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Da Valerian de Groot seit acht Jahren nicht mehr auf dem Kontinent gespielt hatte, war der Saal, in welchem er sein Konzert gab, trotz der enormen Eintrittspreise zum Bersten voll. Unter dem Publikum waren nur wenige, die den weltberühmten Geiger noch in jener Zeit gehört hatten, wo man Musik mit andern Sinnen und andern Erwartungen aufnahm als in der jetzigen. Es war bei den von Natur Empfänglichen ein Unterschied wie zwischen der spannenden und aufgeregten Schilderung einer gefährlichen Seefahrt und dieser Seefahrt selbst.
Vielleicht gerade deswegen machte sich bei den entscheidenden Zuhörern ein gewisses Gefühl der Enttäuschung bemerkbar. Es lag nicht an dem Argwohn gegen einen lange nicht überprüften Ruhm oder an dem stets verletzenden Mißverhältnis, das zwischen schreiender Reklame und selbst der bedeutendsten Leistung klafft; die Umstände trugen hier im Gegenteil dazu bei, eine dankbar begeisterte Hörerschaft zu bilden, namentlich die Bereitwilligkeit, mit welcher sich Valerian de Groot in den Dienst einer sozialen Hilfsaktion gestellt hatte. Aber unverkennbar war der Bruch in de Groots Spiel, und so tiefen Eindruck auch seine Persönlichkeit machte, sein bloßes Auftreten schon, die edle Haltung, so ergreifend er auch dies oder jenes Stück, eine Kantilene, eine melodische Figur, ausführte, dem geschulten Ohr konnte es nicht entgehen, daß der Mann und sein Werk in irgendeiner Weise gespalten waren, wie wenn Müdigkeit oder Gleichgültigkeit oder eine geheimnisvolle Abkehr die reine Wirkung nicht zuließe. Die große Menge freilich tobte.
Da er erst am Morgen des Konzerttages aus London angekommen war, hatte ihn Josephe noch nicht gesprochen und sich damit begnügen müssen, ihn an der Spitze ihres Komitees zu begrüßen. Sie hatte ihn zehn Jahre nicht gesehen und war erschrocken über den Anblick eines alten Mannes, den der kaum Dreiundfünfzigjährige bot. Es beschäftigte sie noch, als er auf dem Podium erschien, von Beifall umdonnert, und beinahe vorwurfsvoll fragend waren ihre Blicke auf die überschlanke Gestalt gerichtet, das eisgraue Haar unter dem gewaltigen Schädel, den frauenhaften, streng verschlossenen Mund, die matten kleinen Augen unter starkbuschigen farblosen Brauen. Dermaßen war sie von ihrem quälenden Grübeln hingenommen, daß es ihr unmöglich war, ihre Aufmerksamkeit, wie sie so sehr wünschte, auf die Musik zu sammeln.
Die Jahre falteten sich auseinander, und in der traumhaften Ferne zeigte sich das Bild des Knaben Tino, auf ein Lager geworfen, das bloß noch einen entseelten Körper trug. Achtzehn Monate hatte es gedauert, bis die Folgen jener unheilvollen Nacht verwunden waren, durch die Josephe in den Bezirk seines Daseins gezogen wurde. Dann kam eine Zeit, wo der zerschmetterte Geist sich plötzlich wie durch ein Wunder aufrichtete und zehnfach wiedergewann, was ihm durch verbrecherische Tat geraubt worden war. Josephe war damals fast täglich um ihn, mit der Mutter behütete sie das kostbare Leben, und der Knabe schloß sich mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an sie an. Es erwies sich als notwendig, daß die Mutter mit ihm aufs Land zog. Die kleine Rente, die Eduard Melander bis zu seiner Genesung ausgesetzt, wurde durch Josephes Vermittlung auf weitere drei Jahre verlängert. Der nun Wille und Ziel bekundende Knabe wünschte in Italien zu studieren, ihn verlangte nach Sonne und Licht in jedem Betracht, und er ging nach Bologna aufs Konservatorium. Nach einem Jahr starb dort die Mutter. Bei seinem ersten, noch wenig beachteten öffentlichen Auftreten in Mailand machte er die Bekanntschaft eines Holländers namens de Groot, der ein Sonderling und Musikenthusiast war. Er wurde Freund, Impresario, bis zur Verschwendung freigebiger Mäzen des jungen Künstlers, der ihn gleichfalls liebte und seinem durchgebildeten, obschon etwas abseitigen Geschmack in der Folge viel zu verdanken hatte. De Groot umgab ihn mit Luxus, ebnete ihm die Wege und adoptierte ihn schließlich, denn es war sein beglückendster Traum, daß der raschaufstrahlende Stern am Himmel der Kunst seinen Namen tragen sollte, Valerian de Groot. Dem Jüngling fiel es leicht, ihm zu Willen zu sein; nichts verpflichtete ihn einem Namen, der ihn nur an eine trübe Kindheit band. Drei Jahre genoß de Groot den Ruhm des Adoptivsohnes; das Vermögen, das er ihm hinterließ, wurde von den Brüdern umstritten; sie drohten mit Prozeß, der Angefeindete warf ihnen mit einer großen Geste das Erbe hin und bedang sich nur das alte Haus in Brügge als Eigentum aus, in dem sich die reichhaltige Bibliothek des Verstorbenen befand.
Es begann nun das ruhelose Wanderleben des Virtuosen, Jahre und Jahre hindurch. Um die Zeit seiner Namensänderung hatte er an Josephe geschrieben, und sie standen dann in einem dauernden Briefwechsel, der von Josephes Seite karg, obwohl voller Anteil, von seiner mit der unveränderlichen Treue der Dankbarkeit geführt wurde. In allen bestimmenden Epochen seines Lebens wandte er sich an sie, in der er trotz des geringen Altersunterschieds die mütterliche Freundin sah, und der Ton seiner Briefe war voll Ergebenheit und Verehrung. Er erzählte, er klagte, er trug ihr seine Sorgen vor, meldete ihr seine Triumphe und wunderte sich niemals, daß sie nicht mit gleicher Offenheit erwiderte und er über ihre Existenz nichts erfuhr als das Alleräußerlichste. Im Abstand von Jahren sahen sie sich, in Paris, in London, in Berlin, in Rom, in Wien; es war stets die wohltuendste ritterliche Freundschaft, die er ihr entgegenbrachte. Seine Kraft und Elastizität schienen allen Angriffen der aufreibenden Lebensführung zu trotzen; doch erinnerte sich Josephe, daß er schon auf der Höhe seiner Erfolge mit Ungeduld und Widerwillen von der Hohlheit seines Zigeunerdaseins gesprochen hatte; wie es ihn ermüdete, immer wieder dieselben aufgeregten und durstig lauschenden Menschengesichter zu sehen, dieselben Verbeugungen zu machen, dieselben Grimassen zu schneiden, dieselben Programme herunterzuspielen, dieselben Lobeserhebungen zu hören, dasselbe Zeitungsgeschwätz zu lesen, bei denselben Diners und Soupers zu sitzen, denselben Hader mit Agenten und Unternehmern auszutragen, Winter um Winter, Jahr um Jahr. Nächte auf Eisenbahnen und in Hotels verbringen zu müssen, Wochen auf Schiffen, Monate in fremden Ländern, wieder und wieder, unabsehbar. Und die Einsicht, daß eben gerade dies sein Leben sei, dies und nichts anderes und ihn der Ekel davor nicht hinderte, es mit allen Fasern und Atemzügen begierig zu leben, begierig in einem Maß, daß er es so wenig mehr missen konnte wie ein Säufer das tägliche Quantum Alkohol.
Vor dreiundzwanzig Jahren hatte er in Baltimore geheiratet, war dann in sein ererbtes Haus nach Brügge gezogen und hatte die belgische Staatsbürgerschaft erworben, aus Laune, aus Überdruß am Vagabundieren, aus Sehnsucht nach einer Heimat. Das Zusammenleben mit der verwöhnten und eitlen Frau erwies sich als unmöglich, jedes ging seiner Wege, zwei Söhne, die der Ehe entsprossen waren und an denen er abgöttisch hing, verblieben ihm. Er ließ sie in Cambridge erziehen, sie entwickelten sich zu prächtigen Menschen, oft schrieb er über sie an Josephe, sie waren sein Stolz und sein Glück. Im Krieg verlor er sie auf einmal. Da hatte er von einem Tag zum andern weiße Haare bekommen. Und seitdem hatte Josephe nichts mehr von ihm gehört.
Als er am späten Vormittag des nächsten Tages vor ihr saß, die spindeldürren Beine seltsam umeinandergeschlungen, die feinen weißen Hände leicht gefaltet, sagte er in jenem fast unterwürfigen Ton, den er seit alten Zeiten gegen Josephe anschlug, und der zu seiner herrischen und überlegenen Haltung schlecht paßte: »Ich danke Ihnen, Baronin, daß Sie mir das offizielle Frühstück erspart haben. Es war mir sehr darum zu tun, mit Ihnen allein zu sein.«
Josephe äußerte, etwas befangen, ihr Entzücken über den gestrigen Abend. Er wehrte mit einer geringschätzigen Handbewegung ab. Er sprach von ihrer Schwester, Lady Esther Whincherley, die er in London gesehen und die noch immer ein großes Haus führe, noch immer, trotz ihrer vorgeschrittenen Jahre, durch ihren abenteuerlichen Wandel alle Zungen beschäftige. Auch die andere Schwester, verwitwete Frau von Althann, oder Madame Aimée d'Althan, wie sie sich jetzt nenne, habe er dort getroffen, aber leider müsse er gestehen, daß er nicht nur eine gebrechliche, von Morphium zerrüttete Greisin gefunden, sondern daß auch ihre Hundeliebhaberei, die seit Jahrzehnten das Gespött zweier Hauptstädte bilde, recht bedenkliche Formen angenommen habe.
»Ja, sie hat ihr ganzes Vermögen für ihre Hunde verschwendet«, bestätigte Josephe mit bitterem Lächeln. »Menschen sind ihr nichts. Nie hat sie eine Regung für einen Menschen gefühlt, ob Mann oder Weib. Mit Hunden treibt sie den Kultus einer Wahnsinnigen. Das ist leider seit vielen, vielen Jahren so. Zehn ihrer Favorithunde bewohnen ein Palais im Faubourg, und jeder einzelne hat einen besondern Lakaien zur Bedienung und ein goldenes Lager zum Schlafen. Am Tag des Kriegsausbruchs kaufte sie einen Booley für hundertsechzigtausend Francs. Ja, das ist aus Aimée geworden.«
Valerian senkte den Kopf. »Das ist aus Aimée geworden«, wiederholte er heiser auflachend, »und das ist aus der schönen Esther geworden. Und was ist aus uns geworden, teure Baronin? was ist aus unserer Welt geworden?« Er sah sie unter den buschigen Brauen hervor sonderbar zornig an, dann schlug er die Hände an die Schläfen und brach in ein hartes, trockenes Schluchzen aus.
Josephe rührte sich nicht. Ein Zittern lief ihr über den Rücken.
Den Kopf zurückwerfend, daß die Haare flogen, sagte er mit dem nämlichen zornigen Blick: »Wer ist Aimée d'Althan? Und wer ist Lady Esther Whincherley? Wer sind sie schließlich, daß wir uns um sie kümmern sollten? Aber wer bin ich? Sehen Sie mich an! Was ist aus mir geworden? Eine traurige Ruine. Ein Zerrbild meiner selbst.«
Schüchtern streckte Josephe die Hand aus und wollte trösten. Auch ich habe Unersetzliches eingebüßt, wollte sie sagen, aber die Lippen brachten keinen Laut heraus.
Er erriet ihre Absicht. »Nicht das, Baronin«, fuhr er trübe fort, »nicht das. Sie denken an den Verlust, den ich erlitten habe. Aber das ist es nicht. Darüber jetzt noch zu klagen, wäre kindisch. Zwei Menschen; gut; meine einzigen zwei Menschen; gut. Vielleicht existiert irgendwo ein Wesen, das mit nicht geringerem Recht sprechen kann: meine zwei Millionen Menschen. Aber das ist es nicht. Sechs Jahre sind vergangen, der Rest spult sich von selber ab. Man findet sich. Jeder Tag ist ein souveräner Herr und kommandiert uns zum Rapport. Das erfahren Sie doch auch, Sie Dienstbereite. Sei da, heißt es, und man ist da. Niemand kann leugnen, daß ich da bin.«
Er erhob sich, schritt quer durch den Raum, dann schleuderte er sich wieder in den Sessel. »Vor zehn Jahren noch, verehrte Baronin«, grollte er mit dunkler Stimme, die nichts Unterwürfiges mehr hatte, »vor zehn Jahren noch konnte ich mir eine Mission glauben machen. Ich konnte mir vorlügen: du hast ein Ideal, du wirkst für deine Kunst, du gibst den Menschen Speise für ihre Seelen, du baust sozusagen an einem unsichtbaren Tempel. Das war möglich, trotzdem man, was Schwindel und Spiegelfechterei an dem Gewerbe war, in- und auswendig kannte. Heute aber liegt das Fahrzeug, das damals noch mit geschwellten Segeln fuhr, als erbärmliches Wrack im Sande. Keine Hoffnung, daß es je wieder seetüchtig wird. Was der Sturm übrig gelassen, haben die Würmer vollendet. Keine Hoffnung, daß wir je die geliebte Küste von Ithaka erreichen. Die Steuerleute sind ertrunken, der Kapitän hat keine Autorität mehr, die Schiffbrüchigen fangen an zu rasen und sich gegenseitig zu zerfleischen. Wollen Sie, daß ich die Musik dazu mache, beste Freundin? Bloß ein Totentanz läßt sich dazu aufspielen.« Höhnisch trällerte er die Anfangstakte der » Danse macabre« von Saint-Saëns und lachte dröhnend, wobei er sich auf die Schenkel schlug.
Mutlos wandte Josephe ein, daß ihn doch gerade der gestrige Abend belehrt haben müsse, wie aufgeschlossen alle Herzen und wie erschütternd fast die Dankbezeugungen für den seien, der sie aus der finstern Zwangshaft der Alltäglichkeit, für Augenblicke nur, erlöse.
»Kommen Sie mir nicht damit«, brauste Valerian auf; »das sagt ihr alle, ich hörs von links und rechts, aber mit derlei Rührseligkeiten kann man einen alten Fuchs wie mich nicht fangen. Wissen Sie, was es ist? Ich will Ihnen sagen, was es ist: Ablaßhysterie ist es. In ihrer Not und Gewissensangst schlüpfen sie dort unter, wo man sich nicht zu legitimieren braucht, wes Geistes Kind man ist, wo man mit der landläufigen Falschmünzerei des Gefühls für die Sünden und Unterlassungen zahlen kann. Wer fordert Rechenschaft? wem wird sie abverlangt? Und man wird eingelullt und zerfließt selig, auch wenn man eine Stunde zuvor dem eigenen Bruder den Hals abgeschnitten hat. Wie es mich foltert, in einem solchen mit Menschen vollgestopften Saal zu stehen; Sie können sich keinen Begriff davon machen. Es ist, als ob aus den Häusern der Stadt das gesamte Gerümpel von verstaubten Meinungen und abgelebten Vorurteilen und frecher Begierde und verlogener Bildung und feiger Vorsicht vor mir aufgetürmt wäre, und ich, wie die Spinne die Fäden aus ihrem Leibe, ziehe Töne aus dem Bogen und frage mich dabei: zu welchem Zweck das törichte Gewebe? Sie sagen: danke schön für die hübsche Zauberei, und tun nichts anderes als was sie bis dahin auch getan haben. Erhoben; gebessert; gereinigt? wer mir das ins Gesicht behauptet, dem antwort ich: Mensch, Sie sind entweder ein Schuft oder ein Narr oder beides. Dann wird er mir vielleicht zynisch sagen: Spinnefäden sind keine Taue, mit denen man gestrandete Schiffe wieder flott macht. Und damit hat er recht.«
Er erhob sich abermals, ging mit großen Schritten, die Hände in den Rocktaschen, hin und her und fuhr mit einem Ingrimm fort, der etwas Majestätisches hatte: »Ich möchte verschwinden von diesem Schauplatz des Grauens und der Widernatur. Und wenn es bloß für ein Jahr wäre. Ich möchte mich mit meinen Büchern vergraben. Irgendwo, wohin der Geruch dieser Pestwelt nicht dringt. In meinem Hause erinnert mich jeder Schritt an Dinge, die ich nicht denken will. Wo ist ein Fluchtloch in all den vermauerten Ländern? Betrachten Sie gütigst die Lächerlichkeit und Erbärmlichkeit meiner Lage: ich bin in Österreich geboren, in Italien erzogen, habe in Amerika geheiratet, in Belgien eine Heimstätte gefunden, die Söhne nach England gegeben und bin sechsunddreißig Jahre in landstörtzerischer Freiheit von einem Ende des Planeten zum andern gewandert, ohne eine Pforte verschlossen zu finden. Wie sichs gebührt. Jetzt, überschreit ich meine Schwelle, muß ich ein Kreuzverhör von lümmelhaften Grenzwächtern bestehn und schmutzige Finger wühlen in meiner Wäsche und man hetzt mich auf Ämter und stiehlt mir meine Zeit und betrügt mich um die Distanz, die ich zum menschlichen Ungeziefer halten will. Habe ich alles zu respektieren, was sich heute Nation heißt? Man wird wie ein entsprungener Sträfling behandelt, wenn man die eigene nicht immerfort prahlerisch im Munde führt wie ehemals die Söldner den Namen ihres Obersten. Soll ich, der gerungen hat mit den erlauchten Gedanken der Menschheit, verurteilt sein, wieder in den infantilen Zustand ihrer Völker zurückkehren? Bastarde rühmen sich ihrer Abkunft, und die Waihiti stehn bis an die Zähne bewaffnet an den Grenzen ihrer Pfahldörfer. Sie haben die Erde zertrümmert und balgen sich um die Scherben. Was soll ich dabei tun? für einen Spaziergang zwischen Schilda und Abdera meinen Kopf riskieren? Nein. Ein Mensch, der Würde besitzt, erträgt das nicht.«
Josephe saß schweigend da, eigentümlich lächelnd, denn sein flammender Aufruhr löste für eine Weile den dumpfen Druck in ihrem Innern, den die Zeit angehäuft hatte, das beständige Erdulden von Unbill und Gewalt. Er ist doch noch der Alte, dachte sie mit einer Art von Beruhigung, der edle Rebell, der nicht fasten kann, daß es Niedrigkeit gibt in der Welt, und noch immer nicht weiß, daß sie aus Niedrigkeit besteht. Das leise Lächeln blieb auf ihren Lippen, als Valerian gegangen war, nachdem er mit der unterwürfigen Stimme wie zu Beginn um Verzeihung für seine Unartigkeit gebeten hatte.
Sein verzweifelter Ruf nach einem Zufluchtsort wollte ihr nicht aus dem Sinn. Sie sprach noch am Abend mit Elisabeth darüber; da diese die heimlichen Gedanken ihrer Herrin meist erriet, geschah auch diesmal, was Josephe erwartete und was sie als erste sich nicht zu sagen getraute, aus Furcht vor der Äußerung eines Wunsches. Sie glaubte nie, daß ein Wunsch, den sie hegte, in Erfüllung gehen könnte.
Elisabeth meinte also ganz kühn, ob man ihm nicht vorschlagen sollte, sich nach Eckern zurückzuziehen. Dort habe er Ruhe, eine umfriedetere Insel könne er nicht finden. Josephe nickte freundlich.
Eckern war ein schönes Gut und Landhaus, das ihr gehörte, sechs Schnellzugstunden von der Hauptstadt entfernt, im Waldgebirge gelegen, in der Nähe eines im Sommer vielbesuchten Badeortes, dessen Gäste aber selten in diese Gegend kamen. Sie liebte den Besitz sehr, doch war sie viele Jahre nicht dort gewesen, und als sie Valerian mit der Schüchternheit einer Bittstellerin den Aufenthalt in Eckern anbot und er, nach einigem Besinnen, sie fragte, warum sie nicht selbst, sommersüber wenigstens, draußen wohne, schlug sie die Augen zu Boden und verstummte. Er dankte lebhaft, küßte ihr die Hand und sagte bedächtig, er könne sich nicht sogleich entschließen, jedenfalls müsse er zuvor noch einige wichtige Geschäfte abwickeln und nach Hause reisen, um einen Teil seiner Bibliothek zu verpacken und hinzuschicken. Dann wurde er wärmer, erkundigte sich nach der Formation der Landschaft, nach Klima und Bevölkerung, redete sich schließlich in Begeisterung, sprach von seinen astronomischen Studien, die er dort ungestört betreiben könne, und bestimmte sogar den Maianfang als spätesten Termin seines Kommens. Josephe war voller Freude.
Am andern Tag aber zeigte er sich mißgestimmt und wollte nichts mehr von dem Plan wissen. Agenten hatten ihn bestürmt, und obgleich er strenge Weisung erteilt hatte, war es ihnen gelungen, ihn zu überfallen. Seine Ablehnung war von größter Schroffheit gewesen, jetzt ärgerte er sich darüber und bezichtigte sich eines Hochmuts, der nur in dem Gefühl von der Schwäche seiner Position wurzle. Josephe schüttelte den Kopf, und der sanfte Tadel, der darin enthalten war, rührte ihn; er machte ihr eine halb scherzhafte, halb empfundene Liebeserklärung und sagte, er spüre erst jetzt, wie sehr sie ihm gefehlt habe in all den Jahren, ihre Güte, ihr stilles Verstehen, ihre Geduld. Sie sei der Arzt, den er brauche.
Josephe errötete wie ein junges Mädchen und lachte verlegen.
Er wolle gern nach Eckern, fuhr er fort, doch nur unter der Bedingung, daß auch sie hingehe und bis zum Herbst oben bleibe. Völlig einsam in einer Landschaft zu sein, mit der ihn kein Erlebnis verbinde, das schrecke ihn.
»In früheren Jahren hab ich Frühling, Sommer und Herbst draußen zugebracht«, erwiderte Josephe mit ihrem klagenden Tonfall, »und wenn ich zurückkam, war ich jedesmal ein neuer Mensch mit neuen Plänen und Hoffnungen. Das ist anders geworden, seit …« Sie verstummte wieder; sie sah auf ihre Hände. Dann, unter Valerians verwundertem Blick, nannte sie den Namen Ulrike Woytich.
Er zuckte die Achseln, ohne zu verstehen.
Vor zehn Jahren, berichtete sie, habe sich Ulrike Woytich in der gleichen Gegend eine Villa gebaut, ein richtiges behagliches, wohlausgestattetes Haus; nicht eben in unmittelbarer Nachbarschaft von Eckern, das wohl nicht, sondern ungefähr fünfundzwanzig Minuten weit davon, auf der andern Seite des Tals, im Ried, wie man es heiße. Aber seitdem sei ihr Eckern gründlich verleidet, und sie habe es nicht mehr übers Herz gebracht, dort zu hausen.
Valerians Verwunderung wuchs. »Woytich …«, murmelte er, »Ulrike Woytich? wo tu ich sie hin? wo hab ich von ihr gehört?«
Plötzlich jedoch, und es bedurfte hiezu nur des Anblicks von Josephes starrgewordenem Gesicht, enthüllte sich der Zusammenhang. Vor langer Zeit, in ängstlich-scheuen Andeutungen, hatte Josephe von ihr gesprochen. In Rom war es gewesen, als sie einige Tage mit ihm verbracht hatte. Da war sie der längst aus ihrem Gesichtskreis Entschwundenen eines Morgens inmitten einer zahlreichen und äußerst angeregten Gesellschaft italienischer Nobili im Garten Borghese begegnet. Die Glieder hatten ihr gezittert, während sie es ihm erzählte; tödlicher Abscheu hatte sich ihrer bemächtigt, und sie hatte keine Rast und Ruhe mehr gehabt, bis sie von Rom abgereist war. Dies wurde Valerian jetzt gegenwärtig; auch daß sie ihn damals erinnert hatte, eine wie zweideutige und widrige Rolle Ulrike Woytich bei dem düstern Vorfall in seiner Knabenzeit gespielt. Nun war es so fern, die römischen Tage und erst recht alles übrige, so in Staub zermahlen von der Wucht des seitdem Gelebten, so unsäglich Vergangenheit und Schatten geworden, daß weder Weg, noch Bild, noch Ahnung zurückführte. Noch weniger begriff er Josephes Abneigung gegen Eckern, und er äußerte, ein solches Gefühl, das im Grunde nichts Besseres sei als Gespensterfurcht, sei ihrer nicht würdig.
Nein, antwortete sie, nicht Gespensterfurcht. Eine sehr körperliche Furcht sei es, leider. Ein Grauen vor Wiederkehr und Wiederholung. Sie wisse wohl, in den meisten Menschen sei die Sehnsucht nach Wiederholung vorherrschend, ja die ganze innere Anlage ginge nach der Sehnsucht, daß sich ein Stück des Lebens wiederholen möge; in ihr sei nur das Grauen davor; nur das Grauen.
Er schaute sie aufmerksam an, denn ihr Gesicht war auf einmal so schicksalsverschleiert, daß er an die Geheimnisse der Sterne denken mußte. Unwillkürlich verneigte er sich vor ihr. Aber es stachelte ihn nun geradezu, ihr die Scheu vor Eckern auszureden und sie mit dem Gedanken eines gemeinsamen Aufenthalts vertraut zu machen. Sie könne doch jegliche Person meiden, die zu meiden sie entschlossen sei. Wer dürfe sich anmaßen, die Schranke zu durchbrechen, die sie um sich ziehen wolle? Warum feig und klein die Flucht ergreifen, wo der bloße Stolz zu ignorieren gebiete? Warum dies Erschaudern vor einem Phantom, das sich bei kühlem Zusehn als ein lächerlicher armer Mensch erweise? »Noch vor einem Popanz zu zittern, halte ich für erlaubt«, rief er aus, »aber vor einem Menschen? Dann hätten wir uns dagegen verwahren müssen, daß man uns überhaupt in die Welt gesetzt hat, denn dann hätten wir gar nichts anderes zu tun als zu zittern. Soll man demütig fortfahren, die Beute von Schändlichkeiten zu werden, wenn sie bereits Legende geworden sind? Das heißt noch raffinierter sein als unser Unglück und noch grausamer mit sich umgehn.«
Er erreichte, daß Josephe schwankend wurde. Er malte so lockende Bilder der künftigen Monate, war dabei so aufgeschlossen, so froh bewegt, so herzlich überredend, daß sie eine Weigerung schon um seinetwillen nicht mehr vorzubringen wagte. Kam hinzu, daß ihr das Leben in der Stadt zur Hölle wurde. Es stieg ein Brodem von den Straßen empor, als ob das Innere der Erde verwese.
Kam außerdem hinzu, daß man sie von Amts wegen in dem zu verkürzen suchte, was sie unantastbar gewähnt, in den Rechten und der Besitzhoheit ihres Hauses, eine Drohung, die sie in letzter Stunde nur durch ein erhebliches Geldopfer hatte abwenden können; dies gab den Ausschlag, und sie widerstand dem Drängen Valerians nicht länger.
Elisabeth leuchtete über das ganze Gesicht, und wenig fehlte, so wäre sie der Baronin um den Hals gefallen. Obwohl der Umzug erst in drei Wochen stattfinden sollte, wurde nach den schwerfälligen Gepflogenheiten beider Frauen mit den Vorbereitungen schon jetzt begonnen. Elisabeth war bei Tagesanbruch auf den Beinen und mit Zetteln und Verzeichnissen ausgerüstet eilte sie treppauf, treppab und von Raum zu Raum, leise vor sich hinsummend. Sie kannte Eckern; sie schwärmte von dem Gut; einmal hatte sie mehrere Erholungswochen draußen verbringen dürfen. Sie wäre über den Entschluß der Baronin ohne Einschränkung glücklich gewesen, wenn nicht der Gedanke an Fanny sie betrübt hätte. Das Kind erschien ihr verlassen ohne sie. Es war ihr zur lieben Gewohnheit geworden, es zu besuchen, und sie hatte Sorge, wie es ihm ergehen würde.
Eines Morgens wurde sie zu Josephe gerufen. Diese reichte ihr schweigend einen Brief, und sie las. Es war ein Schreiben der Vorsteherin in der Dornbacher Anstalt, in welchem maßvoll zwar, doch mit deutlich merkbarer Ungehaltenheit, ein kurzer Bericht über Fannys Führung erstattet wurde. Bei nicht zu verkennender guter Anlage, so wurde gesagt, ja einer nicht gering einzuschätzenden Raschheit der Auffassung und einem gewissen Schwung des ganzen Wesens trete doch immer stärker und die Disziplin des Heims gefährdender eine Ungebärdigkeit und Selbstwilligkeit hervor, die sich bis zu offenem Ungehorsam und Bruch der Vorschriften steigere und auf keinen Fall geduldet werden könne. Verschlimmert werde der Sachverhalt durch Eigenschaften, die an sich zugunsten des Kindes sprächen, nämlich durch seine Anmut und bestrickende Liebenswürdigkeit, durch welche aber die andern Zöglinge des Instituts angesteckt und zu gleichem Betragen verführt würden. Ermahnungen und Strafen seien bisher fruchtlos gewesen, man frage daher ergebenst an, ob die Frau Baronin ihre Schutzbefohlene nicht gelegentlich selbst einmal ins Gebet nehmen wolle, denn bei fernerer Unbotmäßigkeit müsse man die unvermeidlichen Konsequenzen ziehen und das Kind aus der Anstalt ausschließen.
»Was sagen Sie dazu?« fragte Josephe dumpf. In ihrem Innern war Aufruhr und der Hohn einer Stimme: Melandersches Blut.
Elisabeth zuckte die Achseln. Ihr Mißbehagen über den Brief unterdrückend, antwortete sie schmiegsam: »Ich finde, Frau Baronin sollten der Anregung folgen, Frau Baronin sollten mit Fanny reden; Frau Baronin würden sich dann überzeugen, daß es nicht so schlimm ist wie die Frau Majorin schreibt.«
»Gut, fahren wir heute nachmittag hinaus«, kam es tonlos von Josephes Lippen. »Ich will meine Pflicht nicht versäumen. Ich will auch dieses Äußerste noch tun.« Und sie ging schnell zu ihrem Arbeitstisch, während sich Elisabeth gedankenvoll entfernte.
Da Josephe ihr Auto längst nicht mehr benutzte und keine Gelegenheit vorübergehen ließ, bei der sie an ihrer eigenen Person sparen konnte, mußte sie die lange Fahrt in den Vorort mit Elisabeth in der gedrängt vollen Straßenbahn stehend zurücklegen. Ziemlich erschöpft kam sie ans Ziel. Elisabeth hatte ohne Josephes Wissen am Mittag telephoniert, damit man Fanny unterrichte und ihr Erscheinen vor der Baronin ungehindert vonstatten gehe. Josephe wurde von der Majorin aufs Zuvorkommendste empfangen und in ihr Privatbureau geführt. Eine der jungen Lehrerinnen wurde beauftragt, Fanny zu holen. Nach einer Weile kehrte sie etwas betreten zurück: Fanny sei nicht zu finden. Die Majorin wurde blaß vor Zorn. Vor einer Viertelstunde habe sie das Mädchen noch im Klassenzimmer gesehen, zischte sie hervor; aber die Lehrerin erwiderte, man habe vergeblich überall gesucht, auch im Garten nach ihr gerufen. Mit vielsagender Miene blickte die Majorin Josephe an; Elisabeth saß auf Nadeln. »Ich habe ihr mit aller Strenge eingeschärft, sich bereit zu halten«, grollte die Majorin; »mit ihrer süßesten Engelsmiene hat sie es versprochen; nun haben wir die Bescherung.« Josephe warf Elisabeth einen tadelnden Blick zu, denn sie begriff, daß diese hatte Vorsehung spielen wollen und eben dadurch die peinliche Situation heraufbeschworen hatte. »Warum war es denn notwendig, ihr das einzuschärfen?« erkundigte sie sich mit gepreßter Stimme; »ist sie denn so menschenscheu? oder fürchtet sie sich vor … vor mir?« Die Majorin antwortete: »Ach nein, Frau Baronin; fürchten, vor einem Menschen fürchten, das kennt sie nicht. Aber wenn ich von ihr erwarte, daß sie etwas Bestimmtes tun soll, so ist sie schlechtweg erpicht darauf, mir einen Strich durch die Rechnung zu machen. Es ist schwer mit dem Kind. Ich möchte behaupten, es ist unmöglich. Zuviel ist an dem Geschöpf gesündigt worden; ich sagte es schon neulich zu Fräulein Schönpflug. Kaum mehr beizukommen ist dem Unkraut in dieser Natur.«
Um die allseitige Verlegenheit und Verstimmung abzulenken, schlug Josephe mit schüchterner Freundlichkeit vor, man solle in den Garten gehn, Fanny werde sicherlich bald kommen. Sie wußte kaum, was sie sprach; das Herz pochte bis in den Hals, und beinahe war sie über das Verschwinden des Kindes froh. Als sie die Treppe zum Garten hinuntergingen, voran Josephe und die Majorin, dahinter Elisabeth und, mit neugierigen und gespannten Gesichtern, einige Lehrerinnen und Zöglinge, vernahmen sie vom Zaun her, wo Apfelbäume im jungen Laub standen, ein lärmendes Gewirr frischer Stimmen, und gleich hernach erblickten sie etwa ein Dutzend Mädchen im Alter zwischen acht und fünfzehn Jahren, die allesamt um eine einzige in ihrer Mitte herumflatterten, fragend, lachend, zuredend, zankend, und in der scheidenden Sonne des klaren Apriltages in ihren hellen Kleidern ein liebliches Bild boten.
Es waren Schülerinnen, die man ausgesandt hatte, Fanny zu suchen. Sie hatten sie auch richtig erwischt, hinter dem Stacheldrahtzaun eines nahen Weinbergs, versteckt unter einem Strauch. Halb mit Gewalt und halb mit Bitten hatten sie sie mit sich gezogen, und nun schritt sie mit sorglosem Lächeln von ihnen umschwärmt dahin, allzu schlank und groß fast für ihr Alter, Halme und Blätter im goldleuchtenden Haar, das der Bindung entwichen war, und mit spöttischer Gelassenheit auf die geschäftigen Genossinnen blickend, die sich auszeichnen wollten. Es war als schwirre ein Schwarm bunter Vögel den Hang herab, aufgescheucht von einem fremdartigen Gast, den sie zwitschernd vor sich hertrieben.
Da sah Josephe, das Kind war schön. Und es überkam sie ein jähes, lange nicht gespürtes Gefühl von Überraschung und Freude, denn sie erkannte tiefgewiß, daß diese Schönheit nicht nur eine äußerliche und Sinn und Auge blendende war. Es war neu wie ein Glück, und es war alt wie ein Traum; etwas Hartes und Lastendes löste sich in ihrer Brust; sie trat, als wenn eine Übermacht sie befehlige, ein paar Schritte vor, ängstlich, ängstlich lächelnd, Elisabeth folgte ihr voll Erwartung, die Gruppe der Mädchen war stehen geblieben. Einige kicherten.
»Mach deinen Knix, wie man es dich gelehrt hat, Fanny«, ertönte die schneidende Stimme der Majorin.
Fanny regte sich nicht. Ihre Finger spielten mit einem Zweig, den sie hielt, und sie schaute Josephe groß an. Erbittert wollte die Majorin zu ihr hin, wurde aber von Elisabeth zurückgehalten. »Da haben Sie nun wieder den ganzen aufreizenden Trotz«, raunte sie Elisabeth ins Ohr; »und ich bin nur begierig, ob sie auch diesmal wieder in ihre schreckliche Gewohnheit verfällt, alle Erwachsenen ohne Unterschied des Standes mit du anzureden.«
Josephe ermaß nicht die Worte, die ihr zufielen und deren sie sich bediente, weil sie gleichsam bereit waren; sie nahm die Hand des schönen Kindes und fragte: »Möchtest du zu mir kommen, Fanny, und in meinem Hause wohnen?«
Ein prüfender Blick Fannys glitt über ihr Gesicht und sie antwortete frei: »O ja, sehr gern; sehr gern will ich bei dir bleiben, Frau Baronin.«
Die Majorin lauschte mit offenem Mund. Elisabeth nickte lächelnd wie eine Pagode.