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20

Um diese Zeit hätte Scottie ausgegangen sein können, aber zufällig hatte er Stella geholfen, Kenneth Nelsons neues Gemälde einzupacken. Er habe das Haus den ganzen Abend nicht verlassen, erzählte Stella. Der Detektiv ging zu Wilmot zurück. Downer war inzwischen gegangen.

»Ich will das Geld an mich nehmen«, sagte Andy und hob die Brieftasche auf. »Und nun sagen Sie mir alles, was Sie von dem Trauschein noch wissen.«

»Glauben Sie wirklich, daß es Albert Selim war?«

»Ich bin sicher, daß es der Mann war, der Mr. Merrivan tötete«, erwiderte Andy kurz. »Er bedrohte uns mit derselben Waffe, mit der er den Mord beging.«

Mr. Wilmot schauderte.

»Der Trauschein beurkundete eine Heirat zwischen einem gewissen John Severn und einem Dienstmädchen namens Hilda Masters. Die Ehe wurde vor etwa dreißig Jahren geschlossen und in der St.-Pauls-Kirche, Kensington, eingesegnet.«

Andy notierte sich diese Einzelheiten.

»Erschien der Name Ihres Onkels in irgendeiner Weise auf der Urkunde?«

Wilmot schüttelte den Kopf.

»Sie kennen John Severn nicht? Hat Ihr Onkel Ihnen gegenüber nie den Namen erwähnt?«

»Nein. Ich möchte Ihnen aber noch etwas wegen des Geldes sagen, Macleod. Ich will nicht in Ungelegenheiten kommen, wenn es sich vermeiden läßt. Ich habe es wirklich nur genommen, um es in Sicherheit zu bringen. Wie sind Sie denn dahintergekommen?«

»Sie kennen meine Methoden, Wilmot«, erwiderte Andy sarkastisch. »Die ganze Sache kann für Sie sehr übel werden. Ich gebe Ihnen den guten Rat, um Downer einen weiten Bogen zu machen. Der hat mit Ihnen kein Erbarmen und wird Sie ebenso verraten, wie er Albert Selim verraten würde, wenn er ihn fangen könnte.«

Ein ähnlicher Gedanke war Wilmot auch schon gekommen.

»Wegen der Verleumdungsklage ist auch Downer nicht ganz wohl«, meinte er. »Ich glaube, in seinem nächsten Artikel wird er zahmer sein. Außerdem wird ihm ja auch Selim genügend Stoff dafür geben.«

Andy war derselben Ansicht. Er sprach noch einmal bei Stella vor, ehe er ins Gästehaus ging. Scottie hatte sich schon zur Ruhe gelegt, er war direkt musterhaft geworden.

»Alle Leute in Beverley sind über den Artikel sehr aufgebracht und haben mir ihre Anteilnahme ausgedrückt«, sagte Stella. »Ich habe noch nie soviel Besuch gehabt wie heute. Sheppards waren hier, Masons, sogar die Gibbs, die doch so ruhige Leute sind. Alle sind sehr ungehalten über Artur Wilmot. Was wird die Zeitung wohl morgen bringen?«

»Sehr wenig. Downer wird über den Einbruch in Wilmots Wohnung berichten und den Besuch dieses geheimnisvollen Albert Selim mit allen Einzelheiten schildern. Er wird auch die Gelegenheit wahrnehmen, sich zu verteidigen. Man droht in ähnlichen Fällen den Zeitungen häufig mit Verleumdungsklagen. Downer wußte, daß er den Bogen überspannt hatte. Ich habe schon gemerkt, daß er etwas nervös war, als ich heute seinen Brief erhielt. Es gehört schon viel dazu, ihn nervös zu machen, aber wahrscheinlich waren ihm schon selbst Zweifel an der Glaubwürdigkeit Wilmots gekommen.«

Die Schleier, die über dem geheimnisvollen Mord von Beverley Green lagen, wurden immer dichter und undurchdringlicher. Auch Albert Selims Erscheinen brachte Andy der Lösung keinen Schritt näher. Warum hatte der Mann sich einer so großen Gefahr ausgesetzt, nur um einen offensichtlich wertlosen Trauschein in seinen Besitz zu bringen? Wer war dieser John Severn, und wer war das Dienstmädchen Hilda Masters?

Ins Gästehaus zurückgekommen, erhielt er von Zeit zu Zeit telefonische Berichte von den Polizeibeamten, die die Gegend nach dem Fremden absuchten. Die Polizei der Nachbarorte unterstützte sie. Die Hauptstraßen wurden abpatrouilliert und die Nebenwege überwacht. Mit der kleinen Mannschaft konnte man allerdings das offene Land nicht absperren, damit mußte bis zum Tagesanbruch gewartet werden.

Um ein Uhr nachts trat er kurz vor die Tür, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Das Zimmer bedrückte ihn, und er hatte Kopfschmerzen bekommen.

In Beverley Green war um diese Zeit jedes Haus dunkel, auch aus Stellas Zimmer drang kein Lichtschein.

Inspektor Dane kam eben mit dem Rad an, um ihm den letzten Bericht persönlich zu überbringen.

»Wir haben jedes Auto zwischen hier und Cranford Corner angehalten. Glauben Sie, daß es ratsam wäre, eine Durchsuchung sämtlicher Häuser von Beverley Green vorzunehmen?«

»Ich wüßte nicht, warum. Sollte Selim tatsächlich ein Bewohner des Ortes sein, so könnten wir das durch eine Haussuchung auch nicht feststellen. Außerdem wäre es gesetzwidrig, wenn wir nicht die nötigen Befehle aus London haben. Vielleicht ...«

Andy wurde plötzlich unterbrochen, denn durch die Stille der Nacht tönte ein Schuß. Gleich darauf fielen ein zweiter, ein dritter und nach kurzer Zeit noch ein vierter. Sie kamen aus der Richtung der Hügel jenseits des Ortes.

»Wilddiebe können es nicht gut sein«, meinte Inspektor Dane.

»Wilddiebe benützen gewöhnlich keine Pistolen.«

Das Telefon im Gästehaus klingelte stürmisch. Die Haustür war offen geblieben, und sie hörten es schon, bevor Johnston herausgestürzt kam, um Andy zu rufen.

»Mr. Salter ist am Apparat. Er möchte Sie dringend sprechen!« Andy lief hinein und nahm den Hörer auf.

»Sind Sie es, Mr. Macleod? Haben Sie die Schüsse gehört?«

»Jawohl.«

»Ich habe geschossen. Es ist ein Raubüberfall auf Beverley Hall gemacht worden. Jemand versuchte einzubrechen. Er ist in Richtung Spring Covert entflohen. Können Sie herkommen?«

Andy holte seinen Wagen aus der Garage und fuhr mit Inspektor Dane in schnellstem Tempo die Hauptstraße entlang.

Mr. Salter sah blaß und angegriffen aus. Er trug einen Schlafrock über dem Pyjama und erwartete die Beamten in seiner Bibliothek.

»Es tut mir leid, daß ich Sie stören mußte, Macleod«, begann er.

»Haben Sie den Mann zu Gesicht bekommen?« fragte Andy schnell.

»Ich konnte ihn nur von hinten sehen. Er muß mindestens schon eine halbe Stunde im Haus gewesen sein, bevor ich ihn hörte. Ich hätte ihn wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn er nicht die Frechheit besessen hätte, in mein Schlafzimmer zu kommen.«

Salter zeigte ihnen das Fenster, das aufgebrochen worden war. Es gehörte zu dem kleinen Arbeitszimmer neben der Bibliothek.

»Er war auch in der Bibliothek. Sehen Sie, diese Schubladen sind gewaltsam geöffnet worden.«

Die Fächer waren ganz herausgezogen, ihr Inhalt auf den Boden verstreut.

»Vielleicht glaubte er, hier Geld zu finden. Aber ich bewahre hier nichts Wertvolles auf.«

»Ist er auch in anderen Räumen gewesen?«

»Ich glaube, er war auch im Zimmer meines Sohnes – er ist augenblicklich nicht hier, er studiert in Cambridge –, aber das kann ich nicht genau sagen.«

Er führte sie ins obere Stockwerk, aber hier war alles in bester Ordnung, obgleich die Tür zum Zimmer des jungen Salter offenstand.

»Es ist sehr leicht möglich, daß er zuerst diesen Raum mit dem meinen verwechselte. Mein Schlafzimmer liegt direkt gegenüber. Ich weiß nicht, wovon ich aufwachte. Vielleicht quietschte die Tür, obwohl sie regelmäßig geölt wird. Ich setzte mich im Bett aufrecht und hörte noch das Geräusch seiner Schritte, dann war er fort. Als ich aus der Tür herauskam, sah ich ihn noch einen kurzen Augenblick am anderen Ende des Ganges. Ich lief die Treppe hinunter und rief nach Tilling. Ich habe ihn dann noch einmal gesehen, als er durch das Bibliotheksfenster stieg. Ich habe stets eine Pistole in meinem Zimmer, und ich schoß hinter ihm her, als er die Stufen der Terrasse hinunterlief und im Dunkeln verschwand.«

»Hörten Sie ihn nicht sprechen?«

Mr. Salter schüttelte den Kopf.

Es war das Werk eines erfahrenen Einbrechers, das erkannte Andy sofort. Und wenn er nicht absolut sicher gewesen wäre, daß Scottie in diesem Augenblick den Schlaf des Gerechten schlief, hätte er schwören mögen, daß er den Einbruch verübt hatte.

Aber dieser Einbrecher hatte offenbar keinen festen Plan gehabt. Scottie hätte auch keine Papiere aus den Schubladen herausgeworfen und obendrein noch Salter in seinem Schlafzimmer gestört. Man ging wieder in die Bibliothek zurück.

»Das ist der zweite Raubüberfall heute abend in Beverley Green«, sagte Andy und erzählte von dem Vorfall bei Wilmot.

»Albert Selim?« meinte Mr. Salter nachdenklich. »Ich möchte mich Ihrer Theorie fast anschließen, Mr. Macleod.«

»Vermissen Sie etwas?«

»Ich glaube kaum, es befand sich nichts in der Bibliothek, das sich zu stehlen lohnte, höchstens ein paar Pachtverträge, die ihn aber schwerlich interessiert haben können.«

»Was ist denn das?«

Andy ging zum Kamin. Er war leer, da das Wetter ungewöhnlich warm war, aber auf der Feuerstelle lag die Asche von verbranntem Papier! Wieder eine Parallele zu der Ermordung Merrivans!

»Haben Sie etwas verbrannt?«

»Nein. Ist die Schrift noch erkennbar – manchmal ist das ja der Fall.«

Andy kniete nieder und beleuchtete die Asche mit seiner Taschenlampe.

»Nein, es ist leider fast nichts mehr zu erkennen.« Vorsichtig nahm er ein größeres Stückchen verbrannten Papiers heraus und brachte es zum Tisch.

»Es sieht aus wie ›RYL‹, meinte er. »Eine sonderbare Kombination von Buchstaben.«

»Es könnte Orylbridge geheißen haben«, erwiderte Boyd Salter. »Ich habe dort Grundeigentum.«

Bei diesen Worten hob er einige Papiere vom Fußboden auf.

»Es ist mir jetzt unmöglich, alle Dokumente zu ordnen und zu sehen, was fehlt. Vielleicht kommen Sie morgen früh noch einmal, Doktor.«

Andy wartete noch, um den Bericht zweier Parkwächter entgegenzunehmen, die aufgestanden waren und die Gegend abgesucht hatten.

»Dieser Fall geht mir langsam auf die Nerven, Dane«, sagte er, als der Wagen den Hügel hinunter zum Parktor fuhr. »Eins ist sicher: In diesem Tal verbirgt sich irgendwo ein Mörder, mag er nun Albert Selim oder sonstwie heißen. Offenbar ist er von hier. Es gibt keine andere Erklärung für seine Schnelligkeit und Sicherheit. Er kennt hier jeden Zoll Boden, und er sucht nach irgend etwas. Er tötete Merrivan, um es zu finden, er tötete Sweeny, weil ihm der zufällig im Obstgarten über den Weg lief. Er brach in Beverley Hall ein, um auch dort zu suchen. Aber warum hat er in beiden Fällen Papiere im Kamin verbrannt?«

»Wo hätte er sie sonst verbrennen sollen?« fragte Inspektor Dane. »Der Kamin war doch in beiden Fällen ganz in der Nähe.«

Andy erwiderte nichts darauf.

Er erinnerte sich jetzt daran, daß er auch ein drittes Mal verbranntes Papier gesehen hatte. Stella hatte sich in derselben Weise der Dinge entledigt, die sie vernichten wollte.

Um halb drei verabschiedete er sich von dem Polizeiinspektor. Im Osten dämmerte schon der neue Tag, als er in sein Zimmer kam. Er warf noch einen Blick zu dem Haus Nelsons hinüber und blieb erschrocken stehen. Stella mußte wach sein, denn er sah Licht durch ihre Jalousien schimmern.

Er wartete fast eine volle Stunde. Erst als es ganz hell geworden war, wurde drüben das Licht ausgemacht.

Andrew seufzte und ging zu Bett.


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