie mehr sein, was wir waren. So haben wir innerlich nichts mehr miteinander zu tun, bis die Wunde vernarbt ist. Und das kann lange dauern. Überleg dirs. Du haft vierundzwanzig Stunden Zeit. Dann schicke oder bringe mir deine Antwort.«

In Josephes Ohren brauste es wie ein Wasserfall. Sie stürzte in ihr Zimmer, fiel tränenlos auf die Knie und betete. Danach erhob sie sich und schritt auf und ab. Und dann, nach einer langen Zeit, setzte sie sich ans geöffnete Fenster und sah, die Hände still im Schoss, in den Garten hinaus.

Alles war in Blüte. Silberne Wolken umrandeten den Mond wie ein Kelch und von fern schluchzte eine Nachtigall.

Aber alles war leer, alles war feind.

Mutter! meine Mutter! und wieder und wieder: meine Mutter! wo ist meine Mutter? Ihr Leben achtete sie für nichts; das Opfer, das gefordert wurde, für nichts mehr jetzt. Nur dies hatte Stimme: wo ist meine Mutter hingegangen?

Zu erwägen war noch eins. Man konnte unter dem Schutz und im Frieden der Nacht an ihr Lager treten und die Schlummernde zur Wahrheit wecken. Man konnte ihr zurufen: wach auf, Ummauerte, wach auf, Verzauberte! Abscheu klebt auf meiner Zunge gegen den Menschen, dem du mich hinwerfen willst; sein Atem ist mir Gift, sein Blick Schrecken, sein Händedruck Winter und Frost, seine Stimme Lug und Trug. Du kennst ihn nicht, wie du auch deine Wärterin nicht kennst. Reiß die Binde von den Augen, hör mich, sieh mich, spür, wie mir vor der Zukunft schaudert und wie ich ahne, was sie bringt. Wach auf, verstörte Seele, aus deinem Unheilschlaf!

Aber es war ein Wort gefallen, das die letzte Brücke zerbrochen hatte. Was sollten da Gründe und Vorhaltungen? Hier hatte nur noch das Schicksal zu richten und Gott zu entscheiden.

Der Entschluß war gefaßt. Als eine, die schon ein Grab hinter sich hat, entblutet und entwerkt, schrieb sie am Morgen nichts weiter als ein Ja auf einen Zettel und schickte ihn der Mutter.


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